Eugenie Marlitt
Die zwölf Apostel
Eugenie Marlitt

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Die Gäste wurden freudig, aber auch mit Vorwürfen begrüßt, weil sie gar so spät kamen, und Jakob meinte, er kenne seinen Nachtraben, das Lenchen, schon; das könne den Sonnenschein nicht vertragen und gehe nur bei Nacht um, wie ein Geist; worauf ihm Magdalene erwiderte, daß sich die Muhme doch noch mehr vor dem Lampenschein fürchte, weil sie durchaus nicht in den hellerleuchteten Hausflur gewollt habe.

»Ja, heute ist's aber doch ganz erschrecklich hell da drüben, es ist großer Tee bei der Frau Rätin«, sagte Jakob, und um seine Lippen spielte ein leichter Humor, der sein Gesicht oft so charakteristisch machte. »Die Frau Rätin haben drei Tage lang Brezeln und Torten gebacken, Kapaunen gebraten, gescheuert und Teppiche ausklopfen lassen, von denen kein Stäubchen kam, weil sie beinahe alle Tage durchgeprügelt werden...«

»Jedes will seine Freude haben«, sagte Jakobs Frau neckend, »und wenn die da droben das Fegen und das Wasser liebt, so bist du kein Feind vom Bier – laß gut sein!«

Mit diesen Worten stellte sie einen kleinen Steinkrug voll schäumenden Biers auf den Tisch und gab ihrem Mann dabei einen leichten Schlag auf die Schulter; sie standen nämlich sehr gut zusammen, die zwei alten Leute. Dann holte sie von einer altersschwarzen Eckkonsole – Kannröckchen genannt – drei schön bemalte Tassen, eine blanke Zuckerdose von Zinn und einen Teller voll Semmeln, lauter Vortruppen eines gemütlichen Kaffees, der denn auch bald dampfend auf dem Tische stand.

Magdalene hatte sich während dieser Vorrichtungen, bei denen Jakobs Frau nicht unterließ, sehr lebhaft zu erzählen und der Seejungfer Fragen vorzulegen, wie ermüdet auf ein niedriges Bänkchen nicht weit von des Alten Lehnstuhl gesetzt und starrte, das Kinn auf die Hand gestützt, unverwandt hinauf nach der gegenüberliegenden, glänzend erleuchteten Fensterreihe, deren Flügel der Schwüle wegen weit offenstanden.

Was sieht das junge Mädchen?... Die weißen Vorhänge blähen sich im Nachtwind, der feucht und leise vorüberstreicht; denkt sie an die gewaltige Flut, die an dem heimatlichen Strand rauscht? Fern, fern zieht ein Boot, und die weißen Segel schwellen im Winde... oder taucht aus der Masse prächtiger Schlingpflanzen in der Fensternische das Vaterhaus im Süden mit seinen sonnenbeschienenen Mauern und der niedrigen Tür, aus welcher die goldlockige Mutter mit den hellen, frommen Augen tritt?... Droben auf einer hellen Wand, von dem blendenden Licht des Kristallkronleuchters überströmt, hängt das lebensgroße Ölbild eines Knaben, ein schönes, stolzes Kind mit leuchtenden Augen und einer wunderbar klaren Stirn unter der blonden Lockenfülle... und die blauen Augen leuchten mit so bezwingender Gewalt, daß Heimat und Vaterhaus in weite Ferne zurückfliehen, das sagen die träumerischen schwarzen Augen drunten im ärmlichen Stübchen.

Einzelne Passagen auf dem Klavier drangen jetzt von drüben herüber, und in eines der Fenster trat eine Gestalt, es war die blonde Antonie, die Enkelin der alten Rätin. Sie war ganz in Weiß gekleidet. Ihre entblößten, blendendweißen und sehr schön geformten Schultern umschloß ein wahrer Duft von Tüll und Spitzen, und auf dem weißblonden Scheitel lag ein Kranz von zarten Rosen. Sie sah sehr hübsch und elegant aus.

Kaum hatte sie sich in die Fensternische zurückgezogen, als Werner zu ihr trat. Das Licht des Kronleuchters fiel auch blendend auf seine Züge, wie auf das Bild des Knaben; die Ähnlichkeit zwischen beiden war wunderbar, allein aus dem schmächtigen Kinde war ein hoher Mann mit fast königlicher Haltung geworden... Er faßte die Hand des jungen Mädchens zwischen seine Hände, als ob er sie beschwöre. Sie schien seinen Bitten widerstehen zu wollen, aber zuletzt, als er ihren Arm in den seinen legte, ging sie mit ihm und lachte hinter dem vorgehaltenen Fächer, als er seinen Kopf vertraulich herabbog und ihr etwas zuflüsterte.

Magdalene hatte diese kleine Szene mit angesehen, ohne sich zu regen, aber sie biß die Zähne zusammen wie im heftigen Schmerz, und mit sprühenden Augen verfolgte sie die junge Dame, die, jetzt ein Notenblatt in den Händen, zum Klavier trat. Gleich darauf erscholl eine ziemlich harte, spitze Stimme, die ein schönes, inniges Lied ohne alles Verständnis vortrug.

»Sie singt schlecht«, murmelte Magdalene. »Ihre Stimme ist dünn und farblos wie ihr Haar.«

Als der Gesang schwieg, rauschte ein wahrer Beifallssturm durch den stillen Hof. Jakob aber bog sich zu Magdalene hinüber und legte seine Hand liebkosend auf ihren glänzenden Scheitel.

»Gelt, Lenchen«, sagte er, »da machen's unsere Glocken doch ganz anders. Wenn die anfangen, da weiß man gleich, weshalb sie den Mund auftun, aus dem Gepimpel da droben aber kann kein Mensch klug werden... Weiß nicht, was die Leute davon haben, wenn ihnen so ein Messer durch die Ohren fährt.«

Da kam er jedoch schlecht an bei seiner Frau und der Seejungfer. Sie hatten den Gesang sehr schön gefunden und konnten sich nicht satt sehen an der jungen Dame droben, wie sie beim Singen das bekränzte Haupt hin und her bog und die Augen zum Himmel aufschlug; ja sie behaupteten sogar, sie sähe aus wie ein leibhaftiger Engel, als sie gleich darauf in die Fensternische trat, wo die hohe Gestalt Werners während des Gesanges regungslos gelehnt hatte. Und als sie nun vertraulich ihre Hand auf seinen Arm legte und ihm mit einer graziösen, schelmischen Bewegung ein riesiges Bukett an das Gesicht hielt, damit er den Blumenduft einatme, da meinten die zwei Alten, der müsse doch kein Herz im Leibe haben, der sich nicht auf der Stelle in sie verliebe.

»Ach, laßt mich in Ruhe«, sagte Jakob, und das ironische Lächeln erschien in seinem Gesicht. »Ihr seid auch gerührt, wenn die Spittelweiber in der Kirche neben euch zetern, daß einem das Hören und Sehen vergeht... Und wenn ein so junges Ding wie die da in einer weißen Fahne steckt, da sind alle himmlischen Heerscharen Bettelvolk dagegen!... Das Mädel da droben ist nicht um ein Haar besser als die Alte auch, sage ich euch. Keine weiß sich zu lassen vor Hochmut... und wenn die Kleine jetzt so schön tut und heuchelt und schmeichelt, so weiß sie auch, warum. Sie ist arm wie eine Kirchenmaus, und es wäre gar nicht bitter, sich hier in die Wolle zu setzen und eine reiche Frau zu werden... Aber Herr Werner ist nicht auf den Kopf gefallen, der sieht durch zehn Wände, wo die Leutchen hinauswollen.«

Er nahm bedächtig eine Prise Schnupftabak, die er während der ganzen Demonstration zwischen den Fingern gehalten hatte, dann fuhr er fort: »Ihr braucht euch überhaupt nicht einzubilden, daß mein junger Herr eine aus hiesiger Stadt freit, das weiß ich besser... Da hab' ich heute gegen Abend noch ein wenig gefegt in seiner Stube, wo er malt – nun, wie nennt er's doch gleich?«

»Atelier«, sagte Magdalene, ohne den Kopf nach ihm umzuwenden.

»Ja, richtig... und da lag auf dem Tisch ein großes Bild, es war nur gezeichnet, wie du's nennst, Lenchen, nicht bunt gemalt. Ich konnte das Gesicht nicht erkennen, weil ich nicht so nahe hingehen mochte; aber so viel hab' ich doch gesehen, daß es eine Frauensperson war, die ein weißes Tüchelchen auf dem Kopfe hatte, wie deine sel'ge Mutter in Welschland eines getragen hat, Lenchen. Da kam gerade Herr Werner herein... Er lachte, wie er meinen langen Hals sah. Nachher deckte er aber geschwind ein Tuch auf das Bild und sagte zu mir: ›Höre, Jakob, das brauchst du gerade noch nicht anzusehen; aber ich will dir etwas verraten, die da auf dem Papier wird einmal meine Frau‹... Er ist ja sechs Jahre in Welschland gewesen, und dort soll's gar erstaunlich schöne Weibsbilder geben.«

Mit höchster Aufmerksamkeit, aber regungslos hatte Magdalene dem Alten zugehört. Sie legte den Kopf an die Wand, die Hände ruhten zusammengefaltet auf den Knien, und die langen Wimpern lagen tief gesenkt auf den bleichen Wangen, als ob sie schliefe.

Unterdes wurde droben tapfer weiter musiziert. Antonie ließ sich noch einige Male erbitten, sie sang sogar eine kolorierte italienische Arie, deren Ausführung den alten Jakob zu dem Vergleich veranlaßte, es sei gerade, als ob jemand die Treppe herabfiele und Hals und Bein bräche... Der junge Werner war schon längst vom Fenster zurückgetreten und schien auch das Zimmer verlassen zu haben, denn man sah ihn nicht mehr.

Eben, als vier Hände in einem Konzert das Klavier nicht gerade meisterhaft bearbeiteten, wurde an Jakobs Fenster geklopft, und als der Alte es öffnete, reichte Werners Bedienter ein Körbchen voll prächtiger Orangen nebst einem Gruß seines Herrn herein. Der Bursch fügte ausdrücklich hinzu, er habe schon früher herübergesollt, allein, erst sei er beim Präsentieren des Tees beschäftigt gewesen, und eben noch habe er Wein herumreichen müssen.

Jakob hielt mit einem strahlenden Gesicht Magdalene das Körbchen hin. »Siehst du, Lenchen«, sagte er, »das macht mir große Freude deinetwegen... Weißt du noch, daß du dich einmal beinahe krank nach einem solchen gelben Ding gesehnt hast?«

»Ja«, sagte das Mädchen und hob die Augen zu ihm empor; sie schwammen in Tränen. »Ich weiß es noch, guter Jakob. Du machtest mich wieder gesund, indem du für teures Geld eine Orange kauftest und mir auf den Turm brachtest. Damals war es mir, als hätte ich einen Blick in meine Heimat getan, ich war glückselig... Jetzt aber könntest du mir Schätze hinlegen, ich möchte um alles in der Welt keine dieser Früchte berühren.«

Jakob sah sie erstaunt an, aber die Seejungfer, die bei all ihrer harmlosen Anschauung die Weigerung des Mädchens nach der stattgehabten heutigen Szene doch erklärlich fand, zupfte ihn bedeutungsvoll an der Jacke, wobei sie ihm zublinzelte. Er schwieg denn auch, holte sein Taschenmesser hervor und zerlegte eine Orange für die beiden alten Frauen.

Drüben im Hause war es stiller geworden. Die Musik war verstummt; auch das Stimmengesurr hatte nachgelassen. Statt dessen grollte ganz fern der Donner, der Nachtwind blies heftiger durch die offenen Fenster, jagte die Vorhänge wie weiße Schwäne hinaus in die pechdunkle Nacht und warf einige Türen ins Schloß.

Der Seejungfer wurde bange. Sie trieb zum Aufbruch, und bald eilten die zwei Frauen, die Köpfe in große Tücher gehüllt, über den Hof.

In der offenen Glastür, welche die Treppe von dem Hausflur abschloß, stand Antonie, die Enkelin der Rätin. Sie hatte eben die scheidenden, in Kapuzen und Mäntel gehüllten Freundinnen der Reihe nach geküßt und wandte sich lachend zum Fliehen, weil einige derselben sie mit dem »bezaubernden Vetter« neckten, als sie die Seejungfer und Magdalene gewahrte, die sich eben erschrocken wieder zurückziehen wollten. Das junge Mädchen zog die weißblonden Augenbrauen in die Höhe, sah noch einmal blinzelnd hinüber, wobei ein überaus hochmütiger Zug um Mundwinkel und Nasenflügel erschien, und winkte dann einem mit der Laterne auf seine Herrschaft wartenden Bedienten, der sofort in barscher Weise frug, was die beiden hier zu suchen hätten.

Als sie schwiegen, drehte sich das blonde Mädchen mit einer systematisch nachlässigen Bewegung nach der Treppe um und rief mit dem Ton eines verzogenen vornehmen Kindes hinauf: »Großmama, es sind fremde Leute im Hausflur!«

Die alte Rätin, die mit einem sehr dicken Herrn langsam im Gespräch herabkam, beeilte möglichst ihre Schritte, und als sie nun unten stand, zornig das falsche Toupet unter der großen Haube schüttelnd, da versammelten sich die in Kapuzen gehüllten jungen Freundinnen schleunigst um sie, wie die Lämmer um den getreuen Hirten, in den frommen, schuldlosen Zügen einen nicht zu bezweifelnden Abscheu, verbunden mit dem Ausdruck unendlicher Wißbegierde. Selbst der Bediente gesellte sich zu der Herde und hielt, trotz des Lampenlichtes, das von der Decke herabfloß, seine Laterne über die Köpfe der Delinquentinnen, um sie gleich von vornherein der Möglichkeit zu berauben, ihre verbrecherischen Absichten in ein wohltätiges Dunkel zu hüllen.

Die alte Dame faßte ohne weiteres das schwarze Tuch, das die Seejungfer über ihren Kopf gebunden hatte, und zog es herunter.

»Das ist ja die Seejungfer«, sagte sie mit harter, blecherner Stimme. »Und wer ist denn diese Mamsell da?« fuhr sie fort, indem sie ihren dünnen Zeigefinger nach Magdalene ausstreckte. »Die mummt sich ja ein, als wäre sie das böse Gewissen selbst... Auf der Stelle sagt, was ihr hier gewollt habt.«

Magdalene schwieg abermals, und die Seejungfer brachte vor Schrecken kein Wort heraus.

»Nun, könnt ihr nicht antworten?« fragte streng der dicke Herr, ohne Zweifel ein allmächtiger Beamter, dem die Justiz aus Stirn, Augen, Nase, ja womöglich aus den Rocktaschen guckte. Er hatte mit der Frage zugleich seinen Stock derb auf das Steinpflaster gestampft und schien die unglückliche Seejungfer mit seinen Blicken durchbohren zu wollen. Diese Manöver brachten denn auch endlich Suschens erstarrte Zunge in den erwünschten Fluß, und stammelnd erklärte sie, daß sie bei Jakob gewesen seien.

»Ach, liebster Egon«, rief in diesem Augenblick sich umdrehend die alte Rätin mit möglichst weicher und milder Stimme, als am oberen Treppengeländer der junge Werner erschien, »hier hast du den schlagendsten Beweis, daß meine wohlgemeinten Vorstellungen begründet gewesen sind. Mit diesem Jakob hast du dir – mich will ich gar nicht nennen – eine wahre Rute aufgebunden. Unter dem Vorwand, ihn zu besuchen, schleicht sich bei Nacht und Nebel allerlei Volk ins Haus, und man wird künftig genötigt sein, über jeden silbernen Löffel die Hand zu halten.«

Bei dieser abscheulichen Schlußwendung trat Magdalene rasch gegen die Sprechende vor. Das Tuch war vom Kopf gegen die Schultern gesunken, und so stand sie mit sprühenden Augen, das ideale Haupt hoch gehoben, vor der alten Frau, welche sie erschrocken und verblüfft ansah. Zugleich war Werner die Treppe herabgesprungen. Eine flammende Röte bedeckte sein Gesicht, und als er zu sprechen anfing, bebte seine Stimme wie im heftigen Zorn.

»Was fällt Ihnen ein, Tante«, rief er, »diese Leute ohne weiteres so zu beleidigen?... Ist es ein Verbrechen, wenn sie Bekannte besuchen?... Ich habe Ihnen bereits einigemal erklärt, verehrteste Frau Tante«, fuhr er fort, und sein Ton klang spöttisch, »daß ich durchaus nicht leide, wenn Sie mir den Jakob anfechten, und sehe mich in diesem Augenblick genötigt, diese Erklärung insofern zu vervollständigen, als ich auch diejenigen unangefochten sehen will, mit denen er verkehrt.«

Mit diesen Worten schritt er nach der Haustür, öffnete sie und sagte mit einer leichten Verbeugung den zwei Frauen gute Nacht, die eiligst hinausschlüpften.

Bald nachher entlud sich ein heftiges Gewitter über der Stadt; und wenn die gelben Blitze um das alte Kloster zischten und die kleine Kammer Magdalenes tageshell durchflammten, da beleuchteten sie das Mädchen, wie sie bleich, die Hände tief eingewühlt in das aufgelöste, reiche Haar, auf dem Bett saß – einem größeren inneren Sturm preisgegeben, als der war, der draußen an den alten Mauern rüttelte.


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