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Neununddreißigstes Kapitel

»Dieb!«

Während Adeline die Avenue de l'Opéra hinunterging, um in die Rue Tronchet zu gelangen, wiederholte er sich fort und fort dies Wort. Er strich unsichern Schrittes die Häuser entlang, den Hut tief in die Stirne gedrückt, und wagte nicht die Augen zu erheben, aus Furcht, man möchte ihn erkennen und ihm das Wort, das er sich wiederholte, entgegenschleudern: »Dieb!«

Warum ging er nach Hause? Er wußte es nicht. Um sich zu verbergen; weil er das Bedürfnis hatte, allein zu sein; damit man ihn nicht sah; damit man ihn nicht anredete.

Wußte nicht alle Welt, daß er ein Dieb sei? Die Anspielung jenes Spielers auf die »Folge« bewies es klar, und durch den Umstand allein schon, daß er nicht sofort dagegen Verwahrung eingelegt, hatte er sich sein Urteil gesprochen, genau wie dieser Salzmann, der bei jener Beleidigung so jämmerlich den Nacken gebeugt hatte.

Wie darthun, daß er nicht Mitschuldiger, sondern selbst das Opfer jener Betrüger war? Wo würde er jemand selbst unter denen, die ihn kannten, selbst unter seinen Freunden finden, der einer so unwahrscheinlichen Rechtfertigung Glauben schenkte? Wer würde jetzt seine Bekanntschaft suchen oder vielmehr noch aufrecht erhalten? Wer würde den Mut haben, nach wie vor sein Freund zu bleiben?

Zu Hause angekommen, ließ er sich, ohne Licht anzuzünden, in einen Sessel fallen, in welchem er wie vernichtet liegen blieb. Eine Thränenflut brach aus seinen Augen; wie ein Kind, das eben seine Mutter verloren hat, wie ein Liebhaber von zwanzig Jahren, den seine Geliebte verlassen hat, so weinte er zum Erbarmen, voll Verzweiflung, haltlos. Sein Stolz, seine Würde, seine Ehre waren unwiederbringlich verloren, wie die Würde, die Ehre der Seinigen; seine Tochter, die Tochter eines Betrügers!

Diese Anwandlung von Schwäche und Kopflosigkeit dauerte nicht lange; er schämte sich seiner Verzagtheit. Nicht dadurch, daß er seinem Schmerz nachhing, war sein Fehler wieder gut zu machen, wenn er überhaupt wieder gut gemacht werden konnte.

Er hatte siebenundachtzigtausend Franken gewonnen, gestohlen. Vor allem mußte er sie denen zurückerstatten, die er gerupft hatte; nachher wollte er sich gegen die, die ihn anschuldigten, verteidigen.

Aber sofort stieß er auf eine Schwierigkeit. Wo sollte er die finden, wo sie suchen, welche jene siebenundachtzigtausend Franken verloren hatten? Dreißig, vierzig, vielleicht fünfzig Personen hatten bei jener Bank gegen ihn gespielt. Wer waren sie? Und mit Ausnahme von fünf oder sechs, die er sich gemerkt hatte, kannte er weder die Namen, noch erinnerte er sich des Aussehens der andern; – Spieler, die er in seiner Aufregung nicht einmal betrachtet, und die er wie durch einen Nebel kaum gesehen hatte. An einige Gesichter erinnerte er sich wohl, an Augen, die sich auf ihn geheftet hatten, als er die Neuner abzog, an bestürzte, krampfhaft verzerrte Gesichter, als er die großen Spiele gewann; aber all das ging ihm wirr im Kopfe durcheinander. Wer hatte die großen, wer die kleinen Spiele verloren? Wem war er zehntausend Franken, wem zwei Louis schuldig?

Eins nur stand fest – er schuldete siebenundachtzigtausend Franken.

Aber an wen sie bezahlen?

Wenn der »Grand J« der Klub gewesen wäre, den er zu gründen glaubte, hätte die Möglichkeit bestanden, jene Leute wieder aufzufinden; er hätte nur gegen Klubmitglieder, d. h. gegen bekannte Personen gespielt. Aber wie viele Unbekannte hatte er kommen und gehen sehen, Leute, die sich einmal, zweimal, acht Tage lang gezeigt hatten und dann auf Nimmerwiedersehen verschwanden! Ohne Zweifel gehörten die, die er gerupft hatte, zu jenen Passanten.

Und doch mußte er ihnen das abgewonnene Geld zurückerstatten.

Allein wie?

Wie er diese Frage aber auch hin und her erwog, er fand keine Antwort darauf.

Unter jenen Spielern befanden sich, das war ganz sicher, Fremde, die Frankreich schon wieder verlassen hatten; wo sie suchen? In Rußland, in Amerika? Das war unmöglich. Und wie sollte er die, die noch in Paris waren, benachrichtigen? Er konnte doch keine Bekanntmachungen in den Zeitungen erlassen, in welchen diejenigen Personen, die gegen ihn gespielt hatten, aufgefordert wurden, sich Rue Tronchet einzufinden, wo er ihnen sofort die verlorenen Beträge zurückerstatten würde. Wie viele würden sich einstellen (und das würden nicht die Bescheidensten sein), die überhaupt nichts verloren hatten? Wie viele Millionen würde man nicht für die siebenundachtzigtausend Franken, die er zurückzuerstatten bereit war, von ihm verlangen?

Indessen wollte er etwas andres versuchen, und am nächsten Tage, da er nicht mehr in den »Grand J« gehen konnte, Camy aufsuchen und sich mit ihm, so gut es gehen wollte, die Partie ins Gedächtnis rufen; sobald er die Namen seiner Gläubiger kannte, würde er sie aufsuchen und ihnen ihr Geld zurückerstatten. Dieser Gedanke beruhigte ihn etwas; wenn auch seine Ehre verloren war, würde wenigstens sein Gewissen von dem dasselbe zermalmenden Drucke befreit sein.

Aber als er in der Stille der Nacht und beim anbrechenden Morgen diesem Gedanken, der ihm zuerst ausführbar geschienen, näher trat, sah er dessen Ungereimtheit ein. Was für einen Grund sollte er angeben, um diese Zurückerstattung zu erklären? Den wahren? Das brächte er nicht fertig; beim ersten Worte würde er vor Scham ersticken. Vielleicht hätte ein festerer und ehrenwerterer Charakter als er dieses Sühnopfer bringen können, aber er fühlte sich dazu unfähig; nie würde er die Kraft finden, sich einer solchen Erniedrigung auszusetzen.

Diese Idee, das Geld zurückzuerstatten, hatte sich in seinem Kopfe und seinem Herzen so festgesetzt, daß sie ihn nicht mehr losließ; er suchte einen andern Ausweg, dieselbe zu verwirklichen, und nach langem Hangen und Bangen entschloß er sich, jenes Geld dem Direktor der öffentlichen Armenpflege zu bringen. Freilich hieß das nicht, es denen, welchen es gehörte, zurückgeben, aber die Armen würden wenigstens etwas davon haben, und es würde seine Hände nicht mehr besudeln. Vielleicht hätte ein andrer an seiner Stelle etwas Bessres gewußt, aber er war so außer Fassung, daß er das »Für und Wider« seines Entschlusses nicht weise abzuwägen vermochte, und in seiner Lage konnte er niemand um Rat fragen.

Als er aufgestanden war, schrieb er an den Präsidenten der Kammer, um einen vierzehntägigen Urlaub zu erbitten, und sobald die Büreaus geöffnet waren, begab er sich mit dem Reste, den ihm die, die ihn angebettelt, von den siebenundachtzigtausend Franken übrig gelassen hatten, d. h. mit beinahe fünfundachtzigtausend Franken zur öffentlichen Armenpflege.

Alsbald, nachdem er seine Karte abgegeben, empfing ihn der Direktor freundlich, aber mit der klugen Zurückhaltung eines Beamten, dem es bevorsteht, seine Verwaltung gegen das Anliegen eines Abgeordneten verteidigen zu müssen.

»Ich bin beauftragt,« sagte Adeline, indem er seine Mappe öffnete, aus der er acht Päckchen zu je zehntausend Franken hervorholte, »Ihnen eine Summe von vierundachtzigtausend siebenhundert Franken einzuhändigen, die für die Hausarmen verwendet werden sollen; die Person, deren Vermittler ich bin, will nicht genannt sein, sie wünscht nur, daß die Gabe im ›Journal Officiel‹ bekannt gemacht werde.«

Das Benehmen des Direktors änderte sich, seine Zurückhaltung verwandelte sich in herzliche Freundlichkeit, aber Adeline wollte nichts von Dank wissen, er empfahl sich und bestieg im Bahnhof Saint Lazare den Zug. In Elbeuf allein, mitten unter den Seinigen, würde er wieder ausatmen können.

Seitdem er Abgeordneter war, und so oft er diesen Weg machte, hatte er Paris stets mit dem Gefühle der Erleichterung verlassen, als ob die Luft, die er hinter den Befestigungen atmete, reiner, leichter und gesünder sei; aber niemals war ihm dies Gefühl so lebhaft zum Bewußtsein gekommen wie jetzt, als er durch das Waggonfenster in der Ferne den Triumphbogen im dichten Nebel verschwinden sah. Aber anstatt daß er, wie dies gewöhnlich eintrat, diese Erleichterung um so mehr empfand, je weiter er sich von Paris entfernte, war diesmal unglücklicherweise das Gegenteil der Fall; er hatte das Andenken an jene schreckliche Nacht nicht in Paris zurückgelassen, er trug es mit sich herum, und stets aufs neue lastete es mit seiner ganzen Schwere auf seinem Gewissen.

»Dieb!«

Bevor er Paris verließ, hatte er seine Ankunft durch eine Depesche angekündigt. Als er aus dem Waggon stieg, erblickte er Bertha, die ihm ganz allein in einem zweirädrigen englischen Wägelchen, das sie selbst lenkte, entgegengekommen war.

»Du hier!«

»Mama hat mir erlaubt zu kommen.«

Er umarmte sie lange und leidenschaftlich und inniger und erregter als je.

»Geht es dir gut?« fragte sie betroffen.

»Jawohl. Warum fragst du mich das? Sehe ich denn krank aus?«

»Ich finde dich blaß.«

Er mußte für diese Blässe einen Grund angeben.

»Ich bin übermüdet,« sagte er; »um mich zu erholen, will ich zwei Wochen bei euch bleiben, ich habe Urlaub genommen.«

»Welche Freude!«

Und nun küßte sie ihn ihrerseits zärtlich.

Sie stiegen in den Wagen und Bertha faßte die Zügel.

»Willst du mich kutschieren lassen?« sagte sie, »ich hoffe, daß man mich auf dem Rückweg etwas weniger angafft, weil ich nicht mehr allein bin.«

In der That war es für Elbeuf ein Ereignis gewesen, Fräulein Adeline in ihrem Wägelchen ganz allein durch die Stadt fahren zu sehen.

Elbeuf hat zwei Bahnhöfe, einen in der Stadt selbst, den andern, wo die von Paris kommenden Reisenden aussteigen, in ziemlicher Entfernung mitten in einer Ebene; sie mußten also durch diese ganze Ebene von Saint Aubin fahren, d. h. eine gute Strecke Wegs, wo sie ungehindert plaudern konnten.

»Du hast mir eine große Freude gemacht, daß du mich abholtest,« sagte Adeline.

»Ich sehnte mich, dich zu sehen ... und dann wollte ich mit dir sprechen.«

»Was gibt es denn?«

Er wandte den Kopf nach ihr und betrachtete sie. Das lächelnde und glückliche Gesichtchen, das sie ihm eben noch gezeigt, war düster und traurig geworden.

»Ich habe Furcht,« sagte sie.

»Vor Michel?«

»Vor Michel nicht; er ist liebenswürdiger, zärtlicher als je, aber vor Herrn Eck, vor Frau Eck, der Großmama.«

»Was geht denn vor?«

»Ich weiß es nicht. Michel, der mir sagte, daß seine Großmutter sich allmählich besänftige und unsrer Verbindung zuzustimmen geneigt scheine, hat mich gestern mit zwei Worten, die einzigen, die wir austauschen konnten, in Kenntnis gesetzt, daß ein Umschlag eingetreten und daß die alte Frau Eck gegen ihn und mich aufgebracht zu sein scheine.«

Auch Adeline überkam die Furcht. Wußte man schon etwas in Elbeuf? Hatte er seine Tochter mit sich ins Unglück gestürzt?

Bertha fuhr fort: »Ich kann mir nicht vorstellen, inwiefern ich die Frau Eck verletzt und wodurch ich ihr Veranlassung gegeben habe, in ihrem Wohlwollen für mich nachzulassen. Was Michel betrifft, so hat er nichts gethan, was das Mißfallen seiner Großmutter erregen könnte, das ist ganz sicher.«

»Ohne Zweifel ist sie weder gegen dich noch gegen ihren Enkel aufgebracht.«

»Gegen wen ist sie es denn?«

»Gegen mich.«

»Warum sollte sie es gegen dich sein?«

Warum sie es sein sollte? Er konnte auf diese Frage keine Antwort geben; er wagte dieselbe nicht einmal zu untersuchen.

»Wegen unsrer mißlichen Lage.«

»Ich habe wohl daran gedacht und habe Mama befragt, worauf sie mir sagte, daß die Geschäfte dieses Jahr besser gingen als im vergangenen Jahre. Frau Eck muß das wissen.«

»Vielleicht weiß sie es nicht.«

»In dieser Beziehung kannst du ruhig sein. Michel hat sie gewiß darüber aufgeklärt.«

»Nun, was soll ich dir dann antworten?«

»Nichts, ich teile dir bloß mit, was vorgeht.«

Er wollte sie und sich selbst beruhigen.

»Vielleicht hat deine Großmutter etwas gesagt, was der Frau Eck hinterbracht worden ist.«

»Ich glaube nicht. Für Großmama bin ich nicht mehr als eine Tote oder ein Wickelkind, ich existiere für sie nicht mehr, sie spricht niemals von mir.«

Was sie da sagte, wußte Adeline so gut wie sie, er mußte daher darauf verzichten, eine Erklärung zu geben.

Sie kamen an die Brücke, und vor ihnen auf dem andern Ufer lag Elbeuf mit seinem Häusergewirre und seinen unzähligen hohen Schornsteinen, die Wolken von schwarzem Rauch ausspieen, welche der Ostwind gegen den Wald von la Londe trieb, wo sie an den Aesten der Bäume zerflatterten, bevor sie über den Hügel hinüberzogen. Noch einige Minuten und sie fuhren in die Stadt hinein.

»Du wirst mich am Ende der Brücke absetzen,« sagte Adeline, »und allein nach Hause fahren.«

»Und Mama?«

»Du kannst deiner Mutter sagen, daß ich bei Herrn Eck bin.«

Bertha ließ einen Freudenschrei hören.

»Ah! Papa!«

»Ich will dich nicht in Ungewißheit lassen, und mich selbst auch nicht; es ist daher das beste, wenn ich mich sofort mit Herrn Eck auseinandersetze.«

»Was willst du ihm sagen?«

»Er wird mir etwas zu sagen haben, und er ist zu bieder, als daß er sich nicht offen erklären sollte.«

Sie hatten die Seine passiert und waren bei dem neuen Stadtteile angekommen. Bertha hielt ihr Pferd an.

»Ich bildete mir ein, daß, wenn du da wärst, ich mich weniger fürchten würde,« sagte sie, »und nun ist meine Angst größer denn je.«

Er stieg vom Wagen.

»Sei versichert, daß ich sie dir so viel wie möglich verkürzen will; auf baldiges Wiedersehen.«

Während sie rechts nach der Altstadt umlenkte, ging er geradeaus in die Neustadt hinein.


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