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Was ist das Leben? Welkende Pracht?
Eine hoffnungslose Vergänglichkeit?
Ein Wolkenschatten auf dämmernder Heid'?
Ein Zug des Todes im Dunkel der Nacht?
Und wenn das alles ein Irrtum wär'?
Wenn das Leben lebte, der Tod wär' tot?
Wenn zur Osterfrühe das Morgenrot
In die Grüfte strahlte – und fänd' sie leer?
Wenn einer käme und weckte dich,
Der erste und letzte in Ewigkeit,
Dessen Wunderlieb alle Welt befreit:
›Steh' auf vom Schlaf! Ich rufe dich!‹?
Mark Albrecht von Benz hatte bei der Geheimrätin Händler um ihre Tochter Rose angehalten.
Über den Brief des jungen Mediziners gebeugt, saß Frau Thea am Schreibtisch ihres verstorbenen Mannes in schweren Gedanken um die Zukunft des Kindes, das bis zum letzten Augenblick seine Sorge gewesen. ›Hab acht auf Rose,‹ hatte er mit einem tiefen Seufzer kurz vor seinem Ende zu ihr gesagt, und die Schatten des Kummers lagerten auf der Stirn des Sterbenden.
Nun saß sie in dem Raum, wo sie so oft zusammen gesessen, wo sie sich Rat und Kraft geholt, wo sie in seiner großen Liebe ausgeruht, über der schweren, verantwortungsvollen Hinterlassenschaft. Sie wußte nur zu gut, was dieselbe für sie bedeutete: eine Lebensarbeit, für die ihre Kraft nicht reichte.
Sorgenvoll stützte sie den Kopf in die Hand. Die letzten Wochen hatten silberne Fäden durch das dunkle Haar gezogen. Auf der schönen Stirn lag die Schnebbe wie ein schwarzes Siegel, dunkle Schatten umgaben die Augen. Leid altert.
Und das schwere Bewußtsein tiefster Vereinsamung kam in diesem entscheidenden Augenblick wie nie zuvor über die Witwe Karl Heinrich Händlers. Zehn Jahre glücklichster Ehe genügen, um eine Frau im besten Sinne unselbständig, um sie, wenigstens für die erste Strecke ihres einsamen Weges, führerlos, oft sogar direktionslos zu machen. Es gibt Frauen, denen das Anlehnungsbedürfnis im Blute liegt. Sie sind die besten Gattinnen und Mütter.
Dorothea Händler war eine zarte, feine Natur. Die Selbständigkeit ihrer Mädchenjahre verdankte sie der Erziehung, die das Leben mit seinem Zwang ausübt. Dann kam das Glück. Ein starker Arm stützte sie. Nach dem Tode ihres Mannes gewann ihr eigenstes Naturell zunächst wieder die Oberhand. Sollte die Fünfundvierzigjährige noch einmal des Lebens harte Schule durchmachen? Fast schien es so.
Ein schwerer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Die Tränen stürzten ihr, wie so oft in dieser Zeit, wo Kräfte und Nerven weit über das Maß ihres Könnens angespannt wurden, über die schmal gewordenen, blassen Wangen.
Herr Gott, wie war es schwer, Witwe zu sein! Neben dem großen Schmerz, der ein Teil ihrer selbst geworden, den sie aber noch tragen lernen mußte, dem der Friede, jener köstliche Ertrag langen, heißen Kampfes, noch fehlte, neben diesem vollgerüttelten Maß von Not und Bürde die Verantwortung für die Seele des Kindes, das nicht ihr eigenes war! Und mit gebundenen Händen stand sie vor dem Werk, das ihr anvertraut worden – das war das Härteste! Eine Menschenseele zu Gott führen, dünkte sie ebenso schön wie schwer, eine Menschenseele zu Gott zurückführen, unmöglich! Zudem – war solch Werk nicht sein königlich Vorrecht? – ›Zum Helfen und Dienen bist du da, zur Fürbitte und Fürsorge,‹ sprach eine Stimme. Ja, dazu war sie da, dazu wollte sie da sein – immer.
Erleichtert atmete sie auf. Und doch – –
Die beiden Schwestern waren nur kurz daheim gewesen. In stillem Schmerz hatte Frieda am Sarge des Vaters gekniet; in fassungslosem Jammer, aufgelöst in Tränen, war Rose neben dem Toten niedergesunken. Jeden Trost lehnte sie ab. Als ihre Erregung sich immer mehr steigerte, hatte die Mutter sie aus dem Sterbezimmer geführt und zu Bett gebracht. Aber die ganze Nacht hatte Frieda ihr krampfhaftes Schluchzen gehört, und am nächsten Tage war sie so apathisch, daß Mutter und Schwestern in Sorge waren, ob sie die Beerdigung ertragen werde. Tags darauf jedoch erholte sie sich, und die schwere Stunde ging ohne Zwischenfall vorüber. Ein paar Tage blieben Frieda und Rose noch bei der Mutter und den jüngeren Schwestern, dann rief sie die Arbeit in die Universitätsstadt zurück.
Beide hatten in den traurigen Tagen, wo zudem alle voll beschäftigt waren, nicht den Mut gehabt, Roses Zukunftspläne der Mutter gegenüber zu erwähnen, zumal sich dieselbe in einem besorgniserregenden, nervösen Zustand befand. So zog Frieda ihre Tante Maria ins Vertrauen, die ihr versprach, dieselbe sobald wie möglich über den Stand der Dinge zu orientieren.
Diese Absicht hatte aber bisher nicht zur Ausführung gebracht werden können, denn Frau Thea war in den ersten Wochen nach dem Tode ihres Gatten so leidend, daß ihr auch die geringste Aufregung fern gehalten werden mußte. So war's gekommen, daß der Werbebrief des jungen Mediziners sie völlig unvorbereitet traf.
Ratlos saß sie über die steile, energische Schrift gebeugt. Zum vierten Male hatte sie den Brief gelesen; das Resultat blieb dasselbe. Selbst wenn sie nach allen Seiten Erkundigungen einzog und dieselben zur vollsten Zufriedenheit ausfielen, eins blieb bestehen: Student und Studentin. Um dies Hindernis mit seinen Klippen kam sie nicht herum, sie mochte die Frage drehen und wenden, wie sie wollte, das ›Ding an sich‹, um sich Roses eigenen Lieblingsausdruckes zu bedienen, blieb ein Faktor, der die schwersten Lebenskonflikte barg. Sie kannte solche Ehen, im Rausch junger Liebe geschlossen, unhaltbar im täglichen Kampf, ihr Ende eine einzige Negation, eine schwere Tragödie. Und doch, was sollte sie tun? Rose war vor einigen Wochen majorenn geworden und schien durchaus nicht die Absicht zu haben, sich ihre Rechte schmälern zu lassen. Im Gegenteil. Die kurze Universitätszeit hatte sie eher noch selbständiger und dezidierter im ganzen Auftreten gemacht. Es war also gar nicht daran zu denken, daß sie sich den Wünschen ihrer Mutter fügen würde, falls dieselbe nicht ganz mit ihren eigenen übereinstimmten.
Und dann ihre gänzlich haltlose Weltanschauung! Ihr zähes Festhalten an Irrtümern, die eine empirische Wissenschaft längst widerlegt!
Wenn Thea Händler an das letzte Gespräch ihres Gatten mit Rose zurückdachte, wurde ihr angst und bange. Er hatte ihr jene Unterhaltung in allen Einzelheiten wiederholt und sie an seiner großen Sorge teilnehmen lassen. Der Mann, den Rose liebte, würde schwerlich die christliche Weltanschauung vertreten; gleich und gleich fand sich gerade auf diesem Gebiet immer wieder. Thea graute vor einer Monistenehe mit ihren verbildeten Lebensauffassungen, ihren lockeren Grundsätzen, ihren absolut abstrakten, spontanen Begriffen von Pflicht und Verantwortlichkeit. Wie oft war Scheidung das Ende solcher Ehen! Wie oft war die Vorgeschichte noch düsterer als der Abschluß selbst! – Und dazu sollte sie eventuell behilflich sein! Ihre momentane Nervosität trug die grellsten Farben auf, sie sagte sich das selber, und doch, selbst wenn das Leben milder abtönen würde, rechnen mußte sie unter allen Umständen mit Verschiebungen des Natürlichen, Gegebenen. Aber andererseits – gelang heute ihr Werk, wer bürgte für morgen? Die großen Fragen der Zeit blieben dieselben. Welcher Begriff war heutzutage überhaupt noch gesund, welche Auffassung noch analog? Alles war spontan, wechselte wie die Mode von heute auf morgen, und das Menschenherz jagte im Kreise herum nach dem Neuen, warf das eben Errungene in fieberhafter Hast von sich und hastete hinter dem Neusten und Allerneusten her, – der neusten Weltanschauung, der neusten Wissenschaft, der neusten Hypothese, den neusten Formen moderner Lebensweise, last not least, dem neusten Glück. Und das Ende all dieser Errungenschaften war ein Defizit, ein Entgleisen, ein hoffnungsloses Fallieren des Intellekts. Es war immer wieder das Ende vom Lied: Fehlte der Kontakt mit dem lebendigen Gott, so fehlte alles. Warum lehnte der Mensch ihn immer wieder ab, warum lehnte er das Christentum ab, das ihn die ureigenste, persönlichste Philosophie lehrte, eine Philosophie nicht des Verstandes, sondern des Geistes, die seinen Blick, sein Suchen und Sehnen emporrichtete, die es ihm lebendig bezeugte, daß das Beste im Menschen nicht von dieser Welt ist?
›Weil der moderne Mensch von der Sünde nichts wissen will,‹ hatte ihr Karl Heinrich einmal auf diese Frage geantwortet. ›Sünde kennt er nicht. Es ist alles Determinismus. Wer aber Gott erkennen will, der muß zuvor das Wesen der Sünde erkannt haben.‹
Alles Determinismus! Als ob der Tränen und Seufzer auf Erden weniger, als ob Sterben und Abschiednehmen leichter geworden wären, seit man dies Wort geprägt! Aber es klang modern. Und der moderne Mensch hatte sich, solange die Erde steht, eingebildet, etwas noch nie Dagewesenes zu sein.
Thea Händler faltete den Brief zusammen und steckte ihn zu sich. Sie wollte zunächst mit ihrem Schwager sprechen; soviel sie wußte, hatte er den jungen Benz bei ihren Töchtern gesehen. Jedenfalls würde er die nötigen Erkundigungen einziehen und sie in der Angelegenheit beraten. Sie war froh, ihn zur Seite zu haben, wenn sie sich auch sagte, daß sein Einfluß, gleich dem ihren, nur bis zu einem gewissen Punkte reichen werde. Seufzend erhob sie sich und trat zum Fenster. Draußen blühten die Kirschbäume, und die Nachtigallen schlugen in den Gärten. Unten zwischen den Buchsbaumrabatten wanderten Lilla und Jutta Arm in Arm im Gespräch auf und nieder. Sinnend ruhte das Auge der Mutter auf dem Kinde in Trauerkleidern, dessen dunkle Augen an den Lippen der Schwester hingen.
Die Tränen stiegen ihr ins Auge. Wann würde sie sich daran gewöhnen, daß das Leben sie auf Schritt und Tritt an den geliebten Toten gemahnte?
Schluchzend barg sie das Antlitz in den Händen, wandte sich langsam vom Fenster ab und setzte sich an den Schreibtisch ihres Mannes. Leise weinte sie vor sich hin.
Die Zeit ging. Die Sonnenstrahlen fielen schräger. Draußen schlug eine Turmuhr.
Die Witwe horchte auf. Schon sechs! Sie trocknete rasch ihre Tränen und erhob sich, drückte auf den Knopf der Elektrischen und bestellte das Kupee.
Zehn Minuten später war sie auf dem Wege zum Kirchhof. – – –
›Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und er wird mich hernach aus der Erde auferwecken!‹ stand in goldenen Lettern auf dem schlichten, schwarzen Grabkreuz Karl Heinrich Händlers geschrieben.
Gestern erst war's errichtet. Noch sah man die frischen Spuren der Erdarbeit. Junger Efeu rankte um den Hügel, Zypressen umgaben den stillen Ort. Eine Edelrose wiegte die schlanken Zweige im Abendwinde. Tief unten lag ein klarer See, von grünen Ufern umhegt. Es war schön an der friedlichen Stätte, für den, der ohne Bitterkeit an Gräbern stehen kann, dessen Leid der Glaube geadelt.
Dorothea Händler saß still auf der kleinen, gußeisernen Gartenbank und blickte auf das Kreuz. Es war die einzige Stunde am Tage, in welcher sie ruhiger ward, die einzige Stätte, wo sie sich noch heimisch fühlte, seit der Tod ihr Haus leer und öde gemacht.
Aber hier war heilig Land. Ein Stück Ewigkeit mitten in der Not der Zeit. In der Nähe des geliebten Grabes ward sie still, als sei die tiefe Kluft zwischen Tod und Leben kleiner geworden. Die Seele breitete die Flügel, als schaue sie von ferne das Land ihrer Sehnsucht, die goldnen Pforten der lichten Stadt, wo tausend glückselige Gäste einzogen. Aber sie durfte noch nicht nach Haus. Auch die Sehnsucht soll im Feuer geläutert werden.
Sinnend ruhte ihr Blick auf den goldenen Buchstaben. Der Entschlafene hatte sich den Spruch selbst gewählt. Fast noch gewaltiger als in Luthers Übersetzung, lautete der Text in der neuen, revidierten Ausgabe: ›Aber ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staube sich erheben!‹
Eins umschloß das andere. Beides war selige Gewißheit, Christenglaube. Sie hätte keine der beiden Auslegungen mit ihrem sieghaften Zeugnis missen mögen.
Die Hände gefaltet, saß sie im Abendsonnenglanz.
›Aber ich weiß …‹
Ja, er, der still unter dem grünen Hügel lag, wußte jetzt mehr, als irgend ein Mensch, der noch über diese arme Erde ging. Als sie, bevor der Sarg geschlossen ward, ein letztes Mal in die edlen Züge blickte, hatte ein wunderbarer Glanz darauf gelegen, als schaute das stille Antlitz etwas von der Herrlichkeit, die kein Auge gesehen und kein Ohr gehört. Wie eine heilige Abwehr alles Irdischen, auch der zartesten Liebe, lag's auf den verklärten Zügen. Und die Frau, die den Entschlafenen über alles geliebt, verstand und erfüllte die letzte Sehnsucht, die schon nicht mehr von dieser Erde war.
Sie blieb ihr heiligstes Vermächtnis. Seit sie das Liebste in einer anderen Welt wußte, lernte ihre Seele immer mehr die Flügel breiten und jene stillen, verborgenen Pfade wandern, die der Geist Gottes den Menschen führen will. Denn, Gott sei Dank, auch sie war eine Wissende, wenn auch ihr Wissen Glauben und noch kein Schauen war, wenn auch der große Schmerz, der ihre Seele bis in die Grundfesten erschüttert hatte, dies Wissen noch nicht in vollen Osterjubel ausklingen ließ, – dennoch, im tiefsten Herzensgrunde lebte der heilige Trotz, der sich dem Tode und seinem ganzen Heer sieghaft entgegenstellt: ›Durch unsern Herrn Jesum Christum!‹
Eins wußte sie: ohne Tränen würde sie diese Stätte nie im Leben betreten können. Der Schmerz um ihr verlorenes Glück würde ihr Frauenleben ausfüllen, er würde ihr unantastbares, schwerstes und doch köstlichstes Teil bleiben, bis sie das Erdenkleid auszog. Von Tag zu Tag würde er klarer, stiller werden, als ein treuer Gefährte würde er ihr zur Seite gehen und sie immer wieder ihres königlichen Erbes gemahnen: ›Aber ich weiß …‹
Sie erhob sich. Auf der reinen Stirn lagerte tiefer Friede.
Und dann trat sie zum Grabe. Lange stand sie in stillem Gebet.
Der letzte Strahl des sinkenden Tages lag auf der hohen Gestalt, und der Abendwind regte leise den Schleier.
Es war ein Bild, wie man es wohl vieltausendmal auf allen Friedhöfen der Welt finden mag: die Frau mit der tiefen Klage im Herzen, die Chamissos Künstlermund so schlicht und ergreifend ausgesprochen: ›Nun hast du mir den ersten Schmerz getan, – der aber traf – –‹
Ein deutsches Weib hatte diesem Schmerz die tiefsinnige Umschrift geprägt: ›Das Leid ohnegleichen!‹ Und trotz alledem, auch dieses Leid hatte seinen Trost, seine Hoffnung, sein Ziel, – wer nur ausging, die drei zu suchen. –
Dorothea Händler wanderte langsam über den Kirchhof. Alles stand in Blüten. Sie kam an vielen frischen Grabhügeln vorüber. Typhus und Scharlach herrschten in der Stadt und forderten ihre Opfer, besonders unter der Jugend. Ein Kindergrab reihte sich ans andere.
Dort lagen vier Geschwister nebeneinander. Als das letzte die Augen schloß, hatte die arme Mutter Selbstmord versucht. Thea blickte still auf die kleinen Gräber. Sie wußte, die unglücklichen Eltern standen ganz frei. Nur der äußere Schein ward noch gewahrt, warum begruben sie sonst ihre Lieblinge in der geweihten Erde des Gottesackers?
Seufzend ging sie weiter. Sie dachte an Roses Zukunft. Noch einmal wurde die Sorge des Tages wach.
In tiefen Gedanken schritt sie durch die dämmernden Straßen. Sie hatte ihr Kupee nach Hause geschickt, um den Rückweg zu Fuß zu machen.
Plötzlich flog es ihr durch den Sinn: ›Wenn ich noch zu Schumanns ginge!‹
Sie sah auf die Uhr. Es war noch früh genug.
Zehn Minuten später trat sie in das trauliche Wohnzimmer.
Der Professor war eben aus der Klinik gekommen. Den Arm um Maria gelegt, saß er im Erker, während Ehrengard, an die Knie des Vaters geschmiegt, den Eltern eine Puppengeschichte erzählte. Das Kind war wie ausgewechselt, seit die neue Mutter im Hause war. Maria hatte die Kleine viel um sich, lebte mit ihr und teilte ihre kleinen Freuden und Leiden.
»Als Mutti und ich heute morgen mit Emil ausgingen, schnupperte ein großer, schwarzer Hund an seinem neuen Paletot, den Mutti genäht hat!« berichtete sie voller Entrüstung ihrem Vater.
Der Professor wollte sich gerade über die aufregende Begebenheit äußern, als die Tür sich öffnete und seine Schwägerin eintrat.
Einen Augenblick stand sie stumm auf der Schwelle und schaute auf das sonnige Familienglück. So war's einst gewesen, – ihre Hand faßte die Türklinke fester.
Und dann trat sie ruhig ein und begrüßte die Geschwister.
Auf ihre Bitte, sie allein sprechen zu dürfen, wurde Ehrengard zu Bett geschickt. Sie zog den Akt des Gutenachtsagens möglichst in die Länge, fragte, ob Mutti noch zum Beten kommen werde, und nahm, als ihr dies zugesichert wurde, ihren Emil, der sogar im Hause den neuen Paletot trug, unter den Arm und verließ das Zimmer. Natürlich sah sie noch einmal wieder herein, fragte, ob Mutti auch ganz gewiß käme und verschwand dann endgültig, um vor dem Zubettgehen ihr Süppchen zu essen. – – –
Professor Schumann hielt den Brief des jungen Benz in der Hand.
»Karl Heinrich hat die Eltern gekannt,« sagte Thea. »Sie lebten in Baden-Baden, als er dort an einer Frauenklinik leitender Arzt war. Als die Töchter uns im Herbst zum erstenmal den Namen schrieben, interessierte es ihn sehr, daß der Sohn dort studierte. Hieran haben wir natürlich nie gedacht, obgleich der Gedanke ja nicht so fern liegt,« fügte sie hinzu.
»Besonders, wenn man diese beiden jungen Menschen nebeneinander gesehen hat,« sagte der Arzt. »Ich kann wohl sagen, selten bin ich einem schöneren Paar begegnet!«
»Und auch in allem übrigen scheinen sie sich ebenbürtig zu sein,« sagte seine Frau. »Der junge Benz macht einen klugen, sympathischen und sehr gut erzogenen Eindruck. Man erkennt sofort den Sohn des vornehmen Hauses in ihm.«
Thea kam auf den Hauptpunkt zu sprechen.
Natürlich konnten Schumanns keine Auskunft darüber geben, da sie Benz zu kurz und nur im größeren Kreise gesehen hatten. Aber der Professor versprach seiner Schwägerin, nach verschiedenen Seiten hin Erkundigungen einzuziehen und ihr in der Angelegenheit, soviel er könne, zu helfen. Allerdings sprach er die gleiche Befürchtung aus, die Thea hegte, daß Rose ihre eigenen Wege gehen werde.
»Könntest du nicht an Doktor Wenden schreiben, Wolfgang?« sagte die junge Frau.
»Ich dachte eben auch schon daran,« erwiderte Schumann, »weiß aber nicht, ob viel dabei herauskommen wird. Die beiden sind sehr befreundet.«
»Versuchen würde ich es doch,« sagte Maria.
»Ich werde ihm heute abend schreiben,« erklärte ihr Mann.
»Wenn er nur nicht Monist ist,« sagte Thea Händler. »Ein kirchlich links Stehender, der noch nicht durchgedrungen ist und offen und ehrlich seine Zweifel zugibt, ist mir tausendmal lieber, als diese Art, die nichts ihr eigen nennt und alle Welt mit ihren Phantastereien beglückt.«
»Leider sind aber durchaus nicht alle kirchlich links Stehenden ehrlich,« sagte der Professor. »Ich für mein Teil gebe wenigstens nicht viel auf die vielgerühmte Ehrlichkeit des Liberalismus.«
»Und ich kann es nicht begreifen, daß ein so kluger Kopf wie Rose, die außerdem so viel wahrhaftige Wissenschaft kennen gelernt hat, sich derartig durch Phrasen und bloße Hypothesen blenden lassen kann!« rief die Geheimrätin.
»Aber, liebste Thea,« warf ihre Schwester ein, »wie viel geistige Größe huldigt dem Monismus! Männer der Wissenschaft, Künstler, Ärzte – manche unter ihnen halten sogar noch dem alten Häckel die Stange – und du meinst, ein junges Mädchen müsse gegen diese Fata Morgana gefeit sein?« Sie schüttelte den Kopf.
Frau Händler zuckte die Achseln. »Du hast vielleicht recht,« erwiderte sie, »aber wenn man ihr Elternhaus bedenkt, die Atmosphäre, in der sie aufwuchs …«
»Die Atmosphäre, in der sie aufwuchs?« mischte sich Professor Schumann ein, »gewiß, wir dürfen sie nicht ausschalten! Sie kann einem Menschen im späteren Leben als Entschuldigung dienen, andererseits kann sie ihm mit Recht zum Vorwurf gemacht werden. Aber doch immer nur bedingterweise. Wir sind keine Deterministen. Der menschliche Wille ist erwiesenermaßen frei. Darum möchte ich Elternhaus und Erziehung wohl als unersetzliche, kostbare Grundpostulate betrachten, auf denen die werdende Persönlichkeit sich aufbauen kann, denen sie die Anregung zu einer gesunden Entwicklung immer wieder zu danken hat, – aber – und diese Tatsache sehen wir im vorliegenden Falle wieder verkörpert vor uns – der Wille ist frei. Warum stünde Autoritätsglaube sonst zumeist auf tönernen Füßen? Weil er nur ein Fürwahrhalten ist, weil ihm noch die eigene, persönliche Erfahrung, weil ihm mit einem Wort das Erleben fehlt. Leider wird dieser Ausdruck vielfach mißdeutet. Man nennt ihn heutzutage ein geflügeltes Wort, eine Hypothese, deren sich der Supranaturalismus in Momenten der Unsicherheit und Unklarheit gegenüber der erkenntnistheoretischen Wissenschaft bediene. Er denkt nicht daran. Das Wort der göttlichen Heilsoffenbarung bedarf keiner Hypothesen und Äquivalente. Gerade der Supranaturalismus verlangt, mit der modernen Methode in die Schranken zu treten, gerade die positive Theologie fordert messerscharfe, reinliche Scheidung, Klarheit und Wahrheit, gerade sie will Zweifelnden und Irrenden leuchten, gerade sie will wissenschaftlich antworten, wo eine Pseudowissenschaft die Menschenseele mit Phrasen abspeist. Nur an der Grenzlinie fordert der Glaube sein Recht, wo die Heilsoffenbarung Gottes an einer bestimmten Stelle in Raum und Zeit Tat wird. Mit einem Wort, wo das heilsgeschichtliche Wunder einsetzt. Diese Grenzlinie aller Methode ist da, die Wissenschaft, welche sie ausschaltet, lügt. Sie besteht und wird bestehen bleiben, bis der letzte Schleier fällt, bis sich die letzte messianische Weissagung von der Zukunft des Menschensohnes erfüllt: ›Kommen in den Wolken des Himmels!‹ Bis dahin heißt's: ›Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis!‹
Es ist das unantastbare, heilige Recht des Glaubens, dessen Wahrung er unter allen Umständen zu fordern hat.«
Thea nickte still vor sich hin. »Ich danke dir, Wolfgang,« sagte sie leise. »Ich fürchte, ich habe das arme Kind doch manchmal schärfer beurteilt, als recht war. Gerade eine Persönlichkeit wie Rose sieht man, mit diesem Maße gemessen, ganz anders an.«
Er nickte. »Ja, Thea. Ich glaube, wir können in unserm Urteil über das Tiefinnerste im Menschen nicht vorsichtig und gewissenhaft genug sein. Gewiß, in vielen Fällen muß man von Nichtwollen reden, aber wie viel Schutt tragen Welt und Leben auf, wie viel falsche Zeugnisse werden laut, wie viel Lüge herrscht gerade in unseren Tagen auf Kanzel und Lehrstuhl. Verwundern darf's einen nicht, wenn auch der gesunde Wille eines ehrlichen Gottsuchers verbildet wird. Aber eins bleibt: die Sehnsucht nach Gott. Sie lebt in jedes Menschen Brust. Wir brauchen nur an Nietzsche zu denken. Den Gott, den er in allen Tonarten verflucht und verlästert, schreit er um Erbarmen an. Darum darf man nie aufhören zu hoffen, auch da, wo, menschlich geredet, wenig zu hoffen ist.«
Sie sah ihn dankbar an.
»Kannst du nicht zum Abendbrot bleiben, Thea?« fragte die junge Frau, sich erhebend und legte die Hand auf die Schulter der älteren Schwester. »Ich will nur zu Ehrengard hinaufgehen, dann komme ich wieder!«
»Heute geht's leider nicht, Maria. Die Töchter warten auf mich. Ich bin schon lange unterwegs. Aber ich komme gern einen anderen Abend, wenn ihr wieder einmal allein seid!«
»Wir sind meistens allein,« sagte Professor Schumann. »Du kannst ja auch vorher telephonieren.«
Thea erhob sich. »Ich will dir lieber gleich Adieu sagen, Maria, es wird sonst zu spät für mich!« Sie umarmte die Schwester. »Grüß' Ehrengard!«
»Ich bringe dich nach Hause,« sagte der Schwager, »es fängt an, dunkel zu werden!«
Und dann wanderten sie durch die dämmernden Anlagen.
»Könntest du nicht, wenn ihr nach Wiesbaden geht, einen Abstecher machen und Frieda und Rose besuchen?« wandte sich Professor Schumann, der noch einmal auf das Thema zurückgekommen war, an seine Schwägerin. »Die kleine freundliche Schulrätin würde sich gewiß freuen, dich zu sehen. Du hast dann Gelegenheit, dich über das ganze Milieu zu orientieren und lernst vor allem den jungen Benz kennen. Wir haben damals im Hotel gewohnt, aber es soll auch ein sehr gutes Hospiz ganz dicht am Königswall sein.«
Frau Händler schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie leise: »Die Trennung von dem Grabe wird mir noch so schwer, Wolfgang!«
Er nickte still. »Aber der Arzt wünscht es, und es wäre gut für dich!« sagte er nach einer Weile.
»Meinst du? Ich habe nur die eine Sehnsucht, hier zu bleiben. Später gehe ich gern, schon um der Töchter willen, aber noch ist's zu früh.« Ihre Stimme bebte. »Außerdem verspreche ich mir nicht viel von einer Begegnung, der ein bestimmter Zweck zugrunde liegt,« fügte sie hinzu. »Alles Absichtliche hat etwas Forciertes. Herr von Benz würde sich kaum natürlich geben, und mein Urteil daher kein objektives sein.«
»Ja, darin hast du vielleicht recht,« sagte der Professor. Und dann kam ihm ein Gedanke. »Wie wär's, wenn ich noch einmal hinführe, Thea? Ich bin häufig zu Vorträgen oder Konsultationen unterwegs; mein Erscheinen würde also gar nicht auffallen. Es kommt nur darauf an, ob dir mein Urteil genügt!«
»Aber gewiß! Wie gut von dir!« sagte sie dankbar, und ein Stein fiel ihr vom Herzen.
»Mittwoch muß ich in Nürnberg einen Vortrag halten; ich kann leicht einen Abstecher machen. Ende der Woche hoffe ich, dir eine beruhigende Antwort bringen zu können. Da Nürnberg mich immer wieder in seine Kirchen und alten Stadtteile lockt, fahre ich schon morgen abend, um Mittwoch vormittag für mich zu haben.«
Sie waren vor der Händlerschen Villa angelangt. Langsam schritten sie durch den kleinen Vorgarten.
»Ich danke dir,« sagte die Witwe herzlich, dem Schwager die Hand reichend.
Er zog sie an die Lippen. »Es wird immer meine größte Freude sein, dir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, Thea,« antwortete er bewegt.
Die dunklen Augen blickten voll zu ihm auf.
»Ich erfülle ja nur einen kleinen Teil der Dankespflicht an dem, der mein Glück bauen half,« fügte er leise hinzu, während sein Blick in tiefem Mitleid auf der zarten Frau ruhte. »Denk nie, es sei zu viel, denk immer nur, es sei um Karl Heinrichs willen! Ich bitte dich darum!«
Ehe sie ein Wort erwidern konnte, war er gegangen.
Die hellen Tränen liefen ihr über die Wangen, aber es waren Tränen ohne Bitterkeit. Nicht zum erstenmal in diesen Wochen erntete sie die Liebe, die ein anderer gesät, und sie erntete sie mit Dank gegen Gott. – –
Als Professor Schumann am andern Abend, den D-Zug Berlin-München erwartend, auf dem Bahnsteig auf- und niederging, stieg aus einem, aus Süddeutschland kommenden Zuge eine schlanke Gestalt in tiefer Trauer.
Wie angewurzelt blieb er stehen: Rose Händler.
»Wo kommst du denn her?« fragte er, auf sie zugehend.
Sie war bei seinem Anblick dunkelrot geworden.
»Ich muß eine wichtige Angelegenheit persönlich mit Mutter besprechen,« sagte sie. »Für schriftliche Auseinandersetzungen fehlt mir neben dem Studium die Zeit; man versteht sich mündlich auch besser!«
Schweigend stand er vor ihr. Mit heimlicher Frage streifte ihr Auge sein kluges Gesicht.
»Wie lange bleibst du denn?« fragte er endlich.
»Ach, nur bis übermorgen. Unsereins hat ja keinen Augenblick Ruhe!«
»Das scheint so, du bist ganz schmal im Gesicht geworden!«
»Das kommt von der Reise, die Fahrt ist etwas angreifend. Das Studium bekommt mir sehr gut, wenn man auch kaum zur Besinnung kommt.«
Professor Schumann war wenig geneigt, dieser logischen Auseinandersetzung Glauben zu schenken.
»Darf ich dir einen Wagen besorgen?« fragte er.
»Danke sehr; ich wollte gehen. – Willst du verreisen?«
»Ich habe in Nürnberg einen Vortrag zu halten.«
Wieder sah sie ihn fragend an. Doch nein, das war Unsinn! Nürnberg lag ja gar nicht an ihrer Route.
»Schade, daß die Entfernung so groß ist, sonst hättest du gewiß einen Abstecher zu uns gemacht,« sagte sie leichthin.
»Es war meine Absicht.« Er sah sie durchdringend an.
Sie hielt seinen Blick aus. Ihre Augen sprühten. ›Was gehen dich meine Privatangelegenheiten an?‹ stand darin geschrieben. »Das nennt man Pech, Onkel Wolfgang,« zog sie sich dann mit der ihr eigenen Gewandtheit aus der Affäre. »Hoffentlich klappt's ein anderes Mal! – Da läuft übrigens dein Zug ein, adieu!« Und fort war sie.
Kopfschüttelnd blickte er der vornehmen Erscheinung nach. Wahrhaftig, die hat es faustdick hinter den Ohren! Arme Thea!
Mißmutig stieg er ein. Er kam sich vor, als säße er in einer Zwickmühle. Hierbleiben konnte er wegen des Vortrags nicht, was hätte es auch genützt? Früher als Donnerstagabend konnte er aber, wenn er die nötigen Erkundigungen einziehen wollte, nicht zurück sein. Inzwischen würde Rose alles nach ihren Wünschen geordnet haben. Zu beneiden war der Mann nicht, der sich sein Lebtag mit diesem tatkräftigen Persönchen abfinden sollte. Professor Schumann hatte eine reiche Erfahrung auf diesem Gebiet. Gott sei Dank, daß das jetzt alles anders war! – Aber seine Schwägerin tat ihm leid, und vor allem der arme Benz. Der würde sich noch wundern!