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Die Firma Haupois-Daguillon vertrat eines der ältesten und wohlrenommirtesten Gold- und Silberwaarengeschäfte in Paris. In der Familie Daguillon war das Geschäft seit zwei Jahrhunderten stets vom Vater auf den Sohn vererbt worden, bis der sonst glücklichen Ehe des letzten Daguillon kein Sohn, sondern nur eine Tochter entsproß. Diese machte aber dem Namen Daguillon keine Schande, sie war in erster Linie Geschäftsfrau, erst in zweiter liebendes Weib und sorgsame Mutter ihrer beiden Kinder Leon und Camilla. Sie liebte ihren Mann Haupois, der aus der Normandie als Bildhauer eingewandert, nicht seiner sonstigen guten Eigenschaften und seiner Kunst wegen, sondern weil er mit praktischem Sinne seine künstlerischen »Schnurrpfeifereien« an den Nagel hing und in kluger und arbeitsvoller Weise die geschäftlichen Interessen wahrnahm. Sie, die einzige Erbin der Firma Daguillon, hatte ihm ihre Hand und ihre Millionen gereicht, da sie erkannte, grade dieser Mann sei geeignet das Ansehen der Firma aufrecht zu erhalten und die Millionen zu verzehnfachen. Frau Haupois blieb aber trotz ihres Mannes die Seele des Geschäfts. Während der letztere mit Hilfe eines Restes seiner künstlerischen Phantasie auf neue Muster sann und die Fabrikation der Waaren überwachte, lagen der Handel und das Ladengeschäft in den Händen der Frau. Sie brachte in einem kleinen Nebenzimmer der Geschäftsräume in der Rue Royale Tag und Nacht zu, nur Sonntags und an hohen Festtagen gönnte sie sich einige Stunden der Erholung im Schooße der Ihrigen und stattete ihrer Familie in der Rue Rivoli, wo Herr Haupois eine Wohnung gemiethet hatte, einen Besuch ab. Zwei Kinder waren, wie schon erwähnt wurde, die Früchte der ruhigen Ehe. Die ältere Tochter Camilla wuchs zu einer Jungfrau heran, die der Firma Haupois-Daguillon zur besonderen Ehre gereichte, denn auch in ihr entwickelte sich neben einem allen Weibern eigenthümlichen Ehrgeize das ökonomische Talent der Mutter, welches sich nur in etwas anderer Weise bethätigte als bei der letzteren. Camilla heirathete auf Wunsch ihrer Eltern den Baron Valentin, dessen Adel zwar noch jung, dessen Reichthum aber unermeßlich war. Wir haben keinen Grund auf die Interessen und Freuden der Baronin Valentin näher einzugehen, die Dame hat nie etwas Erzählenswerthes gethan und war nur eine jener vielen Statistinnen auf dem Pariser Theater, die als lebendiges Inventar der Bühne zur Charakteristik dienen.
Aber ihr Bruder Leon!
Die Natur spielt oft seltsam und in der That nannten Witzlinge Leon oft eine geistige Mißgeburt, denn an ihm schien das Sprichwort: »der Apfel fällt nicht weit vom Stamme« zu Schanden zu werden. Von dem Augenblicke an, wo der kleine Schreihals das Licht der Pariser Gascompagnie erblickte – die Katastrophe ereignete sich unvermutheter Weise Abends in dem bewußten Nebenzimmer – suchte Frau Haupois-Daguillon ihrem Sprößling mit der Muttermilch die vortrefflichsten Geschäftsprinzipien und den Durst nach Geld einzuflößen. Aber sei es, daß die Milch dem Durste des Kleinen vollständig genügte, sei es, daß eine launenhafte Fee ihren unmoralischen dämonischen Einfluß geltend machte, es ging der guten Frau just so wie jener Ente, die ein Hühnerei ausgebrütet hatte und nun mit Entsetzen wahrnahm, daß das kleine Wesen, welches ihrer mütterlichen Sorgfalt das Leben verdankte, nicht schwimmen konnte.
Leon konnte nicht schwimmen! Er wuchs heran, wurde älter und älter, ein Jahr verging nach dem andern, Leon konnte noch immer nicht schwimmen. Von der Amme lernte er »Papa« und »Mama« sagen, in der Schule gewöhnte er sich an vernunftgemäßes Denken und begann die Sprachen, die Literatur, die Künste lieb zu gewinnen, im Collège de France erweiterte er seine wissenschaftlichen Kenntnisse und erfuhr den praktischen Nutzen einer religiösen Ueberzeugung auf Grundlage des katholischen Kirchenbekenntnisses, in seinen Mußestunden widmete er seine Aufmerksamkeit dem geselligen Leben und dem platonischen Cultus der schönen Frauen … man sieht, er eignete sich allerlei an, aber schwimmen lernte er nicht. Denn jedes Mal, wenn seine Eltern ihn ins Wasser stießen, plätscherte er wie ein Ertrinkender und suchte so schnell wie möglich wieder ans Land zu waten.
Die Firma Haupois-Daguillon schüttelte ihr greises Haupt ob solcher Unnatur und es soll mehrfach vorgekommen sein, daß sich die Vorfahren im Grabe umdrehten. Am meisten zu bedauern war aber Frau Haupois. Wenn sie zur Messe ging, und dies that sie wöchentlich dreimal, Morgens früh natürlich, wenn die Kunden noch sämmtlich in Morpheus Armen lagen; wenn sie zur Messe ging, vergaß sie oft für ihr eigenes Seelenheil zu beten und brachte eine halbe Stunde damit zu, ihren Heiligen oder gar den lieben Gott selbst mit der Bitte zu bestürmen, die Sinnesart ihres Sohnes durch ein göttliches quos ego zu ändern. Aber der kategorische Imperatif blieb aus und Leon blieb derselbe, der er war: ein angenehmer liebenswürdiger Jüngling, ein zärtlicher Sohn aber schlechter Geschäftsmann, der absolut keine Neigung zeigte, den Ruhm seiner Vorfahren durch neue Thaten zu vergrößern. Da er die Wünsche und Hoffnungen seiner Eltern kannte, so setzte er ihnen keinen aktiven Widerstand entgegen, sondern fügte sich in das Unvermeidliche und brachte täglich einige Stunden im Geschäfte zu. Man hat aber niemals gesehen und gehört, daß er Befehle ertheilte, Briefe schrieb oder Kunden bediente. Meist stand er hinter dem Ladenfenster und blickte auf das bunte Getriebe der Rue Royale hinaus.
Und doch war Leon, wie man sagt, ein guter Junge. Seine guten und schlechten Neigungen überschritten das Normalmaß nach keiner Richtung und in seiner Brust klopfte ein Herz, das allen edlen Gefühlen Einlaß gewährte. Wenn seine Eltern zufällig eine Einbuße – dies geschah nur höchst selten – in ihren Einnahmen erlitten, so war ihm das, obgleich sein Erbtheil dadurch geschmälert wurde, ganz erschrecklich gleichgiltig, wenn aber ein Arbeiter seines Vaters durch Alter, Krankheit oder Unglücksfall arbeitsunfähig und mit einer geringen Summe von seinem Chef abgespeist wurde, fühlte Leon ein heftiges Klopfen in der Brust und er ging dann wohl zu der jammernden Familie hin, tröstete, bedauerte und ließ unvermerkt eine Börse, gefüllt mit blanken Goldstücken, zurück.
Ja, Leon war ein »guter Junge«.
Einer wußte dies besser, als alle andern, nämlich sein Onkel, der Staatsanwalt Haupois in Rouen, bei dem Leon jedes Jahr einige Wochen zuzubringen pflegte. In dem Hause dieses kunstsinnigen, feingebildeten, wenn auch durchaus nicht ökonomisch talentirten Mannes verweilte Leon um so lieber, da er mit seiner schönen Cousine Madeleine, die einige Jahre weniger als er zählte, auf dem allerbesten und vertrautesten Fuße stand. Der Onkel war fortwährend in Geldverlegenheit, war aber trotzdem ein ehrenwerther Mann, ehrenwerth bisweilen bis zur Halsstarrigkeit. So z. B. stürzte er sich lieber in neue Schulden, um alte zu bezahlen, anstatt dem Rathe seines kaufmännischen Bruders zu folgen, welcher sich erbot, in seinem Namen mit den Gläubigern auf der Basis eines Akkords von 50 pZt. tabula rasa zu machen. Dies kaufmännische Verfahren war dem Staatsanwalte so zuwider, daß er sich sogar mit seinem Bruder deshalb erzürnte. Doch diese Ehrenhaftigkeit rettete ihn nicht vor dem Verderben, er vermochte sich nicht einzuschränken. Als die Erziehung der lieblichen, schönen und geistvollen Madeleine beendet war und sie das heirathsfähige Alter erreicht hatte, traf den alten Herrn ein harter Schlag. Der Rest seines Vermögens ging bei dem Bankerott eines Geschäftshauses verloren, die Gläubiger bedrängten ihn mehr und mehr und ein körperliches Leiden stellte sich plötzlich bei ihm ein, welches mit völliger Erblindung zu enden drohte.
Haupois, der Staatsanwalt, wollte dieses Ende nicht abwarten und sich selbst und seine Tochter in Schande und Elend bringen; eines Tages verunglückte er im Seebade Aubin sur Mer, weil er auf einer kleinen Düneninsel von der rückkehrenden Flut überrascht wurde. Nur Leon wußte, daß hier ein Selbstmord vorlag. Einige Stunden vor der Katastrophe hatte er einen Brief seines Onkels bekommen, in welchem ihm dieser seinen Entschluß und die Gründe zu demselben kund gab und seine arme Tochter Madeleine dem Schutze seines Neffen aufs Angelegentlichste empfahl. Er schrieb, daß seine Tochter elend werden müsse, wenn er weiter lebe, sein Tod würde sie von einer Last befreien und ihr ein Recht auf die Güte ihrer Verwandten verleihen. Nach Empfang des Briefes war Leon sofort aus Paris über Caen nach Aubin sur Mer gereist, aber er kam zu spät. Es blieb ihm nichts weiter zu thun, als die unglückliche Madeleine zu trösten, ihr ein treuer Beistand in der fremden Gegend zu sein und sie nach Paris in das Haus seiner Eltern zurückzuführen. Die schrecklichen Stunden, die unglückseligen Tage in Aubin, während welcher Nachforschungen nach dem Leichname des Onkels angestellt wurden, brachten die beiden jungen Leute einander noch näher, als sie sich schon waren. Madeleine sah in Leon einen zärtlichen Verwandten, einen Wohlthäter und alsbald ein Wesen, das ihrem trauernden Herzen allein einen freudigen Trost bringen konnte, und Leon? Liebte er sie wieder oder erhöhte nur das Mitleid jene Sympathie, welche er ihr schon seit langen Jahren entgegengetragen hatte?
Wenn man den Menschen nur nach seinen äußerlichen Thaten und Handlungen, deren Motive oft momentanen Stimmungen entspringen, beurtheilen will, so müssen wir annehmen, daß Leon liebte. Als er seine Cousine ins elterliche Haus eingeführt hatte und die Eltern das ihrer Pflege empfohlene Geschwisterkind freundlich empfangen hatten, besann Leon sich nur einige Tage. Dann trat er vor seine Mutter und seinen Vater und begehrte Madeleinens Hand.
Der alte Haupois sah seinen Sohn mit einem langen erstaunten Blick an und brach endlich in die wenigen, aber durchaus seine Meinung kennzeichnenden Worte aus:
»Ich glaube, Leon, du bist ein Narr!«
Frau Haupois-Daguillon konnte in diesem Augenblick als ein starres Standbild der Verwunderung gelten. Sie hatte zuerst keine Worte, dann ging sie gemessenen Schrittes auf ihren Sohn zu und sagte:
»Das ist dein erstes und letztes Wort in dieser Angelegenheit gewesen. Ich, deine Mutter, befehle es dir.«
Leon hatte wohl geahnt, daß seine Werbung nicht ganz ohne Hindernisse aufgenommen werden würde, aber einen so energischen Widerstand hatte er nicht erwartet. Er ermannte sich trotz des Verbotes seiner Mutter zu einem neuen Sturmangriff.
»Lieber Vater,« begann er, »ich kenne den Grund deiner Weigerung, mir Madeleines Hand zu geben, nicht, muthmaße aber, daß die Armuth meiner Geliebten dich und meine Mutter so sprechen läßt.«
»Du hast es errathen,« antwortete Herr Haupois kühl und Frau Haupois-Daguillon nickte energisch mit dem Kopfe.
»Es kann nicht deine Absicht sein,« fuhr Leon fort, »Madeleine stets im Hause zu behalten oder sie wie eine arme überflüssige Verwandte an einen eben so armen anspruchslosen Mann zu verheirathen.«
»Sei unbesorgt. Es wird unsere Sorge sein, Madeleine gut und an einen braven vermöglichen Mann zu verheirathen. Ich werde ihr niemals eine anständige Mitgift verweigern.«
»Ich weiß, du wirst deine Nichte wie ein eigenes Kind betrachten und der Mann, welcher sie heirathen wird, wird keine arme Frau bekommen, also könnt ihr nicht sagen, daß ich gewillt bin ein Mädchen ohne Geld zu meiner Gattin zu machen.«
Herr Haupois und Frau Haupois-Daguillon lächelten, sie hielten den Sophismus ihres Sohnes für einen geistreichen Scherz und zuckten die Achseln. Einige Tage hindurch wurde im Hause kein Wort über die Heirathsidee Leons gesprochen. Aber als Leon am dritten Tage auf dieselbe zurückkam, erwiderte Haupois senior die Frage mit einem Ultimatum, welches den Fragenden niederschmetterte:
»Mein Sohn, deine Mutter und ich haben überlegt, was in diesem merkwürdigen Falle das Beste sei. An eine Heirath mit Madeleine ist nicht zu denken; nach einem halben Jahre, wenn dein Mitleid anderen Gefühlen Platz gemacht hat, wirst du uns für unsere Weigerung dankbar sein. Aber wir halten es nicht für passend, daß ihr ferner unter einem Dache, ja in derselben Stadt mit einander lebt. Entweder du mußt Paris verlassen oder Madeleine. Es bietet sich für dich eine Gelegenheit, unserem Geschäfte in Madrid nützlich zu sein. Ueberlege dir, ob du dorthin abreisen willst oder ob wir Madeleine zu entfernten Verwandten in der Normandie schicken sollen. Entscheide dich und sage mir morgen Bescheid.«
Alle Gegenreden Leons fruchteten nichts und er mußte sich dazu bequemen, das Ultimatum seines Vaters in Ueberlegung zu ziehen. Die vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit waren fast verflossen, als er in das Zimmer seiner Cousine trat.
»Madeleine,« sagte er und suchte zu lächeln, »ich reise.«
»Du reist?« sagte sie und schlug die blauen Augen auf, die noch von Thränen feucht waren, die sie ihrem Vater täglich nachweinte.
»Ja, ich reise nach – Spanien.«
Das Mädchen schwieg und blickte erstaunt zu Leon auf.
»Es werden Monate darüber hingehen, ehe ich wiederkehre.«
»Und wann wirst du abreisen?«
»Heute, ich komme um Abschied zu nehmen und noch eine Frage an dich zu richten.«
»O,« erwiderte Madeleine, und versuchte zu lächeln, »verlangst du von mir einen Rath?«
»Willst du meiner gedenken?« fuhr Leon fort, ohne sich irre zu machen. »Ich reise, aber ich kehre wieder und mein größtes Glück wird es sein, dich wiederzusehen als die wahre Tochter meiner Eltern. O Madeleine, ich reise, nicht des Geschäfts wegen, nicht zum Vergnügen, ich reise, weil ich gezwungen werde von meinen Eltern.«
»Von deinen guten Eltern?«
»Ja, Madeleine, ein Etwas in meiner Seele sagt mir, daß die süßeste Hoffnung, welche ich hege, auch erfüllt werden wird. Man schickt mich weg, Madeleine, aber ich würde nicht gehen, wenn sie nicht versprochen hätten, dich bei sich zu behalten, dir den Vater zu ersetzen.«
In Madeleine dämmerte die Ahnung der Wahrheit auf. Bis jetzt hatte Leon ihr seine Liebe noch nicht gestanden und ihr selbst wäre eine solche Erklärung überraschend gekommen, denn das liebende Mädchen versteht sein eigenes pochendes Herz noch nicht, wenn Gott Amors Pfeil es erst getroffen. Aber nun verstand sie es, sie wußte, Leon liebte sie, sie ihn und ihretwegen ging er fort. Sie senkte ihr Antlitz, das schamhaft erröthete, und wandte sich ab.
»Du wirst mich nicht vergessen und, wenn ich Wiederkehre, wenn ich mündig geworden, dann –«
»O still, still!« rief Madeleine. »Gehorche dem Willen deiner Eltern, wie ich es thue. Ich will sie lieben und in Ehren halten, als wenn es die meinigen wären. Lebe wohl, lebe wohl!«
Mit diesen Worten eilte sie aus der Thüre. Es schnitt in ihre Seele das Bewußtsein ein, eine arme verlassene Waise zu sein, die fortan dem Willen fremder Menschen zu gehorchen hatte, aber zum Himmel empor hätte sie jauchzen mögen, wenn sie der letzten Worte Leons gedachte.
Leon reiste wirklich am selbigen Tage ab, nachdem er vergeblich noch einmal seine Cousine hatte sehen wollen. Sie suchte ihm auszuweichen. Auf der Eisenbahnfahrt nach Bordeaux, als er einsam im Coupé saß, rief er das Bild seiner Geliebten vor seine Seele und fragte die blinkenden Sterne am Himmel, ob sie ihn wieder liebe. Konnte er zweifeln? Er glaubte, er hoffte …
Drei Wochen nach seiner Abreise saß er in Madrid auf seinem Zimmer und betrachtete ein kleines Medaillon mit dem Bilde seiner Cousine, welches sie ihm einst geschenkt hatte; da klopfte es und der Diener überreichte ihm einen Brief. Die Adresse trug die Handschrift Madeleinens. Er erbrach den Umschlag und las die wenigen Zeilen mit Hast und Bestürzung.
»Lieber Leon!
Ich habe mein Versprechen nicht gehalten, ich habe das Haus deiner Eltern verlassen. Forsche nicht nach den Gründen und forsche nicht nach mir selbst. Ich bringe es nicht übers Herz, dich und deine Eltern unglücklich zu machen und Gott hat mir außerdem eine Pflicht auferlegt, die ich nicht unerfüllt lassen darf. Lebewohl, Gott schütze dich, die Segnungen des Himmels und das Glück der Erde rufe ich auf dein Haupt herab.
Madeleine.«
Kaum hatte Leon den Sinn dieser Zeilen verstanden, so war auch sein Entschluß gefaßt. Schon am Abend desselben Tages befand er sich auf der Reise und traf zwei Tage später in Paris ein.
Seine erste Frage an den Vater war:
»Wo ist Madeleine?«
Herr Haupois schüttelte den Kopf.
»Ihr habt sie weggejagt.«
»Sie war eine Undankbare«
»Eine Undankbare,« brauste der junge Mann auf. »Ich ahne, welch ein Geschenk du und meine Mutter ihr bescheeren wolltet. Ihr wolltet sie zwingen, sich zu verheirathen.«
»Mein Kind,« sagte Frau Haupois-Daguillon, erstaunt über die große Erregung ihres Sohnes, »wir wollen niemandem außer dir ein Glück aufzwingen. Es ist wahr, wir hofften, Madeleine würde an Herrn Saffroy, unserm ersten Commis, Gefallen finden und redeten ihr zu. Anstatt zu antworten, entfloh sie heimlich.«
Leon wandte sich ab, um seinen eigenen Eltern das bittere Lächeln der Verachtung nicht zu zeigen, das um seine Lippen spielte.
»Und wo ist sie?« fragte er im leisen knirschenden Tone.
»Wo? Niemand weiß es. Wir haben unter der Hand und durch die Polizei Nachforschungen anstellen lassen. Sie ist und bleibt verschwunden.«
Leon fiel in einen Sessel und bedeckte sein Antlitz mit den Händen. So saß er eine lange Weile, dann erhob er sich und eilte ohne seine Eltern zu grüßen hinaus. In den nächsten acht Tagen sah man Leon häufig auf den Polizeibüreaux und Hunderten von geschickten Detektives zahlte er Geld und Banknoten soviel sie forderten. In alle Richtungen sandte er Boten und Briefe, die Madeleine suchen und auffinden sollten. Aber vergebens.
Eines Tages saß Leon verzweifelnd im Kaffeehause, als ein fürchterlicher Gedanke wie ein Blick in seine Seele fiel.
Wenn Madeleine nicht aufzufinden ist, weilt sie denn noch unter den Lebenden?
Um sich diesen trüben Gedanken zu entreißen, ergriff der junge Mann ein vor ihm liegendes Journal. Zufällig fiel sein Blick auf die Rubrik der Unglücks- und Todesfälle. Die Zeilen begannen vor seinen Augen zu flimmern, als er las, daß ein junges Mädchen tobt aus der Seine gezogen worden sei. Die Beschreibung der Leiche konnte auf seine Cousine passen …
Er stürzte fort. Ein Fiaker brachte ihn in einer Viertelstunde nach der Morgue, dem letzten Ruheplatze aller Verunglückten. Er trat in die Halle … dort lag die Leiche des Mädchens … Ein Blick, und ein tiefer Seufzer der Erleichterung entschlüpfte Leon. Nein, sie war es nicht.
Als er sich zum Weggehen umwandte, blickte er plötzlich in das bleiche Gesicht seines Vaters.
»Sie ist es nicht,« rief Leon aus und bemerkte die freudige Enttäuschung seines Vaters. Zum ersten Male seit vier Tagen sprach er wieder ein Wort zu seinem Vater und reichte ihm seine Hand.
»Verzeihe, mein Vater,« flüsterte er. »Ich hatte dich und die Mutter in einem schrecklichen Verdacht.«
Gemeinsam gingen die beiden Herren nach Hause. Fortan wurde kein Wort wieder über Madeleine gesprochen, nur in Leons Gedanken lebte sie noch. Ach wie oft wiederholte er sich: Sie hat dich nicht geliebt, sie hat dich nicht geliebt.