Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Seit jenem denkwürdigen Abend, an welchem die kleine Waise aus dem Süden zum erstenmal die Freistätte des Elends betrat, mochten ungefähr zwölf Jahre verstrichen sein – und hier beginnt eigentlich die Erzählung –, als an einem Pfingstsonntag, und zwar gerade als die sogenannte große Glocke mit tiefem, mächtigem Klange in das Nachmittagsgeläute einfiel, ein junger Mann am schmalen Eingang der Gasse erschien, welche nach dem Kloster führte. Offenbar war er dem Geläute bis hierher gefolgt. Er blieb auch einen Augenblick stehen, gleichsam überwältigt von der Macht dieser wundervollen Harmonie. Zwei greise Mütterchen, festlich angetan mit dem silberbetreßten Bürgerhäubchen und in den stattlichen, radförmigen Tuchmantel gehüllt, schritten an ihm vorüber nach der Kirche und grüßten freundlich. Auch verschiedene Fenster öffneten sich, aus denen Männer in Hemdärmeln und Frauen mit der Kaffeetasse in der Hand die neugierigen Gesichter steckten. Der junge Mann aber bemerkte dies alles nicht; das Auge auf den Turm gerichtet, durch dessen offene Luken man deutlich die schwingenden Glocken sehen konnte, ging er langsam weiter bis zu dem Gärtchen auf der Mauer. Dort, durch den Kastanienbaum gegen die brennenden Sonnenstrahlen geschützt, lehnte er sich an das Gemäuer und lauschte bewegungslos. Da erhob sich ein schwacher Luftzug; ein weißes Blatt flatterte vom Mauerrand herab zu seinen Füßen, zugleich lief eine weibliche Gestalt droben durch das Gärtchen und verschwand in dem offenstehenden Fenster. Die Erscheinung war flüchtig und lautlos vorübergeglitten wie ein Schatten. Der junge Mann hatte nur einen fein geformten Hinterkopf mit einem prächtigen bläulich-schwarzen Flechtengewirr und einen entblößtem, schön gerundeten Arm gesehen, der das Fensterkreuz umschlang, während der schlanke Leib sich in das Innere des Hauses bog, allein in dieser einen Bewegung lag so viel jugendliche Anmut, eine so schlangengewandte Biegsamkeit, daß der Beobachter drunten auf der Straße ohne Zweifel auch ein dazugehörendes Gesicht voll Liebreiz voraussetzte, denn er musterte sofort mit großem Interesse die Fensterreihe mit den weißen Vorhängen, hinter deren einem jedoch nur das scharfe Profil der Seejungfer sichtbar war, wie sie, die Brille tief auf die Nase herabgedrückt und das Gesangbuch weit abhaltend, ihr Nachmittagsgebet las.
Der Fremde hob das Blatt auf, das noch vor ihm auf dem Boden lag. Es enthielt das flüchtig, doch korrekt mit Bleistift hingeworfene Porträt einer Frau, ein wunderliebliches, aber echt deutsches Gesicht, von lichtem Haar umrahmt, unter dem kleidsamen Schleier der Neapolitanerinnen. Das Blatt war jedenfalls von dem Steintisch droben auf der Mauer herabgefallen, dessen Platte mit verschiedenen Papieren bedeckt war; auch mehrere Bücher lagen dort. Diese Zeichen einer höheren geistigen Beschäftigung samt dem improvisierten hohen Gärtchen voll Blütenduft und Käfergeschwirr sahen merkwürdig genug aus inmitten der zerfallenen, armseligen Umgebung, fast wie ein versprengtes Märchen, das sich in die rauhe Wirklichkeit verirrt hat.
Unterdes hatte das Geläute einen immer mächtigeren Aufschwung angenommen, ein Zeichen, daß es seinem Ende nahte. Der junge Mann sah wieder hinauf nach dem Turmfenster, aber statt der schwingenden Glocken erschien jetzt eine helle Gestalt in der schmalen Öffnung, es war dieselbe Erscheinung, die vorhin so rasch über die Mauer gehuscht war. Der Fremde hatte nicht so bald dies bemerkt, als er auch das Kloster und die Kirche umschritt und die alte ausgetretene Steintreppe des Glockenturmes hinanstieg. Als er oben war, fiel sein erster Blick auf die Gestalt im Fenster, und überrascht blieb er stehen. Es war ein junges Mädchen, das da still und regungslos mit gefalteten Händen auf dem Sims saß. Das Spitzbogenfenster mit seinen fein gemeißelten Arabesken umschloß sie wie ein enger Rahmen, und gegen den tiefblauen Himmel draußen, der sich erst in weiter Ferne auf einen schön geschwungenen, in zartes Violett getauchten Bergrücken legte, zeichnete sich ein bewundernswürdiges Profil ab, rein und tadellos in der Form und von einem hinreißenden Ausdruck beseelt.
Der Blick des Fremden, der unverwandt und erstaunt auf dem Gesicht haftete, schien indes etwas wie eine magnetische Kraft zu besitzen, denn das Mädchen wandte plötzlich den Kopf nach innen. Ihr dunkles Auge öffnete sich weit und starrte ihn einen Augenblick an, als käme er aus der Geisterwelt, dann aber sprang sie mit einem Schrei vom Sims herab, barg den Kopf in beiden Händen und rannte in dem schmalen Gange, der zwischen den Glocken und der Mauer blieb, wie in Todesangst einen Ausweg suchend, auf und ab. Da es jedoch den Anschein hatte, als ob sie sich in ihrer Verwirrung zwischen das sausende Erz stürzen wolle, so lief ein alter Mann hinzu, welcher sie am Arme faßte und, um das Glockengebraus zu übertönen, ihr heftig und laut in die Ohren schrie. Sie aber riß sich los und eilte mit Blitzesschnelle und abgewendetem Gesicht an dem Fremden vorüber, die Treppe hinab, wo sie alsbald in der unten herrschenden Dunkelheit verschwand.
Dies alles war das Werk eines Augenblicks gewesen. Zugleich erschollen die letzten Glockenschläge mit fast betäubender Gewalt, um bald darauf hinzusterben in ein schwaches, unregelmäßiges Klingen, das zuletzt als wehmütiges Tongeflüster in den Lüften verschwamm. Dann hingen sie still und dunkel da, die Glocken, mit gebundenen Schwingen den Klangreichtum in sich betrauernd, weil er schweigen muß nach dem Willen der kleinen Menschen da drunten. Aber noch lange nach ihrem Verklingen, selbst wenn der schwächste Ton ausgezittert hat, ist es, als entströme ihnen ein unsichtbares Leben, als zögen die Geister der abgeschiedenen Klänge leise dem Strome nach, der mächtig hinausflutet und, in Millionen Arme geteilt, an die Menschenbrust schlägt; er rauscht an das verstockte Gemüt, das sich grimmig wehrt und windet unter der unabweisbaren Mahnung, und löst sich harmonisch auf in der spiegelklaren Flut, die wir »eine reine Seele« nennen.
Mehrere Männer, welche das Geläute besorgt hatten, waren indessen von den Balken herabgestiegen und gingen grüßend die Treppe hinab, indem sie ihre Röcke anzogen. Jener alte Mann aber, der mit dem Mädchen gesprochen hatte, zog höflich seine Mütze vor dem Fremden, wobei ein ehrwürdiger, schneeweißer Scheitel sichtbar wurde, und sagte mit einem eigentümlich gutmütigen Anflug in der Stimme: »Was hat denn der Herr dem Lenchen getan, daß sie so ganz außer Rand und Band war? Um ein Haar wär' sie von den Glocken erschlagen worden.«
»Sehe ich denn aus wie ein Mädchenverfolger, alter Jakob?« fragte lächelnd der junge Mann.
Der Alte blickte erstaunt auf. »Der Herr kennt mich?« fragte er und sah dem Fremden forschend ins Gesicht, während er die dicken, weißen Augenbrauen zusammenzog und die Hand schützend vor die Augen hielt, um besser sehen zu können.
»Es scheint, ich habe ein treueres Gedächtnis für meine alten Freunde als Ihr... Wie könnte ich wohl den Mann vergessen, der alle meine tollen Knabenstreiche unterstützte, der mir manchen Apfel vom Baume geschüttelt hat und mich gern als zweiten Reiter auf meines Vaters Braunem duldete, wenn er ihn nach der Schwemme ritt!« erwiderte der Fremde und reichte dem Alten freundlich die Hand.
»Herr Jesus!« rief der alte Mann. »Nein, wie kann man aber auch so blind werden! Ja, das Alter, das Alter... Na, das ist eine Freude!... Hätt' nicht gemeint, den jungen Herrn Werner in meinen alten Tagen noch einmal zu sehen... Und wie groß und stattlich Sie geworden sind... Jetzt müßte die sel'ge Mutter kommen, die würde wohl Augen machen, wenn sie ihr Herzblatt sähe! – Bleiben Sie denn nun aber auch bei uns?«
»Fürs erste, ja... Nun sagt mir aber, wer ist denn das Mädchen, das hier am Fenster saß?«
»'s Lenchen, der Seejungfer ihr Schwesterkind.«
»Was, der Tater?«
»Ach du meine Güte, das wissen Sie noch?... Ja, die bösen Kinder hatten sie so getauft; aber aus dem Tater ist ein schönes Mädchen geworden. Die Leute wissen's nicht so, weil sie sich immer hinter den Mauern verkriecht, und in den armseligen Kleidern sieht man's auch nicht gleich... Es gibt auch Dumme genug, die meinen, es sei nicht ganz richtig bei ihr, weil sie manchmal so absonderlich ist. Es ist wahr, sie führt freilich mitunter Reden, die unsereiner nicht versteht, muß sie denn aber deshalb gerade verrückt sein?... Sehen Sie, Herr Werner«, fuhr der Alte fort und strich mit der großen, schwieligen Hand über die Augen, »das ist immer gar ein armes Ding gewesen, so allein, keinen Vater und keine Mutter... Ich hatte sie im Anfang gar nicht weiter angesehen, wenn sie auf den Turm kam, die anderen nannten sie nur die Unke, weil sie immer so still in ihr Winkelchen kroch, aber einmal, da sah ich sie, wie sie ihr Köpfchen in die eine Glocke legte, die gerade ausgeklungen hatte, und sie streichelte, als ob es ein lieber Mensch sei, das dauerte mich. Ich ging auf sie zu und redete sie an, da machte sie aber ganz erschrockene Augen und schoß die Treppe hinunter wie eine wilde Katze. Später hat sich's aber doch noch gemacht. Wir wurden gute Freunde, und ich gewöhnte mich so an das närrische kleine Ding, daß mir nachher meine Frau jeden Sonntag mein Töpfchen Kaffee hierher auf den Turm bringen mußte, weil ich ihn daheim immer kalt werden ließ; daß da die Kleine mittrank, können Sie sich denken.«
»Dann habe ich Euch heute um Euer Kaffeestündchen gebracht, denn es scheint, das Mädchen kommt nicht wieder«, sagte Werner und bog sich aus dem Turmfenster.
Tief unten lag das Mauergärtchen, aber es herrschte dort sowohl wie in der kleinen Gasse eine Totenstille. Die Sonne lag brütend auf der engen Ecke, und alles, was lebte, hatte sich hinter die kühlen Mauern geflüchtet.
»Ja, ich glaub's auch«, entgegnete der Alte, »heute kommt sie nicht mehr, sie hat sich zu sehr erschreckt; möchte nur wissen, warum. Sie geht freilich allen Menschen aus dem Wege, aber das tut sie gewöhnlich still, ohne daß es die andern groß merken... Ich weiß nicht, was heute in sie gefahren ist; Sie sehen doch wahrhaftig nicht so aus, daß man sich fürchten müßte, Herr Werner!«
Der Blick des Alten glitt bei diesen Worten wohlgefällig über die auffallend schöne, imposante Gestalt des jungen Mannes; der aber zog seine Brieftasche hervor und zeigte Jakob die gefundene Bleistiftzeichnung.
»Ach, das ist Lenchen ihre sel'ge Mutter!« sagte dieser. »Das Bildchen hat die Kleine selbst aus dem Gedächtnis gemacht.«
»Wie«, rief Werner erstaunt, »das junge Mädchen?«
»Jawohl, die malt wie irgendeiner. ›Setze dich hierher, Jakob‹, sagt sie manchmal, wenn wir oben zusammensitzen. ›Siehst du, da kommt ein heller Sonnenstrahl, der fällt gerade auf deinen Kopf, so muß ich dich zeichnen.‹... Und da dauert's keine Viertelstunde, da steh' ich alter Kerl da auf dem Papier, daß die Leute hell auflachen, so ähnlich ist's... Da wohnte lange Jahre ein alter Maler im Kloster. Er soll seine Sache recht gut verstanden haben, allein, er war aus der Mode gekommen, die vornehmen Leute sagten, er lege nicht den rechten Verstand in die Gesichter... Du lieber Gott, da mag auch manchmal guter Rat teuer gewesen sein, denn etwas malen, was nicht da ist, dazu gehört wohl ebensoviel Kunst, als wenn man Glocken läuten will, die keinen Klöppel haben... Nun, der alte Mann hat gemerkt, daß in dem Lenchen was steckt; er hat sie hergenommen und hat ihr gezeigt, wie man die Bilder macht, und bald hat sie ihm geholfen an den Karmen und Patenbriefen, welche die gemeinen Leute gern schön gemalt haben. Der Alte ist nun vor ein paar Jahren gestorben, und Lenchen hat seine Kundschaft gekriegt, sie verdient manchen Groschen damit.«
Der alte Jakob hatte, während er noch mit Werner sprach, einige Luken zugemacht, schüttelte sich den Staub von Rock und Mütze, der hier oben massenhaft bei jedem Schritt aufwirbelte, und verließ darauf, nachdem er noch liebkosend mit der Hand über die große, prächtige Glocke gestrichen hatte, mit dem jungen Manne den Turm.
Sie schritten durch mehrere Straßen, bis sie vor einem großen, etwas düster aussehenden Gebäude – Werners Hause – stehenblieben.
Hier sagte der junge Mann: »Um in die Schwemme zu reiten, bist du nun zu alt, lieber Jakob; die Äpfel vom Baume kann ich mir jetzt auch selbst holen, denn ich habe ein Paar tüchtige Arme, wie du siehst. Aber eine männliche Aufsicht in meinem Haus und Garten und ein treues, ehrliches Gesicht, welches mir jeden Augenblick meine fröhliche Kinderzeit zurückruft, das kann ich brauchen. Wenn du also willst, guter Alter, so kannst du samt deiner Frau jeden Tag in die hübsche Hofwohnung meines Hauses einziehen. Es ist mir eine Freude, für deine alten Tage zu sorgen. Deshalb aber bleibt es dir doch unverwehrt, den Glocken und deinem scheuen Liebling auf dem Turme jeden Sonntag deinen Besuch zu machen.«
Jakob sah ihn an, als träumte er. Zitternd faßte er die Hand Werners und brachte in all seiner Glückseligkeit nichts weiter heraus als: »Ach, Herr, ob ich will!... Mit tausend Freuden, ja, aber lassen Sie mich jetzt geschwind heim... Was wird nur meine Alte dazu sagen, die springt deckenhoch vor Freude, wenn's noch geht mit ihren alten Beinen!«
Und damit rannte er spornstreichs die Straße hinab. Werner faßte den blanken Messingknopf an der Haustür und läutete. Alsbald erschien droben im schrägen Spiegel am Fenster ein altes Damengesicht mit hochmütigen, harten Zügen, von einer sehr gesteiften, schneeweißen Haube umgeben; es verschwand ebenso schnell wieder, und sogleich öffnete sich der Torflügel mit jener Schwerfälligkeit und Vornehmheit, wie sich massive Torflügel in alten und reichen Häusern zu öffnen pflegen.
Der junge Werner war das einzige Kind sehr vermögender, angesehener Eltern, die er jedoch schon im fünfzehnten Jahre verlor. Ein alter Onkel, geistlichen Standes und in einer entfernten Stadt wohnend, wurde sein Vormund und nahm ihn zu sich. Hier erhielt er eine vortreffliche Erziehung. Er besuchte das dortige Gymnasium, bezog später die Universität und ging dann nach Italien, dem Ziel seiner heißesten Jugendwünsche. Er hatte ein ausgezeichnetes Malertalent und lebte dort, völlig unabhängig durch sein Vermögen, nur der Kunst. Nach sechsjährigem Aufenthalt im Süden erfaßte ihn jedoch mit einemmal das Heimweh, und er kehrte nach Deutschland zurück, um wenigstens auf einige Zeit wieder an dem Orte zu leben, wo er ein glückliches, vorzüglich von der Mutter zärtlich geliebtes Kind gewesen war. Eine alte, verwitwete Tante hatte während seiner langen Abwesenheit sein Vaterhaus bewohnt und imstande erhalten, und so fand er bei seiner Zurückkunft wenigstens eine bequeme Häuslichkeit, wenn auch kein treuer Mutterarm ihn mehr empfing und jener Liebesstrahl des mütterlichen Auges erloschen war, der seine Kindheit verklärt hatte.