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»Nun?« fragte Frau Adeline, sobald ihr Gatte in das Comptoir, wo sie mit Bertha allein wartete, zurückkam.
»Sie widersetzt sich.«
»Siehst du!« riefen die Mutter und die Tochter aus.
»Habt ihr denn gedacht, daß sie beim ersten Wort nachgeben werde?«
Gewiß nicht, das hatten sie nicht gedacht.
»Sie muß sich an diesen Gedanken gewöhnen,« fuhr Adeline fort, »wir werden den Angriff erneuern, ich von meiner Seite, du von der deinen, Hortense, auch du, Bertha, und um nichts zu versäumen, will ich noch heute abend zum Herrn Abbé Garut gehen und ihn bitten, uns beizustehen; ich denke, daß er uns seinen Beistand nicht wohl versagen kann.«
»Bist du dessen gewiß?« fragte Frau Adeline.
»Es kommt auf den Versuch an. Inzwischen will ich Michel durch ein paar Zeilen wissen lassen, daß er morgen mit uns zu Mittag speist. Das soll seine offizielle Einführung ins Haus als Bräutigam sein, und ich glaube, daß dies einen gewissen Eindruck auf Mama machen wird. Wenn sie den Beweis vor Augen sieht, daß ihr Widerstand nichts hilft, wird sie begreifen, daß es überflüssig ist, auf ihrer Weigerung zu bestehen, die keinen andern Zweck hat, als uns alle unglücklich zu machen, sie und uns. Und dann ist es gut, wenn sie Michel näher kennen lernt; er ist ein entzückender Mensch und bringt es schon fertig, das Herz der Großmama zu erobern, wie er das der Enkelin erobert hat.«
Bertha umarmte ihren Vater und hing sich vielleicht etwas länger, als es für einen einfachen Kuß nötig gewesen wäre, an ihn.
»Wir haben vierzehn Tage vor uns,« sagte Adeline, »laßt sie uns gut anwenden. Mit der Mama vor allem müßt ihr sein, wie gewöhnlich, und ihr dürft euch nicht den Anschein geben, als wolltet ihr sie durch allzu große Unterwürfigkeit herumbringen, doch dürft ihr sie auch nicht durch Kälte abstoßen.«
Aber die Mama war es, die ihr gewöhnliches Benehmen änderte, als ihr Sohn ihr am folgenden Tage mitteilte, daß Michel Debs abends mit ihnen speisen werde.
»Ein Jude an unserm Tische!« schrie sie in unwillkürlicher Ueberraschung und Entrüstung.
Aber sofort zwang sie sich zur Ruhe: »Du bist Herr im Hause,« sagte sie.
»Jeder von uns thut, was er für recht hält, ich, um meine Tochter nicht verzweifeln zu lassen, du, um dein Gewissen nicht zu belasten.«
Adeline war nicht ohne Besorgnis, als er daran dachte, wie diese Mahlzeit vorbeigehen und was für einen Empfang die Mama Michel bereiten werde. Sie mußte fühlen, daß er wirklich der Herr im Hause sei, wie sie sagte, und zur Ueberzeugung kommen, daß sie mit ihrem Widerstand die Heirat der Enkelin nicht verhindern werde; wenn ihr dies beides klar zum Bewußtsein kam, dann war es wahrscheinlich, daß sie auf ihrer Weigerung, deren Zwecklosigkeit sie selbst einsah, nicht weiter bestehen werde.
Aber seine Befürchtungen gingen nicht in Erfüllung. Wenn auch die Mama Michel nicht wie einen Freund und noch weniger wie einen Enkel empfing, so behandelte sie ihn wenigstens nicht schlecht. Wenn er das Wort an sie richtete, gab sie ihm Antwort, und zwar ohne schlechte Laune zu verraten, gleich als wenn er ein ihr unbekannter oder gleichgültiger Mensch wäre, den sie niemals Wiedersehen werde. Als nach dem Essen Michel, der eine sehr hübsche Tenorstimme hatte, mit Bertha das Duett aus Faust:
»Laß mich schauen noch einmal in dein liebes Antlitz«
sang, verließ sie das Zimmer nicht, und das einzige Zeichen von Unzufriedenheit, das sie sich merken ließ, war, daß sie zu ihrer Schwiegertochter sagte: »Wenn ich eine Tochter gehabt hätte, würde ich sie niemals derartige Leichtfertigkeiten mit einem jungen Manne haben singen lassen.«
Frau Adeline gedachte in gleichem Sinne zu wirken, wie ihr Gatte, und sagte: »Wenn dieser junge Mann der Bräutigam ist?«
Die Mama war sprachlos.
Nachdem Michel weggegangen war und die Mama sich in ihr Zimmer begeben hatte, berieten sich Adeline, Frau Adeline und Bertha über das Ereignis.
»Ihr seht!« sagte Adeline.
»Ich habe gezittert, solange das Essen dauerte,« sagte Frau Adeline.
»Und ich erst!« murmelte Bertha.
»Der erste Schritt ist gethan,« sagte Adeline zum Schlüsse; »wir dürfen morgen und übermorgen ruhig so fortfahren; wir wollen nur daran denken, nur damit uns beschäftigen; Mama hat uns zu lieb, als daß sie nicht nachgeben sollte. Und du, meine kleine Bertha, wirst ihr um so viel größeren Dank schulden, je schmerzlicher das Opfer ist, das sie uns bringt.«
Aber am folgenden Tage konnte er sich nicht seinem Wunsche entsprechend mit der Heirat seiner Tochter beschäftigen.
Er hatte in der Rue Tronchet den Auftrag gegeben, ihm seine Briefe nach Elbeuf nachzusenden. Als er sie erhielt, fand er unter den Briefen und Zeitungen ein großes versiegeltes Couvert mit dem Vermerke »persönlich«. Sein Inhalt schien ziemlich schwer; er öffnete es zuallererst und zog drei Zeitungen daraus hervor. Er wollte sie schon weglegen und nach andern Briefen greifen, als seine Augen durch eine mit roter Tinte geschriebene Notiz gefesselt wurden: »Siehe Seite 3«. Er suchte sofort diese Seite und fand das, was er lesen sollte, mit Rotstift angestrichen:
»Wie bekannt, hat der Abgeordnete Adeline als Präsident eines Klubs, in dem seit mehreren Monaten sehr hoch gespielt wird, seine Demission gegeben.
»Warum?
»Wir werden versuchen, es festzustellen.
»Wenn es uns gelingt, werden wir es unsern Lesern mitteilen.
»Wenn unsre Leser es wissen, bitten wir, es uns mitzuteilen.
»Dadurch, daß man das, was Aergernis erregt, veröffentlicht, verhütet man, daß es sich wiederholt. Wir werden nicht ermangeln, unsre Pflicht zu thun, die schon unser Titel uns auferlegt.«
Adeline drehte das Blatt um, um nach dem Titel zu sehen: »Franz I.« und in fetter Schrift darunter das berühmte Wort: »Alles ist verloren, nur die Ehre nicht«.
Diese erste Zeitung besagte zu viel, als daß er sich nicht beeilt hätte, nach der zweiten zu greifen.
»Der Rächer der Bedrängten«.
»Neueste Nachrichten aus Griechenland. In Epirus scheint Anarchie zu herrschen. Diese Provinz, wo die Griechen Falschspieler. so gute Geschäfte machten, wurde bekanntlich von dem Abgeordneten Adeline, dem ausgezeichneten Elbeufer Redner verwaltet. Dieser hat sich soeben nach seiner düstern Fabrik in seinen Wigwam zurückgezogen und man sieht seine gewandten Finger nicht mehr über den grünen Teppich gleiten. Man fragt sich, welche Folgen dieser verhängnisvolle Zornausbruch, der so viele unglückliche Heldenseelen in den Hades zu befördern droht, haben werde.«
Die dritte Zeitung hatte den Titel: »Der ehrliche Mann«. Der mit roter Tinte gezogene Strich befand sich zu oberst auf der ersten Seite.
»Unter dem Titel: ›Eine Spielhölle‹ werden wir demnächst eine bemerkenswerte Studie über das Spiel in Paris beginnen, die aus dem Leben und der Gegenwart geschöpft und mit getreuen Porträts bekannter Persönlichkeiten versehen ist.
»Sie wird nachweisen, wie die Klubs, die nichts als finanzielle Unternehmungen sind, ins Leben gerufen werden, wie es darin zugeht und welche Folgen sie für den allgemeinen Vermögensverfall haben.
»Von welchem Interesse diese Studie ist, ergibt sich schon aus den Ueberschriften der einzelnen Kapitel:
»Erstes Kapitel. – Halbwelt und Edelleute als Verbündete.
»Zweites Kapitel. – Wo man einen Präsidenten findet, der in der Lage ist, die Erlaubnis zur Eröffnung eines neuen Klubs zu erlangen.
»Drittes Kapitel. – Spiel und Spieler; Betrügereien der Falschspieler und der Croupiers; die Hilfsquellen der Spielkasse.
»Viertes Kapitel. – Die Sequenzen zu jedermanns Gebrauche.
»Fünftes Kapitel. – Fresser und Gefressene.«
Adeline war vernichtet. Ueber den Zweck der Einsendung dieser Zeitung konnte kein Zweifel bestehen: Man wollte ihn einschüchtern, Geld von ihm erpressen, ihn »fressen«.
Er las die Zeitungen im Comptoir in Gegenwart seiner Frau, und als diese sah, wie die Lektüre ihn aufregte, fragte sie ihn, was er habe und ob irgend eine böse Neuigkeit in den Zeitungen stünde.
Konnte er offen antworten und seiner Frau den ganzen Sachverhalt eingestehen? Die Scham verschloß ihm den Mund. Was könnte sie ihm auch helfen? Nichts. Sie würde sich über ihre Ohnmacht höchstens Sorgen machen.
»Neue Schmähungen gegen die Kammer, ja,« sagte er, »aber nichts, was uns betrifft. Die Zeitungen beschäftigen sich, Gott sei Dank, nicht mit meinen Angelegenheiten.«
Er steckte die Zeitungen in seine Tasche. Darauf sah er den weiteren Posteinlauf durch, aber ohne zu wissen, was er las. Als er damit, so gut es gehen wollte, zu Ende gekommen war, erhob er sich und ging hinaus. Er mußte überlegen und mit sich zu Rate gehen, vor allem hatte er das Bedürfnis, sich den Blicken seiner Frau zu entziehen.
Mechanisch war er der Rue Saint Etienne gefolgt und hatte dann, anstatt geradeaus zu gehen, sich links gewendet und die alte Rue Saint Auct eingeschlagen, die steil ansteigend in Schlangenwindungen zu dem Hügel sich hinauszieht, auf dessen Scheitel der Wald von la Londe beginnt. Er schritt langsam, vornübergebeugt, gesenkten Hauptes dahin, wie es ihn an dieser selben Anhöhe, als er noch ein Kind war, sein Vater gelehrt hatte, um nicht allzu rasch außer Atem zu kommen. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, kehrte sich um und betrachtete Atem holend die Stadt zu seinen Füßen. Dann stieg er wieder weiter, sein Nachsinnen durch die Grüße unterbrechend, welche er den vor ihren Thüren sitzenden Weibern und den Buben spenden mußte, die stolz darauf, ihren Abgeordneten anzureden, ihm schreiend nachliefen: »Guten Tag, Herr Adeline, guten Tag, Herr Adeline!«
Er gelangte zur Eiche der heiligen Jungfrau, dem Aussichtspunkte des Plateaus, und setzte sich, von niemand mehr belästigt, nieder. Laut wiederholte er das Wort, das er sich, seit er unterwegs war, leise vorgesagt: »Was thun?«
Sollte er den Angriff unbeachtet lassen? Sollte er darauf antworten?
Aber so war die Frage nicht richtig gestellt. Es handelte sich in der That nicht darum, ob er jene Angriffe mit Verachtung strafen und unbeantwortet lassen konnte, sondern vielmehr darum, die Mittel zur Abwehr gegen dieselben zu finden. Denn wenn er auch so that, als ob es ihn nichts angehe, würden diejenigen, welche diesen Feldzug in den Zeitungen begonnen, es doch dabei nicht lassen; die Inhaltsangabe der Studie über das Spiel bestätigte es: »Fresser und Gefressene,« sie würden über ihn herfallen – wie sie abwehren?
Und er hatte glauben können, daß, weil er Paris den Rücken gekehrt und nach Elbeuf gegangen war, er bei den Seinigen Vergessenheit und Ruhe finden werde!
Sollte er denn nun ein Gegenstand der Mißachtung für diese Stadt sein, die sich unter ihm ausbreitete und wo bis zum heutigen Tage sein Name nur mit Achtung genannt worden war? Wenn er in einigen Tagen wiederum hier heraufstieg, würde bei seinem Vorbeigehen sich niemand mehr erheben, man würde den Kopf abwenden und die ihm nachlaufenden Gassenbuben würden gewiß nicht mehr schreien: »Guten Tag, Herr Adeline.« Und wie mit einem Nebel vor den Augen, mit zusammengekrampftem Herzen, überreizten Nerven und unruhigem Geiste blickte er auf dieses Panorama, das er niemals ohne ein Gefühl von Stolz – Stolz auf sein Vaterland, wie er auf sich selber stolz war – betrachtet hatte: die Stadt mit ihrem Häusergewirre, ihren zahllosen Fabriken und Schornsteinen, die schwarze Rauchwolken emporwirbelten, mit ihrem gedämpften, wie von einem Bienenstock ausgehenden Summen, dem Getöse der Maschinen, das bis zu ihm heraufdrang, und in der Ferne, bis zum blauen Horizonte sich hinstreckend, die von der Seine in weitem Bogen umfaßte und von dunkeln Wäldern grün umrahmte Ebene.
Hier verweilte er lange, bald hinausblickend in die Umgebung, bald bei sich selber Einkehr haltend. Da stieg vor ihm nach und nach seine ganze Vergangenheit empor; je süßer sie gewesen, um so bitterer war diese Stunde der Prüfung. Indem er mit seinen Augen die Vergrößerung der Stadt verfolgte, gedachte er, wie er selbst von Jahr zu Jahr mehr herangewachsen war. Wie er, hatte auch sie eine Krisis durchgemacht, und man war versucht gewesen zu glauben, daß sie Schiffbruch leiden werde. Aber sie schien sich wieder empor zu ringen und ihren Kurs zu halten, während er widerstandslos, ohne daß Hilfe möglich war, einer Katastrophe zutrieb, die ihn vernichten mußte.
Denn er konnte sich ebensowenig verteidigen als auf Unterhandlungen einlassen.
Um sich zu verteidigen, mußte er mit dem Geständnisse beginnen, daß er unbewußt mit präparierten Karten gespielt habe, von Leuten präpariert, die ihn ins Unglück stürzen wollten, und die näheren Erklärungen dazu konnte er erst nachher geben. Das Geständnis würde für die Welt das Wesentliche sein, die Erklärungen – wer würde darauf hören?
Wenn er Zugeständnisse machte, wenn er ein einziges Mal den »Fressern« gab, was sie verlangten, würde er dann nicht fortwährend nachgeben müssen, solange diejenigen, die ihn auszubeuten trachteten, noch etwas bei ihm zu holen wüßten?
Er las abermals die Zeitungen, und immer klarer sah er, wie er mit Netzen rings umstellt wurde. Das war erst die Vorbereitung, aber wie drohend kündigte sie sich an! Damit sie seiner Frau nicht in die Hände fielen, zerriß er die Blätter in kleine Stücke, die er dem Winde preisgab. Ein Wirbelwind aus Westen trug sie gegen die Stadt zu. Da überrieselte ihn ein Schauder, als wäre jeder Fetzen eine vollständige Zeitung, die Elbeuf lesen werde.
Als er nach Hause zurückkam, sagte ihm seine Frau, daß jemand nach ihm gefragt habe, jemand, der kein Käufer sei, und wiederkommen wolle.
Niemals hatte er sich wegen der Leute, die mit ihm zu thun hatten, beunruhigt; er würde schon sehen. Aber die Zeiten waren vorüber, wo er sich ruhig sagen konnte, er werde schon sehen; – er fürchtete sich, »zu sehen«.