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45. Befreit.

Obgleich Mietje versicherte, sie habe in ihrer langen Gefangenschaft alles durchsucht und nirgends einen Ausgang gefunden, so wurde doch beschlossen, nach einem solchen zu fahnden; denn was blieb sonst übrig, als ohnmächtiges Verzweifeln?

Zunächst wurde das Tal auswärts untersucht; zur Rechten und Linken waren stets die gleichen unersteiglichen Wände. Im Hintergrund führte der von Mietje erwähnte Tunnel in das Tal mit der Tempelruine hinab.

Hier wurde über die schwarzen Basaltfelsen hinweg der weißschäumende Wasserlauf quellauf verfolgt. Bald aber hörte auch hier die Welt auf; eine hohe Wand schloß das Tal ab, von der sich das Wasser in einem mächtigen Wasserfall frei herabstürzte. Damit war auf dieser Seite alle Hoffnung auf einen Ausweg abgeschnitten, und enttäuscht gingen die Wanderer zum Baobab zurück. Hamissi mußte wieder einige Zweige abschneiden; doch wurde nur eine sehr sparsame Mahlzeit gehalten; denn der Rest der Früchte auf dem Baumriesen konnte eine Gesellschaft von elf Personen höchstens noch einige Tage ernähren.

Nachmittags ging es zum Kupferpalast zurück. Die aus sechs Quellen strömenden Wassermassen in dem weiten Tale zu stauen, so daß der tiefgelegene Abflußkanal trocken gelegt worden wäre, daran war hier nicht zu denken.

Die übrigen Seitentäler aber, aus denen die Wasserläufe kamen, boten alle denselben hoffnungslosen Anblick: überall schroffe, unersteigliche Wände, überall Staumauern mit einem Kanal, aus dem eine rasende Flut hervorschoß, jedes Vordringen zur Unmöglichkeit machend.

»Ich sehe nur ein Mittel, uns zu befreien,« sagte Flitmore düster, »und dieses ist so langwierig und anstrengend, daß es unsere Kräfte leider weit übersteigen dürfte, zumal wir nur noch auf wenige Tage Nahrung haben.«

»Und das wäre?« fragte Hendrik.

»Alle die Wasserkanäle derart zu verstopfen, daß sich das Wasser hinter ihnen staut und uns den Ausgangstunnel vor dem Kupferpalast freigibt.«

»Erstens,« sagte Leusohn, »würde uns die Gewalt der Strömung einzelner dieser Kanäle die Blöcke unter der Hand fortreißen.«

»Zweitens,« ergänzte Schulze, »wäre das eine Arbeit von mindestens drei Wochen, während wir in längstens drei Tagen nichts mehr zu essen haben.«

Flitmore zuckte die Achseln. Beide Bedenken waren nur zu sehr gerechtfertigt.

Sie standen während dieses Gesprächs auf der Westseite des Kupferpalastes und schauten an der glatten Felswand empor, die keinem menschlichen Fuß einen Halt bot, abgesehen von kleinen schwarzen Löchern, auf die niemand sonderlich achtete, weil sie bei ihrer großen Entfernung voneinander zum Erklettern der Wand nicht dienlich sein konnten.

Dennoch boten eben diese wohlgerundeten Löcher von der Größe eines Tellers einen Anblick, der jedem scharfsinnigen Beobachter hätte zu denken geben sollen.

Befangen in ihren trübseligen Betrachtungen und nur nach den Auskunftsmitteln forschend, mit denen ihre Gedanken sich beschäftigten, sannen jedoch die Weißen gar nicht weiter über die Öffnungen nach, ja ihre Blicke glitten ganz gedankenlos über diese für sie anscheinend so wertlose Merkwürdigkeit weg.

Was ihnen hätte auffallen sollen, war, daß jene Löcher, wie gesagt, gleichmäßig abgerundet waren, ferner in regelmäßigen Abständen voneinander Reihen bildeten, die im Zickzack an der Felswand hinaufliefen.

Das erste Loch befand sich rechter Hand, etwa drei Meter über dem Erdboden; ihm folgten in einer schräg ansteigenden Reihe fünf weitere ganz gleiche Öffnungen in regelmäßigen Abständen von etwa fünf Metern. Das letzte dieser Löcher konnte zwölf bis vierzehn Meter vom Talgrund entfernt sein.

Von ihm aus ging wieder eine Reihe, ebenfalls ansteigend, nach rechts, deren letzte Öffnung etwa zwanzig Meter über der ersten stehen mochte oder dreiundzwanzig Meter über dem Erdboden.

So liefen sieben Linien im Zickzack empor, bis das letzte Loch sechzig bis achtzig Meter über der Talsohle zu linker Hand herabgähnte.

Tipekitanga war die einzige, die das alles beobachtete, darüber nachdachte, und ihre Schlüsse daraus zog.

Plötzlich riß sie zwei meterlange Grashalme aus dem Boden, Land sie zusammen und knüpfte sie an einen Pfeil.

Kopfschüttelnd bemerkte Lord Flitmore dieses merkwürdige Gebaren. War es der Kleinen noch um kindische Spielereien zu tun?

Da schwirrte der Pfeil ab, und, seinen langen Schweif nach sich ziehend, verschwand er im untersten der Löcher, und siehe da! Die Grasschnur verschwand ebenfalls bis auf ein Endchen, das noch heraushing, während der Pfeil im Innern der Felswand dumpf aufschlug

»Hu!« rief die Zwergprinzessin frohlockend.

Und »Hurra!« rief der Lord. »Wer sollte es glauben? Diese Kleine hat mehr Beobachtungsgabe und Scharfsinn bewiesen als wir alle miteinander.«

»Was ist los?« fragte Schulze, dem die Sache noch nicht klar war.

»Sehen Sie,« sagte Flitmore, »hinter jener Öffnung befindet sich ein Hohlraum von beinahe zwei Meter Breite, da fast die ganze Grasschnur an Tipekitangas Pfeil darin verschwand. Was bedeuten nun diese regelmäßigen Löcher, die in Zickzacklinien emporsteigen?«

»Hurra!« rief nun auch Hendrik. »Die Löcher sind die Fensteröffnungen eines Ganges, der in der Felswand hinaufführt.«

»Kein Zweifel,« stimmte nun Leusohn bei. »Ich habe doch immer gedacht, die alten Ägypter müssen einen vernünftigen Zugang zu diesen Wunderwerken gehabt haben, falls sie noch keine lenkbaren Luftschiffe besessen haben sollten.«

»Aber wo ist der Eingang?« forschte Helene.

»Jedenfalls im Sande begraben,« erwiderte Schulze.

»Eben diesen Zugang gilt es zu finden,« sagte Flitmore. »Wir müssen nachgraben. Aber nicht planlos wollen wir ans Werk gehen, sondern zunächst überlegen, wo die meiste Aussicht ist, ihn zu finden. Wer kann am besten Entfernungen schätzen?«

»Darauf meine ich mich etwas zu verstehen, wenn Sie's erlauben, Mylord,« sagte Johann; »beim Militärdienst nämlich brachte ich's immer sozusagen am besten heraus.«

»Gut! Wie hoch meinst du, daß die erste dieser Öffnungen über dem Boden liegt?«

»Rund drei Meter,« sagte der Bursche nach kurzem Besinnen.

»Und wie hoch gerade über diesem das letzte Loch der zweiten Reihe?«

»Sozusagen zwanzig Meter, wenn ich mir nicht gestatten sollte, mich zu irren.«

»Und von dieser Öffnung bis zu der darüber befindlichen letzten Öffnung der vierten Reihe?«

»Das sieht weniger aus, aber sozusagen nur von wegen der perspektivischen Verkürzung, die man nicht unterlassen darf in erwägende Betrachtung zu ziehen: es werden auch wieder zwanzig Meter sein mögen.«

»Gut!« sagte der Lord: »Schon hieraus erkennen wir die Regelmäßigkeit der Anlage. Die erste Reihe von Öffnungen über dem Erdboden ist in Wirklichkeit die zweite der ganzen Anlage; die erste Reihe ist unter dem Sand begraben. Da dieser, wie wir im Kupferschloß feststellen konnten, sechs bis acht Meter hoch die ursprüngliche Talsohle deckt, so muß in dieser Tiefe der Eingang zu der inneren Felsengalerie sich befinden.

»Nun ist zwischen den senkrecht übereinanderstehenden Endlöchern der Reihen ein regelmäßiger Abstand von etwa zwanzig Metern; das letzte Loch der ersten sichtbaren Reihe, das sich ungefähr dreizehn Meter über dem Erdboden befindet, steht daher ebenfalls zwanzig Meter über der ersten Öffnung der vergrabenen Reihe. Diese muß sich also in sieben Meter Tiefe befinden, und da wir damit die ursprüngliche Talsohle erreichen, ist jedenfalls hier der Eingang zum Ganzen zu finden. Wir müßten also hier links einen sieben Meter tiefen Schacht ausheben.«

»Stimmt!« sagte Schulze. »Die Schlußfolgerung leuchtet mir ein. Auf zur praktischen Feststellung!«

Dies war nun nicht so einfach, weil es an Schaufeln und irgendwelchen Werkzeugen fehlte und die Arbeit mit bloßen Händen doch gar zu langwierig gewesen wäre. Auf Hendriks Rat wurden zunächst im Kupferpalast abgebrochene Metallstücke gesucht, und man fand denn auch nach und nach fünf Bruchstücke, die schließlich Schaufeln ohne Stiel abgaben. Dann kehrte man zum Baobab zurück und schnitzelte aus den abgeschnittenen Zweigen die Stiele, die unten gespalten wurden, so daß sich die Metallstücke fest einklemmen ließen. Inzwischen wurde es Nacht und nach kärglichem Mahle begab man sich zur Ruhe.

In der ersten Morgenfrühe wurde ein Frühstück eingenommen und dann ging es hoffnungsvoll an die Arbeit. Tatsächlich fand sich der Eingang zur Galerie in sieben Meter Tiefe; da aber der ganze Gang, soweit er unter dem Erdboden lag, sich mit Sand und Geröll angefüllt zeigte, mußte er in seiner ganzen Länge bloßgelegt und dann ausgeschaufelt werden, eine Arbeit, die bei allem Fleiß und Eifer drei Tage in Anspruch nahm.

Nun aber war der Weg frei, der im Innern der Wand emporstieg, bis ganz oben eine vielfach gewundene Höhle durch den Felsen selber nach der anderen Seite des Bergabhangs ins Freie führte.

Der Ausgang der Höhle auf dieser Seite war so dicht mit Gebüsch überwachsen, daß es große Mühe kostete, hinauszugelangen; von außen wäre es einem Unkundigen überhaupt unmöglich gewesen, ihn zu entdecken.

Hier befanden sich die glücklich Geretteten nur wenig über ihrem Lager, wo die Schwarzen an ihre Rückkehr nicht dachten.

Sie hatten gesehen, wie der Gipfel des Gespensterbergs die Besteiger nacheinander verschlungen hatte und waren fest überzeugt, daß diese das schreckliche Schicksal so vieler Vorgänger geteilt hätten und nie wieder etwas von ihnen gehört werden würde.

Deshalb drängten sie auch zum sofortigen Aufbruch, fort aus der unheimlichen Nähe des dämonischen Berges.

Nur Achmeds Festigkeit, der hierin von Hassan, Kaschwalla und Juku unterstützt wurde, hatten es die Weißen zu danken, daß sie ihre Karawane überhaupt noch antrafen.

Die vier Genannten waren zwar ebenso fest überzeugt, wie alle andern, daß keinerlei Hoffnung auf die Rückkehr ihrer Herren bestehe, aber sie sagten: »Fünf Tage hat der Bwana gesagt, sollen wir warten. Fünf Tage müssen wir bleiben; dann kehren wir um.«

Und siehe da, gerade am Abend des fünften Tages erschienen plötzlich die Totgeglaubten auf dem Berge, kaum hundert Meter über dem Lager.

Achmed und Hassan hatten just mit scheuen Blicken den unheimlichen Berg beobachtet, wie schon oft, den Geisterberg, der die guten Herren und die lieben Damen, Hassans treue Schwester und die edle Zwergprinzessin dazu verschlungen hatte. Und siehe, da tauchten sie plötzlich auf: sie kamen nicht von oben herab, nein, sie stiegen aus der Flanke des Berges heraus.

Ein brausendes Jubelgeschrei erhob sich im Lager, als die Nachricht bekannt wurde, und alle mit eigenen Augen das Wunder erblickten.

Rauschende Freude, gemischt mit scheuer Ehrfurcht, empfing die Rückkehrenden, und noch lange sangen die Schwarzen von den mächtigen weißen Zauberern, die selbst die Djinns des verrufenen Berges Gumr besiegt hätten, und denen nicht einmal Iblis, der Satan, und alle Scheitans, die Teufel, etwas anzuhaben vermöchten, weil sie mit Allah im Bunde stünden.

Flitmore ließ den jungen Elefanten herbeiführen: »Er gehört Ihnen, Mietje!« sagte er: »Nehmen Sie ihn an, er trägt Ihren Namen.«

Mietje war hocherfreut und dankbar über dieses liebenswürdige Geschenk.

»Und nun,« sagte Flitmore weiter: »Nun werden wir eilen, Sie und Sannah mit Hendrik in die Arme Ihres Vaters und Ihrer Brüder zurück zu führen. Unsere weitere Forschungsreise hat Zeit und ist nicht so wichtig.«

»Nein!« erwiderte Mietje: »Sie gedachten nach dem Sambesi weiter zu ziehen. Nun, ich habe mich fest entschlossen, nicht eher heimzukehren, als bis ich sichere Kunde habe über das Schicksal meines Bruders Frans. Es läßt mir keine Ruhe, seit ich weiß, daß er genas, während wir ihn schon längst begraben wähnten, seit ich weiß, daß er nach dem Sambesi unserem unseligen Treck nachzog. Mein Gott! wenn er noch lebte und der Hilfe bedürfte, wie es mir erging! Sollten wir ihn ganz vergessen und verlassen? Und ob er tot ist: Gewißheit muß ich haben, ehe ich darauf verzichte, ihm nachzuforschen. Ich habe in der Stille ein Gelübde getan, da mir so wunderbar geholfen wurde: das Gelübde will ich halten! Darum bitte ich, nehmen Sie mich mit an den Sambesi!«

Auch Sannah und Hendrik erklärten, nicht umkehren zu wollen, und so wurde denn der Gedanke an eine Rückkehr nach Oranjehof vorläufig aufgegeben und die Losung hieß nach wie vor: »Nach Ophir!«


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