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VII.
Eine Marotte

Der Gedanke, mit dem Andreas gegen Mittag erwachte, galt dem Schneider Behrendt in der Mohrenstraße. Sollte er hingehen? In diesem Falle nahm er ein Geschenk von einer Dame an, mit dem erschwerenden Umstande, daß er diese Dame als seine zukünftige Geliebte ansah. Besonders schlimm war es, daß alle Adelheids Trick mit dem Schneider zu kennen schienen. Brauchte die Geschichte denn aber wahr zu sein? Er war fast berechtigt, nicht daran zu glauben. Und wenn er den Betrag seiner Rechnung bezahlte, war er keineswegs verpflichtet, sich darum zu bekümmern, ob sein Schneider von anderer Seite, etwa von Frau Generalkonsul Türkheimer, noch mehr Geld erhielt. Übrigens ließ sich gar nicht darüber streiten, es handelte sich um einen notwendigen Schritt auf seiner Laufbahn. Wer den Zweck wollte, mußte die Mittel wollen.

Erst als diese Betrachtungen erledigt waren, zog er den gestrigen Gewinn aus der Tasche seiner Frackhose. Er glättete die Banknoten auf dem Tische und ließ die Goldstücke klingeln. Aber er packte bald alles wieder zusammen und schob es nachlässig in den Rock. Denn er sagte sich, daß der Besitz dieses Geldes etwas durchaus Natürliches, ihm schon längst Zukommendes sei, über das er sich nicht aufregen dürfe. Das Leben, für das er geboren war, fing jetzt erst an.

Wie er ausgehen wollte, brachte ihm ein Lakai Frau Türkheimers Karte. Sie war an Herrn Behrendt, Mohrenstraße, adressiert. ›Schon?‹ dachte Andreas. ›Flotter könnte es gar nicht gehen!‹ Er stieg pfeifend die vier Treppen hinab, winkte einer Droschke erster Klasse und verließ sie Unter den Linden. An der Ecke der Friedrichstraße kaufte er für sieben Mark eine Krawatte, die er sofort anlegte, ein Paar gelbe Handschuhe, einen Hut und ein Batisttaschentuch. Diese vorläufigen Erwerbungen machten ihm Mut, bei Aimé zu frühstücken. Er bestellte Austern und eine Flasche Chablis, zur Erinnerung an das Büfett bei Türkheimers.

Mit einer Zigarre schlenderte er sodann in die Dorotheenstraße. Köpf empfing ihn neugierig.

»Nun? Sind Sie zufrieden?«

»Es geht«, versetzte Andreas mit stolzer Bescheidenheit. »Ich habe zweitausend Mark gewonnen, und nächstens hoffe ich Ihnen aus eigener Anschauung sagen zu können, was für Hemden Frau Türkheimer trägt.«

»Sie gehen aber forsch vor«, bemerkte Köpf mit seinem zweideutigen Zwinkern.

»Wollen Sie Beweise?« fragte Andreas. Er war pikiert und griff schon nach der Brusttasche. Schließlich hielt er die an den Schneider gerichtete Visitenkarte doch für ein nicht hinreichend schmeichelhaftes Dokument und ließ sie stecken.

»Im Ernst, Sie können mir glauben, daß ich Glück gehabt habe. Von meinem Verdienst will ich Ihnen nicht reden.«

»Tun Sie es nur!« bat Köpf.

»Es ist übrigens nicht schwer, in solch einem Hause Erfolg zu haben, bei dem angenehmen freien Ton, der dort herrscht. Man kommt wildfremd hin und verkehrt doch gleich wie mit alten Bekannten. Die Weiber sehen sich sehnsüchtig um und warten bloß, wer sich von ihnen glücklich machen lassen will. Dann bekommt man auch noch Geld, ohne zu wissen, woher. Ja, woher stammt überhaupt all das Geld, das in dem Hause unter den Möbeln umherrollt?«

»Rollt es wirklich?« fragte der andere belustigt.

»Nun, mir kommt es vor, als brauchte ich mich bloß danach zu bücken. Die Leute dort tun sicher den ganzen Tag gar nichts. Was die Geschäfte machen nennen, weiß ich nicht, aber es nimmt gewiß nicht viel Zeit in Anspruch. Die einen haben schauderhaft viel Geld, die anderen gar nichts. Aber was macht das? Gutes Essen, feine Weine, Weiber, Witze, Kunst und Vergnügen, es ist alles da. Man langt eben zu, wie im Schlaraffenland.«

»Bravo! Das ist doch mal ehrliche Begeisterung«, versetzte Köpf. Andreas stutzte, er fürchtete zu weit gegangen zu sein, und sagte: »Wenn unsereiner hinkommt, so legt er natürlich einen literarischen Maßstab an. Wir wissen diese feine Gesellschaft zu beurteilen.«

»Oh!« machte Köpf mit gespitzten Lippen. »Sie nehmen sich ganz gut aus, so wie Sie sind, mein Lieber. Machen Sie nur nicht aus Ehrgeiz den grämlichen Beurteiler! Wie ich Ihnen schon sagte, Sie haben so was Glückliches an sich, das gefällt.«

Andreas dachte an Klempners Definition des Pulcinello mit seiner glücklichen Naivität. »Sie haben was davon«, hatte Klempner gesagt, und Köpf schien dasselbe zu meinen. Warum auch nicht? Er begann wieder:

»Was mir wirklich imponiert, ist die Vorurteilslosigkeit der Weiber. Kaum ist man vorgestellt, so behandeln sie einen so, als ob sie Arm in Arm mit einem nach Hause gehen wollten. Es ist eigentlich zu wenig Ruhm dabei.«

Köpf wiegte bedenklich das Haupt.

»Stellen Sie sich das lieber nicht zu einfach vor. Ich habe zwar nur bescheidene Erfahrungen, aber die Damen bei Türkheimers sind doch wohl keine Marquisen aus dem vorigen Jahrhundert. Sie geben sich nicht leichten Herzens einem jungen Abbé hin, sie folgen niemals einer Laune, die zu nichts verpflichtet. Man muß ihnen mit Gründen kommen.«

»Wieso?«

»Vergessen Sie nicht das Moralische! Bei Türkheimers steckt man, so viel Zynismus der gute Ton auch vorschreibt, im Grunde doch voll moralischer Bedenken. Es sind schließlich nur Bürgersfrauen.«

»Das habe ich auch schon bemerkt«, sagte Andreas, der an Frau Mohr und ihren Fanatismus für gute Sitte dachte.

Köpf nickte und sah seinen jungen Freund von unten blinzelnd an. Er nahm ehrlichen Anteil an Andreas' Schicksal, es hatte für ihn den Reiz eines interessanten Experimentes, den Jüngling auf seiner schlüpfrigen Bahn zu leiten und mit Verhaltungsmaßregeln zu versehen. Was würde dabei herauskommen? Wie würde dieser unschuldige Streber und Genießer, dieser unbewußte Spekulant, wie sein skeptischer Freund ihn nannte, sich in dem fetten Boden entwickeln, wohin er nun verpflanzt war? Hierauf war Köpf ungemein neugierig. Er wiederholte langsam und nachdenklich:

»Man muß Ihnen mit Gründen kommen. Das heißt, Sie haben die Frau, mit deren Liebe Sie zum Zweck Ihres Fortkommens rechnen, davon zu überzeugen, daß ein Verhältnis mit Ihnen ein besonders gutes Werk oder etwas Neues und Interessantes, auch etwas Schmeichelhaftes wäre. Sie muß sich zu Ihnen herablassen oder von Ihnen emporgezogen werden, am besten beides abwechselnd. Sie machen einen doppelten Eindruck, wenn Sie sich voll Hingebung und Demut zeigen und dabei eine heimliche Überlegenheit ahnen lassen.«

»Das meine ich auch«, sagte Andreas, dem es indes schwer fiel, sich Frau Türkheimer überlegen zu fühlen.

»Die schöne Frau, an die wir denken, steigt zu dem armen Dichter hinab, sie bringt ein verborgenes Talent durch das Licht und die Wärme ihrer Liebe zur Blüte.«

»Tut sie auch!« rief Andreas lachend. Er war doch unangenehm berührt von Kopfs Ausdrucksweise. Dieser fuhr fort:

»Nach dieser Seite ist das Verhältnis klar. Ihre Überlegenheit können Sie mit Leichtigkeit darin finden, daß Sie Rheinländer sind.«

»Wirklich?« fragte Andreas überrascht.

»Bedenken Sie nur Ihre ältere Kultur! Jeder seßhafte Bauer bei Ihnen zu Hause ist ein Aristokrat gegen die Landstreicher aus dem wilden Osten, die hier in Palästen wohnen.«

Andreas schlug sich auf die Knie vor Vergnügen. Er sprang auf, drehte sich zweimal um sich selbst und begann mit langen Schritten hin und her zu wandern.

»Selbstverständlich!« rief er. »Daran hätte ich doch denken müssen. Türkheimers sind natürlich auch aus Posen oder Galizien eingewandert. Was die Leute unter ihrer allgemeinen Wurstigkeit verbergen, das sind bloß ihre Dummheit und ihre schlechten Manieren. Von Kaflisch will ich nicht reden, Sie kennen ihn wohl? Dann ist da einer, der immer mit solchen Beinen herumgeht. Er heißt Süß.«

Und Andreas watschelte mit einwärts gestellten Füßen quer durch das Zimmer.

»Die Weiber sind eigentlich lächerlich, besonders so eine fette Matrone wie Adelheid. Es scheint bei den Leuten so zu sein, wie bei den Wüstenstämmen. Die Schönste kann nur auf einem Kamel weiterbefördert werden, nach ihr kommt eine, die sich auf zwei Sklavinnen stützt.«

Triumphierend sah er Köpf an, der mit sich selbst wettete, Andreas habe diese Wissenschaft erst in der vergangenen Nacht erworben. Der junge Mann lachte ausgelassen, er hatte einen Einfall.

»Der Allerkomischste ist aber Türkheimer selbst. Er muß eine Hautkrankheit haben. Passen Sie mal auf!«

Und Andreas begann durch fingierte Koteletten zu streichen und sich am Kinn zu scheuern. Er setzte sich einen Klemmer, den er vom Tisch nahm, vorn auf die Nase und ging mit kleinen, unsicheren Schritten, den Bauch vorgeschoben, auf Köpf zu.

»Mein Name ist Ausspuckseles«, sagte er mit Türkheimers schleppender, leicht näselnder Stimme, »Generalkonsul Ausspuckseles, und hier ist meine Frau, geborene Rinnsteiner.«

Er stand atemlos, rot im Gesicht, und hielt sich die Seiten. Köpf kicherte leise, er blinzelte so verräterisch, daß Andreas bei näherer Betrachtung nicht gewußt hätte, ob der andere über seinen Scherz oder über ihn selbst lachte. Der junge Mann ging schon zur Tür, kehrte aber eilig zurück.

»Ach, ehe ich's vergesse! Hier in der Wohnung ist doch ein Zimmer frei. Bitte, belegen Sie es für mich, ich ziehe nächsten Ersten ein. Dies ist wenigstens eine Gegend, wo eine Dame sich nicht gleich kompromittiert. Wenn sie schon arme Dichter glücklich machen wollen, darf man ihnen doch nicht zumuten, es in der Linienstraße zu tun.«

»Sehr richtig!« bestätigte Köpf. »Solche weise Voraussicht ehrt Sie. Sie scheinen wirklich die Mittel zu besitzen ....«

»Mit denen man was wird! Das sagt mir jeder!« rief Andreas, schnalzte mit den Fingern und verließ, sehr zufrieden mit sich, das Haus. Er hatte sich gehütet, Köpf etwas von Ratibohr zu erzählen und von Türkheimers Neigung, seine Frau mit einem harmlosen jungen Mann glücklich werden zu lassen. Auch die Geschichte mit dem Schneider hatte er für sich behalten. Doch war er mittlerweile in der richtigen Stimmung, um sich in die Mohrenstraße zu begeben.

Der Angestellte, dem Andreas Frau Adelheids Karte übergab, holte sogleich Herrn Behrendt herbei. Der Inhaber des Ateliers für feine Herrenbekleidung sah aus wie ein Botschafter. Er führte den jungen Mann in einen mit vornehmem Geschmack möblierten Salon, nötigte ihn, auf einem seidenen Puff Platz zu nehmen und bat Andreas, ihm zu sagen, womit er sich ihm gefällig erweisen könne. Andreas glaubte schon, er werde hinzusetzen: »Unter Ehrenmännern verpflichtet man einander gern.«

Der Neuling fürchtete sich eine Blöße zu geben, wenn es an die Wahl der Stoffe und an die Äußerung seiner Wünsche in betreff des Schnittes ging. Doch war nicht die Rede davon, Herr Behrendt unterbrach ihn nach den ersten Worten:

»Ich verstehe, mein Herr, es handelt sich um eine vollständige Ausstattung, die dem Geschmack der allervornehmsten Häuser adäquat sein und zugleich Ihre individuelle Eigenart berücksichtigen muß. Ich meine, es darf nichts nach der Seite des rein modischen Schicks übertrieben, dagegen soll ein diskreter künstlerischer Schwung hinzugefügt werden.«

Andreas bewunderte höchlich den Scharfblick des Mannes. Herr Behrendt setzte hinzu:

»Gestatten Sie mir, Ihr Genre näher zu studieren.«

»Wie?« fragte Andreas.

Aber Herr Behrendt war schon in sein Studium vertieft. Er kniff ein Auge zu und umschritt in weitem Kreise den seidenen Puff.

»Machen Sie mir das Vergnügen, bis zu jenem Spiegel zu gehen!« bat er sodann.

Als Andreas zurückkehrte, äußerte Herr Behrendt:

»Ich bin befriedigt, mein Herr.«

Er schellte, worauf der Zuschneider mit seinen Maßen erschien. Sogleich empfahl sich Herr Behrendt mit einer Verbeugung, da das profane Geschäft des Anmessens seine Gegenwart nicht erforderte.

Andreas verließ das Atelier mit dem erhöhten Gefühl der eigenen Würde. Er hatte noch mehr Geschäfte, und er bestellte zwei Dutzend feiner Hemden, nach Maß anzufertigen, außerdem eine Menge anderer Leibwäsche. Auch hielt er die Anschaffung einiger koketter Nachthemden für sehr wichtig, mit Stickerei am Kragen und mit seidenen Schnüren. Dann begab er sich in ein Fußbekleidungsatelier, und er drang überall auf Eile.

Am Freitag, dem ihm von Frau Türkheimer bezeichneten Empfangstage, hatte er die Genugtuung, seine neuen Herrlichkeiten vor sich auf dem Sofa ausgebreitet zu sehen. Herrn Behrendts vollständige Ausstattung bedeckte alle übrigen Möbel des Zimmers, die, so alt sie waren, solche Pracht sicher noch nie gesehen hatten. Die aus dem Atelier der Mohrenstraße hervorgegangenen Werke erwiesen sich für den lernbegierigen Neuling als eine illustrierte Anleitung zum feinen Auftreten, so sorgfältig waren sie auf sämtliche Lagen des gesellschaftlichen Lebens abgestimmt. Jedem Anzuge war ein Schild mit einer Inschrift angeheftet: »Visitenkostüm« oder »Soireekostüm« (petit comité), »Promenadenkostüm«, »smoking-dress« (Herrengesellschaft) und manche andere Erläuterung, die Andreas vor Irrtümern bewahrte. Er dankte dem großen Schneider diese Vorsicht wie einen zartfühlenden Freundschaftsdienst. Er sah sich nun im Besitz von zwei Gehröcken ungleicher Länge, zwei Fräcken, einem Frackjackett, drei Schwalbenschwänzen von verschiedenen nuanciertem Grau, drei kurzen Sakkojacketts, einem Abendmantel und zwei Paletots. Es waren fünf zartgemusterte Extrabeinkleider vorhanden, und der Schnitt der Westen legte von einer künstlerisch geschulten Phantasie Zeugnis ab.

Andreas wählte den Gesellschaftsrock aus, den Herr Behrendt mit der Empfehlung »five o' clock« versehen hatte. Als er nach Beendigung seiner Toilette vor den Spiegel trat, begrüßte ihn dasjenige Bild, das er seit einem Jahre als traumhaftes Ideal im Kopfe trug. Der schwarze Tuchrock reichte bis über das Knie. Sein leicht aufgeschlagenes Atlasfutter legte sich harmonisch auf die lichtbraune, diskret geblümte Weste. Die perlgraue Hose fiel in weichem Fluß über die Lackschuhe. Andreas probierte mehrmals, sich in der Weise hinzusetzen, daß die Hose unauffällig hinaufgezogen ward und die schwarzseidenen Strümpfe sehen ließ. Als ihm dies zu seiner Zufriedenheit gelungen war, erfreute er sich an dem milchigen Schimmer des plissierten Hemdes. Er zog die Handschuhe an, indes er nachlässig verschiedene Stellungen übte.

In einer Tasche seines neuen Paletots fand er Herrn Behrendts Rechnung. Sie belief sich für elf Kostüme nebst vielen Extrastücken auf rund vierhundert Mark, was für den kompletten Anzug kaum dreißig Mark ausmachte, beträchtlich weniger, als der Gumplacher Schneider für seine Leistungen beanspruchte. Im Fortgehen warf Andreas einen verächtlichen Blick seinen abgelegten Kleidungsstücken zu, die als elendes Häuflein in einem Winkel trauerten. Es war eigentlich sein alter Mensch, der dort in sich zusammengesunken lag. Er mußte laut ausrufen:

»Zu denken, daß ich je so ausgesehen habe!«

Der Rock saß gut unter den Achseln, die Hose bequem im Schritt, und das Bewußtsein, daß ihm niemand einen Fehler oder eine Ärmlichkeit vorwerfen könne, machte den Gang des glücklichen Jünglings elastisch. Da ein klarer Frost herrschte, begab er sich zu Fuß in die Mohrenstraße, wo er mit überlegener Miene seine Schuld beglich. Dann fuhr er zu Türkheimers.

Diesmal schritt er in ruhigem Selbstvertrauen auf die Tür zu, die ihm der Diener öffnete. Es gab, wie er meinte, in diesem Hause, unter diesen Menschen kaum noch Überraschungen für ihn. So beraubte es ihn beinahe seiner Fassung, als er einen ganz fremden Raum betrat. Die Wände des Zimmers waren mit gelbem Satin ausgeschlagen. Bizarr verteilt hingen daran nur wenige kleine Gemälde, die einen kostbaren Eindruck machten, vielleicht wegen der breiten, schwarzen, mit Perlmutter eingelegten Rahmen. Schwarze Lackmöbel mit winzigen goldenen Figuren und von zierlichen exzentrischen Formen, standen zu zweien oder dreien launisch weit voneinander entfernt. Zwischen ihnen dehnte sich die grünliche Fläche des gewirkten Teppichs, durch die sich weiße Wasserrosen schlangen.

Es war einen Augenblick still geworden, als Andreas eintrat. Er fühlte die Lorgnons auf sich gerichtet. Nur Fräulein Asta, die mit ihrem Verlobten sich in einer Fensternische aufhielt, fuhr fort, laut zu sprechen. Die Hausfrau begrüßte den jungen Mann sehr gütig, sie schien seine allzu neue Kleidung nicht zu beachten. Sie führte ihn zu den Damen Mohr und Pimbusch, die mit Herrn Liebling plauderten, worauf sie zu Herrn Pimbusch zurückkehrte. Dieser erkundigte sich, ohne seine Stimme zu mäßigen, nach der Herkunft des Fremdlings. Nachdem Frau Türkheimer ihn bedeutet hatte, Herr Zumsee sei Schriftsteller, erklärte er:

»Ich begreife nicht, wie'n Mensch jetzt noch Bücher schreiben kann« – ohne eine Begründung seines Ausspruches für nötig zu halten.

Frau Mohr sah Andreas mit reizender Vertraulichkeit an. ›Ich bin vom ersten Augenblick an Ihre Freundin gewesen,‹ schien sie zu sagen. Sie bemerkte:

»Ich habe gehört, daß Sie neulich viel Glück im Spiel gehabt haben?«

»Hüten Sie sich, daß Ihnen das bei uns nicht schadet«, sagte Frau Pimbusch mit ihrer hohen, gebrochenen Stimme und mit einer Betonung, daß es Andreas fast unheimlich ward. Ihr grünlicher Blick schoß glitzernd auf ihn zu.

Herr Liebling protestierte gegen den Aberglauben, und die sittliche Würde, mit der er es tat, stand ihm gut. Andreas verglich Lieblings Gehrock mit seinem eigenen und bewunderte im stillen die feinsinnige Unterscheidungsgabe, die Herr Behrendt an den Tag gelegt hatte. Lieblings Eigenart erforderte einfache Korrektheit, ein Hervortreten des Moralischen sogar im Schnitt der Weste. Sein eigener Anzug trug dagegen ein nicht näher zu bestimmendes künstlerisches Gepräge, das mit dem Charakter seines Kopfes übereinstimmte. Andreas trug das Haar ein wenig länger im Nacken als üblich. Der Schnitt seines Rockes, leicht ausgebuchtet, erinnerte wohl an 1830, aber wie Herr Behrendt vorausgesagt hatte, war nichts nach der Seite des rein modischen Schicks übertrieben. Dies war jedoch dasjenige, was das Äußere des Herrn Pimbusch bemerkenswert machte.

Andreas, der Lieblings Diatribe gegen den Aberglauben ein zerstreutes Gehör schenkte, betrachtete aufmerksam Pimbuschs vor Altertümlichkeit übermoderne Tracht und die Art, wie er sie zur Geltung brachte. Pimbusch vollführte keine noch so unbedeutende Bewegung, die ihm nicht durch ein Gesetz der Mode vorgeschrieben war. Wie er die Rockschöße aufhob, um sich zu setzen, wie er seinen Hut auf die Etagere stellte, den Kopf wandte, seinen Schnurrbart drehte und die Zigarette zwischen die Finger nahm, so mußte es im Jahre 1894 jeder machen, der auf guten Ton Anspruch erhob, und so würde es zwei Jahre später niemand mehr tun. Die Gemessenheit, mit der er die Riten der Eleganz beobachtete, gab ihm etwas Sakramentalisches, wie wenigstens Kaflisch behauptete, nach dessen Ansicht übrigens ein Mystiker in Pimbusch steckte. Denn er hätte sich als verloren angesehen, wenn sein Zylinder nicht sieben Glanzreflexe und die Tuberose in seinem Knopfloch nicht dreizehn Blätter besessen hätte.

Pimbusch trat als ein vollendeter Bewohner jenes Schlaraffenlandes auf, wie Andreas es sich vorstellte. Doch stand er, wie dem jungen Manne nicht unbekannt war, tätig mitten im öffentlichen Leben. Er war der Sohn und Nachfolger jenes großen Pimbusch, der dem durch ihn eingeführten Spezialkartoffelfusel seinen, vom Berliner Volke verehrten Namen gegeben hatte. Heute ging das Geschäft von selbst, der Sohn hatte sich nicht um den Betrieb zu bemühen. Doch arbeitete er auch dann noch, wenn er seine Nägel betrachtete oder den neuesten Börsenwitz wiederholte. Sooft nachts die Destillationen ihren Schein auf die Straßen hinauswarfen, war Pimbusch an der Arbeit. Der träge Zug der Proletarier quoll durch die weit offenen Tore der Kneipen aus und ein. Sechs Gläser des Spezialfusels genügten, um den Stumpfesten in das Reich seiner Ideale zu versetzen. Die Seligsten träumten in den Rinnsteinen. Ein giftiger Duft zog durch die Stadt, die in einem Meer von Schnaps zu ertrinken trachtete. Dann war Pimbusch, der in einem Salon das Problem der neuesten Kragenhöhe erörterte, an der Arbeit.

Begreiflicherweise verachtete Pimbusch das Volk, das seinen Schnaps trank. Aber auch von Geschäften sprach er nur mit fremder Miene, wie jemand, der nicht dazu gehört. Kaflisch nannte ihn den Schnapsfeudalen und begriff ihn unter der größeren Familie der Feudaljobber. Denn es war Pimbuschs zehrender Ehrgeiz, als letzter einer an Überfeinerung zugrunde gehenden Gesellschaft zu gelten. Den Baron Hochstetten hatte er sich, seit er ihm bei Türkheimers begegnete, zum Vorbild genommen zwecks Einübung einer feudalen Physiognomie. Seine Anstrengungen wurden erleichtert durch einen flachen Schädel, über den dreißig erfreuliche Jahre verheerend dahingegangen waren, durch die glasige Blässe seiner Augen und durch eine Haut, fahl und durchlöchert wie Pergament. Nur seine mächtigen Kiefer, die beim Sprechen gefräßig auf- und zuklappten und eine Art großer spitzer Raubfischzähne sehen ließen, erzählten noch von den starken Erwerbsinstinkten seiner Väter. Aber indem er sie kraftlos auf die Brust herabhängen ließ, wußte er auch sie seinen Absichten dienstbar zu machen. Und obwohl er von der Herkunft seines Großvaters durchaus nichts wußte, kam dieser Sproß des kräftigen Bürgertums dem Ideal des vollkommenen Kretinismus mindestens ebenso nahe wie der Freiherr von Hochstetten, dessen Vorfahr mit dem Burggrafen von Nürnberg in Brandenburg eingezogen war.

Die Persönlichkeit, der Andreas so viel Aufmerksamkeit schenkte, stieß unvermutet einen Entsetzensschrei aus. Pimbusch starrte schreckensbleich der Hausfrau ins Gesicht und stotterte: »Was sagen Gnädigste? Das Haus für ›Rache!‹ ist ausverkauft? Unmöglich, Gnädigste, es würde mich zur Verzweiflung treiben!

»Ciaire!« rief er, »hörst du es nicht? ›Rache!‹ ist ausverkauft, und wir haben keine Loge!«

Er erhob sich, schob die Schultern weit vor und machte zwei müde Schritte über den Teppich. Seine Frau richtete das Lorgnon auf ihn.

»Dann mußt du eben darauf verzichten«, bemerkte sie herablassend. Er sah sie fassungslos an.

»Aber das ist doch unmöglich! Wie kannst du so etwas sagen?«

»Warum hast du also nicht früher daran gedacht, uns Plätze zu besorgen, mein armer Freund?«

Frau Mohr legte sich ins Mittel.

»Liebste Claire, du weißt doch, daß man ›Rache!‹ sehen muß! Alle Welt geht hin, es ist ein Ereignis!«

»Man bringt die Revolution auf die Bühne, alles wird kurz und klein geschlagen!« rief Asta höhnisch herüber.

»Welch eine Abgeschmacktheit!« äußerte Liebling.

»Der Verfasser ist unbekannt?« fragte Andreas. Pimbusch rang die Hände.

»Es soll jemand aus unseren Kreisen sein! Bei der Premiere erfährt man vielleicht den Namen. Und wer bei der Premiere nicht dabei ist, zählt überhaupt nicht mehr mit. Bedenke es doch, Claire!«

Seine Gattin zuckte ungeduldig die Achseln. Sie wandte sich an Frau Türkheimer.

»Haben Sie eine Loge, gnädige Frau?«

Die Hausfrau sprach mit Hochstetten, sie schien dem wichtigen Tagesereignisse wenig Interesse entgegenzubringen. Sie erwiderte ausweichend:

»Ich weiß noch nichts Bestimmtes, liebe Claire. Ich habe selbst nicht geglaubt, daß alles so rasch weg sein würde. Doktor Bediener will an uns denken. Behalten wir einen Platz, so gehört er natürlich Ihnen.«

»Gnädigste mögen meines unauslöschlichen Dankes gewiß sein!« rief Pimbusch.

»Aber ich kann nichts versprechen«, sagte Frau Türkheimer lächelnd.

Pimbusch war also noch nicht aller Zweifel überhoben. Er zog die Uhr, blickte unruhig nach der Tür, aber es war ihm unmöglich, ohne Hochstetten wegzugehen. Er pflegte sich mit dem Freiherrn überall zu zeigen, wo man ihn sehen konnte, und ihn bis ins Ministerium zu begleiten. Denn Pimbusch hegte den wahnwitzigen Ehrgeiz, durch Vermittelung von Türkheimers Schwiegersohn in den hocharistokratischen Jeuklub aufgenommen zu werden.

»Sie müssen doch wissen, wer der Verfasser ist?« wurde Andreas von Frau Claire Pimbusch gefragt.

»Warum?« erwiderte er naiv.

»Nun, weil Sie Schriftsteller sind.«

Frau Mohr setzte hinzu:

»Sie stecken natürlich alle zusammen und wollen uns nur neugierig machen dadurch, daß sie den Namen geheimhalten!«

»Ich weiß nichts«, beteuerte Andreas.

»Und Sie können uns auch nichts Näheres über das Stück erzählen?«

»Ich bedaure es unendlich.«

Frau Pimbusch sah ihm in die Augen, als wollte sie ihn hypnotisieren.

»Aber Sie gehen doch hin?« fragte sie.

»Nein«, sagte Andreas ganz verwirrt.

»Warum nicht?«

Er wußte es selbst nicht. Irgendein Stehplatz fand sich wohl immer noch für ihn. Warum sollte er nicht hingehen. Er hatte aufs Geratewohl nein gesagt. Nun machte er ein verlegenes Gesicht, dem er, um nicht albern dazustehen, etwas Geheimnisvolles zu geben suchte.

»Sie können sich trösten, Herr Pimbusch«, sagte Frau Mohr. »Herr Zumsee geht auch nicht hin.«

Frau Türkheimer sah sich flüchtig nach Andreas um.

»Ach, lassen wir doch endlich das alberne Stück! Was liegt denn daran?« meinte Frau Pimbusch.

»Nehmen Sie doch wieder Platz, Herr Zumsee!«

Mit ihrem Fuße, den sie unter dem Kleide hervorstreckte, zog sie Andreas' Stuhl näher heran. Er saß nun zwischen den Kleidern der Damen Mohr und Pimbusch. Die Gattin des Schnapsfabrikanten streifte zuweilen mit ihrem rätselhaften Blick sein Gesicht, doch es war ihm zumute, als verließe dieser Blick ihn nie. Er schien ihm, wohin Andreas sich auch wandte, immer zu folgen wie die Augen eines alten Bildes. Frau Pimbusch kam ihm unmenschlich vor wie ein Symbol. Sie war geradezu das verkörperte Laster, er meinte von ihr träumen zu müssen.

Claire Pimbusch trug auf dem Gipfel ihrer kunstvollen Frisur einen großen Amethyst, und der violette Stein schrie grell inmitten ihres karminroten Haares. Die blauschwarzen Wölbungen der Augenbrauen bildeten zwei Wulste, in deren Mitte, über der Nasenwurzel, eine tiefe Einsenkung, umgeben von kleinen senkrechten Fältchen, die Stirn durchquerte. Diese niedrige Stirn sah aus wie zerarbeitet von unzüchtigen Gedanken. Es lag über ihr ein künstlicher grüner Schimmer, wie über der schlecht aufgeklebten Stirnhaut einer Theaterperücke. Ein roter Kreis zog von den oberen Lidern bis an die Backenknochen um die grünlichen, verquollenen Augen. Das Gesicht schien aufgeblasen, ohne daß Fettpolster zu entdecken waren, und an seine rosige Farbe war schwer zu glauben, weil die lange scharfe Nase mit ihren weit offenen, gierigen Nüstern und das spitze Kinn kreideweiß, gleich der Maske eines Clowns, daraus hervorragten. Die blutroten Mundwinkel krümmten sich mit merkwürdiger Beweglichkeit. Die zu kurze Oberlippe legte die weißen spitzigen Zähne frei, zwischen denen ein wenig Flüssigkeit glitzerte. Eine scharfe Falte schloß die knochige Ecke des Kinnes ein, und darunter bauschte sich die schlaffe Haut des Doppelkinns über dem engen, langen Halskragen. Der Kopf saß wie eine farbenprächtige, gedunsene Giftblume auf einem zu dünnen Stengel.

Der aufmerksame Andreas fand alle Einzelheiten dieses Kopfes häßlich, nicht aber Frau Pimbusch selbst. Es war ihm, als habe er, zum erstenmal in seinem Leben, die Ehre, einer großen, sehr teuren Kokotte gegenüberzusitzen, nach deren Loge die jungen Leute auf ihren Parkettplätzen sich erblassend umwenden. Man sah bei näherer Prüfung, daß ihr Gewerbe jedem ihrer Züge seine Häßlichkeit aufgeprägt hatte, und doch peitschte ein Blick in ihr freches Gesicht das Fleisch aus seiner Ruhe.

Als die Dame ihn unvermutet ansah, erschrak Andreas. Er mußte sich erst daran erinnern, daß er sich im Salon Frau Türkheimers befand. Welch eigentümliche Phantasie war es aber auch von einer Bürgersfrau, durchaus einer Hetäre gleichen zu wollen! Frau Pimbuschs Arme kamen mädchenhaft mager aus den großen, mit Fischbein gesteiften Ärmeln hervor. Ihre Finger, mit kleinen rosigen Nägeln, legten sich weiß wie Lilien um das Lorgnon. Sie hatte die Taille einer Jungfrau, und war sie nicht eine? Kaflisch behauptete es. Andreas sandte Herrn Pimbusch einen mitleidigen Blick zu. Vielleicht hatte sie ihm angemerkt, wofür er sie einen Augenblick hielt? Aber es war ja ihr Ehrgeiz, dafür zu gelten!

Liebling berichtete Einzelheiten über den Zusammenbruch des jungen Jessel, dem es gelungen war, das ererbte väterliche Vermögen, drei Millionen, in anderthalb Jahren durchzubringen, und der Zionist sprach sich mißbilligend über den sittlichen Verfall der modernen Jugend aus.

»Ah bah! Nur wenige machen es wie der junge Jessel!« meinte Frau Pimbusch.

»Verschwendung und Ausschweifung, wohin man sieht!« erklärte Liebling feierlich. Frau Pimbusch wandte dagegen ein:

»Die meisten sind zu schwächlich, um ihre Bequemlichkeit zu riskieren, irgendeiner Leidenschaft zuliebe. Und wie wird man sonst zum Verschwender?«

»Und die Ausschweifungen?« fragte Andreas, dem es Vergnügen machte, eine Dame über solchen Gegenstand reden zu hören.

»Oh, sie fürchten alle für ihre liebe Gesundheit. Wir Frauen sind sicher vor diesen jungen Leuten«, erwiderte sie.

Frau Mohr stieß ein gutturales, gutmütiges Lachen aus, wie eine ehrbare Matrone, die ein gewagtes Wort einer jüngeren Frau nachsichtig vertuscht.

›Und dabei bist du beinahe das, was sie sein möchte,‹ sagte sich Andreas, stolz auf seine Menschenkenntnis. Er beschloß durch die Subtilität seiner Ansichten zu verblüffen und bemerkte:

»Gnädige Frau müssen bedenken, daß unsere Generation, die übrigens von überarbeiteten Vätern stammt, allen Grund zur Vorsicht hat. Alles Bestehende ist heutzutage unsicher, und kein Mensch weiß, ob er nicht eines Tages wird arbeiten müssen.«

»Oh!« machte Frau Mohr, und Frau Pimbuschs Miene sah angewidert aus. Liebling sprach laut seine Überzeugung aus, daß nichts so sehr zur Moralisierung der Menschheit beitragen werde, wie das fortwährende Fallen des Zinsfußes. Hier erschließe sich eine bessere Zukunft. Andreas fuhr fort:

»Wir sind durch die Verhältnisse vielleicht vor der Zeit weise gemacht. Ein moderner junger Mann kennt den Wert des Geldes, und er spart seine Kräfte. Abenteuer aufzusuchen, ist er meistens zu skeptisch oder zu vorsichtig. Er nimmt wohl meistens nur diejenigen an, die sich ihm mühelos darbieten.«

Frau Pimbuschs Mundwinkel krümmten sich verächtlich.

»Er nimmt allerdings, was er kann, aber ich will Ihnen sagen, wie einer Ihrer Skeptiker das erst neulich gemacht hat!«

»Dein neuestes Abenteuer, Claire?« fragte Frau Mohr mit milden Lächeln. »Bitte, geniere dich nicht!«

»Eine Freundin hat es mir erzählt, die ich natürlich nicht nennen kann.«

Sie zwinkerte den beiden Herren zu, so ausdrucksvoll, als sagte sie jedem ins Ohr: »Ich bin es nämlich selbst!« Dann berichtete sie:

»Meine Freundin merkt also, wie sie durch die Behrenstraße geht, daß ein Herr ihr fast auf die Absätze tritt. Sie geht langsamer, er auch. Sie bleibt vor der Kunsthandlung stehen und betrachtet ihn in der Spiegelscheibe: ein sehr hübscher Mann, mit schwarzem Schnurrbart, breiten Schultern, sehr brünett und kräftig.«

Bei diesen Worten verfiel Frau Pimbusch in ein kurzes Sinnen. Sie fuhr fort:

»Er gefällt ihr sehr, und in solchen Fällen ist meine Freundin kurz entschlossen. Er steht zwei Schritte hinter ihr und rührt sich nicht. Da läßt sie ihr Armband fallen, weißt du, meine Liebe, gerade so eine goldene Schlange mit einem Türkis und fünf Perlen, wie ich noch kürzlich eins trug.«

»Du hast es wohl nicht mehr?« fragte Frau Mohr.

»Das tut nichts zur Sache. Also, sie läßt es hinfallen und biegt schnell um die Straßenecke. Nun muß er sie doch wohl anreden. Als sie zehn Schritte gemacht hat, hört sie ihn noch nicht kommen. Sie bleibt stehen, aber er zeigt sich nicht. Da laufe ich zurück, nein, da läuft sie zurück an die Ecke. Der Herr ist verschwunden, das Armband auch. Was sagen Sie zu der Geschichte?«

»Bravo!« bemerkte Liebling sarkastisch.

Frau Mohr zuckte die Achseln.

»Sie sieht dir ähnlich, Claire. Du hast Talent.«

›Talent?‹ dachte Andreas. Frau Pimbusch hatte ihre Geschichte so überzeugend vorgetragen, daß er sie ihr beinahe glaubte. Übrigens war ihr Kopf, dieser ausdrucksvolle Kopf, eine so glaubwürdige Illustration zu allen anstößigen Neuigkeiten, die sie erzählen mochte. Er sagte voll Bewunderung:

»Warum schicken Sie so etwas nicht an die Blätter, gnädige Frau?«

»Ah bah!« machte sie. »Die schönsten Erlebnisse werden niemals aufgeschrieben, mein Lieber.«

»Das ist wahr! Was hätte sonst ein Mann wie Herr Türkheimer alles zu verraten!«

»Lassen Sie sich von ihm etwas erzählen!« sagte Frau Mohr.

»Und benutzen Sie's!« setzte Frau Pimbusch hinzu.

»Wozu?« fragte Andreas.

Sie lächelte boshaft.

»Zu einem Festspiel für die Hochzeit seiner Tochter.«

»Ach ja!« rief Andreas harmlos begeistert, »die muß doch gefeiert werden! Gibt es denn noch kein Programm?«

Er saß so eng zwischen den Kleidern der beiden Damen, daß die Falten um seine Beine raschelten. Die Gattin des Schnapsfabrikanten hatte ihren Fuß dicht neben den seinigen gestellt, durch den Schuh hindurch fühlte er ihre Wärme. Frau Mohr lullte ihn mit der zärtlichen Freundschaft ihres Blickes ein, indes aus Frau Pimbuschs grünlichen Augen ein magischer Bann über ihn hinzog. Ein Odem von Weiblichkeit, wie der Duft von Eisenkraut und Veilchen, umhüllte ihn ganz.

Wenn dies alles noch nicht hingereicht hätte, um den Jüngling zu berücken, so genügte das Bewußtsein, im Reiche seiner Wünsche nun schon fast heimisch geworden zu sein. Heute verlor er sich nicht in einem namenlosen Strom von Gästen, sondern er gehörte einem halben Dutzend Auserwählter an, die sich nicht scheuten, ihn etwas von ihrem Leben, von ihrer Eigenliebe und ihren kleinen Bosheiten merken zu lassen. War das wirklich er selbst, der, umgeben von aller Üppigkeit eines reichen Lebens, mit pikanten, geistreichen Frauen vertraulich plauderte? Seine Erfolge berauschten ihn leichter als Wein. Er empfand eine weichherzige Sympathie für alle Anwesenden. Es waren offene, liebe Menschen, deren jedem er gern etwas Angenehmes gesagt hätte.

Die Stutzuhr auf dem größten der schwarzen Lacktischchen schlug fünf, wobei der goldgrüne Drache, der sie bewachte, fünfmal den Rachen aufsperrte. Sogleich ward die Flügeltür geöffnet, und zwei Lakaien trugen den fertig hergerichteten Teetisch herein. Die Hausfrau füllte die Tassen, und Fräulein Asta reichte sie den Gästen dar. Pimbusch belegte sich mit studierter Anmut einen ganzen Teller voll petits fours und Pistazienkuchen, während Liebling diese Leckereien kühl verschmähte.

Als Asta zu ihm trat, wiederholte Andreas freundlich lächelnd:

»Gewiß, die Hochzeit des gnädigen Fräuleins muß doch mit etwas Außergewöhnlichem begangen werden. Wollen wir sie nicht durch ein Festspiel feiern?«

Eine dicke Falte erschien über Astas zusammengewachsenen Brauen, die ziemlich hohen Schultern zuckten verächtlich.

»Mit wem wollen denn Sie feiern?« sagte sie nachlässig, ohne Andreas anzusehen.

Dem armen jungen Mann, der die stumme Feindseligkeit der Tochter des Hauses endlich zu besiegen gehofft hatte, erstarb das Lächeln auf den Lippen. Er fühlte, wie er blaß ward. Der Zorn dieser untersetzten Brünette rief plötzlich das Bild jener faden Blondine in ihm wach, die ihn übellaunig angefahren hatte: »Jüngling, wie kommen Sie mir vor?« Es war ihm klar, daß Asta ganz dasselbe gemeint hatte, und er fühlte sich so völlig erdrückt durch ihre Verachtung, daß er nicht wußte, wohin den Blick wenden. Frau Pimbusch lächelte ihm boshaft zu, aber Frau Mohr, die eine Hand auf seinen Arm legte, flüsterte voll aufrichtigen Bedauerns:

»Ich hätte Ihnen vorher sagen sollen, daß Fräulein Türkheimer von einer Feier nichts wissen will.«

Sie wandte sich an das junge Mädchen.

»Liebe Asta, es ist eigentlich gar nicht hübsch von Ihnen, daß Sie an Ihrem schönsten Fest niemand von Ihren Freunden teilnehmen lassen.«

»Oh, eine stille Hochzeit ist das modernste«, erklärte Pimbusch, der herzutrat. Asta wandte hochmütig den Kopf.

»Wozu soll man alle Welt mit seinen Privatangelegenheiten behelligen?« versetzte sie. »Solche Massenfreuden haben sich überlebt.«

Liebling, dessen schwarzer Bart merklich zitterte, ließ ein leises Murren vernehmen, doch wagte selbst er dem entschlossenen jungen Mädchen nicht laut zu widersprechen. Andreas meinte etwas sagen zu müssen, ohne zu wissen, was. In seiner Angst flüsterte er vor sich hin:

»Fräulein Asta empfindet eben als modernes Weib.«

Fast hätte er hinzugesetzt: »Mehr intellektuell als Geschlechtswesen.«

»Überlebt?« wiederholte endlich Frau Pimbusch, auf deren lasterhafter Stirn die Fältchen sich bewegten. »Ich finde sogar, daß eine Hochzeit etwas Unpassendes an sich hat.

Beinahe etwas Unanständiges«, setzte sie nach kurzem Nachdenken hinzu, und sie blickte im Kreise umher, daß allen peinlich zumute ward.

Asta, blutrot im Gesicht, starrte einen Augenblick finster vor sich hin. Dann drehte sie sich plötzlich um und ging zur Tür, ohne sich von jemand zu verabschieden oder auch nur ihren Verlobten anzusehen. Frau Pimbusch und Frau Mohr tauschten ein schnell unterdrücktes, verständnisvolles Lächeln aus.

Hochstetten folgte halb im Schlaf, aber dennoch ein wenig verwundert, seiner Braut, und sofort schloß sich Pimbusch dem Freiherrn an. Er nahm seinen Hut von der Etagere und ließ die spiegelnde Fläche eines seiner Fingernägel behutsam darübergleiten. Dieser Nagel, am kleinen Finger der linken Hand, war ungewöhnlich lang, sein Schliff und seine Erhaltung hatte Pimbusch die Arbeit eines halben Jahres gekostet. Bevor er der Hausfrau die Hand küßte, drehte er beim Schein der Spiritusflamme, über der das Teewasser kochte, seinen Zylinder einmal um die Achse, um das Vorhandensein der sieben Reflexe festzustellen. Dies alles vollführte Pimbusch mit genau abgezirkelten Bewegungen, die Ellenbogen weit vom Leibe entfernt.

Andreas war sich der Verpflichtung bewußt, hinter den anderen das Zimmer zu verlassen. Nach der ihm von der Tochter des Hauses zugefügten Beleidigung hätte seine persönliche Würde dies erfordert. Aber sollte er seine Zukunft aufs Spiel setzen? Er blieb, von seiner Feigheit tief gedemütigt, sitzen. Niemand schien ihn mehr zu beachten. Die Damen sprachen mit Liebling, Andreas schwieg und zerbiß sich die Lippen.

Es war ein Glück für ihn, daß eine neue Besucherin eintraf, eine kleine elegante Dame, die wie ein Vögelchen zur Tür hereinflatterte. Die Federn nickten auf ihrem Hute, ihre lockere Frisur wippte um das Köpfchen. Wie sie sich hinsetzte, wehte eine Spitzenwolke unter ihrem seidenen Kleide hervor. Sie sprang sofort wieder auf und flog im Zimmer umher, mit ununterbrochenem Gezwitscher. Auch sie war in höchster Unruhe wegen »Rache!«. Man fand entschieden keine Plätze mehr.

»Ich habe selbst noch keine«, wiederholte Frau Türkheimer. »Ich muß mich auf Doktor Bediener verlassen.«

Sie goß Tee ein und sah sich nach Asta um, deren Verschwinden sie erst jetzt zu bemerken schien.

»Meine Tochter ist fortgegangen? Ach, dann muß ich Sie in Anspruch nehmen, Herr Zumsee!«

Andreas eilte herbei, und er befleißigte sich, während er den Damen die Tassen reichte, eines so ausgesuchten Anstandes, daß die neu ankommende Kleine ihn durch ihr Glas mit sichtlicher Anerkennung musterte. Sofort fühlte er sich moralisch gehoben.

»Sie vergessen Fräulein von Hochstetten«, bemerkte Frau Türkheimer.

»Wo?« fragte er erstaunt.

Sie wies lächelnd nach der Fensternische, wo Asta und ihr Bräutigam sich aufgehalten hatten. Dort saß das Fräulein, hinter dem gelbseidenen Vorhang fast versteckt. Wenn ihr Bruder vor lauter Blutarmut nur wenig sprach, so schwieg sie ihrerseits aus Stolz. Sie geriet in dem Winkel, wo sie Platz nahm, alsbald in Vergessenheit und blieb bis zuletzt da, die feinen kritischen Augen hinter den Gläsern ihres Lorgnons verborgen. Die Hochstettensche Nase erlaubte ihr keinen Anspruch auf Schönheit zu machen. Mit dreißig Jahren stand der endgültige Verzicht in ihrem mageren, vornehm umrissenen Gesicht. Der Mund, schmal und gepreßt, ließ Spöttereien befürchten, die die Frauen von ihr fernhielten. Sie schien zu sagen:

›Ich mißbillige die Heirat meines Bruders, aber da er euch die Ehre erweist, euer Geld anzunehmen, will ich an dem Pakte beteiligt sein. Ich bin verkümmert, weil der Geheime Rat unsere kleinen Einkünfte zu seiner Repräsentation verbrauchte. Jetzt lasse ich es zu, daß ihr mir das meinige zurückgebt. Zu dem Zwecke muß ich allerdings euch selbst hin und wieder ertragen. Ich nippe manchmal von eurem Sekt, aber nur so mit gespitzten Lippen, wie hier an der Teetasse. Ich finde, daß in euren Salons ein unauslöschlicher Duft von alten Kleidern, Trödelläden und Hinterhäusern liegt. Was hieran erinnert, die falschen Töne und die Niedrigkeiten, die ihr euch entschlüpfen laßt, seid nur gewiß, daß mir nichts davon entgeht. Eure Männer mögen nach Geschäftsschluß sich vor mir spreizen und radschlagen, so entdecke ich doch mühelos die Spuren, die ihre unfeinen Beschäftigungen, das Feilschen und Geldzählen, in ihrer Figur, ihrem Gang und ihrer Miene hinterlassen haben. Eure Frauen mögen sich abmühen, große Damen oder Kokotten zu äffen, so bleiben sie für mich doch gerade das, was sie beileibe nicht sein möchten: kleine Puten aus dem Bürgerstande. Ihr hängt eure Zimmer voll echte Gobelins und verrostete Waffen, ihr speist von altem Meißner Porzellan, kleidet euch in moire antique und prahlt mit diesen und anderen historischen Erinnerungen, als ob ihr Erinnerungen haben könntet, und als ob in den Zeiten, als jene Herrlichkeiten erfunden wurden, euresgleichen existiert hätte!‹

Fräulein von Hochstettens impertinenter Blick, der ihn von Kopf bis Fuß maß, schüchterte Andreas beträchtlich ein. Er ärgerte sich über seine linkische Verbeugung, errötete und zog sich schleunigst in den Bereich des Teetisches zurück.

Die kleine flatternde Dame empfahl sich bereits wieder. Unter der Tür stieß sie einen niedlichen Vogelschrei aus, denn sie war gegen den Bauch des Rechtsanwalts Goldherz angelaufen, den dieser atemlos hereinschob. Die Damen betrachteten den berühmten Verteidiger mit spöttischem Mitleid. Der Ärmste hatte sich durch die Launen seiner kleinen Frau niemals sein seelisches Gleichgewicht beeinträchtigen lassen, solange, bis nach gütlicher Übereinkunft ihre Ehe geschieden worden war. Jetzt war Goldherz von einer postumen Eifersucht befallen. Er verdarb sich langsam seinen Ruf und konnte bald nicht mehr ernst genommen werden. Das winzige Geschöpf flog wie ein Bündel Spitzen und Federn an ihm vorbei, die Treppe hinab, er hastete korpulent und keuchend hinterher, und das Paar verschwand, um in dem nächsten Salon, wo die Kleine ihr Gezwitscher hören zu lassen wünschte, wieder in der gleichen Weise aufzutreten.

»Sie haben Ihre Pflicht erfüllt«, sagte Frau Türkheimer zu Andreas. »Jetzt sorgen Sie für sich selbst. Chartreuse oder Benediktiner?«

Sie wies auf einen Stuhl, legte Gebäck auf seinen Teller und reichte ihm die Tasse. Er schob die Kuchen, die ihre Hände berührt hatten, mit Befriedigung in den Mund. Die Damen Mohr und Pimbusch wandten ihnen den Rücken zu, Liebling war von zu hoher Gesinnung, um etwas zu sehen. So befand sich Andreas mit Adelheid, die an der anderen Seite des Teetischchens Platz nahm, endlich allein. Er hatte diesen Augenblick, seit er sich heute in der Nähe seiner künftigen Geliebten befand, noch gar nicht ersehnt, sondern mit Ruhe die Entwicklung der Dinge abgewartet, was er als eine Probe seiner diplomatischen Kaltblütigkeit gelten ließ. Er wollte sich doch nicht etwa in sie verlieben, in eine fünfundvierzigjährige beleibte Bankiersgattin! Sobald er merkte, daß sie ihn ansah, schlug er seine mädchenhaft klaren Augen mit den langen, vorn zurückgebogenen Wimpern schwärmerisch zu ihr auf, und sie vermochte dieser Verführung, die nur von Hingebung sprach, nicht zu widerstehen. Allmählich stieg über ihr Doppelkinn in ihr Gesicht eine schwache Röte, die Andreas mit Siegesfreude erfüllte. Er bemerkte, wie ihre Brust unter den blauseidenen Plisseefalten ihres tea-gown sich stärker hob, und er seufzte leise.

»Sie sind melancholisch?« fragte sie voll Teilnahme.

»Ich bin nur erstaunt, solche Naturkinder hier in dieser Umgebung zu sehen.«

Und er wies auf einen Strauß ländlicher Blumen, der in einem bemalten Glase zwischen den silbernen Teegeräten stand.

»Sie haben recht, es ist eigentlich eine Geschmacklosigkeit. Aber was wollen Sie, Bauernblumen sind nun einmal das Neueste, Georginen, Levkojen und Astern, Phlox, Schneebälle, Skabiosen, und besonders diese gefleckten Papageientulpen stellt man jetzt in jedes Zimmer.«

»Seltsam, wie solche Mode plötzlich auftaucht«, meinte Andreas, um nur etwas zu erwidern.

»Sie wird wohl von den Malern aufgebracht sein. Solche Blumen sollen viel auf alten Bildern vorkommen«, erklärte Adelheid achselzuckend.

»Ich sehe, Sie lassen sich gern belehren«, setzte sie hinzu.

»Von Ihnen, gnädige Frau!« sagte er leise und innig.

»Ach ja, ich habe Ihnen versprochen, Sie anzuleiten. Übrigens haben Sie sich schon sehr gelehrig gezeigt.«

Das Lächeln, mit dem sie seine neue Kleidung betrachtete, war so gütig, und es enthielt eine so reizende Herausforderung, daß der junge Eroberer einen Augenblick seine Haltung zu überlegen vergaß. Adelheids weiße Finger, etwas zu kurz, aber immerhin vorn zugespitzt, lagen auf dem Rande eines silbernen Präsentiertellers. Er ergriff sie und drückte mehrere leichte Küsse darauf, die ihm Appetit machten. ›Fräulein Hochstetten könnte aus ihrem Versteck zusehen‹, dachte er, aber die Berührung mit Adelheids schöner, fetter Hand erwärmte ihn, und er fuhr fort, mit den Lippen immer noch ein wenig höher zu gleiten. Erst das Armband, ein beträchtliches Stück über dem Gelenk, hielt seinen begehrlichen Mund auf. Frau Türkheimer zog die Hand zurück und fragte vollkommen ruhig:

»Sie gehen also nicht zur Premiere von ›Rache!‹?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Andreas, der nur langsam aus seinem Rausch erwachte. Er hatte von Adelheids Fleisch gekostet.

»Den Damen haben Sie vorhin gesagt, sie gingen nicht?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Aber warum? Das haben Sie nicht sagen wollen?«

»Ich habe nicht gewollt?«

»Nun, Sie machten ein geheimnisvolles Gesicht.«

Andreas besann sich. ›Es ist vielleicht gut, ein Geheimnis zu haben!‹ dachte er.

»Ich kann nicht«, versetzte er zögernd.

»Aber es ist doch am Sonntag. Falls ich eine Loge bekomme, was noch ungewiß ist, rechne ich auf Ihren Besuch. Hören Sie?«

Der junge Mann schwieg.

»Was hält Sie denn ab, bei einer Matinee zu erscheinen? Die Vorstellung findet doch Sonntagvormittag statt.«

»Ich kann nicht«, wiederholte er, doch diesmal mit bewußtem Nachdruck. Frau Türkheimer wurde ungeduldig.

»Sie sind langweilig! Sehen Sie nicht, wie neugierig ich bin? Warum können Sie nicht ins Theater kommen?«

»Weil ich zur Kirche gehe«, sagte Andreas leise.

»Zur Kirche?«

Sie sah ganz bestürzt aus. »In welche Kirche?«

»In die katholische Hedwigskirche.«

Frau Türkheimer verstummte. Andreas hatte eine Idee, eine weittragende Idee, die langsam in ihm reifte. Er war noch niemals zu einer Matinee ins Theater gegangen. Wie Adelheid vom Sonntag sprach, hörte er in der Ferne die Gumplacher Glocken läuten. Infolge einer natürlichen Gedankenverbindung sagte er sich, daß man am Sonntagvormittag eher in die Kirche pilgere, als zur Aufführung von »Rache!«.

Andreas war aufgeklärt, und noch dazu so fanatisch aufgeklärt, wie man es nur in katholischen Ländern sein kann, wo noch zuweilen ein Luther aufsteht. Seit seiner Firmung hatte er kaum noch eine Messe gehört, aber er fühlte doch, daß er hier in eine Welt eingetreten war, der die religiösen Gewohnheiten noch beträchtlich ferner lagen als ihm selbst. Es war seine Aufgabe, diese Leute durch seine ältere Kultur als Rheinländer zu verblüffen, das hatte schon Köpf behauptet. Aber an den Katholizismus hatte er nicht gedacht, dieser war Andreas' eigenster Genieblitz. Nichts konnte in Berlin W unerhörter anmuten als ein strenggläubiger, praktizierender Katholik. Andreas brauchte nur die eingeschüchterte, fast ehrfürchtige Miene der Frau Generalkonsul Türkheimer zu betrachten, um zu erkennen, daß seine Marotte, die zu seinem Fortkommen so wichtige Marotte nun gefunden sei. Es war für jemand, der sich auszuzeichnen wünschte, dringend erforderlich, eine kleine Eigenheit anzulegen, die zwar nicht von allen ernst genommen ward, aber doch den Leuten zu denken gab, und die dem Neuling den Stempel der Persönlichkeit aufdrückte. Andreas schmeichelte sich, selbst Liebling und seinen Zionismus durch seine frisch erfundene Marotte in den Schatten zu stellen.

»Sie gehen jeden Sonntag dorthin?« fragte Adelheid endlich, vorsichtig und voll Zartgefühl. Er nickte.

»Und Sie könnten nicht ein einziges Mal davon abweichen? Nehmen Sie die Frage nicht übel!«

Sie sprach leise, mit reizender Vertraulichkeit. Er erwiderte ebenso.

»Gnädige Frau, was würde ich auf Ihr Geheiß nicht tun! Wäre es nur nicht gerade der kommende Sonntag!«

»Sie haben eine besondere Verpflichtung?«

»Bedenken Sie, gnädige Frau, daß ich an einem wichtigen Abschnitt meines Lebens stehe. Sie glauben nicht, wie wenig ich von der Welt bisher gewußt habe. In unserer Provinz lebt man nur halb, und so viel, wie ich hier in Ihrem Hause in wenigen Tagen gelernt habe, erfährt man dort in Jahren nicht. Das macht verwirrt, und man fühlt das Bedürfnis, sich in der alten Weise, wie man es von Kind auf gewöhnt ist, zu sammeln.«

Er schöpfte Atem. Adelheid legte die Hände im Schoß zusammen und lauschte.

»Das ist noch nicht alles«, fuhr er fort. »Ich muß Kraft suchen, um einer Leidenschaft zu widerstehen, die mich zu überwältigen droht. Was ich am sehnlichsten wünsche, wäre eine große Sünde. Aber ich wünsche es dennoch mit der ganzen Gewalt meiner starken Liebe«, flüsterte er, und er schlug seine beredten Augen zu ihr auf. »In solchen schweren Gewissensfragen beraten wir uns mit unserem Priester.«

»Sie gehen zur Beichte!« murmelte Adelheid beinahe ängstlich. Er sah verwirrt vor sich nieder.

»Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles sage. Gerade Ihnen!« seufzte er.

»Es ist vielleicht nicht so schlimm?« wagte Adelheid zu bemerken. Sie fand den jungen Mann eigenartig und höchst poetisch, aber er durfte seine religiösen Pflichten nicht gar zu ernst nehmen, sonst verdarben sie das Spiel.

»Wenn nun ich Ihnen – das heißt, falls Sie mich gelten lassen – ohne Beichte die Absolution erteilte und Ihnen Ihre große Gedankensünde vergäbe? Aber ich weiß natürlich gar nicht, woran Sie eigentlich denken«, setzte sie mit einem bezaubernden Lächeln hinzu. »Also Sie kommen am Sonntag?«

Er antwortete nicht, und sie sah, daß er blaß geworden war, was sie für ein Zeichen seines inneren Kampfes hielt. Es war aber eine Wirkung der heftigen Freude, mit der ihn der Erfolg seiner Marotte erfüllte.

»Mir zuliebe?« bat Adelheid fast zärtlich.

Die Tür wurde geöffnet. Andreas sah sich genötigt, ein Ende zu machen. Er erhob sich.

»Ich habe der gnädigen Frau nichts abzuschlagen«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung.

Doktor Bediener erschien mit den Billetts für »Rachel«.

»Sie glauben nicht, was für eine Menge Leute ich mir verfeindet habe, um den Damen gefällig sein zu können. Oh, bitte, es hat mir sogar Vergnügen gemacht«, versicherte er und ließ das Glas aus dem Auge fallen. Nach ihm trat Türkheimer zusammen mit einigen jungen Leuten ein. Gleich unter der Tür zuckte es spaßhaft in seiner Miene auf, wie er seine Gattin auf der einen, Andreas auf der anderen Seite zurücktreten sah. Als er geübten Blickes den Stand der Dinge geprüft hatte, ging er auf den jungen Mann zu und drückte ihm warm die Hand.

»Freut mich, Sie wiederzusehen«, sagte er schlau lächelnd.

Andreas begrüßte Süß und Duschnitzki, aber es schien ihm an der Zeit, Frau Türkheimer seiner Gegenwart zu berauben. Ihre Phantasie, der er Nahrung gegeben hatte, würde nur um so tätiger sein. Als er draußen war, kam ihm ein unbehaglicher Zweifel:

›Falls Sie mich nicht doch ein bißchen lächerlich findet?‹

Die Szene, die er soeben herbeigeführt hatte, verblüffte ihn nachträglich selbst. Doch kehrte seine Zuversicht sofort zurück.

›Bah! Sie liebt mich, sonst hätte sie mir meine Marotte nicht geglaubt. Wenn sie mich nach allem, was ich ihr erzählt habe, nicht für ganz verrückt hält, wie muß sie mich dann lieben!‹


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