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5. Kapitel.
Die Philosophie des Unbewußten.

Im Unterkirchlein zu Portiuncula
Schuf Meister Giotto, Dantes edler Freund,
Ein seltsam Bild: den Herrn am Traualtar,
Wie er der bleichen Armut sich vermählt.
Die Liebe reicht den güld'nen Brautring dar.
Der Glaube segnet ihn, – ein zarter Hauch
Verklärt die heilige Allegorie;
Und aus der Katakombe Finsternis
Grüßt uns des Evangeliums hoher Schein,
Das lichte Bild der christlichen Charitas –
Sag, warum gehst du kalt daran vorüber?

»Ich muß doch vor allen Dingen ehrlich sein, Vater!«

Rose Händler saß im Arbeitszimmer ihres Vaters auf ihrem Lieblingsplätzchen, einer breiten Fensterbank, und blies die Wolken ihrer Zigarette in die Luft.

Im Kamin prasselte ein Feuer, Kienäpfel knisterten und der rote Schein huschte über die beiden Gestalten hin, – den Mann am Schreibtisch und das Mädchen, dessen schlanke Linien sich wie eine Silhouette vom Abendhimmel abhoben.

»Gerade das möchte ich mit meinen Worten erreichen, liebes Kind,« erwiderte Geheimrat Händler ernst.

»Aber ich bin doch ehrlich! Sage ich nicht ganz offen, was ich glaube und was ich nicht glaube?«

»Gewiß. Ich will mich anders ausdrücken. Ich möchte dich dahinbringen, logisch zu denken.«

Über das schöne Antlitz flog ein Staunen. »Wie meinst du das, Vater?«

»Genau so, wie ich es sage. Zum Glauben zwingen kann ich keinen Menschen. Denn Glauben und Wissen sind zwei grundverschiedene Dinge. Aber zum logischen Denken kann ich ihn zwingen, natürlich nur unter der Bedingung, daß er ehrlich ist. Und das bist du. Wenn ich dich vor Tatsachen stelle, wirst du nicht sagen: ›Sie sind schwarz‹, wenn sie weiß sind. Nicht wahr?«

»Nein.«

»Gut. Weiter erwarte ich auch nichts von dir; vorläufig wenigstens nicht. Ich mache dir absolut keine Vorwürfe darüber, daß du mir vorhin gesagt hast, du seiest Monistin. Es ist in meinen Augen ein trostloser Irrgang, den du antrittst, und ich bitte Gott, daß er dich zur Einsicht kommen lasse, aber Vorwürfe mache ich dir nicht. Ich könnte dir dein christliches Elternhaus, deine Erziehung vorhalten, – das wäre aber psychologisch falsch, denn wer seinen Kinderglauben verliert, wie du, der hat ihn nur nominell besessen und gibt daher auch nichts mit ihm auf. Darum hoffte ich, als dieser Autoritätsglaube in Stücke brach, du würdest als denkender Mensch dem Neuen kritisch gegenübertreten und erkennen, daß jede der modernen Weltanschauungen sich selbst das Urteil spricht: zu leicht befunden! Daß über mancher von ihnen ein hoher Schein steht, der aber wie eine Fata Morgana verfliegt, sobald man sie zu realisieren sucht. Daß keine unter ihnen uns ein seliges Sterben, eine ewige Heimat verbürgt, keine einzige – denn man kann wohl sagen, wir haben es nahezu mit einem Schock zu tun, weshalb es grundverkehrt ist, von der modernen Weltanschauung als solcher zu reden. Das Wort Monismus Einheitslehre. hat schon unendlich viel Verwirrung mit seinem Anspruch auf Eindeutigkeit angerichtet. In Wahrheit birgt es ein Heer von unüberbrückbaren Gegensätzen. Eine dieser Einheitslehren will es immer besser wissen, als die andere, nur in der Ablehnung des Christentums sind sie alle einig.«

»Der konkrete Monismus leugnet Gott ja gar nicht, Vater, im Gegenteil. Natürlich ist es nach jeder Richtung schwer für mich, dir entgegenzutreten, aber du hast mir neulich selber das Zeugnis ausgestellt, ich wäre kein Durchschnittsmädchen.«

»Das habe ich auch. Du hast eine auffallend scharfe Auffassungsgabe, hast mehr gelernt, wie die meisten jungen Damen deines Alters, und ein besonders reges Interesse für wissenschaftliche Fragen. Du hast ein Recht darauf, dir dein eigenes Urteil zu bilden, zumal jetzt, wo du auf die Hochschule gehst und auf deine eigenen Füße gestellt wirst. Aber du mußt dich vor Eitelkeit hüten. Sie verschleiert die Klarheit des Urteils: Glanz und Schein blenden die Jugend, zumal auf dem Gebiet der Weltanschauung, und veräußerlichen innerliche Fragen. Es ist sehr schwer, zumal für einen jungen Menschen, sich durch den Wirrwarr der Weltanschauungen hindurch zu arbeiten. Er schöpft die Creme ab und bildet sich dann ein, alles zu wissen, vergißt aber dabei, daß ihm nicht nur die theologische, sondern auch die naturwissenschaftliche und philosophische Grundlage fehlen, die eine Vorbedingung zur endgültigen Klärung dieser Fragen sind. Die modernen Weltanschauungen bereiten selbst den Gelehrten zum Teil Schwierigkeiten, aus dem einfachen Grunde, weil man es vielfach mit wissenschaftlichen Unmöglichkeiten zu tun hat, mit Hypothesen, von denen man sagen muß: das ist Nonsens.

Ich möchte dich vor diesen Irrfahrten bewahren, Rose. Nicht, daß ich heute für das Christentum werben will, so schweren Herzens ich dich auch ziehen lasse. Christenglaube ist lebendiger, ureigenster Besitz – er ist ein Erlebnis. Das Wunder, das ich nicht im eigenen Herzen erfahre, ist kein Wunder für mich.

Aber ehe du morgen abreist, möchte ich noch einmal, so weit es in meinen Kräften steht, versuchen, dich anzuleiten, objektiv abzuwägen, möchte dir einen Maßstab geben für das, was wahr und falsch, was möglich und unmöglich ist, möchte dir klar zu machen suchen, daß eine Weltanschauung, die auf den widersprechendsten Unmöglichkeiten beruht, auch in das Reich der Unmöglichkeiten gehört.

Du weißt, ich habe mich, so viel meine Zeit es erlaubte, euch Kindern gewidmet, um euch, diese Fragen in das rechte Licht rückend, zur Klarheit zu helfen. Ob ich es nicht in der rechten Weise tat?« Er seufzte.

»Gott hat nichts Widersinniges an sich,« fuhr er fort. »Überall sehen wir, rückwärts schauend, die feinen Fäden zielstrebig geordnet liegen, der Schöpferhand wartend, die sie mit Vorbedacht zum einheitlichen Ganzen knüpft. Bei den modernen Weltanschauungen aber fehlen Fundament und Zeugnis. Wenden wir uns einmal den Hartmannschen Theorien zu. Du hast dich täglich mit ihnen beschäftigt, nicht wahr?«

»Ja, Vater. Und ich muß sagen, ich bin von ihrer Richtigkeit überzeugt. Alle anderen sind mir unsympathisch wegen ihrer Unklarheiten. Der materialistische Monismus widert mich an. Gott ist doch keine Materie! Wo gerät man hin, wenn man den Häckelschen Gedankengängen zu folgen versucht?«

Um den Mund des Geheimrats zuckte es spöttisch. »Also für die alte Exzellenz in Jena hast du keine Sympathien? Das zeugt von gesundem Menschenverstand. Aber nun zur Sache. Es kommt mir nämlich so vor, als ob du dir über die monistischen Grundprinzipien, zumal über die Hartmannschen, nicht ganz im klaren bist, Rose! Obgleich du dich hinlänglich mit ihnen beschäftigt zu haben scheinst, kann ich mich dieses Eindrucks nicht erwehren. Ich halte es daher, um jedes Mißverständnis auszuschalten, für das Gewiesene, noch einmal auf diese Grundprinzipien einzugehen. Wir wollen uns ein möglichst getreues Bild von der Weltanschauung zu machen suchen, welche du die deine nennst. Denn vorausschicken möchte ich eine Frage: Sie soll dir doch nicht nur eine bloße Anschauung sein, sondern zu einem Stab in deiner Hand werden, zu einem festen Grund im Leben und Sterben, nicht wahr?«

»Ja, Vater. Ich denke, das ist sie mir schon. Die Hartmannschen Theorien sind von großer, wunderbarer Schönheit und Klarheit, in die ich immer mehr eindringen werde. Am Christentum ist so vieles, das mich direkt vor den Kopf stößt, z. B. die Frage der Sünde halte ich für absolut unzeitgemäß. Wann sündigt ein anständiger Mensch? Was ist Sünde überhaupt? Der Ausdruck erscheint mir überaus spontan, ich möchte sagen, ganz aus der Luft gegriffen! Leben ist Leiden. Wie kann es sich da um menschliche Schuld handeln? Wenn man den Ausdruck Verschuldung nicht missen will, kann man doch höchstens von der Verschuldung des Unbewußten reden, durch die der Mensch leidet, aber nicht von seiner eigenen Sünde. Darum sind mir die Bußtage der Kirche geradezu ein Ärgernis geworden. Sie provozieren die Demütigung eines ganzen Volkes um imaginärer Verschuldung willen. Dazu kommt noch eines: alle Pastoren sind Engel und die übrige Menschheit soll täglich mindestens einmal um Vergebung ihrer Sünde bitten. Ist das nicht Widersinn, um nicht zu sagen Komödie?«

Ohne sie mit einem Worte zu unterbrechen, hatte Geheimrat Händler seiner Tochter zugehört. Soweit war sie also! In gewisser Weise war's ihm lieb, Klarheit erlangt zu haben, aber das Herz tat ihm weh bei dieser Erkenntnis. Ein tiefer Schmerz lagerte auf der edlen Stirn und alterte das Antlitz, das Rose so über alles liebte. Aber sie sah es nicht. Die Schatten der Dämmerung lagen im Zimmer, und der flackernde Feuerschein ließ die wechselnden Feinheiten des Ausdrucks nicht erkennen.

Um ihre Meinung befragt, hatte sie dieselbe offen ausgesprochen. Wie schwer ihr Bekenntnis das Herz ihres Vaters treffen mußte, war ihr in diesem Augenblick nicht klar. Die kalte Atmosphäre des Monismus war nicht ohne Einfluß auf ihr Gemüt geblieben, und es bewahrheitete sich hier wohl nicht zum erstenmal die Tatsache, daß sich nicht, wie es so oft heißt, zwei Weltanschauungen gegenüberstehen, sondern Christenglaube mit einer modernen Weltanschauung ringt. Rose Händler schloß von sich selbst auf andere und erblickte in dem Glauben ihres Vaters nicht das tiefinnerliche, religiöse Moment, sondern nur die andere Weltanschauung. Ihr Herz war im letzten Grunde wenig an dem beteiligt, was ihr Mund vertrat, obgleich sie es sich einbildete. Die Religion, welche nur eine hoffnungs- und ziellose Weltanschauung ist, muß naturgemäß auf Lebenswärme verzichten, selbst da, wo sie von einer gewissen Begeisterung getragen und von starker Ausdauer begleitet wird. Die Zarathustraweisheit läßt die Menschenseele an der Glut ihrer Feuer verdorren, der Monismus trägt sie in die Einöde fossiler Regionen. Hier wie dort ist das Ende der Tod.

So oft Rose Händler gefragt worden war, warum sie den Beruf einer Ärztin erwählt, immer hatte sie die gleiche Antwort gegeben: ›Weil das medizinische Studium mich am meisten interessiert!‹ Der Monismus schaltet die christliche Charitas aus. Er muß es, wenn er sich nicht selbst aufgeben will.

Geheimrat Händler, der feine Psychat und Frauenarzt, hatte oft mit Sorge auf den Werdegang dieser Tochter geblickt. Sie glich ihren Schwestern in keiner Weise. Geistig war sie allen überlegen. Ihre blendende Schönheit stellte sie alle in den Schatten. Aber der Vater vermißte an ihr, was Frieda so lieblich machte. Er sagte sich: das Weib ist noch nicht in ihr erwacht! und ließ ihr nach wie vor volle Freiheit. Er hatte es bisher vermieden, die persönliche Glaubensfrage direkt zu berühren, weil er sich immer wieder sagte, Charaktere wie Rose müßten sich frei entwickeln und selbständig ihre Schlacken ausscheiden. War diese Freiheit ohne Schranke, trotz aller väterlichen Fürsorge, ein pädagogischer Fehler gewesen? Immer wieder tauchte die Frage auf.

Und dann war ihm plötzlich Gewißheit geworden, was er so oft von sich gewiesen: der Monismus ist's, der das Weibliche in ihr zerstört! Allein die Vorbereitung zum akademischen Beruf konnte diese Veränderung, die sich langsam angebahnt, nicht hervorgerufen haben, wenn Händler auch die Gefahren auf diesem Gebiet durchaus nicht unterschätzte. Aber Rose hatte das Leben der studierenden Frau im eigentlichen Sinne noch gar nicht kennen gelernt. Der Besuch eines Vorbildungsseminars vom Elternhause aus konnte diesen Einfluß kaum ausgeübt haben. Er kam von anderer Seite. Und immer deutlicher wurden Händler die zwei Hauptmomente: Roses unerschöpflicher Wissensdrang, den sie zu jeder Zeit und auf jede Weise zu befriedigen suchte, und – ihr Aufenthalt in Wien. Besonders letzterer. Ein Milieu, wie das Lenksche Haus es bot, war in außergewöhnlicher Weise, geeignet, einem jungen, unerfahrenen Menschen sein Gepräge zu geben: ein rosenumblühter Lichthof, die Heimstatt höchster und allerhöchster Ideale, von den goldenen Fäden einer weltbeherrschenden Wissenschaft umsponnen, vom Duft jener vornehmen Melancholie brahmanischer Weisheit erfüllt, alles Häßliche verwischend, jede Unebenheit nivellierend, und in souveräner Einsamkeit die zarte Psyche der Hausgöttin, der Philosophie des Unbewußten, die mit leiser Hand auf eine transzendente Welt zu deuten schien –, wahrlich, kein Wunder war's, wenn die Kinder einer zerrissenen Zeit an dieser Stätte rasteten, wenn sie der Traum von dieser Schönheit durchs Leben begleitete! – –

Ein Diener trug die Lampe herein. Ihr grün verschleiertes Licht fiel auf die ernsten Züge des Hausherrn. Aber Rose war zu sehr mit sich beschäftigt. Sie sah nicht, was des Vaters Antlitz widerspiegelte.

Langsam erhob sie sich und ließ sich auf einem Klubsessel neben dem Schreibtisch nieder.

Der Diener schloß die Vorhänge und verließ leise das Zimmer.

»Ich will, um auf die Hauptpunkte unserer Auseinandersetzung zu kommen, zunächst nur den Vorwurf, den du der Geistlichkeit machst, berühren,« sagte Geheimrat Händler, sich in seinem Schreibtischstuhl zurücklehnend. Seine Stimme klang schärfer, als vorher.

Rose hob den Kopf.

»Die Auffassung erscheint mir doch etwas kindlich, um nicht einen anderen Ausdruck zu gebrauchen,« fuhr er fort. »Gewiß, es gibt Pastoren, die sich fast für unfehlbar, meinetwegen für halbe Engel halten, aber das ist doch nur ein kleiner Teil und wohl kaum der wertvollere, der für dich doch, wie ich annehme, nur in Frage kommt. Was mich betrifft, so kann ich nur sagen, daß mir zum Beispiel unter den Führern der Landeskirche kein einziger begegnet ist, der diese geistreiche Auffassung vertreten hätte. Im Gegenteil. Ich würde daher an deiner Stelle doch etwas vorsichtiger in meinem Urteil sein, liebes Kind!«

Rose schwieg. Sie würde heute noch mehr über sich ergehen lassen müssen, und wußte es. Ihr Trotz erwachte. Es war doch so. Alle waren sie Engel! Zu oft war sie dieser Auffassung begegnet. Aber was sollte das Streiten um Bagatellen?

»Und nun zur Hauptsache,« begann Händler aufs neue. »Ich will nur den Grundstock des Monismus an sich zu zeichnen versuchen und die Hauptmomente der Hartmannschen Gedankengänge beleuchten. An ihnen ist der Maßstab anzulegen. All den feinen Verzweigungen nachzugehen, würde eine sachliche Klarstellung erschweren. Betrachten wir darum die Hauptpostulate.« Er strich sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er einen dunklen Gedanken bannen.

»Monismus heißt bekanntlich Einheitslehre. In gewissem Sinne könnte daher auch das Christentum diesen Namen beanspruchen. Aber das Wort darf nicht derartig verallgemeinert werden, denn es steht tatsächlich im schärfsten, grundsätzlichen Gegensatz zum Christentum. Dieses will transzendent, der Monismus immanent verstanden werden.

Die Gegensätze sind also: Der Christ sagt: Gott und Welt sind in dem Sinne trennbar, als Gott absolut unabhängig von der Welt ist, überhaupt ohne sie besteht, die Welt dagegen absolut abhängig von Gott und ohne ihn nicht vorhanden wäre. Die Verbindung Gottes mit der Welt ist also lediglich ein freier, jederzeit widerruflicher Willensakt seinerseits.

Dagegen sind für den Monisten Gott und Welt untrennbar. Gott ist von der Welt abhängig, denn die letztere ist in ihrem Grundelement an ihn gebunden.

Auf diesem monistischen Hauptpostulat gruppieren sich außer einer Anzahl sich widersprechender Unterarten folgende drei Hauptarten: Der Monismus der Natur- oder Körperwelt, der als Naturalismus oder auch Materialismus bekannt ist. Der Monismus der Geisteswelt, der Idealismus oder Spiritualismus. Die dritte Form, welche die beiden ersten zu vereinigen sucht, indem sie die Verschiedenheit zwischen Körper- und Geisteswelt nur als eine scheinbare gelten läßt und dieselben, mit einem höheren Dritten identisch, als Einheit erklärt, ist die Philosophie des Unbewußten oder die Identitätslehre.

Ich will die beiden Hauptarten nicht berühren. Du bist über dieselben, soweit es für Laien möglich ist, durch Lektüre, Vorträge und Kurse orientiert. Ob dir die grenzenlose Willkür, mit der beide die weltbewegendsten, wissenschaftlichen wie theologischen Fragen behandeln, ganz klar geworden ist, weiß ich nicht. Häckel lehnst du ja ab, wie wohl überhaupt den Materialismus. Findest du das Verfahren des Idealismus, der ohne weiteres die Natur in den Geist aufheben will, weniger einseitig?«

»Durchaus nicht, Vater, aber deshalb habe ich mich ja auch der Identitätslehre zugewandt. Ich bin dir sehr dankbar für deine Ausführungen, sie decken sich ganz mit dem Urteil, welches ich mir im Laufe der Zeit über diese Fragen gebildet habe. Ich bin ganz Ohr, und werde dich natürlich nicht unterbrechen. Wenn du fertig bist, darf ich vielleicht ums Wort bitten. Ich liebe solche Diskussionen sehr!«

Händler zog die Stirn in Falten. Seine Auffassung, vom Zweck dieser Unterredung war allerdings eine andere, als die seiner Tochter. Er seufzte.

»Also Hartmann hat einerseits das unbestrittene Verdienst, die Schwächen der beiden erstgenannten Monismen aufgedeckt zu haben,« sagte er, »und beweist andererseits seine Überlegenheit über die abstrakten Postulate derselben, indem er zwischen Gott und Welt jenen Unterschied macht, den zum Beispiel der gewöhnliche Pantheismus nicht erkennt. Der Dualismus, der das Leben durchzieht, ist ihm Realität. Er sucht ihn nicht durch die Lehre von der Natur- und Geisteswelt zu entfernen, sondern hebt denselben erst durch das Einwirken einer dritten, transzendenten Macht auf. Materialismus und Idealismus degradieren Gott zu einer immanenten Erscheinung; die Philosophie des Unbewußten erkennt in ihm den Schöpfer und Wiederauflöser der Welt. Sie unterwirft dieselbe dem Willen Gottes zu absoluter Abhängigkeit und erkennt damit seine Macht an. Das ist ein großes Verdienst Eduard von Hartmanns. Indem er das Verhältnis von Gott und Welt zugleich transzendent und immanent erklärt, nähert er sich einer christlichen Grundwahrheit. Auch vertritt er die Auffassung, daß das Weltgeschehen in letzter Instanz auf transzendente Einwirkungen zurückzuführen ist und schlägt somit auch hier eine Brücke zum Theismus. Endlich hat er Auge und Herz für die grenzenlosen Nöte der diesseitigen Welt, welche die Vertreter der übrigen Monismen in unfaßlicher Oberflächlichkeit übersehen, und nähert sich hier der christlichen Charitas. Die Identitätslehre ist unzweifelhaft der vornehmste aller Monismen, der auf die meiste Sympathie Anspruch erheben kann.

Und trotz alledem – in der Nähe besehen liegt schon in ihren Grundpostulaten ein tiefer Mangel, den sie zu beseitigen außerstande ist. Du kennst die Hartmannschen Thesen, die seiner Erkenntnistheorie entsprungene Lehre des Unbewußten?«

»Ja, Vater. Ich kenne und vertrete sie. Nichts leuchtet mir mehr ein, als diese Auffassung von Schöpfung und Weltauflösung, von allem Erleben und Geschehen. Baron Lenk sagte mir einmal, die transzendente Kausalität sei gewissermaßen das Medium aller Erkenntnis und alles Geschehens. Ich fand diese Erklärung sehr zutreffend.«

Geheimrat Händler sah seine Tochter scharf an.

»Du glaubst also, daß Gott eines Mediums bedurfte, einer außer ihm liegenden Kraft, die ihn zur Schöpfungstat antrieb und vorschob?«

»Die transzendente Kausalität ist doch das Unbewußte,« antwortete das junge Mädchen. »Darauf baut sich das Weltall auf. Naturgemäß ist es daher auch die Triebkraft der Taten Gottes. Wenn man die Hartmannschen Bücher liest, zweifelt man keinen Augenblick mehr an dieser festfundamentierten, wissenschaftlichen Wahrheit, es tritt einem alles mit einer Selbstverständlichkeit entgegen, daß man sich jedes Zweifels schämt. Und bejaht nicht das Leben die Philosophie des Unbewußten auf allen Gebieten? Wille und Vorstellung ungetrennt, im Zustand tiefster Ruhe ergeben völlige Unpersönlichkeit und Unbewußtheit. Erst wenn der Wille durch seinen gewaltigen Tatendrang aus dieser Ruhe herausgedrängt, und somit auch die Vorstellung rege wird, schreitet das Unbewußte zur Tat. So ist die Erschaffung der Welt erklärt, so erklären sich die Geschichte und die Geschehnisse im Leben des einzelnen. Dies erscheint mir doch z. B. viel annehmbarer, als Schopenhauers ›Blinder Urwille‹.«

Geheimrat Händler zuckte die Achseln. »Ja, liebe Rose, – wenn dir solch ein unpersönlicher, negativer Gott genügt, dann mußt du zusehen, wie du fertig wirst, – mir genügt er nicht.«

»Negativ, Vater? Er ist der Schöpfer des Weltalls!«

»Nach Hartmann ist er die höchste Form unbewußten Geisteslebens, die durch eine selbsttätige, transzendente Kraft mechanisch in Bewegung gesetzt wird. Im letzten Grunde eine Gliederpuppe, die, aufgezogen, tut, was sie soll, bis sie nach Ablauf des Uhrwerks in den Zustand des Unbewußten zurückkehrt.«

»Verzeih, Vater, das ist sehr kraß ausgedrückt. Gott wird doch keine Schattenfigur durch die Kausalität des Unbewußten. Er schafft die Welt, er legt uns die Pflicht der Mitarbeit an ihrer Entwicklung auf und erzielt einen letzten versöhnenden Abschluß. Keinen Weltuntergang mit seinen Schrecken, sondern eine friedliche Auflösung, ein Hinübergleiten ohne gewaltsame Zwischenfälle ins Unbewußte zurück, ins Nirwana.«

»Dies sanfte Hinübergleiten ist dir nirgends dokumentiert, liebes Kind,« sagte der Arzt. »Kein Wunder, – ein Gott, der seine ganze Schöpfung, die im letzten Grunde gar nicht seine Schöpfung, sondern das Werk einer transzendenten Kraft ist, rückgängig machen muß, ist nicht in der Lage, eine ewige Bürgschaft zu leisten. Sieh, da steckt der krasse Widerspruch! Die Theorie des Unbewußten ist in Bezug auf der Welt Anfang und Ende erkenntnistheoretisch undurchführbar. Philosophisch und naturgeschichtlich, wie theologisch. Eine ziellose Schöpfung gibt es nicht. Sie würde sich selbst widersprechen. Welcher König gründet ein Reich, um es mit eigener Hand wieder zu zerstören? Täte er's, würde man ihn geisteskrank erklären und ihm die Herrschergewalt nehmen. Den Gott des Unbewußten aber treibt ein tatendurstig erwachender Wille zur spontanen Tat einer Schöpfung, deren einziger Zweck der ist, sich nach vollbrachtem Tagewerk wieder in das Nichts zurückzuziehen. Und das will Wissenschaft sein!« Er lachte kurz. »Wenn wir wirklich soweit wären, daß der ganze Zweck unseres Erdendaseins eine ewige Sinnlosigkeit wäre, dann sähe ich nicht ein, warum man nicht, sobald man dieses Lebens überdrüssig, demselben ein Ende machen sollte. Außerdem, wie denkst du dir diesen Gott im Fall einer großen, inneren oder äußeren Not, die uns alle einmal im Leben betrifft? Wenn du noch so lange betest, dein Gott ist außerstande, dir zu helfen, bis Wille und Vorstellung vom Schlaf erwachen und somit der Moment für die Tat Gottes gekommen ist. Wann dieser Moment eintritt, ist natürlich ganz ungewiß. Denn alles Unbewußte ist spontan. Du kannst also möglicherweise warten, bis du an deinem Gott verzweifelt oder sonst zugrunde gegangen bist.«

Rose biß sich auf die Lippen. Daß es so scharf über ihre Weltanschauung hergehen würde, hatte sie doch nicht gedacht. Ihr Stolz bäumte sich gegen die Worte des Vaters auf. Wenn er recht hätte, wäre sie im furchtbarsten Irrtum dahingegangen! Und wie viele andere mit ihr! Männer der Wissenschaft! Große Geister! Unmöglich! Es konnte nicht sein! Der Vater irrte. Christen waren ja oft der leisesten Neuerung gegenüber blind. Es tat ihr leid. Sie bewunderte den Vater. Aber schließlich, – er hatte des Lebens Höhe überschritten, und sie stand zu Beginn ihrer Wanderung. Ihre Erregung zu meistern erhob sie sich und stützte beide Hände auf den Tisch. Die dunklen Augen blitzten. Die schlanke, geschmeidige Gestalt leicht vorgebeugt, vom roten Feuerschein umflirrt, sah sie auf ihn nieder.

»Vater, das sind lose Einzelheiten. Ich bin überzeugt, die große Schönheit in den letzten Hartmannschen Werken würde dich fesseln!«

»Ich kenne sie. Es kommt mir in diesem Falle nicht auf Schönheit, sondern auf Wahrheit an. Außerdem, Rose, was du lose Einzelheiten nennst, sind die Hauptpostulate des Monismus, oder beziehen sich auf dieselben. Um aber noch einmal auf diesen Gott zurückzukommen, – was bürgt dir dafür, daß er dich hören kann, daß er überhaupt die Absicht hat, helfend in dein Leben einzugreifen? Er kennt keine Liebe, kein Erbarmen. Was hätte die Liebe, die alles rückgängig macht, die eine Welt voll Jammer schafft, denselben in aller Gemütsruhe Jahrtausende lang mit ansieht, um dann die eigene Schöpfung über den Haufen zu werfen und wieder zu zerstören, auch für einen Zweck? Sie wäre widersinnig. Der Monismus schaltet Gottes Liebe mit der christlichen Charitas aus. Er ist darin das Abbild der Antike, deren Philosophen Menschenliebe predigten, aber nicht in die Tat umsetzten. Wahres Christentum redet weniger, handelt aber.

Du siehst, der Monismus hat einen berühmten Stammbaum, andererseits muß er es sich gefallen lassen, wenn seine Gegner von modernem Heidentum reden. Da er sich ganz auf sich selbst stellt, als sündlos keines Erlösers bedarf, kann er ja auch der göttlichen Hilfe entraten. Er könnte sich sogar, völlig schuldlos, aber unter der Verschuldung des Unbewußten leidend, zu dessen Richter, also Gottes selbst, aufwerfen. Jede Hinneigung des Monismus zum Christentum ist also einfach eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, welche die Identitätslehre nicht aus der Welt schafft. Im Gegenteil. Ihre Theorien sind durchaus brahmanisch-buddhistischer Herkunft. Ihr indischer Erlösungsgedanke ist in Wirklichkeit nichts anderes als Nichtsein, auch im geistigen Sinne, denn unbewußtes Denken, unbewußtes, geistiges Sein gehört in das Reich der Unmöglichkeiten.«

Rose hatte ihren Vater nicht unterbrechen wollen, aber sie brannte darauf, ihn zu widerlegen.

Nun schwieg er. Seufzend strich er sich über die Stirn, dann hob er das Antlitz, und sein Blick ging langsam über die Tochter.

Sie aber nutzte den Augenblick. »Nach deiner Auffassung ist also der Monismus ein Unglück für die Menschheit, im letzten Grunde auch die Identitätslehre, nicht wahr, Vater?« Sie sah gespannt zu ihm hinüber.

»Ja, Rose. In mehr als einer Hinsicht. Denn die Weltanschauung, welche Sünde und Erlösung verkennt und die Persönlichkeit vom Programm streicht, befindet sich in einem bodenlosen Irrtum gegenüber den Urpostulaten des Wesens der Religion überhaupt, und entsittlicht durch die Verkündigung und Festlegung ihrer Hypothesen vom Unbewußten den Geist unseres Volkes. Sündlos, ziellos, – was bezweckt da letzten Endes die Sittlichkeit? Der Einzelne nur Mittel zum Zweck der Erlösung des Unbewußten, mit anderen Worten, der Erlösung eines Gottes, der ihn in Elend und Not hineinversetzte, um ihn über kurz oder lang der Vernichtung preiszugeben. Er arbeitet also am eigenen Untergang und ist noch außerdem verpflichtet, aus allen Kräften die Kulturentwicklung fördern zu helfen und den Antrieb zu seinem Schaffen als Gottes Gnade aufzufassen. Das ist reichlich viel verlangt!«

Rose stieg das Blut ins Antlitz.

»Vater, das ist unmöglich, das kann nicht so gemeint sein!«

»Wie es gemeint ist, weiß ich nicht, aber jedenfalls ist dies die logische Folgerung der Hartmannschen Theorien.«

»Nein, Vater, das ist sie nicht,« rief Rose, alles vergessend, heftig aus, »das sind auf die Spitze getriebene Hypothesen der Gegner, welche die Identitätslehre niemals in die Tat umsetzen würde.«

»So? – Glaubst du etwa, die Sozialdemokraten würden dir in friedlichen Zeiten feierlich verkünden, daß sie dich dermaleinst aufzuhängen beabsichtigen, weil du ein goldenes Kettenarmband trägst und die Tochter eines angesehenen, konservativen Mannes bist? Wenn ihre Zeit gekommen ist, werfen sie ihrem Opfer eine Schlinge über den Kopf und machen Schluß. Der Monismus gleicht hier der Sozialdemokratie. Da ist entschieden Wahlverwandtschaft. Erst führt er den Menschen in seine schimmernden Säle und verspricht ihm die höchsten Güter, bricht er aber unter der Not des Lebens in seiner Gottverlassenheit zusammen, so heißt es: ›Da siehe du zu!‹« Er wandte sich ab. »Rose, wenn ich dich aus diesen Banden lösen könnte, bevor es zu spät ist!«

Sie schüttelte den Kopf. Ein gequälter Ausdruck lag auf den klassischen Zügen. Jetzt war's ihr doch klar geworden, daß ihr Vater litt, und es schmerze sie tief, die Veranlassung seines Kummers zu sein, denn sie liebte ihn von Herzen. Aber sie durfte nicht unaufrichtig sein.

Wäre sie ihrem väterlichen Gegner nur immer gewachsen gewesen! Es war doch schwer, sich in der Beantwortung dieser Fragen immer ganz präzise auszudrücken, selbst wenn man sich seiner Sache sicher war.

»Wir fassen die Sache eben ganz verschieden auf, Vater,« sagte sie. »Darf ich einmal sagen, was ich z. B. über die Auflösung des Weltwesens denke?«

Er nickte stumm, und sie fuhr fort: »Ich habe Nietzsche nie gemocht. Seine Behandlung der Frauen finde ich ebenso beleidigend wie verrückt, und seine Schimpfereien auf das Christentum sind geradezu unanständig. Aber diese Dekadenz war gewiß schon eine Krankheitserscheinung!«

Händler zuckte die Achseln. »Das läßt sich schwer feststellen. Lassen wir die Toten ruhen!«

»Großartig finde ich dagegen seine philosophischen Gedankengänge,« fuhr sie fort, »seine Auffassung vom Aufgehen des Einzelnen im Heile der Völker, sein Wandern von Schönheit zu Schönheit, sein sich immer mehr vollendendes Persönlichkeitsideal! Nietzsche hat ja in Bezug auf die letzte Zeit eine von der Hartmannschen etwas abweichende Form. Er redet von einem geistigen Fortleben in seinen Kindern und seinen Werken. Eduard von Hartmann spricht dagegen nur von einem geistigen Sein, das übrig bleibt.«

»Ein unbewußtes, geistiges Sein, Rose?«

»Ich stelle mir diesen Zustand vor wie ein Hinüberschlummern, dem eine ewige, absolute Ruhe folgt,« erwiderte sie rasch.

Auf Händlers Zügen lag ein tiefer Schmerz. Er hatte sich, ehe er diese Fragen angeschnitten, gesagt, daß er vor der Hand nicht auf den geringsten Erfolg rechnen dürfe. Es hätte Roses ganzer Charakteranlage widersprochen. Was sie sich einmal angeeignet hatte, hielt sie mit zäher Treue fest. Aber er hatte auf ihre Ehrlichkeit gebaut, hatte sich von einer rein sachlichen Darlegung der monistischen Grundpostulate und ihrer wichtigsten Motive doch ein anderes Resultat versprochen. Das Resultat logischen Abwägens, dessen dieser kluge Kopf fähig war. Zu seinem großen Schmerz mußte er jedoch erkennen, daß die schimmernden Fäden der Hartmannschen Erkenntnistheorie Geist, Verstand und Phantasie des jungen Mädchens so fest umsponnen hatten, daß selbst ein starker Wille dies feine Netz nicht mit einem energischen Ruck zu zerreißen imstande sein würde. Zu der Loslösung aus diesen fest verketteten, verwirrten Fäden gehörte Zeit. Und die schien noch nicht gekommen. Die Philosophie des Unbewußten glich einem süßen, einschläfernden Zaubertrank. Wer ihn genossen, erwachte nicht so bald aus dem schweren Schlaf.

Der arme Vater seufzte. Immer wieder pochte die Frage an seiner Seele: ›Bist du schuld daran?‹ Und seine Zweifel mehrten sich. Was sollt' es, wenn er Rose heute das Christentum anpries? Es hätte sie demselben nur noch mehr entfremdet. Ein Neubau auf den Trümmern ihres Autoritätsglaubens wäre auch bald eingestürzt. Christenglaube will erlebt, erfahren, mit einem Worte lebendig sein und fordert darum auch ein eigenes, neues Fundament, dem nichts Fremdes anhaftet. Es half nichts, er mußte sie ziehen lassen. Sorge im Herzen, eine Last auf der Seele würde er zurückbleiben. Sein einziger Trost war der, daß ein Höherer das Menschenherz lenkt, wie den Bergbach.

»Rose,« sagte er endlich, und seine Stimme bebte, »ich sehe, wir einigen uns heute nicht. Ich habe es auch kaum zu hoffen gewagt. Du bist zu tief in jene Anschauungen verstrickt, um sie plötzlich aufzugeben. Ein so schneller Umschwung würde auch nicht das Rechte sein; er würde nicht anhalten. Darum preise ich dir auch nicht das Christentum an. Du bist darin groß geworden und mußt wissen, was du aufgegeben hast. Nur persönlicher Glaube ist stark und lebendig. Alles Angenommene ist wertlose Farce. Aber das muß ich dir sagen, das Herz blutet mir, daß es so weit kommen konnte. Vielleicht bin ich nicht schuldlos. Ich ließ dir volle Freiheit, weil du dich ungehindert entwickeln solltest, weil ich keine Zuchtpflanzen aus meinen Kindern machen will. Ob ich darin zu weit ging?« Er zuckte die Achseln.

Der tiefe Schmerz in dem geliebten Antlitz erschütterte Rose. Sie trat dicht an seinen Stuhl und legte den Arm um seinen Hals. »Vater!« sagte sie mit erstickter Stimme.

Er antwortete nicht.

»Vater, ich kann nicht anders! Ich will's dir offen sagen, es nimmt mich ganz gefangen! Ich kann es nicht fassen, daß du so scharfe Konsequenzen ziehst! Ich glaube wirklich, sie sind nicht berechtigt. Zum Beispiel wüßte ich beim besten Willen nicht, worin ich sündigte! Es wäre mir einfach unmöglich, noch zum Abendmahl zu gehen, – überhaupt leuchtet mir die Philosophie des Unbewußten auf allen Gebieten ein, – ich möchte sagen, sie erklärt mir vieles an mir und anderen, was mir früher geradezu paradox erschien,« – sie seufzte, – »ich muß doch vor allem ehrlich sein!«

»Ja, Gott sei Dank, das bist du, und das bleibt meine einzige Hoffnung. Denn ich kann und will es nicht glauben, daß du dich auf die Länge mit dieser gänzlich unhaltbaren Weltanschauung abfindest. Heute bist du befangen und dein logisches Denkvermögen ist erschlafft,« – ein müdes Lächeln spielte um seinen Mund, »es muß sich erst wieder seiner selbst bewußt werden, Rose!«

Sie senkte das Köpfchen. »Vater, die größten Geister vertreten den konkreten Monismus!«

»Die größten Geister werden arme Toren, wenn sie den lebendigen, persönlichen Gott verlassen,« erwiderte Händler mit tiefem Ernst.

»Vater, ich glaube doch an Gott,« sagte sie, mit den aufsteigenden Tränen kämpfend. »Wenn er auch etwas anders ist als der deine, – der Glaube ist doch keine Schablone!«

»Nein, das ist er allerdings nicht, denn Gott ist persönlich und lebendig, aber gerade darum läßt er sich nicht nach jedermanns Gefallen ummodeln. Ein zurechtgemachter Gott würde uns nichts nützen, schon im Leben nicht, viel weniger im Tode.

Wir wollen jetzt nicht mehr über die Sache reden. Du mußt deinen Weg gehen, wie wir alle. Und du sollst ihn frei gehen, keiner von uns wird dich hindern oder dir um deiner anderen Weltanschauung willen das Leben schwer machen. Dagegen fordere ich ein Versprechen von dir: suche deine Schwestern nicht zu beeinflussen oder sie für den Monismus zu gewinnen.« Er schwieg und sah ihr voll ins Auge.

Da reichte sie ihm die Hand. »Ich verspreche es!« sagte sie leise.

»Und dann noch eins, Rose,« fuhr der Gelehrte fort, »es ist eine Bitte. Einmal, früher oder später, begegnet uns der Herr auf unserem Wege! Es ist ausgeschlossen, daß wir ihn nicht erkennen, es unterliegt keinem Zweifel: er ist es! Auch du wirst ihn erkennen. Willst du dann den Mut haben, deine heutige Weltanschauung für einen Irrtum zu erklären? Kannst du mir das versprechen?«

Sie sah, daß ihr Vater ihr sein Heiligstes gab. Blaß bis in die Lippen stand sie vor ihm. Ihre Hand umschloß die seine fester. »Ja,« sagte sie mit erstickter Stimme.

Wieder ging sein Blick über sie hin, wie schon einmal an diesem Abend. Dann nickte er ihr mit seltsam geistesabwesendem Ausdruck zu, als wollte er allein sein.

Da ging sie hinaus.

Nie hätte sie's geglaubt, daß eine einfache Aufstellung von Gegensätzen ihr solches Herzweh bereiten würde. Und doch war's so. Der Gram im Auge ihres Vaters trug die Schuld daran. Und ein anderes, undefinierbares Gefühl kam hinzu – psychophysisch wirkte es. Rein körperlich erklärt, war's ein Gefühl, als ginge sie auf Eiern. Aber die Seele hatte Anteil daran. Den größeren. Was bedeutete das? Sie war sich ihrer Sache doch so sicher! Schade war's, daß ihr manchmal die erkenntnistheoretischen Belege fehlten, – aber das Ganze war ja so klar und einleuchtend. Natürlich war eine Gegnerschaft wie die ihres Vaters für einen Anfänger unbequem, besonders, weil es der eigene Vater war. – Und morgen kam der Abschied. Auch das noch! Oder war's am Ende das Beste? Vielleicht. Jedenfalls würde sie auf diese Weise das Gleichgewicht wiedererlangen! – Das Gleichgewicht? Sie hatte es ja gar nicht verloren! Was ein Abschied nicht alles im Gefolge hatte! Ohne ihn würde diese Angelegenheit ihr Innerstes überhaupt nicht berühren.

Aber während sie ihr Zimmer betrat und die Bilder vom Schreibtisch nahm, um sie einzupacken, zog es ihr wieder und wieder durch die Seele: ›Einmal, früher oder später, begegnet uns der Herr auf unserem Wege – –‹

Seltsam, daß sie das Wort nicht verließ.

Ungewollt kam und ging es – ganz unbewußt, ganz spontan. –

Der konkrete Monismus sollte Dunst und Traum sein? –

Was war denn das Christentum? – –


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