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16. Kapitel.
Heimatlos.

Ich wart' auf der Straße im Dunkeln,
Ob drinnen die Lampe glüht,
Ich wart' auf den Schatten am Fenster,
Ich wart' auf ein Wiegenlied.

Ich wart' auf ein liebes Gesichtlein,
Ich wart' auf ein warmes Wort, –
Und schloß doch selber die Türe,
Und trieb mich doch selber fort!

Nie hab ich gewartet, wie heute.
Der Garten liegt wie im Traum. –
Am Gitter hab' ich gerüttelt,
Das Pförtlein regte sich kaum.

Da flüstert's im rankenden Hauslaub:
›Wen suchst du? Die zwei sind verreist!‹ –
Ich geh' schon, – ich kann doch nicht warten.
Bis du mir die Türe weist!?

Auf dem Roßplatz in Leipzig blühten die Veilchen. Bubi wurde in seinem eleganten Kinderwagen spazieren gefahren. Ein hübsches junges Kinderfräulein hatte die treue Bunken ersetzt. Zwar hatte sich die Alte auf vieles Bitten bereit erklärt, ihre Herrschaft nach Leipzig zu begleiten und bis zum Frühjahr dort zu bleiben. Dann war Bubi dreiviertel Jahr alt, also aus dem Gröbsten heraus. In den letzten Tagen wollte sie ihre Nachfolgerin in ihr Amt einführen. Mit Feuereifer hatte die Alte diesen Gedanken ihrer Herrin aufgenommen. Wurde es ihr doch blutsauer, das geliebte Kind den fremden Händen eines Leipziger Kinderfräuleins anzuvertrauen. Darauf war ja doch kein Verlaß! Und ihre Gnädige? Die hatte den besten Willen, aber dabei blieb's auch. Bunken war das Sprichwort ›Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert‹ noch niemals in so erschreckender Weise entgegengetreten, wie im Leben dieser jungen Frau. Das kam alles von der schrecklichen Studiererei her. Was mochte sie nur damit bezwecken? Ob sie morgens auf dem Rad zur Praxis fahren und zu den Mahlzeiten wieder kommen wollte? Bunken wußte nicht, wer mehr zu bedauern war, der Mann oder das kleine Bübchen, das seine pflichtvergessene Mutter immer so freundlich anlachte.

Für Rose war diese Lösung der Kinderwärterinnenfrage jedenfalls äußerst bequem. Gerade um Ostern, wo sie ihren Doktor machen wollte, häufte sich die Arbeit. Heimlich rüstete sie sich auf das Examen. Ihr Mann wußte nicht, wie weit sie war. Er fragte selten nach ihren Studien. Sie aber wollte sich die Freude nicht verderben lassen, ihn plötzlich mit dem glücklich bestandenen Examen zu überraschen. Sie war überzeugt, dann würde er, ob er's auch nicht eingestand, stolz auf seine fleißige Frau sein, besonders wenn er erfuhr, daß der Doktor den Abschluß ihrer wissenschaftlichen Bestrebungen bilden sollte. Denn was dann folgte, kam doch lediglich ihm zugut. Die theoretische Arbeit hatte ein Ende, die praktische, so weit sie in Betracht kommen würde, bedeutete eine Entlastung für ihn. Rose kam sich sehr groß vor in ihrer Opferwilligkeit.

Sie hatte sich in der letzten Zeit überhaupt bemüht, ihren häuslichen Pflichten gewissenhafter nachzukommen. Ihr Mann erkannte das auch an. Aber er sah andererseits, wie der Dualismus, dem sie verfallen war, sich täglich verschärfte. Sie war gesund, aber ihre Kräfte reichten nicht über den Durchschnitt. Mit Überschüssen konnte sie nicht rechnen. Jeder Tag forderte den ganzen Menschen. Ruhe kannte sie nicht. Doktor von Benz sah mit einiger Sorge in die Zukunft, doch so lange es irgend möglich war, wollte er einen Eingriff vermeiden. Rose sollte sich selbst wiederfinden. Dann erst würde sie ihm ganz gehören. Und er vertraute, wie bisher der Zeit, dem Leben. –

Das Kinderfräulein war am ersten März erschienen, eine gewandte, schicke, zwanzigjährige Leipzigerin. Merkwürdigerweise fügte sie sich Bunken, welche sie mehr anlernte als einführte. Aber diese feinen Unterschiede schien Fräulein Sybille Wagner nicht zu kennen. Wenigstens war ihr niemals die geringste Empfindlichkeit anzumerken, wenn die Alte sie wie ein ganz gewöhnliches Kindermädchen behandelte. Vielleicht sah sie ein Original in ihr, eine Volkstype. Sie sprach sich zwar nicht darüber aus, aber es war immerhin nicht zu wissen. Ihr Wesen hatte etwas äußerst Zuvorkommendes, Sympathisches. Mit Kindern verstand sie umzugehen. Bubi hatte bereits nach drei Tagen eine so glühende Leidenschaft für Fräulein Sybille gefaßt, daß sogar Rose mit Eifersuchtsanwandlungen kämpfte. Aber das gab sich wieder. Rose freute sich schließlich sogar auf den Wechsel, denn Bunken erlaubte sich ihr gegenüber täglich mehr. Nur der Hausherr beanstandete die schöne Sybille. »Ich traue der Person nicht!« sagte er und empfahl seiner Frau Vorsicht.

Fünf Tage war die Neue im Hause. Bunken hatte Rose gerade vor einer Stunde erklärt, sie habe ihr nun alles beigebracht und denke, daß die Gnädige nach der Richtung hin keine Schwierigkeiten haben werde. Ob sie aber zuverlässig sei, könne man bei so einer unmöglich nach fünf Tagen wissen.

»Bei so einer?« fragte Frau von Benz erstaunt. »Sie ist aus guter Familie!«

»Sie ist Großstädterin, gnä' Frau!«

Wenn Bunken derartige Behauptungen in derartigem Tone machte, war nichts zu wollen. Außerdem hatte sie ja objektiv recht. Das Kinderfräulein war aus der Großstadt. Rose schwieg also.

Aber Bunken wollte ihre junge Herrin nicht in dieser bodenlosen Ungewißheit zurücklassen. Um Bubis willen nicht.

»Da wird den Tag über mit der Herrschaft schön getan,« begann sie aufs neue, »und der ›süße Jung‹ wird verhätschelt. Mittags wird mit ihm in die Anlagen kutschiert, das heißt, in Wirklichkeit geht's ganz wo anders hin, – und der Kleine kriegt Zug und andere Leute fassen ihn an – meine Kinder hätten nich von solche Leute angerührt werden dürfen, gnä' Frau!«

»Pfui, Bunken, Sie übertreiben!«

»Aber, gnä' Frau! So is es. Gnä' Frau wissen das nur nich! Und wenn der Jung schreit, gibt's Bonbons mit'n Beruhigungsmittel drin, nur damit sich die Mamsell amüsieren kann.«

»Aber, Bunken, was ist das für ein Unsinn! Fräulein Sybille hat glänzende Zeugnisse.«

»Können gefälscht sein, kommt allens vor, gnä' Frau! Außerdem – ich rede ja gar nich von der Wagner, ich red von der Großstädterin überhaupt. Und sie is eine. Und 'ne bildhübsche, 's wär ja'n blaues Wunder, wenn das Mädel solid wär. – Außerdem hat sie sich so, wenn wir allein sind. Wenn gnä' Frau da sind, hat sie 'ne ganz andere Art zu sprechen. Das gefällt mich nich!«

Die brave Alte hatte im Eifer des Gefechts einen hochroten Kopf bekommen. Aber was tat sie nicht für den Jungen!

»Mir kann's ja egal sein,« fuhr sie, ihre Herrin durch die Brillengläser scharf anblickend, fort, »es is bloß wegen Bubi!« Und dann setzte sie mit erhobener Stimme hinzu: »Das Kind is ja ganz auf die Person angewiesen, das is ja das Elend!«

Rose stieg das Blut in die Wangen. Diese Unverschämtheit überstieg alles bisher Dagewesene! Sie preßte die Lippen zusammen. In einer Diskussion zog sie ausgerechnet den kürzeren, denn die Alte blieb in allem, was sie ihrer Herrin an den Kopf warf, objektiv. Hinaussetzen wollte sie die treue Seele nicht. Sie hatte ihr manches zu danken, manches von ihr gelernt. Behalten können hätte sie sie nach dem letzten Auftritt auf die Länge nicht. Aber die paar Tage würden schon hingehen. Man mußte einer ungebildeten Person schließlich etwas zugute halten.

Rose tat, als ob sie die letzten Worte nicht gehört hätte und blickte interessiert aus dem Fenster.

Bunken kannte dies Manöver, aber sie ließ sich nichts merken. Sie hatte gesprochen, das war die Hauptsache.

Draußen klang die Elektrische. Rose sah zur Uhr. »Das muß Besuch sein! Herr Doktor kann noch nicht kommen!« Bunken verließ den Salon. Das Zimmermädchen kam ihr in der offenen Tür entgegen, ein Telegramm in der Hand.

»Hier,« sagte sie.

Die Alte sah sie erstaunt an.

»Es ist für Sie, Frau Bunken.«

»Aber ich hab in meinen ganzen Leben noch keins gekriegt!« wehrte sie ab.

»Es ist aber für Sie!«

Rose trat dazu.

Bunken öffnete mit zitternden Fingern die Depesche. Die steilen, blauen Buchstaben tanzten vor den alten Augen.

Da nahm die Hausfrau das Blatt und las: ›Heute nacht Zwillinge geboren. Minna sehr krank, bitte, komme. Johann.‹

Aus einem kleinen Dorf nahe bei Heilbronn kam der Ruf nach der Mutter.

Ganz verwirrt stand sie im ersten Augenblick da. Dann sagte sie mit klangloser Stimme: »Ich muß hin, gnä' Frau!«

Es war elf Uhr. Gegen zwei ging ein Zug, mit dem sie, wenn auch erst in später Nachtstunde, Heilbronn noch erreichte. Rose schlug ihr vor, einen späteren Zug, der bessere Verbindung habe, aber natürlich später am Bestimmungsort eintreffe, zu benutzen. Aber Mutterliebe hat keine Ruhe.

»Das macht nichts,« sagte die weißhaarige Frau, die Rose in der Sorge um die einzige Tochter um Jahre gealtert erschien, »wenn ich nur erst da bin!«

Rose schämte sich in diesem Augenblick. Das sagte derselbe Mund, der vor kaum einer Viertelstunde ein hartes, aber gerechtes Wort zu ihr geredet. Es hatte sie in der Seele empört, aber sie hatte geschwiegen. Jetzt wußte sie, warum diese Frau so zu ihr hatte sprechen dürfen.

Dürfen? War sie denn schlechter als andere Mütter? Zeit und Menschen hatten gewechselt, das war alles! Auch die Mutterliebe? Sie seufzte. Und dann sagte sie sich trotzig: ›Entweder habe ich kein Gewissen mehr, oder die ganze Welt ist verrückt geworden!‹

Sie ging zu ihrem Kinde. Aber ihre Phantasie ließ ihr keine Ruhe. Sigrid Alchhusen würde sagen: ›Wenn Sie kein Gewissen haben, sind Sie natürlich auch keine Persönlichkeit! Dann sind Sie eben eine jämmerliche, unbedeutende Deterministin, eine Puppe, eine Null!‹ Ja, das hätte sie gesagt. ›Eine Null!‹ In Rose kochte es. Es war ihr, als müßte ihr das Blut aus den Fingern spritzen. Wann würde sie auf den Grund des Lebens stoßen, auf Anfang und Ende, Zweck und Ziel?

Sie mußte durch. –

Es mußte etwas da sein, etwas ganz Bestimmtes, Großes, mit einem Wort: das Wunder. War es nicht da, so war das Leben ein erbärmliches Kasperletheater, so war's himmelblauer Unsinn! So waren Liebe, Glück, Ehe törichte Bagatellen, des Leides, der Tränen, die sie brachten, nicht wert. So war eine Browningpistole das beste Geschenk, das man einem Menschen machen konnte. – –

Und Rose riß ihren Jungen aus dem Bettchen, drückte ihn an sich und küßte sein süßes Gesichtchen. – – –

Bunken packte ihre kleinen Habseligkeiten. Die hellen Tränen kollerten ihr dabei über die gefurchten Wangen. Immer wieder flog ihr Blick, während sie ihre sieben Sachen zusammenkramte, zu Bubis Wiegenbettchen hinüber.

Rotgeschlafen, mit wirren Löckchen saß der kleine Kerl aufrecht da und lachte seine alte Wärterin an.

Dann sollte sie essen. Aber es war nicht möglich, die von Eisenbahnfieber Gepeinigte dazu zu bewegen, eine Tasse Bouillon und ein Beefsteak zu genießen. Erst als der Doktor, der um halb zwei nach Hause kam, die traurige Geschichte gehört und der Alten versprach, sie auf die Bahn zu bringen und in das richtige Kupee zu setzen, wurde sie ruhiger und stärkte sich auf Roses freundliches Zureden für die weite Fahrt.

Und dann kam der Abschied. Man mußte die arme, völlig fassungslose Alte schließlich aus dem Kinderzimmer führen, um dem Jammer ein Ende zu machen. Bubi, dem die Situation entschieden sehr unbehaglich war, hatte ein Zetergeschrei angestimmt, das sich mit jedem neuen Liebeserguß der Alten steigerte. Da die Befürchtung nahe lag, daß die übrigen Hausbewohner diese Abschiedsfeier falsch auffassen könnten, wurde der Sache schließlich ein Ende gemacht, indem der Hausherr erklärte, es sei hohe Zeit, zur Bahn zu gehen. Das wirkte. Mit einem letzten schmerzlichen Blick auf ihren Liebling verließ Bunken den Schauplatz ihrer Tätigkeit.

Bubi weinte der treuen Seele buchstäblich heiße Tränen nach, Rose aber war's, trotz aller Schwierigkeiten, die Bunkens kategorische Art ihr bereitet, als hätte man ihr ein Stück alten wertvollen Inventars genommen.

Und die Tage gingen. Immer schöner ward's draußen. Fräulein Sybille fuhr Bubi täglich in die Anlagen. Rose hatte sie einige Male vom Fenster aus kontrolliert. Bunken schien doch stark übertrieben zu haben. Vielleicht war sie eifersüchtig gewesen. Die junge Frau fand das Mädchen allerliebst; daß sie einmal statt um zehn erst kurz vor zwölf nach Hause gekommen, war ja nicht in der Ordnung, aber sie war gleich zu Rose gekommen und hatte ihr verspätetes Kommen damit entschuldigt, daß sie einen Vorortzug verpaßt habe. Rose glaubte ihr. Das Mädchen sah so ehrlich aus. Mark Albrecht war am späten Abend von einem Kollegen gebeten worden, bei einer Operation zu assistieren und erlebte den Zwischenfall nicht. Als er gegen ein Uhr müde und abgespannt nach Hause kam, wollte Rose ihm den Ärger ersparen und schwieg. Am andern Morgen, als sie die Sache beschlafen, sagte sie sich: ›Laß die Geschichte ruhen! Es wird nicht wieder vorkommen! Erfährt Mark Albrecht davon, so fliegt Sybille, und ich kann selbst Kinderfräulein spielen, bis ich Ersatz gefunden. Dann heißt's: leb wohl, Examen!‹

Und Rose beruhigte sich. Fräulein Sybilles Benehmen war musterhaft. Nur eins fiel ihr bisweilen auf. Sie machte sich fortwährend am Fenster zu schaffen. Aber das konnte auch zufällig sein. Es war schwer, immer ganz objektiv zu bleiben, wenn man verpflichtet war, jemand zu kontrollieren, dem man nicht bedingungslos vertrauen durfte. Und Rose nahm sich vor, in ihrem Mißvertrauen nicht zu weit zu gehen. Fräulein Sybille hatte sich entschuldigt, ihr Ausbleiben durch ein Versehen motiviert, warum sollte das nicht wahr sein? Mark Albrecht hatte allerdings gesagt, ›sie lügen alle,‹ und Bunkens Ausspruch, sie ist ›Großstädterin‹, lautete wie ein Todesurteil. Aber das war einerlei. Es widerstrebte Roses Gerechtigkeitssinn, einem Menschen zu mißtrauen, weil er einer bestimmten Kategorie angehörte.

Und dann kam die Wagner von einem Ausflug nachts um eins zurück. Sie hatte Glück. Doktor von Benz war kurz vor zehn Uhr zu einer jungen Frau nach Gohlis gerufen worden und kehrte erst gegen Morgen zurück. Rose hatte eine scharfe Auseinandersetzung mit Fräulein Sybille, die damit endigte, daß das Kinderfräulein schluchzend Abbitte leistete. Rose entging in der Erregung das Theatralische des Auftritts. Durch die Reue des Mädchens gerührt, versprach sie, ihrem Manne gegenüber zu schweigen. »Aber,« setzte sie energisch hinzu, »es ist das letztemal, daß ich derartige Unregelmäßigkeiten durchlasse. Das nächstemal schweige ich nicht und dann ist Ihre sofortige Entlassung gewiß!«

Das junge Mädchen beteuerte, die gnädige Frau werde nie wieder Grund zur Klage über sie haben und verließ, das Taschentuch vor das Gesicht gedrückt, schluchzend das Zimmer.

Fünf Minuten später gab Rose ihr einen Auftrag. Sie sah sie dabei nicht an. Sonst wär's ihr wohl kaum entgangen, daß die eben geweinten, heißen Tränen nicht die geringste Spur auf dem hübschen Gesicht zurückgelassen hatten.

Todmüde ging sie zu Bett. Hoffentlich war dies der letzte Akt. Sie sehnte sich nicht nach Fortsetzungen. Wußte sie doch oft kaum, wo ihr der Kopf stand. Denn in acht Tagen war das Examen.

Der Winter kehrte noch einmal zurück. Zitternd hüllte sich der grünende Park in seinen weißen Pelz, und die braunen Knospen der Edelkastanien trugen schimmernde Kappen. Ein scharfer Nordost strich durch die Straßen.

Um elf war das Examen. Rose hatte Fräulein Sybille gesagt, sie solle mit Bubi zu Hause bleiben, bis sie zurück sei. Käme sie zum Essen nicht nach Hause, so solle ihr Mann, der jedenfalls um eins da sein werde, bestimmen, ob der Kleine hinaus solle oder nicht.

Dann ging sie. Etwas beklommen war ihr doch ums Herz. Ihre Nerven waren nicht besser geworden in der letzten Zeit. Wenn nur erst alles glücklich vorüber wäre!

In der Peterstraße begegnete sie Margot Wenden. Sie sah frisch wie eine Frühlingsblume aus und freute sich auf eine Reise nach Lugano, die ihr Mann Ende April mit ihr machen wollte.

Margot war sehr eilig. Sie mußte ein Telegramm aufgeben und war auf dem Wege zu einer alten Geheimrätin, um sich für ihre Mutter nach einer Gesellschafterin zu erkundigen. So trennten sich die jungen Frauen bald. Fünf Minuten später schritt Rose die Stufen des Augusteums hinan.

Doktor von Benz kam früher als sonst nach Hause. Ein auswärtiger Kollege hatte ihn mit der Morgenpost um eine Auskunft gebeten, die heute abend an Ort und Stelle sein mußte.

Eilig stieg er die Treppe zu seiner Wohnung hinan. Oben angelangt, fand er die Etagentür offen stehen. Irgendwo klappte ein Fensterflügel. Ein baumwollener Handschuh lag auf dem Läufer. Und eine seltsame Stille herrschte. –

Nervös schritt er den Korridor entlang. Sein erster Gedanke war Bubi.

Auf der Schwelle des Kinderzimmers blieb er wie angewurzelt stehen.

Vor seinem Bettchen auf dem Fußboden lag der Kleine und rührte sich nicht. Durch das weit geöffnete Fenster strich der Nordost.

Einen Augenblick umklammerte die Hand des Mannes gewaltsam die Türklinke; aschfahl starrte er auf die kleine weiße Gestalt. Dann stürzte er vor, neben sein Kind, auf die Kniee. – –

Die Köchin kam herein und blieb entsetzt auf der Schwelle stehen.

»Schließen Sie das Fenster!« herrschte Benz sie an.

Zitternd gehorchte sie.

Und dann wandte sie sich um und sah ihn auf dem niedrigen Stühlchen sitzen, das die alte Bunken immer benutzt, – auf den Knien die leblose Kindergestalt.

In dem jungen Gesicht malte sich sprachloses Entsetzen.

Was war hier vor sich gegangen? Sie kombinierte: draußen die offene Etagentür, ein baumwollener Handschuh auf dem Läufer, – den konnte nur eine verloren haben, denn die Gnädige trug lederne – Herr Gott im Himmel, was bedeutete das? Und das süße Kind – es war ja nicht auszudenken!

»Ist der Salon warm?« Kurz und hart klang die sonst so freundliche Stimme.

»Jawohl, Herr Doktor.«

Er stand auf. »Rasch eine wollene Decke!«

Sie hüllte sie um den Kleinen. Mit scheuem Blick streifte sie das marmorne Gesichtchen, die festgeschlossenen Augen. War er tot?

Der Doktor betrat den Salon.

Wieder dasselbe, verzweifelte Bild: ein Mann, der sein einziges Kind dem Tode abzuringen sucht.

»Schnell eine Wärmflasche!«

Sie jagte hinaus.

Totenstill war's im Hause.

›Wenn nur Anna bald wieder käme!‹ Sie sah nach der Uhr. Etwas würde es wohl noch dauern.

Da klingelte es.

›Gott sei Dank!‹ Sie stürzte hinaus.

Es war Frau von Benz. Frisch und froh, wie sie sie lange nicht gesehen, trat sie ein. Ohne das verstörte Wesen des Mädchens zu bemerken, fragte sie im Vorübergehen: »Ist Herr Doktor zu Hause?«

»Jawohl, gnädige Frau!« Und dann wollte sie ihr nacheilen, sie vorbereiten, da fiel ihr die Wärmflasche ein. Sie eilte in die Küche zurück, – rannte wieder hinaus – »gnädige Frau, um Gottes willen!«

Aber Rose stand schon in Mark Albrechts Arbeitszimmer.

Es war leer. Die Tür zum Salon stand offen.

»Mark!« rief sie, und heller Jubel lag in ihrer Stimme: »Ich habe meinen Doktor gemacht – magna cum laude!«

Sie war in den Salon getreten. Sprachlos stand sie vor Mann und Kind. – –

War's der fröhliche Ruf, der wie ein bunter Falter in die Todesangst seiner Seele hineingeschwirrt kam, war's das völlige Schweigen seiner Frau angesichts des Furchtbaren, das sich ihren Blicken darbot – es gibt Augenblicke, wo der Mensch unberechenbar wird, wo jedes objektive Urteil aufhört, wo nur eine herrscht: die Leidenschaft. Im Schmerz, in Liebe und Freude – im Zorn. Wo der Mensch aufhört, abzuwägen, wo er nicht mehr fragt: ›ist's Schuld? ist's Irrtum?‹ Wo er sich selbst nicht mehr versteht.

Und der Mann, der das einzige, das ihm in diesem Augenblick noch wahrhaft lieb und teuer war, dem Tode verfallen glaubte, der mit jeder Fiber um sein eigen Fleisch und Blut zitterte und kämpfte und stritt, wußte nicht mehr, was er sagte, als er, ohne den Blick von dem wächsernen Gesichtchen zu erheben, heiser vor Aufregung die Worte hervorstieß: »Ich wollte, wir wären uns nie begegnet!«

Erst als ihm das lange, schwere Schweigen auffiel, sah er fragend auf. Die Schwelle war leer.

Aber Mark Albrecht vermochte in diesem Augenblick nur einen Gedanken zu Ende zu denken, – an dem leisesten Dualismus mußte seine psychophysische Kraft zersplittern. Der Gedanke hieß: Tod oder Leben?

Wie sie ging und stand hatte Rose das Haus verlassen. Mit schwerem Schritt, als stecke ihr eine Krankheit in den Gliedern, ging sie ohne aufzublicken an der offenen Küchentür vorbei über den Flur, die Treppen hinab.

›Sie geht zur Apotheke,‹ dachte die Köchin und sah der jungen Frau mitleidig nach.

Auf der Straße stand Rose still. Ein Schneegestöber umwirbelte sie. Der Sturm riß an ihrem kurzen Rock. Schwer atmend stand sie da. Was wollte sie eigentlich? Sie faßte sich an die Stirn. Es war ihr, als sei etwas in ihr zerbrochen. Kaum wagte sie an die letzten Augenblicke zurückzudenken. Und doch mußte sie denken, mußte sich klar werden, mußte ruhig, objektiv überlegen, um einigermaßen korrekt zu handeln, um die furchtbare Situation nicht zu einer völlig unmöglichen zu machen. Sie blieb vor einem Schaufenster stehen und starrte ins Leere. ›Zu einer völlig unmöglichen? – Herr Gott, war sie das nicht schon?‹ Hätte ihr Mann sie mit der Reitpeitsche geschlagen, er hätte sie nicht tiefer entehren können: ›Ich wollte, wir wären uns nie begegnet!‹

Alles erstarrte in ihr, wenn sie daran dachte. Sie hörte nichts anderes, dachte nichts anderes, als dies Wort. Auf dies Wort war sie aus dem Hause gegangen, ohne sich noch einmal umzublicken, ohne zu fragen, was ihrem Kinde geschehen, dies Wort hatte alles in ihr versteint – ›Ich wollte, wir wären uns nie begegnet!‹ Sie suchte keine Erklärung, sie spürte dem schweren Gedankengang des Mannes nicht nach, sie verbohrte sich in den furchtbaren Ausspruch, der ihre Ehe zerstörte. Sie sah ihr eigenes Tun nicht an. Selbst wenn sie ein geringes Versehen gemacht hätte, – wie kam er dazu, ihr dies Wort entgegenzuschleudern? – –

Seine Liebe zu ihr war erloschen – anders war's nicht möglich! Es krampfte sich alles in ihr zusammen. – – Und ihr Kind? Bei einer Scheidung würde es ihrem Manne zugesprochen werden, sie hatte ihn ja verlassen, – ›böswillig verlassen!‹ – Was blieb ihr dann? Nichts? gar nichts? – Sie hatte es ja nicht anders gewollt. Ihre Weltanschauung führte sie in das Nichts. Den Theismus hatte sie abgelehnt. Nun kam's, wie sie gewollt. Das war die berühmte Willensfreiheit! Und trotzdem – Determinismus? Unmöglich – –

Die feinen goldenen Fäden, die sich seit Monaten zu lockern begonnen, lösten sich einer nach dem anderen. Aber noch zerfielen sie nicht; wie ein verwirrtes Drahtgespinst hielt sich das Ganze. – –

Das planlose Herumlaufen in den Straßen hatte sie ermüdet. Frierend und abgespannt ging sie in eine Konditorei und ließ sich eine Tasse Bouillon und eine Pastete bringen. Das Damenzimmer war leer, niemand störte sie.

Und die Gedanken wanderten. Sie kehrten wieder, begegneten sich und zogen immer weitere Kreise. Es war nicht auszuhalten! Und keine Lösung, kein Ausweg! Denn das Ende alles Denkens und Grübelns war immer wieder jenes maßlos ungerechte, beleidigende Wort! – Nein, sie hatte nicht anders gekonnt! – –

Ihre Gedanken schweiften ab. Eine neue Sorge erwachte. Sie war immer dagewesen, aber die schwere Kränkung hatte alles andere zurückgedrängt. Eine heiße Bitterkeit quoll in ihr auf. Frauen aus den sechziger und siebziger Jahren hätten wahrscheinlich um der Mutterliebe willen alles ertragen, was der Herr und Gebieter ihnen antat. Aber sie war eben eine moderne Frau! Und doch – was Bubi nur passiert war? Eigentlich war sie recht kindisch gewesen, sich das alles gefallen zu lassen und einfach aus dem Hause zu laufen! Es war doch ihr Junge! – Ganz leise und heimlich pochte die Mutterliebe an.

Ob ihr Mann Sybille ausgeschickt hatte? Sie hatte sie nicht gesehen, oder sollte die Person …? Das Blut stieg Rose heiß in die Wangen. Herr Gott, wenn die Sache doch schlimmer war, wenn ein Versehen in ihrer Abwesenheit passiert war, wenn das Kinderfräulein doch nicht so zuverlässig war, wie sie glaubte! – Zuverlässig? Zu dieser Annahme fehlte jede Berechtigung – im Gegenteil!

Rose wurde abwechselnd heiß und kalt. Sie schob die Pastete zurück und trat zum Fenster. Die warnenden Worte der alten Bunken klangen ihr im Ohr. Immer lauter und dringlicher. Immer härter. Deutlich genug hatte die Alte, die ohne Grund kein nachteiliges Urteil über einen Menschen fällte, gesprochen. War das zweimalige lange Ausbleiben vielleicht doch nicht auf eine ungewollte Verspätung zurückzuführen? Und dann zog es wie eine grelle Dissonanz durch Roses Seele: ›Das Kind is ja ganz auf die Person angewiesen! Das is ja das Elend!‹ Sie aber hatte ›der Person‹ den Kleinen überlassen und ihr Examen gemacht. – Magna cum laude! Wie bitterer Hohn klang's! Es war, um den Verstand zu verlieren!

Sie grübelte weiter. Ihre Angst um das Kind wuchs mit jeder Minute. Wäre sie zu Hause geblieben! Dann hätte sie ihren Doktor nicht gemacht! – ›Das ist gänzlich Nebensache!‹ hörte sie ihren Mann sagen, ›den kannst du immer noch machen!‹ Ja, er hatte gut reden! Sie setzte sich wieder an den Tisch und stocherte in der kalt gewordenen Pastete.

Und das Gewissen raunte weiter: ›Du wußtest es recht gut, daß die Wagner unzuverlässig ist, daß man sie zum mindesten im Auge behalten mußte! Wenn du keine zuverlässige Person für den Kleinen hattest, mußtest du eben das Examen aufgeben oder hinausschieben. Mutterpflicht geht allem anderen vor! Aber danach fragt ihr Frauen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht. Mutterschmerzen und Mutterpflichten erscheinen euch eine unerhörte Zumutung, ein Opfer, das der weiblichen Psyche im Innersten widerspricht, eine harte Forderung, der sie mit einem contra naturam gegenübersteht. Ja, was ist denn noch Natur, wenn's euch unnatürlich scheint, das Haupt an eines Mannes Brust zu legen und ein Kindlein zu wiegen? Aber Frauenliebe und Mutterschaft fordern Opfer – das ist's! Den stillen, zarten Dienst daheim in Haus und Kammer wollt ihr nicht – ihr wollt Frauenart mit Mannesart vertauschen! – Darum der Dualismus, der Zwiespalt, die Not eurer Ehen! Darum auch deine Not, deine Zerrissenheit! – Und wenn dein Kind Schaden genommen hat oder ernstlich erkrankt, so bist du daran schuld! Niemand anders!‹

Sie sprang auf. Klirrend fiel ihr Geldtäschchen zu Boden. Sie hob es auf. Mechanisch zählte sie den Inhalt. Sehr weit würde sie nicht damit kommen.

›Niemand anders!‹ flüsterte eine Stimme.

Sie bezahlte, stürmte hinaus und stand draußen in Wind und Wetter. Zum erstenmal kam's ihr zum vollen Bewußtsein, daß sie sich heimatlos gemacht.

Sie biß die Zähne zusammen. Sie konnte nicht zurück. Sollte sie zu seinen Füßen Abbitte leisten, weil eine andere ihre Pflicht versäumt? Wär's nicht an ihm gewesen, das erste Wort zu sprechen? Seines Kindes Mutter hatte er beleidigt, die Frau, die seinen Namen trug!?

›Nein, du bist die Schuldige!‹ rief's, und Rose war's, als höre sie die Stimme der alten Badenserin.

Sie eilte weiter. Wo wollte sie eigentlich hin? Nächstens war sie halb nach Gohlis gewandert. Sie sah nach der Uhr. Schon sechs. Sie hatte lange in der Konditorei gesessen.

Langsam kehrte sie wieder um. Es zog sie in die Nähe ihres Kindes, und doch – in das Haus ihres Mannes zurückkehren konnte sie nicht. Und in ihrer wachsenden Verbitterung sagte sie sie sich nicht, daß jede weitere Minute, die sie ausblieb, die Situation verschlimmern mußte. Sie war stets ihre eigenen Wege gegangen, hatte immer ihren Willen durchgesetzt. Ein Wunder war's daher nicht, daß sie heut, wo die Leidenschaft alles in ihr bannte, die Herrschaft über sich selbst verlor. Sie hatte sie nie besessen. Darum dachte und urteilte und handelte sie auch nicht objektiv, sondern rein subjektiv, spontan. Die Zerrissenheit ihres ehelichen Lebens, verquickt mit dem täglichen Wahrheitsringen einer zermürbten, zweifelnden Seele, hatte schon seit Monaten physisch wie psychisch nachteilig auf sie gewirkt. Die scharfe geistige Arbeit, welche sie nur mit äußerster Mühe unter Ausnutzung jeder Minute durchzusetzen vermochte, zog langsam ihre Furche. Die Nerven gehorchten nur noch dem Zwang. Eine starke Abspannung wäre auch wohl in glücklicheren Zeiten auf das magna cum laude gefolgt. Unter den obwaltenden Umständen aber mußte der gesundeste Organismus versagen. Die furchtbare Aufregung unmittelbar nach dem eben bestandenen Examen kam hinzu. Der kräftige Körper mochte noch eine Weile seine Pflicht tun, die Nerven versagten.

Aber der Mensch, der an der Grenze des psychischen Defekts steht, ahnt es nicht. Er handelt mit unerschütterlicher Energie, ja mit Feuereifer vollständig irrational. Wehe dem, der seine Ideen stört! Nur ein Riesenübergewicht, das die Seele aus den Tiefen beginnender Nacht führt, nur supranaturale Gewalt vermag hier in einem Augenblick zu wandeln, was ärztliche Kunst und menschliche Wissenschaft oft in jahrzehntelanger, treuer Arbeit nicht erreichen. Und doch ist's in vielen Fällen nur ein einziger Zwangsgedanke, der seinen Schatten auf den Weg der Psyche wirft, eine einzige dunkle Vorstellung, an die sich ein müdes, abgehetztes Menschenkind anklammert, als sei's eine Todsünde, die Seele von dem finsteren Phantom zu lösen. Und sie bleibt in seiner Gewalt. Geknebelt, verschnürt, gebunden. – –

Dunkler und dunkler ward's. Hie und da blitzte elektrisches Licht auf.

Rose wanderte noch immer durch die Straßen. Sie war körperlich und seelisch zu Ende. Sie wußte nur eins: zurück konnte sie nicht, so sehr sie's zu ihrem Kinde trieb. Ihr Mann liebte sie nicht mehr. Er verachtete sie und hätte ihr, wär sie gekommen, die Tür gewiesen. Wie ein krankes Kind, das die Medizin verweigert, wehrte sie sich gegen den immer wieder aufsteigenden Gedanken. Nein, sie konnte nicht nach Hause! Und doch drehte sich alles um diese Frage. Aber sie hatte nur die eine Antwort darauf: ›Ich kann nicht.‹ Der Wille schien ausgeschaltet. Aber sie erkannte nicht das krankhafte Moment. Hätte sie's erkannt, hätte sie noch normal gefühlt, – so würde das Gesunde das Kranke ausgeschieden haben. –

Wie ihre Gedanken kreisten, so gingen ihre Füße im Kreise. Schon zum drittenmal stand sie vor dem Augusteum.

Und dann wanderte sie planlos durch die Anlagen.

Der Wind hatte sich gelegt. Der Aprilschnee war geschmolzen. Silberne Tropfen hingen in Busch und Baum. Erdgeruch stieg auf und würzte die Luft.

Die junge Frau atmete tief. Hier war sie wenigstens allein. Sie ging ein paar Schritte weiter in die Anlagen. Eine Hängeweide zog ihre lang herabhängenden, lichtgrünen Zweige wie einen zarten Schleier um einen stillen Platz. Eine weiße Gartenbank lud zum Sitzen ein. Trotz Feuchtigkeit und Abendkühle ließ Rose sich darauf nieder. Es war ihr alles einerlei. Sie konnte nicht mehr. Den Kopf in die Hand gestützt, starrte sie ins Grüne.

Und die Nacht stieg herauf. Da sah sie durch das feine Geäst der Weide, wie die Bogenfenster der Universitätskirche aufleuchteten. Wie flüssiges Gold schimmerte das Kathedralglas und durch einen offenen Flügel fiel der Lichtschein auf die Straße.

›Wenn ich da ausruhen könnte!‹ dachte sie und zog den Pelzkragen fester um die Schultern. Helle und Wärme lockten. Ihre Heimatlosigkeit stand vor ihr wie ein Gespenst.

Die Tränen stiegen ihr brennend empor.

»Ich kann nicht zu ihm,« flüsterte sie.

›Und wenn sein Zorn gerecht wäre!‹ raunte eine Stimme, ›wenn das Kind auf seinen Knien nie mehr von seinem tiefen Schlaf erwachte, – wenn du schuldig wärst an seinem Tode! Du hast deine Willensfreiheit oft genug betont, dein Persönlichkeitsrecht, – wenn dich der erste und letzte Vorwurf träfe, dich ganz allein, was dann? Denn du bist seine Mutter!‹

Das war das Gewissen. Die harte, unerbittliche Richterin, die treuste Mahnerin des irrenden Menschen. Sie ringt mit ihm am Kreuzwege, sie treibt ihn in die äußerste Enge, sie läßt ihm kein Stück seiner fadenscheinigen Gerechtigkeit. Sie erfüllt ihre saure Pflicht bis aufs letzte. Auch heute. Dem Weibe, das seines Kindleins vergessen, trat sie drohend entgegen: ›Du bist seine Mutter!‹

Der Schlag hatte getroffen. Eine Wunde klaffte und blutete. Und eine, die schon einmal leise gepocht, trat hinzu und blickte die junge Frau mit den Augen der Sehnsucht an; es war die Mutterliebe.

Aber die Frauenehre begehrte auf: ›Ich kann nicht zu ihm!‹ – –

Aus den Fenstern der Universitätskirche zog ein Bachscher Choral in den Frühlingsabend hinaus. Ein Passionslied. Mitten im Getriebe der Großstadt lud die heilige Stätte, wo sich die Wissenschaft vor dem Kreuz beugte, zur Sammlung und Stille. Zart wie ein Hauch, von wundervollem Rhythmus getragen, klangen die Knabenstimmen durch das feiernde Schweigen:

›Ich, ich und meine Sünden,
Die sich wie Körnlein finden
Des Sandes an dem Meer,
Die haben dir erreget
Das Elend, das dich schläget,
Und das betrübte Marterheer!

Ich bin's! Ich sollte büßen,
An Händen und an Füßen
Gebunden in der Höll'!
Die Geißeln und die Banden
Und was du ausgestanden,
Das hat verdienet meine Seel'!‹

Wie ein leiser Seufzer war der letzte Ton verklungen. Alles war still. Die Vorübergehenden, die nach des Tages Arbeit den heiligen Klängen gelauscht, hatten sich zerstreut.

Nur eine vornehm gekleidete Frau stand noch im Schatten der Kastanien am Wege. Langsam war sie während des Gesanges näher gekommen. Als hätte sie die ganze Welt vergessen, lehnte sie regungslos an einem der dunklen Stämme.

Und dann vergrub sie das Antlitz in den Händen. Ihr Körper bebte vor Schluchzen.

Das Haupt gesenkt, verließ sie ihren stillen Platz und wanderte dem Inneren der Stadt zu. Durch ihre Seele zog ein Wort aus geliebtem Munde: ›Einmal, früher oder später, begegnet uns der Herr! Willst du mir versprechen, ihm dann nicht auszuweichen?‹

Und sie hatte ihr Wort gegeben. Obwohl sie hätte schwören können: die Einlösung dieses Versprechens wird nie von dir gefordert werden.

Aber sie ward gefordert.

Und sie hielt ihr Wort.

Nicht aus Zwang, – aus freiem Willen, mit der Freude des Weibes im biblischen Gleichnis, das seinen Groschen verloren und nach langem Suchen wiedergefunden.


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