Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.
»Rache!«

»Großartiges Haus!« sagte eben Herr Pimbusch, als Andreas die Türkheimersche Loge betrat.

Frau Türkheimer und Frau Pimbusch saßen auf den Vorderplätzen, Asta mußte hinter ihnen vorliebnehmen. Sie wies mit dem Fächer auf den üppigen Nacken ihrer Mutter und bemerkte zu Liebling, der neben ihr stand:

»Ich werde durchaus gar nichts zu sehen bekommen. Um so besser, wenn man nur auch mich nicht sieht. Was für eine abscheuliche Wirtschaft!«

Liebling widersprach vorsichtig.

»Man muß abwarten. An sich begrüße ich es als erfreuliches Anzeichen einer sozialen Wiedergesundung, daß wir auch einmal die Stätte kennenlernen, wo das Volk sich sein Vergnügen und seine Belehrung holt.«

Das junge Mädchen antwortete nur durch einen entrüsteten Blick auf die Bretterwand neben ihr, von deren Papiertapete große Fetzen herunterhingen.

Der stillose, kahle Saal vermochte in seiner spärlichen Beleuchtung selbst heitere, gut gesättigte Menschen trübe zu stimmen. Eine Erinnerung an Dürftigkeit und Sorge schien grau in der Luft zu liegen.

»Finden Sie nicht, daß wir uns ausnehmen wie in einer Leichenbitterversammlung?« fragte Andreas Herrn Pimbusch.

Aber der Schnapsfabrikant war für Stimmungen weniger empfänglich.

»I wo!« rief er. »Wir sind doch in allerbester Gesellschaft. Es ist ja schick, hier zu sein. Was glauben Sie denn? Passen Sie mal auf!«

Im Orchester brach unvermutet ein barbarischer Lärm los, der die nichtsahnenden Trommelfelle so jäh zerriß, daß die Damen erschreckt von ihren Sitzen aufschnellten. Frau Pimbusch sank sogleich auf den ihrigen zurück. Sie lachte nervös.

»Ah! Das war nur der Anfang vom Vergnügen! Ich finde es reizend!«

Gleichzeitig ward es ein wenig heller im Saal, und Pimbusch stieß Andreas an.

»Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Großartiges Haus!«

Zu seiner Verwunderung sah der junge Mann sämtliche Logen mit vornehmen Damen besetzt. Noch hoch oben unter der Decke blitzten Brillanten auf, Atlasreflexe von Theatermänteln schimmerten aus den Hintergründen der schmutzigen kleinen Bretterbuden. Auf die unsauberen Logenbrüstungen stützten sich nackte Frauenarme, es lagen echte Spitzen darauf, und durch die Fächerschläge der Damen in Bewegung gesetzt, schwebte von einer Loge zur anderen eine Wolke von Wohlgerüchen und Staub.

Frau Türkheimer verneigte sich.

»Frau Mohr hat uns begrüßt«, bemerkte sie.

»Ach, und die kleine Blosch sitzt neben ihr«, sagte Frau Pimbusch. »Die liebe Unschuld in ihrem weißen Kleidchen! Ob auch die Mädchenpensionate sich ›Rache!‹ ansehen wollen?«

Frau Türkheimer hob die Achseln.

»Liebe Claire, Sie erwarten zu viel. Es wird nicht so schlimm sein.«

»Halb so schlimm!« sagte eine Stimme. »Es heißt, daß die Vorstellung vom Männerbunde für Sittlichkeit veranstaltet ist.«

Herr Stiebitz beugte sich aus der Nachbarloge herüber und ließ sein weißes Gesicht sehen, dessen schlaffes Fett Andreas mit Freude wiedererkannte. Er war dem Bankier am Spieltisch unter so freundlichen Umständen begegnet. Auch Frau Stiebitz und die Kommerzienrätin Bescheerer begrüßten die Damen.

»Das Stück soll ja 'n bißchen kräftig sein?«

»Sagen wir, leicht gemein.«

»Man muß es nicht übelnehmen, wir sind hier bei kleinen Leuten«, bemerkte Stiebitz.

Pimbusch drängte sich, trotz der entrüsteten Abwehr seiner Gattin, bis an die Brüstung vor, um Bekannte im Parterre zu begrüßen. Man mußte sehen, daß er da war. Die Unterhaltung griff von einem Rang zum andern über, im ganzen Saal schienen alle einander zu kennen. Unter den Frauen beobachtete Andreas vielfach eine gewisse Familienähnlichkeit. Frau Pimbusch war durchaus keine vereinzelte Erscheinung, denn zahlreiche Damen zeigten eine ausgesprochene Neigung, die Kokotten zu kopieren. Mochte dies nun das letzte Raffinement bedeuten oder ein vom weiblichen Instinkt ihnen eingegebenes Mittel sein, um die Konkurrenz zu schlagen.

Die Lorgnons klapperten, und die Toiletten wurden kritisiert. Frau Bescheerer war pfirsichfarben mit Ekrüspitzen, Frau Mohr in reseda Foulardseide, und ihr Rock fiel über rosa Atlas. Frau Türkheimer trug eine dunkle Moirérobe, am Hals mit durchsichtigen Spitzen durchbrochen, unter denen die Haut mattweiß schimmerte. Andreas hatte gar nichts gegen sie einzuwenden, er empfand, wenn er ihren Nacken betrachtete, sogar etwas Kaltes im Magen, ein Vorgefühl künftiger Leidenschaften.

Man nannte einander die berühmten Männer. Die Kritik war vollständig anwesend, darunter der große Doktor Abell vom »Nachtkurier« neben Professor Schwenke, dem künstlerisch emanzipierten Akademiker. Wennichen, der keinen eigenen Platz zu besitzen schien, zeigte bald hier bald dort seinen lächelnden Vogelkopf mit dem tanzenden Flaum. Er erwies soeben Lizzi Laffé die Ehre seines Besuches. Sie thronte in ihrer Loge, Frau Türkheimer schräg gegenüber, neben Werda Bieratz. Diederich Klempner hielt sich bescheiden im Hintergründe.

Das diplomatische Korps war durch mehrere seiner Mitglieder aus entlegenen Republiken vertreten, gebräunte Herren mit bunten Ordensbändern. Türkheimer, in seiner Eigenschaft als Generalkonsul von Puerto Vergogna, weilte unter ihnen.

Einige Angehörige der besten Gesellschaft, die nur noch schlechte Stehplätze bekommen hatten, brachen in schrilles Pfeifen aus und veranlaßten hierdurch die wütenden Lärmmacher im Orchester, endlich zu schweigen. Der Vorhang hob sich, und unter feierlicher Stille des ganzen Hauses nahm das soziale Drama »Rachel« seinen Anfang.

Die Szene war im preußischen Osten, in einem kleinen Industrieort, den ein Fabrikdirektor und seine Gattin beherrschten. Links auf der Bühne lag das Herrenhaus, rechts die Kirche. Die Exposition erfolgte einfach und energisch. Die hungernden Arbeiter zogen auf. Es war Sonntag, der Schnapswirt, dem sie auf Monate hinaus ihren Lohn schuldeten, verabfolgte nichts mehr. Daher kamen sie auf den Gedanken, Rache zu nehmen für alles, was die Gesellschaft an ihnen verschuldet hatte. Sie hantierten täglich mit Schwefel, Quecksilber oder ähnlichen Giften. Sie waren Greise mit vierzig Jahren, und viel älter wurde keiner. Die meisten waren tuberkulös. Dann kam die Sittenverderbnis hinzu, die ebenfalls von oben ausging, denn man wußte nicht, wer schlimmer war, der Direktor oder seine Frau. Es traten unförmliche und fahle, betrunkene junge Mädchen auf, die alle von dem Herrn ins Unglück gebracht worden waren. Seine Frau beanspruchte die Dienstleistungen der wenigen noch kräftigen unter den jungen Leuten, denen sie überdies eine abscheuliche Krankheit mitteilte.

Die Enthüllung dieser Zustände rief im Publikum tiefe Bewegung hervor. Die hohläugigen Gestalten der Proletarier stampften im Schnee umher, ihre eingefallenen Brüste kämpften mit Fieberschauer und Atemnot. Vor verzweifelter Wut hatten viele roten Schaum vor dem Munde, und es ward auf der Bühne mehr gehustet als gesprochen. Hier und da klappte in einer Loge ein Fächer zu, und ein Schluchzen ließ sich vernehmen.

Darauf begannen zwei junge Leute den Genossen ihr Leid zu klagen. Das Mädchen mußte den Direktor hinter der Kirche erwarten, der Bursche war von der Frau in den Garten des Herrschaftshauses bestellt. Im Weigerungsfalle wurden sie weggejagt, und ihre arbeitsunfähigen Eltern waren brotlos. Sie mußten sich also wohl fügen, aber die Schande hatte lange genug gewährt, und die Rächer folgten ihnen in einiger Entfernung. Die Wartezeit, bis weitere Ereignisse eintraten, ward von dem Röcheln der Kranken ausgefüllt. Plötzlich ertönte ein gellender Schrei, dem wüstes Gejohle folgte, und die Messalina ward von den Männern auf die Bühne geschleppt. Die Weiber warfen sich auf sie, brachten ihre Röcke in beträchtliche Unordnung und begannen die nicht mehr bekleideten Körperteile lebhaft zu bearbeiten. Eine nach der anderen sagte ihr sodann die Wahrheit ins Gesicht, worauf die Dame, vor Zorn und Angst in den Naturzustand zurückgefallen, mit der gleichen schmutzigen Beredsamkeit entgegnete.

Es war eine Szene, der niemand widerstand. Der Racheschrei des ausgesogenen, geschändeten Volkes ging durch das ganze Haus. Er durchschüttelte die Damen, daß ihre Brillanten klirrten. Frau Pimbusch stieß unverständliche Laute aus, während sie auf ihrem Stuhl auf- und niederflog. Sie mußte von Frau Türkheimer beruhigt werden. Die Millionäre auf den Stehplätzen schrien da capo. Ihre weißen Handschuhe klafften bereits, und infolge ihres minutenlang anhaltenden Beifallssturmes war man genötigt, den Vorhang herabzulassen. Ein Herr in schmierigem Frack trat davor und entschuldigte die Darstellerin der Fabrikdirektorsgattin, wenn sie die Szene nicht wiederholen könne. Sie müsse fürchten, durch ihre arg beschädigte und lückenhaft gewordene Kleidung das Schamgefühl des geehrten Publikums zu verletzen. Aber einige Parkettbesucher bestanden darauf, ihr einen riesigen Lorbeerkranz zu überreichen, und um ihn entgegenzunehmen, streckte sie einen Arm in zerfetztem Ärmel hinter dem Vorhange heraus. Erst jetzt konnte das Spiel fortgesetzt werden. Der lüsterne Direktor war seinem gefährlichen Stelldichein rechtzeitig ausgewichen und in das Haus entkommen. Er erschien in Begleitung mehrerer bewaffneter Helfershelfer am Fenster und wagte es von hier aus, den abscheulichsten manchesterlichen Anschauungen Ausdruck zu verleihen. Auch feuerte er mit dem Mute seiner Verworfenheit in den wehrlosen Haufen der Proletarier. Diese zielten mit Steinen nach ihm, und endlich gelang es einem der Schleuderer, den Unhold niederzustrecken. Die Menge stürmte ins Haus, die Möbel und Kostbarkeiten flogen zertrümmert auf das Pflaster. Gleichzeitig vernahm man das Geläute von Schlitten. Höchst erwünscht trafen die Herren vom Verwaltungsrat aus der Provinzhauptstadt ein, um an einer Sitzung beim Direktor teilzunehmen. Vor dem verzweifelten Steinhagel der Aufrührer entflohen sie ebenso wie die herbeigeeilte Gendarmerie. Ihre Schlitten wurden zertrümmert, und mit dem Holze schickten die Männer sich an, Feuer an das Herrenhaus zu legen. Indes die halbnackte Gattin des Ermordeten, im Kreise der tanzenden Weiber verborgen, ein Pfauengekreisch ausstieß, senkte sich langsam der Vorhang.

Einige Sekunden, während derer das Haus den Atem anhielt, vergingen, bevor sich der Beifall entlud. In den Augen der Damen, die schwer atmend über den Logenbrüstungen lagen, glänzten Tränen des Triumphes, und manche Herren waren bleich geworden. Die edelsten unter den sittlichen Trieben hatte das Gehörte und Geschaute mächtig aufgerüttelt, und auch als literarisches Ereignis konnte »Rache!« schon jetzt für unbestritten gelten. Es lag Elektrizität in der Luft, wie an großen Theaterabenden. Niemand verließ den Saal, und ein ununterbrochenes Gesumme bekundete die verhaltene Erregung aller Anwesenden. Der Ausspruch einer Autorität machte die Runde. In der Türkheimerschen Loge war es Pimbusch, der mit seinem ausgeprägten Sinne für das, was man meinen und sagen mußte, das Wort auf rätselhafte Weise irgendwoher aufgriff.

»Michelangelesk!« verkündete et plötzlich. ›Rache!‹ ist michelangelesk. Schwenke hat es gesagt.«

Liebling mußte zugeben, daß das Drama einen großen Zug habe, den er mit einer feierlichen Armbewegung anzudeuten versuchte. Asta zog die Brauen zusammen.

»Ich finde, es ist ein ganz geschmackloses Machwerk«, erklärte sie verächtlich. Sofort fiel alles über sie her. Pimbusch stöhnte laut auf, so sehr schmerzte ihn ein solches Urteil. Er begriff es nicht, wie man anderer Meinung sein könne als der große Schwenke, und ratlos starrte er das junge Mädchen an. Aber seine Gattin entrüstete sich laut.

»Asta, Sie dauern mich! Sie haben kein Gefühl für das Höchste! Oh, wir haben noch die höchsten Genüsse zu erwarten!«

Ihre grünlichen Augen glitzerten unter den breiten, geröteten Lidern. Sie zitterte so, daß das Fläschchen mit Riechsalz, woran sie mit weit geöffneten Nüstern sog, ihren Händen entfiel.

Frau Türkheimer, heimlich mit süßeren Gedanken beschäftigt, blieb von den Aufregungen der Vorstellung ziemlich unberührt. Sie sagte begütigend:

»Aber liebe Claire, was erwarten Sie denn noch mehr? Das Volk hat sich doch gerächt.«

»Oh, es wird sich noch ganz anders rächen!« flüsterte die Frau des Schnapsfabrikanten, vor Leidenschaft heiser.

Andreas war unzufrieden. Er stand gegen die Tür gelehnt und hatte nur flüchtig einmal einen Blick auf die Bühne werfen können. Liebling und Pimbusch versperrten ihm die Aussicht auf Frau Türkheimers Nacken. Übrigens hatte sie sich noch gar nicht nach ihm umgesehen.

Man machte »Sst!«, und Andreas hörte das Rauschen des Vorhangs. Jetzt schienen die Aufrührer sich in der Kirche zu verbarrikadieren. Aber er gab es auf, peinlich vorgebeugt nach einem Ausblick zu trachten. Wozu hatte Adelheid ihn herbestellt? Machte er heute keinen Fortschritt in ihrer Eroberung, so glich dies einer Niederlage. Er mußte dann wahrscheinlich von vorn beginnen. Das wünschte sie vielleicht? Oder hatte sie ihn nur darum hier aufgepflanzt, damit er durch seine Anwesenheit bezeuge, daß sie noch immer neue Verehrer an sich fessele? Jetzt beachtete sie ihn nicht einmal, und er fürchtete, sich lächerlich zu machen, was sie offenbar beabsichtigte. Der arme junge Mann war voll Mißtrauen, und eine vollständige Mutlosigkeit kam ebenso rasch über ihn, wie sonst seine sanguinischen Hoffnungen.

Ein heftiges Knattern und Poltern erweckte ihn aus seinen Betrachtungen. Ah! Jetzt waren die Truppen angelangt, sie schossen in die Kirche hinein. Aber die Proletarier hatten sich Gewehre verschafft, sie erwiderten das Feuer von der Höhe ihrer Barrikaden aus, die mit umgestürzten Altären, Kirchenbänken und Beichtstühlen errichtet waren. Die Weiber standen zuvorderst, sie foppten das Militär so lange mit obszönen Gebärden, bis sie, von einer Kugel getroffen, kopfüber hinunterpurzelten. Im Vordergrunde der Bühne ward der kriegsgefangenen Messalina mit Gewalt ein Chorhemd übergezogen. Man führte sie auf die Kanzel und stieß sie hinab, daß das Hemd aufgebauscht um sie her flatterte. Unten ward sie von emporgestreckten Armen aufgefangen, und die Männer setzten den Spaß fort, indem sie mit der halbtoten Gattin des Bourgeois Fußball spielten. Dann tauchten sie die Unglückliche in ein großes Weihwasserbecken, um sie schließlich ganz durchnäßt auf die Barrikade zu stellen, dorthin, wo die meisten Schüsse fielen. Ein feiner Zug war es, daß auch die Soldaten beim Anblick der so zugerichteten Dame das Lachen nicht zurückhalten konnten. Diese Episode hatte einen starken Heiterkeitserfolg. Das Parterre krümmte sich, viele von den Inhaberinnen der Logen, darunter Frau Pimbusch, schluchzten leise vor Vergnügen.

Die Inszenierung wäre einer größeren Bühne würdig gewesen. Die fahlen, todkranken Menschen, die mit von Haß ersticktem Geschrei und mit seltsam verzerrten Gesichtern im flackernden Licht der Altarkerzen auf ihrer Verschanzung und in der zertrümmerten Kirche umhersprangen, brachten eine phantastische Wirkung hervor. Doch fühlte sich das Publikum nicht ganz befriedigt. Die Polizeiverordnung, die den Mißbrauch der Kirchengefäße zu unsauberen Zwecken untersagt hatte, machte einen reinen Eindruck der Vorgänge unmöglich. Und obwohl die Proletarier schließlich durch ihren siegreichen Ausfall das Militär vertrieben, hinterließ der Akt eine ziemlich flaue Stimmung.

Pimbusch beunruhigte sich wegen der Meinung, die man hiernach über »Rache!« haben mußte.

Seine Frau erklärte:

»Man fühlt doch nicht genug dabei.«

Liebling setzte streng abweisend hinzu:

»Ich kann so etwas nicht als Kunst anerkennen. Wo ist hier der sittliche Gedanke?«

»Oh, der liegt doch im Plan des Ganzen. Übrigens kommt er vielleicht noch«, sagte Frau Türkheimer milde. Aber der Zionist war schwer zu besänftigen.

»Das Stück hatte von Anfang an etwas Brutales«, bemerkte er.

»Kunststück!« rief Kaflisch, der an der Tür erschien: »Das ist doch gerade der Witz von dem sozialen Drama! Kräftige volkstümliche Instinkte, Wollust und Grausamkeit, die sonst eher im Panoptikum befriedigt werden, in 'ne gewisse höhere Sphäre erheben, das will unser sinniger Dichter.«

Er schnupperte in der Luft umher.

»Es riecht hier ordentlich nach der Volksseele! Wissense, woran ›Rache!‹ mich erinnert?«

»Nun?« fragte Pimbusch.

»An allerlei handfeste Dichtwerke, wie sie das Volk liebt, zum Beispiel an die Memoiren eines Dienstmädchens: ›Haß, Rache und Verzweiflung treiben mich auf die Bahn des Lasters‹.«

Die Damen rümpften die Nasen. Die Ankunft des Freiherrn von Hochstetten beraubte den Journalisten weiterer Erfolge. Astas Verlobter schien weniger ermüdet als gewöhnlich. Er blickte ängstlich und erregt umher, bevor er sich zu äußern wagte.

»Ich habe den Schluß des Aktes von unten mit angesehen. Das Machwerk ist doch viel krasser, als ich geahnt habe. Wenn man erfährt, daß ich die Aufführung befürwortet habe – ich habe nämlich das Polizeiverbot verhindert – dann –. Mit Seiner Exzellenz ist nämlich nicht zu spaßen«, schloß der geängstete Beamte mit einer mutlosen Handbewegung.

Seine Schwiegermutter und Frau Pimbusch sahen ihn unbestimmt lächelnd an. Da er den Trost, den er suchte, hier nicht fand, schickte er sich unsicheren Schrittes zum Weitergehen an.

»Hätte das Stück wenigstens Erfolg!«

Mit diesem tiefen Wort öffnete er die Tür. Aber Asta war erbittert über den kläglichen Eindruck, den ihr Bräutigam machte, und sie beschloß, ihn zu rächen.

»Gib mir meinen Mantel!« rief sie so laut, daß aus der Nebenloge Stiebitz seinen Kopf hereinsteckte.

Hochstetten gehorchte, und rauschend entfernte sie sich. Er folgte gesenkten Kopfes. Die zurückbleibenden Herren fühlten sich ein wenig verlegen.

»Gar nicht so dumm!« sagte Kaflisch. »Wenn wir dem Beispiel der Vorredner nachkämen und unter Protest das Lokal verließen?«

Frau Pimbusch zuckte die Achseln.

»Übrigens munkelt man allerlei über den anonymen Dichter.«

»Nun, wer ist es?« riefen die Damen. Aber der Journalist tat geheimnisvoll.

»Das möchten Sie wohl wissen? Ätsch, ich sag es aber nicht! Sehnsemal, wie da unten die Kritik ihre Köpfe zusammensteckt. Abell und Bär, Wacheles und Thunichgut sind ganz närrisch vor Neugier. Nu gehn sie hinaus, und ich gehe auch mit der Erlaubnis der Damen. Draußen muß man allerlei erfahren.«

»Warten Sie, ich komme mit!« rief Frau Pimbusch sofort. Die Herren schlossen sich an.

»Gnädige Frau bleiben im Saal?« fragte Andreas. Frau Türkheimer fächelte sich Luft zu.

»Oh, es wird hier weniger heiß sein als draußen. Es drängt jetzt alles auf den Korridoren umher.«

Sie gab ihm mit den Augen einen Wink, den er ausgezeichnet verstand. Er ging mit den anderen hinaus, verlor sie schnell im Gewühl und kehrte in die Loge zurück.

»Sie sind schon wieder da?« fragte Adelheid, schalkhaft, lächelnd.

»Sehen Sie, das Licht dort an der Wand blendet mich«, setzte sie hinzu.

Der gelehrige junge Mann begriff auch diese Andeutung. Er nahm Frau Türkheimers mit Pelz gefütterten Umhang und spannte ihn von der Logenwand so geschickt bis über die Brüstung aus, daß in den Winkel, wo die Dame saß, kein indiskreter Blick einzudringen vermochte. Sie lehnte sich zurück und sagte:

»Sie bekümmern sich also gar nicht darum, was man draußen über den Verfasser munkelt?«

Andreas reckte sich auf, er suchte sich Mut zu machen.

»Oh, ich bin nicht deswegen hier«, versetzte er.

»Nicht? Aber das Stück gefällt Ihnen doch?«

»Ich habe immerfort an Sie gedacht, gnädige Frau.«

Er wurde, sobald dies Geständnis heraus war, sehr rot, doch nahm er sich zusammen.

»Sie wollen mir weismachen, daß sie die ganze Zeit gar nicht gesehen haben, was gespielt wurde?«

»Darf ich sagen, was ich gesehen habe?«

»Bitte?«

»Aber Sie werden nicht böse sein?«

»Diesmal noch nicht.«

»Zwischen den Rücken von Pimbusch und Liebling hindurch habe ich fortwährend die Veilchen gesehen, die Sie am Halse tragen, und zuweilen, wenn ich besonders glücklich war, auch ein Stückchen von Ihrem Nacken, unter dem Spitzeneinsatz, gnädige Frau.«

Adelheid wiegte lächelnd den Kopf.

»Was für Dinge lernen Sie in Berlin!

Setzen Sie sich doch hierher!« sagte sie leiser.

Sie zog den Stuhl, auf dem Frau Pimbusch gesessen hatte, ganz nahe zu sich heran, so daß die Knie des jungen Mannes tief in die Falten ihres Kleides, zwischen ihre Knie eindrangen. So, aus nächster Nähe, sah sie ihm mit einer zärtlichen Frage in die Augen. Dann begann sie wieder:

»Nun sind Sie also doch hergekommen, anstatt zur Beichte zu gehen. Hoffentlich haben Sie meinetwegen nicht Ihr Seelenheil verscherzt. Aber es war wohl gar nicht so ernst damit?«

Andreas war im Gegenteil außerordentlich ernst geworden. Er senkte die Lider und biß sich auf die Lippen. Adelheid erschrak heftig über ihre Unvorsichtigkeit. Sie hatte ihn gekränkt! Wie sollte sie ihr Unrecht abbitten? Sie hatte Lust, ihn auf seine langen, weichen Wimpern zu küssen, die sein Gesicht tief beschatteten. Er schlug plötzlich die Augen auf, voll eines klagenden, hingebenden Gefühls.

»Sie hätten mich daran nicht erinnern sollen«, flüsterte er.

Sie entgegnete ebenso tonlos:

»Verzeihen Sie mir!«

Er neigte sich noch weiter zu ihr hinüber.

»Sie wissen nicht, Adelheid, was ich alles Ihnen opfern würde! Glauben Sie mir!«

»Ich glaube Ihnen, mein lieber Andreas«, entgegnete sie voll Innigkeit. Er erfaßte ihre Hand, die sie zu einer bittenden Gebärde erhoben hatte, und sogleich fühlte er sich zu ihr hingezogen, fast unmerklich und doch mit unwiderstehlicher Gewalt. Sie fing ihn rechtzeitig in ihren Armen auf, sonst wäre er allzu heftig gegen ihre Brust gesunken.

»Wie du mich liebst!« flüsterte sie, den Kopf weit zurückgelehnt.

Er suchte nach einem der Lage entsprechenden Ausdruck und stotterte:

»Oh, Adelheid! Laß mich dich immerfort so lieben, hier sind wir endlich glücklich!«

Gleich darauf schienen ihm diese Worte schlecht gewählt. In einer Theaterloge in Frau Türkheimers Armen zu ruhen, war ein Glück, das offenbar nicht von Dauer sein konnte.

Er hielt eine Hand an ihrer Hüfte, und ihre schweren Glieder schauerten unter seiner Berührung. Sie atmete mit Anstrengung, ihre Brust wogte unter dem Druck der seinigen. Sein Gesicht lag dicht über dem der Geliebten, und aus halbgeschlossenen Lidern hervor sah sie ihm in die Augen, mit einem Blick, in dem der Wille schmolz. Ihr Atem wehte ihm warm ins Gesicht, sie hatte die Lippen halb geöffnet. Weich und rot inmitten ihres mattweißen, breiten Antlitzes verführten sie Andreas, der seinen Mund darin vergrub, wie in ein Polster von sammetüppigen Rosenblättern. Er fürchtete, den Kopf zu verlieren, und fragte sich mit Beklemmung, wie dieses den peinlichsten Störungen ausgesetzte Schäferstündchen enden werde. – Adelheid mochte dieselben Bedenken hegen. Sie hob den Kopf, sah um sich, als kehrte sie zur Besinnung zurück, und seufzte:

»Nicht hier, Andreas!«

Im gleichen Augenblick fuhren sie auseinander, heftig erschreckt durch den Krach eines Paukenschlages, dem ein wirrer Lärm von Mißtönen folgte. Das Orchester hatte seine Tätigkeit wieder aufgenommen.

Andreas, der hastig seine Kleidung ordnete, glaubte zu bemerken, wie dort hinten, wo tiefe Dämmerung lag, die Logentür leise geschlossen wurde. Ja, es war ihm, als sei in dem Spalt, nur während einer Sekunde, Türkheimers wohlgelauntes Gesicht erschienen. Vermutlich war dies eine Sinnestäuschung, eine Folge seines Schreckens. Gleichwohl lagen ihm die rötlichen Koteletten sehr deutlich im Gedächtnis.

Er fürchtete, daß die kostbaren Minuten ihres Alleinseins ohne ein sicheres Ergebnis verstreichen möchten, und ergriff noch einmal, bittend über sie geneigt, Adelheids weiche Hand. Sie entzog sie ihm zögernd, voll Bedauern. Im Vorüberstreifen berührten seine Lippen ihren Hals und die Veilchen an ihrem Kragen.

»Nicht hier, Andreas!« wiederholte sie ein wenig träumerisch. »Warte, laß mich nachdenken. Morgen Mittag habe ich die Schneiderin, später ist der Bazar für die Kinder der Sträflinge. Dienstag früh – nein, das geht nicht, aber den ganzen Nachmittag mußt du zu Hause bleiben, hörst du?«

Sie lächelte reizend.

»Du sollst mir deine Poesien vorlesen. Übrigens wirst du auch ein Drama schreiben, wie dieses hier, eines, das einen großen Erfolg hat. Ich will, daß du berühmt wirst!«

›Köpf hat recht‹, dachte Andreas. ›Schon verlangt sie von mir, davon überzeugt zu werden, daß ich ihrer Protektion würdig bin.‹

Inzwischen aber gehörte sie ihm bereits, er besaß ihr Versprechen! Und dankerfüllt verübte er noch einen Angriff auf Adelheids Nacken, dort, wo er unter den Spitzen hervorschien. Sie wurde ungeduldig.

»Wirst du jetzt aufhören! Es ist hier auch zu heiß, weißt du, und die Veilchen sind mir lästig. Hilf mir doch!«

Sie wandte den Hals hin und her, der zu kurz war für den großen Strauß. Sie riß ihn herunter, Andreas half ihr hastig und ungeschickt.

»Darf ich sie behalten?« fragte er.

»Meinetwegen. Man wird es zwar bemerken.«

Er preßte die an Adelheids Körper erwärmten Blumen gierig gegen sein Gesicht. Dann versenkte er sie in der inneren Brusttasche seines Rockes. Die Tür ward geräuschvoll aufgerissen. Andreas stand in bescheidener Haltung drei Schritte von Frau Türkheimer entfernt. Sie bemerkte, indem sie den Mantel, der sie gegen das Licht schützte, von der Brüstung zurückstreifte:

»Diese Pause währt unerträglich lange.«

Frau Pimbusch rief atemlos:

»Wissen Sie schon, wer ›Rache!‹ gemacht hat? Nein? Es ist zum Auswachsen. Ein Jüngling, den wir alle kennen!«

»Nicht möglich!«

»Ein Mitglied der besten Gesellschaft«, sagte Liebling, die Stirn in Falten gelegt.

Pimbusch lächelte bedeutsam.

»Na? Sie ahnen es noch nicht? Ein bekannter Dramatiker, sage ich Ihnen. Sie können ihn von Ihrem Platze aus sehen! Na? Diederich Klempner, natürlich!« verkündete er triumphierend, unfähig, die Neuigkeit länger bei sich zu halten. Frau Türkheimer schüttelte ungläubig den Kopf.

»Er hat doch noch nie etwas geschrieben? Warum sollte er sich plötzlich seinen Ruf durch solch ein Stück verderben!«

»Er sieht doch so staatserhaltend aus!« setzte Andreas höchst verwundert hinzu. Liebling nickte bekümmert.

»Aber er predigt den Umsturz!«

»Wie pikant!« bemerkte Frau Pimbusch. Sie richtete ihr Lorgnon auf die Loge des Dichters, der abwechselnd der großen Lizzi Laffé und der kleinen Werda Bieratz etwas ins Ohr flüsterte.

»Er tut, als ob er's nicht gewesen wäre! Aber jetzt rückt ihm die Kritik zu Leibe.«

Man sah die Herren Abell und Thunichgut bei Klempner eintreten, der auf alle ihre Fragen mit lebhaftem Protest zu antworten schien.

»Es gehört doch Energie dazu, so etwas zu dichten«, meinte Frau Türkheimer, ein wenig nachdenklich.

»Übrigens wird uns auch Herr Zumsee nächstens ein Drama schreiben.«

»Ah!«

Andreas wurde beglückwünscht. Pimbusch schüttelte ihm die Hand, den Ellenbogen im rechten Winkel vom Leibe entfernt.

Sie wurden durch Zischen zum Schweigen veranlaßt. Der letzte Akt hatte bereits begonnen. Andreas nahm diesmal einen günstigen Platz ein, er war aber noch eifriger als vorher mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Adelheids Ehrgeiz, ihn zum Dramatiker zu machen, beunruhigte ihn. Im Schlaraffenland erschienen ihm solche lästigen Verpflichtungen ganz überflüssig. Hatte er ihr denn durch seine Marotte, die von seinem Genie ihm eingegebene Marotte, noch nicht hinreichend imponiert? Er mußte sie vielleicht noch auffälliger hervorkehren? Das war zu überlegen. Aber mit Diederich Klempner in Wettbewerb zu treten, mit diesem feisten Korpsstudenten, der die Leute, bei denen er schmarotzte, nachher auf der Bühne von seinem Pöbel totschlagen ließ, diese Aussicht verlockte Andreas keineswegs. Überhaupt mißfiel ihm »Rache!«, das Stück war gar zu viehisch und gehässig. Kaflisch hatte recht, es roch nach der Volksseele. Im Besitz von Frau Türkheimers süßem Versprechen fühlte Andreas sich als Eigentümer, und jeder Angriff auf die besitzende Klasse berührte ihn in diesem Augenblicke durchaus feindlich.

Er ward erst aufmerksam, als die lebhaftesten Zeichen der Erregung ringsumher bekundeten, daß der Erfolg des Dramas entschieden sei. Durch eine einsame Winterlandschaft fuhr ein Eisenbahnzug. Die Lokomotive pfiff ängstlich, es ging langsam vorwärts, denn die Schienen waren von Schnee bedeckt. Aber unter dem Schnee mußte sich ein Hindernis befinden, denn plötzlich trat eine Katastrophe ein. Die Lokomotive machte einen Sprung, als wollte sie vornüberschlagen. Die Wagen bäumten sich auf, jeder kletterte mit den Rädern auf den Rücken des vor ihm befindlichen, um gleich darauf im jähen Sturz zerschmettert zu werden. Einige Sekunden blieb alles still, dann schlich aus den Gräben und hinter den Büschen die fahle, zerlumpte Schar der Proletarier herbei, erstaunt über ihr eigenes Werk. Aber sobald der erste heilgebliebene Reisende aus den Fenstern der auf der Seite liegenden Wagen herauszuklettern wagte, fanden sie ihre Wut wieder. Die Weiber machten den Anfang, indem sie eine mit Gewalt hervorgezogene Frau mit ihren Fäusten erdrosselten. Der den Männern in die Hände Gefallene war ein Mitglied des entflohenen Verwaltungsrates. Sie schlitzten ihm mit ihren Messern den Bauch auf. Beim Anblick des Blutes standen sie wie gebannt. Die Wollust ihrer Rache schien sie blödsinnig zu machen, sie streckten die Zungen aus den Hälsen, rollten die glasigen Augen, und ihre hohlen Brüste zuckten in Krämpfen. Erwacht, stürzten sie sich mit Geheul auf ihre Opfer, auf die Bourgeois, ihre Quäler, ihre Aussauger und Mörder, die endlich in ihre Gewalt gegeben waren. Sie rissen sie, schon halb zermalmt, unter den Trümmern hervor, fielen mit Zähnen und Nägeln über sie her und wälzten sich mit ihnen im blutigen Schnee. Sie schnitten einander gräßliche Fratzen zu, um sich ihr Vergnügen mitzuteilen, sie schnalzten mit der Zunge, knirschten und stießen heisere Flüche aus. Dies alles geschah mit so hinreißender Echtheit, daß die Zuschauer erbebten in einem ungemein reizvollen Grausen. Ein mürrischer Herr wagte laut zu behaupten, daß die ganze Szene gestohlen sei, während ein Witzbold sich erkundigte, wieviel Hektoliter Ochsenblut für die Vorstellung angekauft seien. Aber beide wurden genötigt, den Saal zu verlassen.

Denn es galt hier nicht zu scherzen, diesmal ward es ernst. Mehrere Proletarier, im letzten Stadium der Tuberkulose, schleppten zwei unverletzte Frauen unter viehischem Brunstgebrülle hinter das nahe Gebüsch. Die Damen in den Logen erhoben sich von ihren Sitzen, um über die Sträucher wegzusehen, vollständig überzeugt, daß hinter der Szene weitergespielt werde. Die Illusion war so stark, daß einige Empfindliche sich das Taschentuch vor die Nase hielten. Aber die meisten der fleischigen Brünetten auf den Rängen preßten, weit vorgebeugt, mit nervösen Händen die schwer arbeitende Brust. Sie schlossen die Augen in der Hingebung des Genusses, und ihre leidenschaftlichen Nüstern öffneten sich weit und schwarz in den von matter, feuchter Blässe bedeckten Gesichtern. Sie sogen, halb betäubt, den faden Blutgeruch ein, der warm durch das Haus zu schwimmen schien. Als endlich das Zeichen zum Applaus gegeben wurde, hatte die Wut ihrer aufgepeitschten Instinkte sie bereits so entkräftet, daß sie kaum noch die Hände zu erheben vermochten. An Hälsen und Nacken perlten große Tropfen, der säuerliche Duft ihrer Transpiration vermischte sich mit den schweren Wohlgerüchen, die den erhitzten Kleiderstoffen und den Blumen entströmten. Hier und da tönte ein schrilles, gläsernes Auflachen mit dem Klirren der Brillanten zusammen. Junge Mädchen, die hinter den Rücken der Mütter lüstern hervorlugten, kreischten laut auf. Zwei oder drei von ihnen fielen in Ohnmacht.

Nur die große Kunst konnte solche Wirkungen hervorbringen. Im ganzen Hause gab es höchstens zwei Personen, die sich ihnen entzogen. Die junge Frau Blosch, immer noch jene schüchterne Fremde, die sich der berüchtigte Zutreiber Türkheimers aus ihrem stillen Provinzneste geholte hatte, begriff nichts von allem, was sie sah. Sie lächelte, rümpfte auch wohl die Nase und verhielt sich still und dezent, in ihrem weißen Kleidchen in ihren Winkel gelehnt. Es fehlte ihr noch immer der innere Anschluß an die Genüsse der Welt, der sie angehörte. Der große alte Wennichen aber benahm sich kaum weniger verständnislos als sie. Auch er lächelte unausgesetzt, indes er mit kleinen erstaunten Bewegungen seines Vogelkopfes im Publikum umhersah. Er fragte vielleicht, warum eigentlich die arbeitsamen Kaufleute mit ihren Hausfrauen, die Vertreter von Bildung und Besitz, die doch an der Abwehr übermütiger Junker und finsterer Pfaffen genug zu tun gehabt hätten, sich hier herbeiließen, gemeinen Pöbelexzessen Beifall zu spenden?

Die meisten waren aufgesprungen, völlig überwältigt von der Apotheose des Proletariats, die das Stück beschloß. Am düsteren Schneehimmel flammte ein bengalisches Rot auf, der Widerschein von Feuersbrünsten, die die Stätten bourgeoiser Gewaltherrschaft zerstörten. Hinter sich das Werk seiner Rache, den zerbrochenen Bahnzug und die verstümmelten Leichen seiner Feinde, zog das Volk in verschlungenen Paaren, die Arme selig ausgebreitet, dem Morgenrot der Menschengüte und Brüderlichkeit entgegen. Liebende Paare fanden einander in Freiheit und Natürlichkeit. Das Mädchen und der Bursche, die geretteten Opfer der niederträchtigen Fabrikdirektorsgatten, sanken einander in die Arme und versprachen sich die Ehe. Denn im Grunde genommen war das Volk moralisch. So dürfte auch Liebling, des sittlichen Gedankens versichert, sich zufrieden geben.

Als die Darsteller, durch alle überstandenen Strapazen erheblich geschwächt, elfmal vor der Rampe erschienen waren und das Haus sich leerte, begannen die Herren im Parterre, deren weiße Handschuhe in Fetzen hingen, leidenschaftlich die Arbeitermarseillaise zu verlangen. Die noch anwesenden Orchestermitglieder mußten endlich dem Wunsche genügen, und das Publikum stimmte voller Hingebung ein. In der Loge der exotischen Diplomaten sah man Türkheimer wohlgefällig lächelnd den Takt schlagen.

Auf der Treppe ward Andreas von seiner Gesellschaft getrennt. Es gelang ihm noch, sich Frau Türkheimer bemerklich zu machen, wie sie in ihren Wagen stieg. Er erhielt einen Gruß, der ihm aufs neue verhieß: »Übermorgen!«

Im Vestibül schien ein Unfall geschehen zu sein. Eine Dame wurde von ihrem Kutscher und ihrem Lakaien herausgetragen und in den Wagen gehoben. Andreas erkannte Frau Pimbusch, die infolge ihres allzu leidenschaftlichen Kunstgenusses von einem Lachkrampf befallen war. Ihr Gatte irrte um sie her, ratlos und in großer Angst vor einer möglichen Lächerlichkeit.

Wie der junge Mann weitergehen wollte, reizte eine Ansammlung weiblicher Zuschauer seine Neugier. Es entstand große Aufregung unter ihnen, der Dichter Diederich Klempner trat in den Kreis seiner Verehrerinnen. Er leugnete nicht länger, zu dem nun berühmten Drama im Verhältnisse des Urhebers zu stehen, er zuckte nur geheimnisvoll die Achseln und ließ es gnädig geschehen, daß die jungen Mädchen seine feisten Hände ergriffen. Einige suchten sie zu küssen, doch diesen wehrte Klempner. Um sich Haltung zu geben, rückte er, über die Damenherde hinwegblinzelnd, an seinem schwarzumränderten Klemmer, und ein skeptisches Lächeln, das er seinem forschen, runden Gesicht aufprägte, verbarg das Vergnügen, das ihm die Huldigung bereitete.

Andreas nahm dieses Bild eines von Frauenhänden duftig umräucherten Dichters mit nach Hause. Das Unbehagen, das ihm begreiflicherweise der Erfolg eines andern einflößte, ward bald besiegt durch seine lebhafte Phantasie, die unversehens ihn selbst an Klempners Stelle schob. Er selbst hatte, wie Adelheid es wünschte, ein Stück geschrieben, dem ganz Berlin zujauchzte. Alle Blicke richteten sich auf die Loge, wo er neben ihr saß. Es war das maßgebende Berliner Premierenpublikum, das er eben erst kennengelernt hatte, das seinen Geschmack den geistig weniger fortgeschrittenen Schichten des deutschen Volkes mitteilte, und das den Ruf einer Dichtung für ganz Deutschland entschied. Nun zog Andreas' Name in trunkenem Triumph durch alle Gaue.

Als er seinen Traum eine Weile fortgesponnen hatte, fehlte nicht viel daran, daß er sich selbst für den Verfasser von »Rache!« hielt. Die Begeisterung, die es hervorrief, hatte ihn das Stück erst verstehen gelehrt. Allmählich begannen auch in ihm die wildesten Instinkte zu gären. Er wußte nicht genau, ob er sich als Proletarier fühlen sollte, den nach Bourgeoisblut dürstet. Vielleicht waren es uralte Bauerntriebe, die ihn gegen den verhaßten, überfeinerten Stadtbürger aufbrachten. Daß er von Frau Türkheimer Besitz ergreifen sollte, kam ihm wie eine tragische Rache vor. Er rächte sich und ein ganzes Volk an ihr und ihresgleichen. Weiter war kein Vergnügen bei dieser bejahrten Bankiersgattin zu suchen. Er mußte sich, sobald sie ihm gehörte, kalt und unzugänglich zeigen. Sie sollte einen harten Herrn an ihm finden.

Neben dieser Gedankenarbeit füllten eine Menge anderer, mehr praktischer Beschäftigungen die Wartezeit aus, ehe er Adelheid in seine Arme schließen durfte. Er siedelte nach der Dorotheenstraße, in das Zimmer neben Köpf über, was ihm wesentlich erschwert wurde durch die Rücksicht, die er auf die wertvolle Ausstattung des Herrn Behrendt zu nehmen hatte. Von diesem Umzuge setzte er Frau Türkheimer durch ein Billett in Kenntnis, das mit folgenden Sätzen schloß:

»Es ist mir nicht leicht geworden, meiner stillen, fernab gelegenen Arbeitsklause Lebewohl zu sagen, aber was täte ich nicht, um dir, meiner Heißersehnten, ein paar hundert Meter näher zu sein und um dir einige Treppenstufen zu ersparen? Ich wohne jetzt im zweiten Stock. Oh, komm nun schnell, um meine Dürftigkeit durch die Zärtlichkeit deines Lächelns zu verklären! Gib mir Befehle, ich suche nach etwas, was ich dir opfern könnte!«

Andreas verzichtete darauf, seine neue Wohnung durch Anschaffung von Luxusgegenständen zu verschönern. Wie hätte er der reichen Frau damit imponieren sollen. Nur seine fromme Marotte, deren Wirkung er noch zu erhöhen hoffte, mußte auch äußerlich in seiner Behausung zur Geltung gelangen. Er stöberte bei mehreren Trödlern Dinge auf, die eine Dame aus der Hildebrandtstraße möglichenfalls verblüffen konnten.

Am Dienstagmittag begab er sich gleich nach dem Essen auf sein Zimmer. Er hatte Dichtungen zu sichten und durchzuarbeiten, die er ihr vortragen wollte. Zuweilen sah er voll freundlicher Gedanken von seiner Arbeit auf. Würde sie um drei hier sein oder um vier? Vielleicht war sie schon unterwegs? Wahrscheinlich verließ sie ihren Wagen am Brandenburger Tor und kam zu Fuß in die Dorotheenstraße. Im ersten Stock würde sie verschnaufen müssen, sie war so steile Stiegen nicht gewohnt. Die Vorstellung der korpulenten Dame, die atemlos zwei Treppen erklomm, eigens um ihm in die Arme zu sinken, versetzte Andreas in lebhafte Heiterkeit. Er schlug sich auf die Knie und lachte, daß es von den kahlen Wänden widerhallte.

Plötzlich meinte er ein Geräusch draußen auf dem Korridor zu hören. Er stürzte an die Tür. Nein, es blieb alles still. Es war indes gleich halb vier Uhr, sie hätte nicht nötig gehabt, ihn warten zu lassen. Eine ganz neue Möglichkeit fiel ihm ein. Wenn sie nun ausblieb? Daran hatte er noch gar nicht gedacht, aber wie leicht konnte sie verhindert sein oder keine Lust haben. Das Abenteuer schien ihr wahrscheinlich schon nicht mehr der Mühe wert, sie zog irgendeine andere Zerstreuung vor. Er bereute es, sie in der Zwischenzeit nicht nochmals aufgesucht zu haben, um sich ihr persönlich in Erinnerung zu bringen. Sein Brief war viel zu sehnsüchtig und zu zart gewesen, er beschloß, sie dieses Versehen entgelten zu lassen – falls er sie bekam. Aber sie konnte sich ihm nicht mehr entziehen, sie liebte ihn viel zu sehr. Übrigens hatte sie sich seinetwegen bereits kompromittiert. Er hatte genau bemerkt, wie aufmerksam Frau Pimbusch, während des dritten Aktes von »Rache!«, Adelheids Schulter betrachtete, wo der Veilchenstrauß fehlte. Ah! den hätte er bald vergessen. Er holte die arg zerdrückten Blumen aus der Rocktasche hervor, gab ihnen Wasser und stellte sie auf den Tisch. Im selben Augenblick klingelte es an der Flurtür. Er hielt den Atem an. Nein, diesmal war es keine Täuschung, er vernahm ein Rauschen von Seide.

Frau Türkheimer war fast gar nicht erschöpft. Ganz leicht war sie die Treppen hinangeeilt, sie hatte sie mit dem Herzen erstiegen. Sie trug einen einfachen braunen Tailormade-Dreß in Covercoat. So gekleidet, konnte sie, ohne gerade ihren Stand zu verleugnen, unauffällig jede Wohnung betreten.

»Ist nicht ein Herr Andreas Zumsee bei Ihnen eingezogen?« fragte sie die Wirtin. Die alte Mecklenburgerin zeigte sich übellaunig.

»So'n Namen kenn ich nich. Muß mal mein Tochter nach fragen. Zafie!« rief sie in die Küche hinein.

Es lag Frau Türkheimer wenig daran, auch noch von Sophie gesehen zu werden. Sie sagte hastig:

»Nun, er wird wohl zu Hause sein.«

»Denn sehn Sie man mal zu!« erwiderte trocken Frau Levzahn. Sie setzte die Fäuste auf die Hüften und entfernte sich langsam unter dem Geschlapp ihrer Filzpantoffeln, höchst unzufrieden mit dem Damenverkehr des neuen Mieters.

»Er wird doch zu sprechen sein, wenn er Familienbesuch bekommt«, rief Adelheid ihr nach, indes sie im Dunkeln nach dem Türgriff tastete. Ihr Klopfen blieb ohne Antwort. Sie öffnete.

Aber auf der Schwelle fuhr sie erschreckt zurück. Sie hielt sich am Pfosten fest und unterdrückte einen Aufschrei, denn in diesem Zimmer saß ein Mönch! Er saß, den Rücken gegen ein eisernes Feldbett gelehnt, auf einem hölzernen Schemel an einem rohen fichtenen Tisch. Ein abschreckend häßliches, geschnitztes Kruzifix sah mit verzerrter blutiger Miene auf den braunen Kuttenträger hinab, der, das Gesicht in die Hände vergraben, in tiefes Sinnen versunken schien.

Frau Türkheimer fand diesen einsamen Mönch fürchterlich wie eine Erscheinung. Bei seinem Anblick wickelte sich eine rasche Folge von Schreckensvorstellungen in ihr ab, die sie der langjährigen Lektüre des »Nachtkurier« und des »Kabel« verdankte. Denn ihr und den aufgeklärten Lesern dieser Zeitungen war es nicht genau bekannt, ob es noch Mönche gäbe, und sie hielten die katholische Kirche für ein Gespenst des finsteren Mittelalters, das dann und wann aus verschütteten Gräbern aufstand, um gräßlich mit Ketten zu rasseln. Sobald sie sich daher ein wenig erholt hatte, dachte Adelheid daran, ungesehen zu entkommen. Sie mußte ein verkehrtes Zimmer betreten haben, vielleicht befand sie sich auch in einem falschen Hause. Aber der Anblick einer Locke, die über die braune Kapuze fiel, hielt sie in ihrem Rückzüge auf. Das war doch Andreas' Haar? Der Mönch hob langsam den Kopf. Sein Auge war geschlossen, aber sie erkannte sein Profil, das sich blaß aus der Dämmerung heraushob. Ganz leise, noch ein wenig zitternd, schlich sie zu ihm hin und legte weich ihre Hand auf seinen Kopf. Er schlug die Augen auf, noch immer in Gedanken.

»Wie hast du mich erschreckt!« flüsterte sie.

»Dich erschreckt? Wodurch?« fragte er lächelnd. Er stand auf und schob ihr einen Stuhl hin.

»Du meinst, mit meinem Gewand? Aber das ist ja mein Arbeitskleid.«

»Trägst du immer solchen Schlafrock?« fragte Adelheid unschuldig. Er war gekränkt.

»Das könnt ihr natürlich nicht begreifen, wie wichtig für uns der Rock ist, in dem wir am Schreibtisch sitzen. Meinst du, daß ich im Frack dieselben Gedanken habe, die mir in der Kutte kommen?«

»Gewiß nicht!« beteuerte Adelheid. Andreas' Benehmen befremdete sie ein wenig, aber es war doch recht interessant. Bedeutende Menschen mußten solche Marotten haben, und die seinige war eigentlich schick.

»Ich verstehe dich, Andreas«, sagte sie, »und ich kann mir jetzt schon denken, wie du dichtest.«

»Ich dichte katholisch«, erklärte er in bestimmtem Ton, den Blick auf die matterhellte Fensterscheibe gerichtet. Adelheid sah von dem blutigen Christus, der aus der Dunkelheit immer beängstigender hervorschien, auf Andreas' braune Kutte, und ein Schauer von Grauen und von Wohlbehagen durchrieselte sie. Sie war sehr zufrieden damit, daß sie unter den vielen jungen Leuten, die in ihrem Hause verkehrten, gerade diesen auf den ersten Blick ausgewählt hatte. Weder Frau Mohr noch Frau Bescheerer noch Lizzi Laffé noch irgendeine hatte je so etwas gekannt. Er war würdig, von ihr geliebt zu werden. Übrigens stand ihm seine Kutte gut, sie gab ihm etwas Schwärmerisches.

Sie neigte sich zu ihm, legte ihren Arm auf den seinigen und sah ihm zärtlich in das Gesicht, das von Denken und Askese gebleicht schien. Das gute Leben der letzten Tage hatte die Folgen der billigen vegetarischen Ernährung zur Zeit des »Café Hurra« und der zahlreichen durch stramme Haltung ersetzten Mittagsessen noch nicht beseitigt. Adelheid sagte:

»Du fragst gar nicht, warum ich mich verspätet habe? Ich konnte nichts dafür. Wenn du wüßtest.«

»Du kannst zu jeder Stunde kommen, die dir gefällt. Ich muß immer dafür dankbar sein«, versetzte er, doch in einem Ton, aus dem sie heraushörte: »Wenn es sein muß, verzichte ich auch ganz darauf.«

»Du hast es hier aber heiß«, sagte sie, und sie warf ihre Büste herausfordernd zurück. Ihre Finger nestelten an den Knöpfen. Er ließ einen gleichgültigen Blick über ihre Brust gleiten, die den Stoff zu sprengen drohte, doch damit begnügte er sich. Adelheid fühlte sich verschmäht, und sie empfand solchen Schmerz über seine Kälte, daß sie aufseufzend nach ihrem Herzen griff.

»Mir wird unwohl«, flüsterte sie.

Andreas fing sie auf, doch ließ er sie sofort aus seinen Armen zurück in den Sessel gleiten. Er sah sich nach dem Sofa um, aber er fand es unmöglich, Frau Türkheimers Last bis dorthin zu tragen. Adelheid sah dies selbst ein, sie richtete sich auf. Um seine Haltung zu bewahren, zündete Andreas die Lampe an.

»Soll ich das Fenster öffnen?« fragte er.

»Ach, laß nur, wir wollen plaudern. Hast du noch an ›Rache!‹ gedacht? Wie dir der dritte Akt gefallen hat, weiß ich noch gar nicht. Und die Kritiken, die Klempner bekommen hat! Hast du Abell gelesen?«

Sie redete hastig, um ihre Angst zu betäuben. War sie zu alt, wirklich zu alt für ihn? Verschmähte er sie?

»Nun ja, Abell! Ich finde, er schwatzt Unsinn«, erklärte Andreas. Er holte den »Nachtkurier« herbei und las die Schlagwörter heraus, die er in aller Eile ein wenig parodierte:

»Ein neuer Stern ist aufgetaucht, der manchen unserer dramatischen Epigonen aus dem Felde schlagen dürfte ... Geniale Synthese einer differenzierten Gesellschaftspsychologie ... Napoleonische Bewegung der Massen ... Überlegener sozialer Gerechtigkeitssinn ...«

Andreas setzte sich in Positur und ahmte die elegante Handbewegung des Doktor Bediener nach.

»Daß wir im politischen Teil 'ne gesunde liberale Wirtschaftspolitik pflegen und auch für den niederträchtigsten Fabrikdirektor voll und ganz eintreten, versteht sich von selbst. Wir wären verrückt, wenn wir es nicht täten. Aber im Feuilleton nehmen wir Stellung für die Unterdrückten, wegen unseres überlegenen sozialen Gerechtigkeitssinnes, wissen Sie wohl. Wir betrachten uns nämlich als ein Organ der deutschen Geisteskultur.«

Er hob die rechte Braue, als ob er ein Glas aus dem Auge fallen ließe, und die Sprechweise des Chefredakteurs war gar nicht zu verkennen. Adelheid zeigte sich entzückt, sie klatschte in die Hände.

»Du kannst aber auch alles«, sagte sie zärtlich.

Andreas war geschmeichelt. Abells Kritik hatte ihm zwar eigentlich ungemein wohlgefallen, weil er sie mit Gefühlen las, als sei es schon die Rezension seines eigenen, zukünftigen Werkes. Aber einen Lobgesang auf Klempner in Adelheids Gegenwart angestimmt zu hören, das widerstrebte ihm durchaus.

»Es ist wahr«, meinte sie. »Man muß so etwas nicht ernst nehmen. Die Blätter ulken eigentlich alle.«

»Und Klempner?« fragte Andreas. »Findest du ihn besonders nobel? Er hat die ganze Zeit an deinem Tisch und an den Tischen anderer reicher Häuser gesessen, während er heimlich damit beschäftigt war, die besitzende Klasse verächtlich zu machen und in den Schmutz zu zerren. Was sagst du dazu? Ich sage pfui!«

»Und das mit Recht! Oh, du bist edel!«

In ihren Kreisen hatte noch niemand an das gedacht, was Andreas aussprach. Sie sah ihn ganz erstaunt an. Sein sittliches Feingefühl erfüllte sie mit aufrichtiger Bewunderung.

»Du bist edel!« wiederholte sie, und sie dachte:

›Ah! Er wäre nicht imstande, mich zu verkaufen, wie Ratibohr es getan hat.‹

Dieser Erfolg entwaffnete Andreas. Er verzieh Adelheid den allzu flehentlichen Brief, den er ihr geschrieben, und die Stunde, während der er sie erwartet hatte. Sie würde es nie mehr als eine Gnade ansehen, wenn sie ihn besuchte, er hatte sie gestraft und durfte jetzt von seiner Zurückhaltung schon ein wenig ablassen. Er rückte ihr daher auf seinem Stuhl so nahe, daß seine Knie sich eng gegen die ihrigen preßten, er legte eine Hand um ihre Taille und flüsterte:

»Wie lieb kannst du sein! Sei immer so mit mir, bitte!«

»Du bist edel«, wiederholte sie, hingerissen von den Liebkosungen seines Mädchenblickes und seiner weichen Stimme.

»Ist dir jetzt nicht mehr heiß?«

»Nein.«

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht.«

»Ich glaube doch, ein kleines bißchen?«

Sie tat, als wehrte sie ihm, wie er sich an ihren Knöpfen zu schaffen machte, aber vor Wohlbehagen ließ sie ein leises Gurgeln hören. Seine Hände besaßen einige natürliche Geschicklichkeit. Ihre ungeübten Zärtlichkeiten waren wohl etwas täppisch, aber so spaßhaft, daß man sie ihr schwer verübeln konnte. Er machte sich ganz klein vor Adelheids üppigen Reizen und sah so ungefährlich aus wie ein kleiner lasterhafter Junge, der frühzeitig mit seiner Amme Scherz treibt.

»Oh, Andreas«, seufzte sie, als sie bereits schwer in seinen Armen lag, ganz verwundert, daß es nun schon so weit gekommen sei.

»Ich liebe deinen Hals«, sagte er, und seine Küsse zwangen sie, den Kopf immer weiter zurückzulegen, bis seine genußsüchtigen Lippen von unten her über die breite Fläche ihres fleischigen Doppelkinns glitten, dessen weiße, zarte Haut ihnen schmeichelte. Zu innig ihren Gefühlen hingegeben, um an etwas zu denken, sagte sie nochmals:

»Du bist edel.«

»Du hast eine schöne Kinnlinie«, sagte er, indem er sie weiter auf seinen Schemel herüberzog, der umzuschlagen drohte.

»Du bist edel«, wiederholte sie, und damit glitten sie, ein wenig heftig, so daß es fast ein Sturz war, auf das schmale Schülerbett, das die ungewohnte Last nicht ohne beträchtliches Ächzen empfing. Das war alles. Andreas hatte es sich nicht so einfach gedacht.

Als sie einen Augenblick zur Besinnung kamen, wollte er die Kutte abwerfen. Adelheid hielt seinen Arm fest.

»Laß das!« befahl sie, und sie meinte, er müsse ihr die teuflische Lust ansehen, vor der ihr selbst beinahe graute. Denn sie fand ein ungeahntes Vergnügen daran, den Mönch zu lieben. Noch nie war sie von einer solchen verheerenden Leidenschaft erfüllt gewesen. Jetzt begriff sie den Satanismus und die Magie, den Sadismus und noch andere Perversitäten, von denen sie hatte erzählen hören. Keine ihrer Bekannten, nicht einmal Frau Pimbusch, die doch mit allen möglichen Infamien prahlte, konnte je so etwas erlebt haben. Sie stützte den Kopf in die Hand und betrachtete Andreas mit der entsetzensheißen Begehrlichkeit einer Sphinx.

Er war weit davon entfernt, sie zu verstehen. Doch war auch sein Vergnügen unerwartet groß, und er sank in Adelheids Arme zurück, noch bevor sie ihn riefen. Das erste, was aber aus der vollständigen Hingabe seines Willens an die geliebte Frau wieder emportauchte, war seine Eitelkeit. Er setzte sich im Bette auf.

»Ich habe dir noch gar nicht meine Gedichte vorgelesen«, sagte er.

»Ach ja!«

Sie unterdrückte ein Gähnen, indem sie ihn gewähren ließ. Doch dann ward die ausschweifende und verderbte Phantasie, die sie erst heute in ihrer Seele entdeckt hatte, von neuem genährt durch den Anblick des bleichen Dichters im Mönchsgewand, der sie, die in Sünden Geliebte, mit den Rosen seiner Poesie überschüttete. Er las mit schneidender Stimme und feierlicher Gebärde. Dann stellte er Fragen.

»Wie gefällt dir diese Nuancierung der Gefühle? Empfindest du nicht die behutsamen Schauer dämmernder Düfte, Farben und Töne?«

Adelheid zeigte sich gelehrig. An der richtigen Stelle warf sie ein Lob dazwischen.

»Sehr nett!« sagte sie. »Schick! Ganz reizend!«

Endlich zog sie ihn, wie ein Kind, das lange genug gespielt hat, wieder an sich. Er fiel so ungeschickt, daß seine Dichtungen, wie matte Schmetterlinge, hinab und über den Fußboden flatterten.

Dann erklärte er alles, was er bisher gelesen habe, für überwunden.

»Es ist nicht immateriell genug, wir kehren zum ganz Einfachen und Idealen zurück«, sagte er.

»Oh, du bist ein Sonnenkind, du siehst alles durch eine goldene Brille an.«

Er begann eine Ode »An die Reue« vorzutragen. Sie bemerkte:

»Es erinnert an Schiller.«

»Soll es auch«, erklärte Andreas.

Sie lauschte. Aber allmählich wurde das Wogen ihrer Brust angstvoller, und sie seufzte.

»Oh, du machst mich ganz traurig!«

Die hehren Klänge seiner neuesten Poesie hatten ihr Herz erschüttert. Sie kniete, den Kopf in die Kissen vergraben, so daß ihre Hüften unter der Decke berghoch aufragten, und sie schluchzte krampfhaft. Er bemühte sich, die Magdalena zu trösten; ihre Buße, die ein Werk seines Dichterwortes war, rührte ihn.

»Adelheid, wir lieben uns doch!« sagte er.

»Unsere Liebe ist Sünde!« stöhnte sie, von großen Tränen erstickt.

Die Stimmung überwältigte ihn, ihre Reue teilte sich auch ihm mit. Er vergaß Ratibohr und die lange Reihe ehemaliger Liebhaber, die er sich sonst im Schatten von Frau Türkheimers Vergangenheit vorgestellt hatte. Nur seinetwegen war sie vom rechten Weg abgewichen, und in diesem schmeichelhaften Bewußtsein weinte er mit der Geliebten. Die Schauer ihres sittlichen Pathos waren bestimmt, in einer neuen Umarmung auszuzittern.

Adelheid verspürte sodann Appetit auf eine Zigarette, und nach allen ihren Herzensergießungen in Schweigen versunken, rauchten sie, auf dem Rücken liegend, mit dem Blick an der Decke.

Eine Uhr schlug halb sechs. Adelheid sprang auf.

»Da haben wir was Schönes gemacht«, sagte sie. »Ich komme viel zu spät nach Hause.«

Sie lief im Hemd und in schwarzen Strümpfen an den Toilettentisch, löste ihr reiches dunkles Haar und begann es zu ordnen. Andreas, der zurückblieb, blinzelte zu ihr hinüber, arg entkräftet. Aber seine Müdigkeit war ehrenvoll, und die Erfolge und Leistungen dieses Nachmittags erhöhten seine Selbstachtung. Er betrachtete Adelheid mit Stolz und Dankbarkeit. Nun besaß er also eine schöne Geliebte. Wer ihm das vorher gesagt hätte! Er hatte doch das Verhältnis mit der beleibten Bankiersgattin nur zum Zweck seiner Karriere erstrebt und heimlich gefürchtet, es könne ihn lächerlich machen. Er hatte ihre Eroberung für leicht und wenig ruhmreich gehalten, aber nun, da sie ihm geglückt war, blähte er sich vor befriedigtem Ehrgeiz. Noch heute hatte er von irgendeiner düsteren Rache geträumt, die er ausüben würde, wenn er sich Adelheids bemächtigte. In Wirklichkeit aber verursachte ihm ihr Besitz, wider alles Erwarten, ein leidenschaftliches Vergnügen. Ihre Gliedmaßen, die alle seine Vorstellungen übertrafen, entzückten ihn heftig.

Der arme junge Mann war so lange zu einem Leben ohne Fülle verurteilt gewesen! Wie die billige vegetarische Kost, mit der er sich vergebens zu sättigen trachtete, so sahen auch die dürftigen Mädchen aus, an deren magerer Brust er zuweilen gegen eine geringe Vergütung ausruhen durfte. Sie vermochten die fleischliche Lust, die sie keinesfalls hätten befriedigen können, nicht einmal zu erwecken. Jetzt kam er sich wie neugeboren vor. In Adelheids Armen hatte er erst sein Temperament gefunden, und eine unbändige, bäuerische Freude an der riesenhaften Fülle, an einer Menge Fleisch, wie er sie noch nie auf einmal zu sehen gekriegt hatte, war über ihn gekommen. Er meinte, er müsse für alle Zeit daran genug haben, er fühlte sich unersättlich. Schon begann er unter den Falten der Röcke, die sie anlegte, aufs neue nach den Formen zu spähen, die er eben erst in Händen gehalten hatte.

Sie sandte ihm aus dem Spiegel, vor dem sie stand, ein kokettes Lächeln. Wäre sie weniger eilig gewesen, und hätte sie nicht Haarnadeln zwischen den Zähnen gehabt, so würde sie ihm Schmeichelworte zugerufen haben. Denn auch sie war von befriedigtem Stolz und Dankbarkeit erfüllt. Es war also doch ihr und keiner andern gelungen, die Keuschheit des idealen, frommen, jungen Mannes zu besiegen. Jetzt, da er ihr gehörte, spottete sie ein wenig über seine Marotte, sie kannte ihn jetzt von einer mehr natürlichen Seite. Aber er blieb doch recht apart, und dabei frisch und kräftig! Sie träumte davon, wie sie Frau Mohr oder Frau Pimbusch ihr neues Glück zu verstehen geben könne. Er würde wohl diskret sein, er war so edel. Ah! An Ratibohr hatte sie sich nun gerächt. Wie dumm war sie nur gewesen, als sie befürchtete, sie möchte schon zu alt sein. Andreas fand sie schön, das hatte er ihr reichlich bewiesen, und er würde sie noch lange, lange schön finden. Wie Madame de Chaulnes meinte auch sie: Eine Herzogin bleibt für einen Bürgerlichen immer dreißig Jahre alt.

Er würde niemals daran denken, sie zu verlassen, denn er hatte kein Geld! Dies war der praktischen Frau eine angenehme Bürgschaft. Sie hatte seine Zukunft in Händen, sie konnte für ihn sorgen, Ehrgeiz für ihn haben und sein Herzchen sich ausschütten lassen. Es war ihr Traum, solch ein dauerndes Verhältnis auf der Grundlage liebevoller Vertraulichkeit. Alle ihre Schicksale kamen eben daher, daß sie eine so gute Frau war, gar zu nett mit den jungen Leute, wie Kaflisch sagte. Mit fünfundvierzig Jahren hoffte sie, trotz aller Enttäuschungen, noch immer auf die ungestörte, lebenslängliche Freundschaft eines Geliebten. Sie war, mit jugendlicher Energie des Herzens, jedesmal wieder bereit, sich in das Leben eines neuen Freundes zu betten, seine Empfindungs- und Ausdrucksweise anzunehmen, seine Wünsche und seine Abneigungen zu teilen und sich ihm anzupassen, als sei es für immer. So blickte sie auf eine Zeit zurück, wo sie, mit einem Sportsmann, an nichts als an Turf und Pferde gedacht hatte, und auf eine andere, wo sie in Begleitung eines Musikers so viele Konzerte besuchte, bis ihr der Kopf weh tat und sie an Gehörshalluzinationen litt. Dem Bankier Ratibohr zu Gefallen war sie zur Spekulantin geworden und hatte ihren Gatten nicht nur im Schlafzimmer, sondern, was schlimmer war, an der Börse betrogen. Sobald sie mit Andreas in Berührung kam, hatte ihre Phantasie einen bis dahin unbekannten Schwung erhalten. In seinen Armen fielen ihr geistige Raffinements ein, die sie selbst in Erstaunen setzten. Sie brauchte ihren frommen Dichter nur anzusehen, und ihre Gefühle wurden sanguinisch, und sie begann zu schauspielern wie er, und seine Marotte ging in sie über. Sie war zu allem imstande; führte ihr Schicksal sie einem Manne wie Liebling zu, so ergab sie sich dem Zionismus.

Ehe sie das Korsett anlegte, ließ sie sich Zeit, ihm im Spiegel eine Kußhand zuzuwerfen. Er sprang plötzlich auf und lief herbei. Es tat ihm leid, ihre Büste hinter dem Fischbeinmieder verschwinden zu sehen.

»Warte noch ein bißchen«, bat er. Sie sagte nur:

»Du Kind!«

Er strich mit den Händen über ihren seidenen Unterrock, auf den er stolz war. Er wollte sogar wissen, was er gekostet habe.

»Du Kind!« wiederholte sie.

»Und dein Parfüm, hier im Korsett?«

»Crab apple.«

»Ah! Wo sitzt es eigentlich?«

Er suchte, schnüffelte und beruhigte sich nicht eher, als bis er die eingenähten Täschchen fühlte.

»Du hast Talent zum Damenschneider.«

»Das wäre ein schönes Brot.«

Er schlich um sie herum, schmiegte sich an, trachtete ganz in ihren Röcken zu verschwinden und machte vor Wohlbehagen einen Buckel wie ein Kätzchen. Sie lachte.

»Hast du dich nun lange genug lästig gemacht? Ich komme ja niemals fort. Hilf mir doch die Taille anziehen!«

Er begann demütig zu bitten.

»Noch nicht schließen! Du duftest so gut. Ich muß etwas von dir in der Nase behalten für später, wenn du nicht mehr da bist.«

Sie sah ihn aus halbgeschlossenen Augen an, den Kopf zurückgelegt.

»Du findest mich schön, nicht?«

»Frage!«

Er sprang ihr an den Hals, aber sie setzte sich zur Wehr.

»Mein Haar! Es ist gerade zerzaust genug.«

»Was tut es?« fragte er harmlos.

»Ah! Ihr merkt so etwas nicht. Aber die erste Frau, der ich begegne, sieht mir an, woher ich komme.«

»Wirklich?«

»Die liebe Unschuld!«

Sie liebkoste ihm die Wange, aber er durfte sie nicht berühren. Dann trat sie wieder vor den Spiegel, um den Hut aufzusetzen.

»Schrecklich, wie meine Frisur zugerichtet ist, ich werde zum Coiffeur müssen. Ohne Brennschere geht es nicht.«

Sie sah über die Schulter nach ihm hin.

»Ich habe nämlich keine Brennschere mitgebracht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht dachte, daß du gleich so heftig sein würdest.«

Er lachte geschmeichelt.

Endlich hatte sie sich behandschuht und den Schleier über die Augen gezogen. Er machte ein Gesicht, als ob er weinen wollte.

»Wer zwingt dich denn eigentlich, schon wieder wegzugehen?«

»Er fragt noch! Und dabei sitzt vielleicht schon seit einer Stunde mein Teezimmer voll von Leuten. Wenn Asta wenigstens da ist!«

Merkwürdig, eben noch hatte sie ihm ganz allein gehört, und plötzlich wollte sie wieder unter all die fremden Menschen gehen. Daß sie sich, mit dem Geheimnis ihrer Liebe im Herzen, den kritischen Blicken aussetzen mochte!

Adelheid hatte Mitleid mit seiner Miene.

»Nicht traurig sein, Schatz! Wir können uns alle Tage sehen. Übrigens kannst du ja gleich mitkommen.«

Da er sie groß ansah, verbesserte sie sich.

»Oder du kommst eine halbe Stunde nach mir. Was macht das?«

»Was das macht?«

Er sprang zwei Schritte zurück, er fand keinen Ausdruck für sein Entsetzen. Was denn? Noch eben hatten sie zusammen – das getan, und eine halbe Stunde darauf schlug sie ihm vor, in ihrem Salon zu erscheinen, sie als Hausfrau zu begrüßen und mit den Gästen Tee zu trinken. Das war ihm zu stark! Seine ganze Gumplacher Moral geriet in Aufruhr. Eine solche Vorurteilslosigkeit begriff er nicht, aber sie flößte ihm eine gewisse Achtung ein.

Adelheid bemerkte seine Betroffenheit, ohne recht zu wissen, was ihm einen so starken Eindruck machte. Aber sie benutzte den Augenblick, um ihm zu entwischen. Unter der Tür holte er sie ein. Sie streifte mit den Lippen sein Ohr.

»Morgen um drei«, flüsterte, sie.

Er wollte ihr folgen, aber sie drängte ihn zurück, einen Finger auf dem Munde. Aus der Küche spähte das dreiste Gesicht des Fräuleins Levzahn, der hübschen Tochter der Wirtin. Adelheid schloß die Tür vor Andreas' Nase. Er fiel auf einen Stuhl und lauschte, wie das seidene Rauschen ihres Unterrocks sich verlor. Jetzt klappte die Flurtür zu.

Aber er hatte sie nun doch! Diese erstaunliche Tatsache erregte sein Kopfschütteln. In seiner tiefen Betrachtung des Unglaublichen, das jetzt eingetreten war, sprach er mehrmals und immer lauter vor sich hin:

»Frau Generalkonsul Türkheimer!«

Dieser Titel klang ihm besonders fabelhaft, es war wie eine Rangerhöhung, die ihm selbst widerfahren wäre. Er wußte nicht, welche der beiden Hälften, der General oder der Konsul, ihm mehr imponierte. Das Ganze war jedenfalls phantastisch.

»Frau Generalkonsul, und noch dazu von Puerto Vergogna. Wenn sie das in Gumplach wüßten!«

Bei dem Gedanken an seine Landsleute schnellte er plötzlich vom Stuhl empor, vollführte einen Luftsprung und begann durch das Zimmer zu tanzen, einen unbändigen und rastlosen Freudentanz, wie ein triumphierender Kannibale, den der Sieg noch nicht genug Kräfte gekostet hat, und der nicht weiß, wie er seinen Überschuß ausgeben soll. Als er endlich Rast machte, stand sein Nachbar Köpf an der Tür.

»Hier ist wohl Kirchweih?« fragte er, und er lächelte dem fröhlichen Mönch wohlwollend zu.

»Jawohl, Kirchweih!« erklärte Andreas, der nach Atem rang. »Und wenn Sie wüßten, was für 'ne Kirche, 'ne feine, große Kirche, sage ich Ihnen. Und 'ne reiche Kirche! Sie heißt Adelheid Türkheimer!«

»Ah! Ich gratuliere!«

Köpf war ehrlich überrascht.

»Das ist wirklich schnell gegangen.«

Andreas warf sich in die Brust.

»Kleinigkeit!« stieß er hervor.

»Sind Sie denn zufrieden?«

»Danke, es geht!«

Er brach in Gelächter aus und begann vor Erregung im Dialekt zu sprechen.

»Kütt mir in mingem Huus die schönste Frau, die ich je gesehen han, und er fragt, ob ich zufrieden bin! Och, han ich 'n Freud gehabt!«

»Jawohl, die schönste Frau, Verehrtester«, wiederholte er. »Wollen Sie Einzelheiten?«

Er wartete nicht auf Köpfs Aufforderung.

»Brüste hat sie so groß wie Mehlsäcke, das kann ich Sie versichern. Aber wie volle, harte Mehlsäcke! Und ihre Schenkel, so was gibt es überhaupt gar nicht!«

Er sammelte sich, um zu deklamieren:

»Diese schönen Gliedermassen Kolossaler Weiblichkeit
Sind jetzt ohne Widerstreit
Meinen Wünschen überlassen.«

»Das ist von Heine«, setzte er stolz hinzu.

Er drehte sich einmal um sich selbst, sprang über den nächsten Stuhl hinweg und schwang sich aufs neue im Triumphtanz des siegreichen Kannibalen.


 << zurück weiter >>