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»Ich bitte Gott, daß ich das nicht zu erleben brauche, was ich kommen sehe.«
Waldersees letzte Eintragung im Tagebuch
Wilhelms des Zweiten glänzende Zeit war vorüber.
Zwei Jahrzehnte hatte er regiert, war Fünfzig geworden, und wie er leicht ergraute, bevor es noch die Untertanen merkten, wurde es auch grauer um ihn, das Flackerfeuer, das seine Gestalt so lange interessant gemacht, verglomm allmählich, nirgends aber kündigte sich der Aufgang eines stilleren, klaren Abendlichtes an. Die Freunde waren verbannt, mit ihnen die letzten Ratgeber gefallen, der glänzende Kanzler und der hingebende Vertraute, Zeugen der Jugendkämpfe und der Mannesfeste, der Hof selbst war mit seinem kalten Glanze einsamer geworden, mehr als ein Bundesfürst vermied Berlin, Jagden und Einzüge, sogar die Reisen brachten nur Wiederholungen: eine Stimmung des Vierten Aktes überkam den bisher immer glücklichen, immer exaltierten Mann, und indem von allen Seiten her die Einsamkeit um ihn aufstieg, indem das Gefühl der Enttäuschung an vertrauten Herzen ihn ernüchterte, hörte er zwar nicht auf, Optimist zu sein, aber die Gebärden wurden seltener, mit denen er zuvor sich und der Welt beweisen wollte, wie hoch ihn Gott begnadet.
Verloren hatte er die beiden großen Kämpfe seiner zwanzig Königsjahre. Wenn er herunterblickte von seinem überhöhten Sitze, sah er ein Drittel seiner Untertanen tief unter sich in murrender Feindschaft weben und wühlen, sein Jugendwunsch, aus Furcht und Übereilung geboren, war nicht erfüllt, denn unversöhnt lag drunten die Masse der Arbeiter, nur scheinbar ein amorphes Gebilde, dessen Formgesetze der Landesherr nicht entziffern mochte, rot und ruhelos am Boden schwankend. In seinen 25 Regierungsjahren war die Sozialdemokratie von ¾ auf 4¼ Millionen Stimmen gewachsen, von 9 auf 35% aller Stimmen gestiegen.
Auch auf den Adel, der das Königtum zu allen Zeiten schützte, auch auf die Fürsten ringsum war nicht mehr Verlaß: diese setzten seiner Autokratie, mit der er den primus inter pares verfälschte, zuweilen stummen Widerstand entgegen, jene hatten sich in wiederholten Kämpfen offen widersetzt und bildeten, geschart um den kriegerischen Kronprinzen, eine Front des Widerspruches, wenn immer sich der Herr nicht scharf und alldeutsch zeigte, denn ihnen war er zu furchtsam. Doch während die Roten an die Stelle eines Cäsaren nach Parlamentsherrschaft und selbst nach Republik, während die Blauen an Stelle eines Friedensfürsten nach scharfer Klinge riefen, während jene die Entspannung mit ihren französischen Brüdern und schließlich mit Europa forderten, diese das Größere Deutschland, das nur durch Krieg zu erringen war: stand unentwegt das Bürgertum zu seinem Kaiser, unter dem es reich geworden war und immer noch reicher wurde.
Und wirklich hatten Offizierkorps und Adel ein volles Recht, sich innerlich immer weiter von ihrem Kaiser zu entfernen. Je furchtbarer diese größte Armee der Welt und der Geschichte, je schwerer gewappnet der deutsche Ritter wurde, um so mehr wuchs die Vorsicht des Obersten Kriegsherrn; man sagte allgemein, die Furcht. Die schneidigen Gesten, die provozierenden Reden, das ganze Arsenal gepanzerter Phrasen war spärlicher und schwächer geworden, endlich begann Enttäuschung den ewigen Jüngling zur Behutsamkeit zu erziehen.
Nicht zur Einkehr: denn niemals hat er sich von einem einzigen Fehler überzeugt. Was er jetzt um sich sah, erschien ihm nur als Trotz der bösen Welt, als Neid verwandter Häuser, als Eifersucht verschworener Dynastien; doch daß es da war, leugnete er nicht länger. Mit Schrecken und gewiß mit größerem Schrecken, als er sich's meistens merken ließ, fühlte Wilhelm der Zweite sich eingekesselt und mußte nach seinem Charakter das Bewußtsein in sich steigern, daß er alles versucht, und nur am Widerstand der stumpfen Welt gescheitert war. Hatte er nicht dem Zaren im Krieg mit Japan geholfen? Nicht Frankreich lauter Courtoisie erwiesen? War er es nicht, der Großmutter und Onkel mit Feldzugsplänen versah, als es um England schlecht stand? Hatte er je die Strapazen weiter Reisen gescheut, um überall, bis nach Rom, Athen und Damaskus in eigener Person die Fäden politischer Freundschaft zu knüpfen? Mit scheelen, undankbaren Bücken hatten die falschen Freunde sich hinter seinem Rücken verständigt, um ihn persönlich, das Edelwild Europas, schlau zu umstellen und endlich doch zur Strecke zu bringen. Verkannt als Landesvater von den Sozialisten, als Friedensfürst vom russischen Vetter und englischen Oheim, so stand er da, Märtyrer des guten Willens, und sah, wie sich der Kreis um seine Lande schloß.
Vielleicht hatte er recht vor Gott, nicht vor den Menschen. Konnte er wohl über seinen Schatten springen? War die Natur, die ihn verstümmelt und dadurch zur verlegenen Schneidigkeit genötigt, nicht Schicksal, war sie Schuld? Hatte denn er seine Nerven geformt, deren Flackern ihn zu immer neuen Sprüngen trieb? Während er jeden Krieg vermeiden wollte, schuf er stets neue Motive zum Kriege, und jedesmal, wenn er eine Ursache aufhob, vertiefte er einen Grund. Der Stimmungswechsel, dem sein Wesen unterworfen war, hatte ihn von einer Gruppe zur andern und wieder zu jener geworfen, und indem er die Gegner gegeneinander ausspielte und verriet, führte er sie zusammen. Da er alles selbst machen wollte, und alle großen Fragen der Nation schließlich entschieden hat, trug und trägt er die Verantwortung für Deutschlands Vereinsamung und Einkreisung im letzten Jahrzehnt vor dem Weltkrieg. Niemals hätte ohne Wilhelms Provokationen sich Eduard und sein Land zu Deutschlands Feinden gesellt. Die Sicherheit des Reiches war dem nervösen Charakter des Kaisers zum Opfer gefallen.
Zugleich mit Bismarck hatte er Rußland fallen lassen, dann jahrelang den abgerissenen Draht wieder zu knüpfen versucht, zugleich aber seinen Freund, den Zaren an seinen Feind, den Onkel, verraten, Japan hatte er mit pathetischen und politischen Mitteln als Feind Europas behandelt, den Islam erst umschmeichelt, dann durch Kreuzrittertum beleidigt, Frankreich durch Höflichkeiten heut gewonnen, morgen durch Reden und Jubiläen wieder verletzt, England aber im Wirbel der Gefühle gehaßt, geliebt und wieder gehaßt und all dies jeden Augenblick gezeigt und ausgesprochen. Denn Sprechen, das war die Sucht und das Verhängnis dieses nach Taten lüsternen, vor Taten zitternden Nervenmenschen; wäre er zur Stummheit verurteilt gewesen, wie zuletzt sein Vater, der lange Weg des Gedankens in die Hand, durch die Feder zum Auge der andern hätte ihn und sein Volk vor den Folgen seiner leichtsinnigen Zunge bewahrt.
Nach zwanzig Jahren endloser Feste sah sich der Kaiser fast plötzlich allein, das Jahr 1908 hatte ihn erschüttert: im Sommer trafen sich Nikolaus und Eduard zu einer neuen Entente, im Herbst stand sein eigenes Volk gegen ihn auf. Von draußen klirrte, von drunten dröhnte es. Da mußte der Kaiser erschrecken.
In allen Verwicklungen Europas zwischen 08 und 14 war der Kaiser friedlicher, sogar vorsichtiger als seine Ratgeber: jetzt endlich brachte ihn echte Furcht zu rechter Erkenntnis. Man könnte solche verspätete Einsicht tragisch nennen.
Der König von England, ein alter Herr, hatte den Verkehr mit dem Neffen beinah abgebrochen; einen Besuch, den er Herbst 07 auf das nächste Frühjahr verschoben, sagte er wieder ab und ging statt dessen nach Reval, damit das Unerhörte Ereignis würde, was Bismarck immer für möglich, Holstein daher für unmöglich erklärt hatte: England und Rußland wurden handelseinig. Der Kaiser war darüber stärker beunruhigt als seine Minister, und als man gleich darauf aus Petersburg meldet, man habe Neutralität im Kriegsfall zugesagt, schreibt er: »Das muß absolut klar und unanfechtbar festgelegt werden. Das muß unsere Heeresleitung unbedingt verlangen.« Bülow beweist ihm, daß dies nur beim Rückversicherungs-Vertrage galt, heut aber nicht mehr zu erreichen sei. So standen sie wieder auf, die Gespenster, und hinter der Entente von Reval, geschlossen zehn Jahre nach Bismarcks Tode, erhob sich noch einmal sein Geist, den damals, vor achtzehn Jahren der Kaiser durch Ablehnung der Erneuerung zugleich mit ihm selber aus dem Amte getrieben hatte.
Ein Jahr verspäteter Rache schien dieses Jahr 08. Drei Monate nach Reval rächte sich ein zweites Hauptstück seiner Politik, diesmal war's nicht der Feind, es war der Verbündete, der ihn erschreckte.
Es waren zehn Jahre, daß der Kaiser auf seiner zweiten Orientreise, geblendet von Bildern, Freudenrufen und Geschenken, sich den Türken zugewandt und in Kleinasien ein deutsches Kolonialreich erspürt hatte. Die Bagdadbahn, die er gleich darauf beginnen ließ, Meine Bahn nannte, und die von dem schmeichlerischen Botschafter »das Allerhöchsteigene Unternehmen Seiner Majestät« genannt wurde, führte zu hochpolitischen Folgen: die Grüne Fahne des Propheten sollte in einem künftigen Weltkrieg entrollt, der Heilige Krieg erklärt, England in Indien und Afrika durch Aufstände vernichtet werden. So geriet Deutschland aktiv in die Balkanfragen, von denen es Bismarck immer zu isolieren gewußt, und eine Bahn, die ohne den Kaiser nie gebaut worden wäre, verwickelte uns an der gefährlichsten Stelle in die Interessen der beiden Hauptgegner in Europa. Marschall erklärte bald, Bismarcks Wort von den Knochen des pommerschen Grenadiers habe die Geltung verloren, des Kaisers Rede in Damaskus klinge heut noch in der muselmanischen Welt wieder, man veranlaßte den Sultan, den Österreichern eine Bahn durch den Sandschak zu gestatten, mit der sie Serbien vom Meer und von seinen Stammesbrüdern abschnüren wollten. Das trieb die Russen, Österreichs alte Balkanfeinde, dazu, neue Freunde zu suchen – und wenn es England wäre!
Schon damals wurde der Kaiser über diese Folgen seiner Türken-Politik nervös; er war durchaus kein Schwärmer für Österreich, hielt an ihm nur als an dem letzten Bundesgenossen fest, und hat die Phrase von der Nibelungentreue weder erfunden noch oft im Munde geführt; sie stammt von Bülow. Dieser hatte das Axiom von der bedingungslosen Freundschaft zu Österreich von Holstein übernommen oder doch mit ihm geteilt, und in seiner ganzen Laufbahn keinen größeren Fehler begangen, als Deutschland dem morschesten von allen Reichen ohne Einschränkung hinzugeben. »Für unsere Haltung in allen Balkanfragen sind in erster Linie die Bedürfnisse, Interessen und Wünsche Österreich-Ungarns, maßgebend«, schrieb und verbreitete er unter allen Botschaftern als Grundsatz im Sommer 08. Wann hatte uns der kleinste Staat das Geschenk eines solchen Satzes, wann hatte Österreich selbst uns solche Avancen gemacht? Wurde nicht durch solche These das natürliche Verhältnis des starken deutschen zum brüchigen Habsburger-Reiche ins Gegenteil verkehrt? Selbst hier war uns die Führung entglitten, zwanzig Jahre nach Bismarck waren wir selbst im Dreibund die Geführten und setzten uns für eben jene Balkan-Abenteuer Österreichs ein, die Bismarck mit dem zynischen Wort abgelehnt hatte: »Das Bündnis ist keine Erwerbs-Genossenschaft.«
Kein Wunder, daß man in Wien, wo die Diplomaten gewandter waren, solche Berliner Gefolgschaft nutzte! Als Aehrenthal, Franz Ferdinands Geschöpf, die türkische Revolution als Vorwand zur endlichen Einverleibung von Bosnien ergreifen und mit diesem Gewaltakt das ganze Bündel der Orientfragen öffnen wollte, sicherte er sich nicht etwa die deutsche, vielmehr die russische Zustimmung; vergessen schien der Berliner Kongreß, dessen Kontrahenten eine solche Verschiebung sämtlich vorher billigen mußten: erst als alles fertig war, teilte Aehrenthal dem Bundesgenossen das Geheimnis der nächsten Tage mit. Ja, man hatte die neudeutsche Sitte endloser Ferien offenbar berechnet, denn von der Meldung an den Staatssekretär von Schön nach Berchtesgaden und an Bülow nach Norderney vergingen so viel Tage bis zur Mitteilung an den Kaiser in Rominten, daß dieser die widerrechtliche Annexion zweier Provinzen durch seinen Verbündeten erst am Tag der Annexion selber, am 5. Oktober, erfuhr, zugleich mit dem ganzen erschreckten Europa und nach dem französischen Präsidenten.
Der Kaiser war außer sich, nicht bloß aus beleidigtem Vertrauen: »Ein Raubanfall gegen die Türkei!« schrieb er in klarer Voraussicht an Bülows Bericht. Stoff für billige Verdächtigungen Englands gegen die Mittelmächte ... Österreich wird die bulgarische Unabhängigkeits-Erklärung (die am gleichen Tage erfolgte) nicht von seinen Rockschößen abschütteln können ... Wien wird der Doppelzüngigkeit geziehen werden, nicht mit Unrecht. Es hat uns unerhört düpiert! ... Das wird wahrscheinlich das Signal zum Ausplündern der Türkei ... Ich bin persönlich auf das tiefste in meinen Gefühlen als Bundesgenosse verletzt ... Das ist ein netter Dank für die Hilfe in der Sandschak-Frage ... So bin ich der Letzte von allen in Europa, der überhaupt etwas erfährt ... Einfach eine Felonie! Der Dank vom Hause Habsburg!«
Diese explosive Wirkung ist aus drei Gründen interessant: sie zeigt ein politisch richtiges Urteil des Kaisers bei Überraschung, vielleicht ohne Berater, sie zeigt seine Furcht vor Verwicklungen und seine Nüchternheit gegen Habsburg, wenn es ihm Schaden tat. Praktische Folgen aus dieser Stimmung zu ziehen, hinderte ihn die selbstverschuldete Vereinsamung, er konnte nicht den letzten Genossen desavouieren, aber die Stimmung hielt an, und zwar gegen Bülow. Freilich, schrieb er auf dessen erneute Vorstellung, müsse man nachträglich alles anerkennen, aber »ich bedaure nur, durch die fürchterliche Dummheit Aehrenthals in dies Dilemma gebracht zu sein, ich fürchte, unsere Freunde nicht beschützen zu können, da mein Verbündeter sie beleidigt hat ... Jetzt wird König Eduard den Schutz der Verträge auf seine Fahne schreiben ... Ein großer Triumph Eduards VII. über uns!« Dieser Ärger steckte im Hintergrunde. Inzwischen schrieb sein Kanzler den Österreichern für einen Krieg diesen eleganten Blankowechsel aus: »Ich werde die Entscheidung, zu der Sie schließlich gelangen werden, als die durch die Verhältnisse gebotenen ansehen«, und er stützte in vertraulichen Briefen diese Ansicht ausdrücklich mit der Autorität Holsteins.
Als im gleichen Augenblicke die Affäre des »Daily Telegraph« losbrach, war es Iswolski leicht, den Zaren, dessen Verratensein vom Jahre 99 daraus hervorging, einen neuen Treubruch des Kaisers auch jetzt in der bosnischen Sache glauben zu machen. Serbiens Zurückweichen auf Iswolskis Wink verhinderte damals, März 09, den Krieg; damals wich Iswolski noch vor der entschiedenen Erklärung Deutschlands zurück, wir würden Österreich beistehen. Aber von jetzt ab rechnete selbst der Zar auf einen »unvermeidlichen Zusammenstoß«, in Paris sprach man lauter von Bündnis und Vergeltung, und obwohl Österreich durch die Annexion nichts als Mißtrauen und Feindschaft gewonnen hatte, stand Deutschland und stand vor allem der Kaiser vor Europa als Hetzer, als Hehler in einer Sache da, von der er sich mit Entsetzen überrascht gesehen.
Die türkische Revolution hatte er nach dem ersten Chok erstaunlich rasch akzeptiert: er legte es sich so zurecht, daß die Aufrührer alles »deutsch erzogene Offiziere« und daß der Sultan doch schon lange bereit gewesen, eine Verfassung zu geben. Damals schrieb Marschall in einem Bericht: »Täglich werden die einst Maßgebenden aus des Sultans Umgebung als Verräter ... gebrandmarkt. Eine schwere Anklage gegen den Monarchen, der sich solche Berater gewählt! Und von diesen Leuten, die allein dem Sultan ihre Stellungen und ihren Reichtum verdankten, ist in entscheidender Stunde keiner für ihn eingetreten« (A. 15, 622). Dazu notierte der Kaiser: »Das machen Hofkreaturen immer so! Auch außerhalb der Türkei, bei uns Christen.«
Geschrieben Herbst 08, zehn Jahre vor dem eigenen Schicksal.
Es war ein Judaskuß, ein doppelter, als sich Onkel und Neffe auf dem Anhalter Bahnhof umarmten. Nach jahrelangen Absagen war schließlich doch das englische Königspaar nach Berlin gekommen, aber Mißgunst und Kälte hatten selbst Wetter und Pferde angesteckt: es klappte weder Empfang noch Einzug, die Pferde scheuten, Schutzleute, ja selbst die Untertanen durften an einigen Stellen den Wagen schieben, bis die beiden gekrönten Damen vor dem Zeughaus ausstiegen; in rieseliger Kälte übertrübte der Regen die Stimmung der Verwandten, auf der englischen Botschaft wurde der König von einer Herzattacke erschreckt. Doch man versicherte sich der Gefühle der Liebe. Erst »in den letzten Minuten vor der Abreise« begann, wie der Kaiser an Bülow schreibt, eine politische Unterhaltung, in der der Kaiser sich wieder hinter die Gesetzesvorlage zurückzieht, die unabänderlich sei: »It will be adhered to and exactly carried out, without any restrictions.« Das war alles, das heißt es war die offene Absage an jede Verständigung.
Bülow benutzte die leicht elegische Stimmung des Kaisers, als er ihn bald nach dem November-Skandal von Korfu heimkehrend in stillerer Laune fand, und wagte einen neuen Versuch für ein Flotten-Abkommen mit England, wodurch allein der Friede Europas trotz allem gesichert werden könnte. »Im Sommer 08«, schreibt Brandenburg, »wäre es wahrscheinlich noch einmal möglich gewesen, durch ein Zugeständnis in bezug auf den Flottenbau ... England in seiner Gesamtpolitik an Deutschland heranzuziehen.« Das war um die Zeit von Reval, wo Eduard mit dem Zaren, drei Jahre nach Björkö, keine Verträge getauscht, keine hochseligen Väter angerufen, nur durch die verantwortlichen Minister den Grund zur Verständigung gelegt hatte. Hier geschah endlich, was Bismarck gefürchtet und vermieden, Wilhelm aber durch 20 Jahre provoziert hatte: England schloß sich der feindlichen Gruppe an. In Reval vollendet sich schon das deutsche Schicksal.
Jetzt, April 09, als Bülow den Kaiser in Venedig traf, von Tirpitz' Seemannsblicken nicht bewacht, erlangte er die Erlaubnis, endlich doch in London über die Flotte zu verhandeln, zugleich ein Handels-Abkommen, sogar ein Bündnis anzuregen. Jenes galt noch vorigen Sommer für einen Anschlag gegen die nationale Ehre, dieses hatte Bülow zwischen 98 und 01 zweimal abgelehnt.
Und jetzt war es zu spät. Der alte Fluch der preußischen Politik, ein Jahrhundert lang fast immer zu spät zu kommen, erfüllte sich aufs neue. Was der Kaiser in Friedrichshof ausgeschlagen, konnten seine Unterhändler neun Monate später in London nicht mehr zurückbringen: Reval, Bosnien, Daily Telegraph hatten Englands Stimmung verändert. »Jetzt ist Europa nun einmal in zwei Lager geteilt,« sagte Grey zu Metternich, »wir können uns nur von Fall zu Fall offen aussprechen.« Um so schärfer wurde nun Tirpitz. Während ihm Bülow »die Verantwortung vor S. M., dem Land und der Geschichte« zuschob, weil sein gefälschtes Programm unsere Glaubwürdigkeit in London erschüttert hätte, während in großer Konferenz Juni 09 nicht bloß Metternich, sogar Moltke für Verständigung sprach, steigerte Tirpitz seine Forderungen und erklärte, nun bis 1920 weiterzubauen.
Auch Bethmann Hollweg versuchte den Flottenbau zu verlangsamen. Um den Abstand von seinen eigenen Gaben sichtbar zu machen, hatte Bülow diesen Beamten zum Nachfolger vorgeschlagen, und Ballin durfte sagen: »Bethmann ist Bülows Rache.« Bethmann brachte in dies Amt nicht mehr mit als Caprivi: Pflichttreue und Disziplin, zugleich fehlte ihm, was jenem gefehlt: Kenntnis der Geschäfte und des Auslandes, der Menschen im allgemeinen, der handelnden Personen im einzelnen, überdies aber auch noch der gesunde Menschenverstand, den Caprivi wiederholt bewiesen. Vor ihm hatte er eine ziemlich hohe Bildung voraus, die er wenig zu nutzen wußte, stand aber schon als Zivilist dem General entschieden nach an Autorität beim Kaiser und auch bei den Deutschen. Bülow konnte sich als Husar verkleiden, wenn er mit den Generalen kämpfte, Bethmann erinnerte immer an Don Quichotte, seine demokratisierenden Ideen gingen über den Eindruck des Lehrerhaften nicht hinaus. Innerlichkeit und Problematik, die ihm die Gebildeten zuschrieben, wurden in ihm nicht produktiv, wären seinem Herrn auch nur in der künstlerischen Form erträglich gewesen, die ihm fehlte.
In Wahrheit war Bethmann schlauer und ehrgeiziger, als er merken ließ. Als ihn sein Protektor Bülow September 09 um amtliche Abwehr gegen Verleumdungen ersuchte, widerriet er diese einfache Ritterpflicht dem Kaiser und schrieb dann Bülow, leider habe der Kaiser »ganz spontan« abgelehnt (A. 24, 210). Als der Kaiser im Kriege auf Bernstorff schimpfte, weil Amerika in den Krieg gegangen war, ließ Bethmann seinen Botschafter, dem er die Politik vorgeschrieben, vor dem Kaiser fallen. Am entscheidenden Tage seines Lebens, in der Mitte des Krieges, hat er versagt, um gegen seine Überzeugung als Schein-Kanzler weiter zu amtieren.
Das erste, was er tat, war, sich einen Fachmann, zu sichern; schon bevor Kiderlen-Wächter zum Leiter der auswärtigen Politik berufen wurde, ließ er sich von diesem in den Grundzügen und im einzelnen durch lange Briefe entscheidend beraten. Später nahm er von Kiderlen, wie dieser berichtet, Diktate in die Feder entgegen, damit sie durch seine Handschrift bei den Akten als sein geistiges Eigentum legitimiert würden: so schlau war Bethmann Hollweg. Daß schließlich der Kaiser Kiderlen berief, nachdem er ihn ein Jahrzehnt lang verbannt gehalten, war ein neues Zeichen für die gewisse Ermüdung und heimliche Verzweiflung, die ihn seit Bülows und Eulenburgs Sturz ergriffen hatte. »Also nehmen Sie ihn,« sagte er zu Bethmann, »aber Sie wissen gar nicht, welche Laus Sie sich mit dem Kiderlen in den Pelz setzen.« Kiderlen war im Grunde der einzige Mann, den vor dem Kriege der Kaiser wider Willen in seiner Nähe ertrug.
Vernünftiger als seine Vorgänger, doch oft gestört durch angeborene Brutalität, war Kiderlen in den zwei Jahren seiner Amtsführung durch drei Momente besonders gehemmt: sie verging ohne Vertrauen seines Herrn, kam sachlich und kam persönlich zu spät, denn inzwischen hatte er sich durch endloses Warten und ein recht wüstes Leben vor der Zeit verbraucht. Diese schweren Hände konnten im Kampfe fassen und schleudern, jetzt aber, nach Verlust der Hauptschlacht, nicht mehr biegen und formen. Vor allem fehlte ihm, wie Bethmann, Bülows Kunst, den Kaiser zu leiten, dessen Eitelkeit er durch die Bosheit jener damals abgefangenen Briefe schwer verletzt hatte. Daß er, im Banne Holsteins, einst Bismarcks Gegner geworden, nützte ihm beim Kaiser nicht mehr viel, der über den Alten im stillen umlernen mochte; daß er sich von Eulenburg getrennt, konnte ihm jetzt nur schaden, denn diesem Freunde trauerte der Kaiser heimlich nach; er sagte es einem Vertrauten, als sie einmal an Liebenberg vorbei fahren. Kiderlens Grobheit, das Fehlen jeder Schmeichelei machte ihn seinem Herrn verdrießlich.
So geschah es, daß beide Politiker sich gegen die Krieger zu Land und zu Wasser weder beim Kaiser noch beim Bürgertum durchsetzen konnten. Zwar, Kiderlen war härter als Moltke, aber Bethmann war weicher als Tirpitz, und wenn der Kaiser auch diesen nicht liebte, so fürchtete er ihn doch; auch hatte Tirpitz ein klingendes, metallenes Programm der lavierenden Politik der Wilhelmstraße entgegenzusetzen, zu der die beiden Epigonen einer exaltierten Zeit verurteilt waren.
Der Kaiser war friedlich: »Die elende Marokko-Affäre muß zum Abschluß gebracht werden, schnell und endgültig. Es ist nichts zu machen, französisch wird, es doch. Also mit Anstand aus der Affäre heraus!« Doch Kiderlen war schärfer gestimmt, er dachte an neue Eingriffe in Marokko, da die Franzosen sich eben gegen Fez rüsteten, an Faustpfänder in Gestalt der besten Häfen, an eine schneidige Geste, um die kläglichen Folgen der letzten auszugleichen und in Verhandlungen neues Kolonialland herauszuschlagen. Zum zweiten Male behielt der Kaiser in Marokko, d. h. gegen Frankreich, recht und sein Berater unrecht. Wie er damals durchaus nicht in Tanger landen wollte, nur von Bülow gedrängt nachgab, so wehrte er sich auch jetzt, im Sommer 11, gegen Kiderlens Plan einer Entsendung von Schiffen: heute wie damals hielt ihn der Blick in den Abgrund zurück. Damals hatte der eiserne Wurf eines deutschen Arbeiters, jetzt der eiserne Ring eines europäischen Bündnisses seine Stimmung in Bann geschlagen. Ein Verhängnis, das man fast logisch nennen möchte, verführte seine Berater immer grade da zu Theatercoups, wo selbst er sie nicht mochte.
Auch Kiderlen wollte keinen Krieg, gestand sich die Unmöglichkeit ein, tatsächliche Übergriffe Frankreichs in Marokko zu beweisen, aber er kopierte Bismarcks Stil, als er seinem fast ahnungslosen Kanzler Juli 11 sagte: »Unser Ansehen ist heruntergewirtschaftet, im äußersten Falle müssen wir fechten« (Hammann, Bilder, 88). Er wollte nur »die Franzosen erinnern, daß Deutschland noch vorhanden ist ... Vielleicht läßt sich auch ein Deutscher aus Patriotismus in Marokko erschlagen, damit wir zu seinem Schutze einschreiten können« (Deutsche Revue 46, 201). Er wiederholte einfach die Drohung von Tanger und berechnete nicht, daß Frankreich kein zweites Mal einen Delcassé opfern, daß es diesmal auf neue mächtige Freunde rechnen durfte. Mit dem Revolver in der Hand wollte Kiderlen Kompensationen erzwingen und brachte den widerstrebenden Kaiser in Kiel schließlich doch zum Befehl, den kleinen Kreuzer »Panther«, der 150 Mann trug, demonstrativ nach Marokko zu senden, wo Franzosen und Spanier über 100 000 Mann hielten.
Als darauf lakonische Verhandlungen zwischen Kiderlen und Cambon zu nichts führen, schreibt der Kaiser: »Was zum Teufel soll denn nun gemacht werden? Das ist ja die reine Farce! ... Wenn wir so viel kostbare Zeit verlieren, dann stärken die Briten und Russen den erschreckten Galliern den Rücken und diktieren ihnen, was sie uns nur höchstens gnädig gewähren sollen. Diese Art von Diplomatie ist für mein Hirn zu fein und zu hoch!« Er hatte recht, auch als er bald darauf Kiderlen verbot zu drohen. Für alle Folgen, für das Mißtrauen und Gelächter, das Europa der leichtfertigen Politik seiner beiden Staatsmänner spendete, blieb der Kaiser ohne persönliche Verantwortung.
Nur wenn das Problem England in seiner ganzen schillernden Weite auftauchte, blieb auch in dieser stilleren Epoche der Kaiser der alte. In diesen Jahren sind die Akten von kaiserlichen Ausbrüchen gegen England überfüllt: »Lüge! Das lügt der Hund! England! Onkel! Ein ganz charmanter Herr, der König E. VII! Unerhörte Frechheit! Pharisäer! Quatsch! Blau! Blech! Hurra, da haben wir die Halunken von Briten!«
Die Flottenfrage, in den Jahren 11 und 12 aufs neue akut, spitzte sich zu in ein Duell zwischen Metternich und Tirpitz, in dem jener stoppen, dieser nur immer mehr bauen wollte. »Es besteht«, so schreibt mit größter Bestimmtheit Metternich, »in unserer Marine die Ansicht, daß, wenn wir erst einige Schritte vorwärts getan haben in der weiteren Ausführung unserer Flotte, England sich in das Unvermeidliche fügen wird und wir dann die besten Freunde von der Welt sein werden ... Ein verhängnisvoller Irrtum ... Die Furcht wird ganz andere Früchte zeitigen. Sie wird England gewappnet uns entgegenstellen ... Die Alternative ist: einschränken oder losschlagen. Für das letztere fehlen die nationalen Ziele.« Dagegen bestellte sich Tirpitz beim Londoner Marine-Attaché Berichte über bevorstehenden Überfall und konnte den Kaiser leicht gewinnen.
Der schrieb im August 11: »Ein besserer Ton gegen Deutschland läßt sich nur durch eine größere Flotte erreichen, vor der die Briten positive Angst zur Verständigung bringt.« Der bessere Ton, die positive Angst: seine alten Motive! Respekt von dieser einzigen, ewig unbesiegbaren Familie zu gewinnen, das war's, denn wenn der Kaiser sagte und schrieb: die Briten, so dachte er immer an Großmutter, Onkel und nun an den Vetter Georg. Während er in Rominten von den Marineleuten bearbeitet wird, schreibt Kiderlen an einen Verbindungsmann dorthin voll Wut: »Der Kaiser soll nicht die einseitigen Ressort-Interessen, sondern alle seine berufenen Vertreter hören, denn jetzt stehen wir am Scheidewege, der zu ernst ist, um darüber, fern von der Residenz, ohne Anhörung der von S.M. selbst gewählten Ratgeber zu entscheiden.« Aber diese männlichen Sätze, als er sie durchlas, erschreckten den neuen Bismarck: er strich sie aus dem Konzepte.
Unbeirrt in seinen Berichten blieb nur Metternich, gegen den die Berliner Flottenpartei Sturm lief; bald sollte er es büßen. »Hätte ich ihm damals gefolgt,« schrieb der Kaiser auf einen seiner Berichte, »so hätten wir jetzt überhaupt keine Flotte! Seine Deduktion gestattet auf unsere Marine-Politik die Ingerenz eines fremden Volkes, wie ich sie mir als Oberster Kriegsherr und Kaiser nun und nimmer gefallen lassen kann noch werde! und die für unser Volk eine Demütigung bedeutet! Es bleibt bei der Novelle!« Metternich liest den Vermerk, aber er wiederholt, Dezember 11 seine Warnungen. Nun lacht ihn der Kaiser einfach aus: »Dem armen Mann ist nicht zu helfen. Er bleibt dabei, zu Hause nicht rüsten, dann bleibt Englands Laune gut!« Doch mit vorbildlicher Festigkeit fährt Metternich bald fort: »Ich bin mir wohl bewußt, daß meine Haltung ... den Beifall S.M. nicht findet ... Ich würde aber die Geschichte fälschen, wenn ich anders berichtete, als ich tue, und ich kann meine Überzeugung selbst nicht für die Gunst meines Souveräns verkaufen. Auch ist es mir zweifelhaft, ob S.M. mit einer glatten und wohlgefälligen Berichterstattung gedient wäre, bis wir uns plötzlich vor einem Kriege mit England sähen.«
Hätten nur sechs Exzellenzen so männlich dem Kaiser widersprochen, er wäre es noch.
Weder Bethmann noch Kiderlen denken daran, ihr Bleiben im Amt vom Aufschub einer Novelle abhängig zu machen, die sie für verderblich halten; sie schicken nur Ballin nach London, der spricht mit Churchill und Cassel. Churchill: »Dieses fortwährende Wettrüsten muß in den nächsten zwei Jahren zum Kriege führen.« Als aber Metternich seine Argumente mündlich wiederholt, erwidert Ballin: »Es geht nicht, die Nerven des Kaisers halten diese Spannung nicht länger aus!«
Metternich: »Ich glaubte, es handelte sich nicht um den Kaiser, sondern um das Reich.« Hier sieht man aufs neue, wie auch Ballin, aus Überzeugung und Interesse pazifistisch, sich dennoch in den Dienst der kaiserlichen Gefühle stellte, die er mißbilligte.
Im Februar 12 kommt Lord Haldane, der Kriegsminister, nach Berlin, um es zum letztenmal zu versuchen. Haldane spricht im Namen des Kabinetts und mit Zustimmung seines Königs zum Kaiser und zu Tirpitz, stellt ein afrikanisches Kolonialreich in Aussicht, schlägt Streichungen je eines Schiffes vor, erreicht nichts als eine Verschiebung der deutschen Novelle um ein Jahr; folgen schriftliche Verhandlungen über Mannschaftsstärke. Als aber Grey zu Metternich sagt, solange Bethmann Kanzler sei, fürchte er nichts, müsse aber mit anderen Personen in Zukunft rechnen, da bricht der Kaiser, tödlich getroffen, unter Vorwänden die Verhandlung ab, wütend schreibt er auf den Bericht: »Ich habe noch nie gehört, daß man ein Abkommen nur mit einem und auf einen bestimmten Staatsmann hin, unabhängig vom jeweiligen Souverän, abschließt. Aus obigem geht hervor, daß Grey keine Ahnung hat, wer eigentlich der Herr ist, und daß Ich herrsche!« Dies und eine affektierte Rede Churchills, in der er von der deutschen Luxusflotte schwatzte, entschied die Stimmung des Abbruchs. Sogar die Kaiserin wurde von Tirpitz hineingezogen: »Majestät, es handelt sich um die Krone Ihrer Kinder!«, bis sie zu Bethmann fuhr und zur Entscheidung drängte.
Metternich fällt, weil er »seine Pflicht verletzt hat«. Tirpitz triumphans.
»Und daß Ich herrsche!« Mit diesen Worten hatte Wilhelm der Zweite noch einmal das eingeborene Gefühl seiner Autokratie stabiliert: nicht eine sonnenkönigliche Phrase Serenissimi, hinter dessen Rücken seine Minister lächeln, vielmehr der Ausdruck wirklicher Entscheidung. Der Kaiser, von drei politischen Beratern zur Verständigung gedrängt, war völlig frei, mit Haldane oder durch Ballin den »Flotten-Feiertag« abzuschließen, den man in England suchte; Lloyd George, Grey, Haldane, selbst Churchill probierten noch einmal, die ungeheuren Ausgaben zu streichen, die sie der Wettbau kostete. Keine Mehrheit im Reichstag, kein Mehrheitsdruck der öffentlichen Meinung forderte von der Regierung beschleunigten Flottenbau, niemand drängte den Kaiser als ein Dutzend Marineleute, hinter denen ein paar Hunderttausend Bürger Schlachtgesänge feierten. Tirpitz entlassen, irgendeinen Gemäßigten ernennen konnte der Kaiser von heut auf morgen, – und durch sein Volk wäre ein Aufatmen gegangen, hörbarer als selbst der klirrende Ruf der Alldeutschen. Die englische Entscheidung im Juli 14 wäre nicht gegen uns gefallen, der Krieg vermieden oder gewonnen worden.
Aber der Kaiser konnte so nicht handeln, sein Wesen zwang ihn in die andere Bahn. Zu tief war sie gefühlt, die grausam immer neue Eifersucht, die alte, nie ganz schweigende Verletztheit seiner empfindlichen Seele: nur in nichts nachgeben gegen dies eine Land, nur nicht vor England die Segel – oder gar die Kanonen streichen, die aus den gestaffelten Listen, aus den blau-weißen Skizzen der Panzertürme hervorragten! Mögen sie niemals losgehen, das war sein Wunsch; aber drohend sollten sie diesem hochmütigen Hause Respekt abzwingen, das war sein Wille.
Seine ganze heimliche Liebe zu England, immer gebrochen von Haß, Groll und Eifersucht, wird beim Tode des Onkels kund. Aufs höchste erleichtert ihn das Ende seines Todfeindes, wenige Stunden nach Eintreffen der Nachricht schreibt er neben die Kondolenz des Kanzlers: »Die ... Intrigenwirtschaft wird sich legen, die Europa in stetem Atem hielt ... Ich glaube, im ganzen wird mehr Ruhe in die europäische Politik kommen; wenn nichts weiter, wäre das schon ein Gewinn. Am meisten betrauert wird Eduard VII. nächst seinem Volke von Galliern und Juden werden.« Gleich darauf aber, bei der Leichenfeier, springen alle alten Erinnerungen wieder auf, hier fühlt sich ein Menschenherz an Jugend und sorglose Tage erinnert, und zwischen Hofklatsch, naiver Freude am Beifall der Menge und errafften Politica heißt es in der seitenlangen drahtlichen Beschreibung an den Kanzler (A. 28. 327):
»Ich hatte im Schloß Windsor die Zimmer meiner Eltern zugewiesen bekommen, in denen ich als kleiner Junge oft gespielt ... Es waren mannigfache Erinnerungen, die mein Herz durchzogen ... Sie riefen mein altes Heimatgefühl von neuem wach, welches mich an diesen Ort so fest bindet, und das mir persönlich im Hinblick auf die politische Seite die letzten Jahre besonders schwer zu tragen gemacht hat. Ich bin stolz, diesen Ort meine zweite Heimat zu nennen und ein Mitglied dieser königlichen Familie zu sein ... Auch fand ich noch einen Platz in der Erinnerung, wo ich als Kind infolge des vielen Puddingessens mich kolossal übergeben habe. Besten Gruß.«
Wie er seine lange Trauernachricht mit dieser lachenden Erinnerung schließt, die bis in dämmerige Kindertage zurückführt, kann man nicht ohne Ergriffenheit vor dem wunderlichen Schicksal eines Mannes stehn, den immerfort sein Dämon zwang, zu hassen, was er lieben wollte.
Der ganze Sommer 12 bedrohte Europa mit einem Weltkrieg. Zum erstenmal geeinigt stand der Balkan vor Österreich, die große Antithese, die den Erdteil seit dreißig Jahren weit heftiger beunruhigte als Elsaß und Lothringen: der Kampf zwischen Rußland und Österreich schien aufs neue akut, aber niemand wagte, das Schwert zu ziehen.
Am wenigsten der Kaiser. Schon im bosnischen Jahre, als ihm sein Botschafter eine neue Hetze der Panslawisten zur Wiederherstellung des militärischen Prestiges meldete, schrieb er daneben: »Haben sie noch nicht Jammer genug gehabt? Unerhörte Frivolität, Hunderttausende zu opfern, um das ›Face‹ wiederherzustellen!« Dies Wort, wäre es ihm Religion gewesen, es würde ihn in der Geschichte retten; so aber, genau so tief oder flach gefühlt, wie jede seiner hundert drohenden Reden, blieb es die Stimmung eines Augenblicks, verging mit ihm und war in entscheidender Stunde in unbekannte Schluchten des Herzens getaucht.
Der Balkankrieg, Oktober 12, warf alle Mächte durcheinander. Alle logen, nur in der Nuance verschieden: in Petersburg log man frech, in London vorsichtig, in Wien frivol, in Berlin dumm. Als dann die rasch geschlagenen Türken Deutschland um Vermittlung baten, verbot der Kaiser eine Aktion mitzumachen, die irgendwie seitens des Vierbundes als Absicht ausgelegt werden könnte, ihm in den Arm zu fallen, »selbst auf die Gefahr, mehrere Mächte des Konzertes zu verschnupfen« (4. 11. 12). Erst als sich alles anschickte zu vermitteln, ging er mit.
Auf der Konferenz war er vernünftiger als die Seinigen, bestritt dem Wiener Grafen Berchtold, der aufs neue den serbischen Krieg suchte, das Recht, die Serben vom Meere abzuschneiden: »Um dieser Frage willen würde ich noch weniger als um den Sandschak einen Krieg ... auf mich nehmen. Der Dreibund deckt nur den wirklichen Besitzstand der Verbündeten, nicht andere Ansprüche. Das würde ich weder vor meinem Volke noch vor meinem Gewissen verantworten können.« Und als Bethmann ihn vor Erschütterung des Bündnisses warnt, verdoppelt er unverdrossen seine friedliche Warnung gegen ein kriegerisches Österreich, lehnt jede Möglichkeit eines Krieges ab, »bei dem alles aufs Spiel gesetzt werden muß, eventuell Deutschland untergehen kann, ... und das alles wegen Albanien und Durazzo! Im Bundesvertrage steht nirgends, daß das deutsche Heer und Volk den Launen der auswärtigen Politik eines anderen Staates direkt dienstbar gemacht und quasi dafür zur Verfügung gehalten werden muß.«
Goldene Worte! Zwei Jahre später wiederholt, konnten sie den Weltkrieg verhindern.
Doch schon zwei Wochen später wirft ein »Jagdbesuch« des Thronfolgers Franz Ferdinand die Stimmung um: plötzlich erklärt der Kaiser den Augenblick für »höchst ernst, die Verantwortung, Österreich noch weiter am Losschlagen zu hindern, können wir nicht übernehmen.« Solch ein Stimmungsumschlag, vom befreundeten Fürsten auf der Jagd oder in einer Abendstunde durch Suggestion erzeugt, zeigt aufs neue die weibliche Labilität dieses Charakters; zugleich zeigen sich die hochpolitischen Folgen: Konferenz der verbündeten Generalstäbe in Berlin, Sicherung des gleichzeitigen Aufmarsches, Kanzlerrede über Bundestreue, große Kriegsgefahr. Erst spät bemerkte man in Berlin, daß Wien alle düpiert hat, gar keinen Krieg, nur einen persönlichen diplomatischen Erfolg sucht: Graf Berchtold hatte mit dem Weltkrieg nur geschäkert.
Aber der Kaiser war scharf gemacht worden, forderte nun Aufklärung seines Volkes durch die Presse »über die Lebensnotwendigkeiten Österreichs, denn sonst wird, wenn der Krieg kommt, niemand wissen, für welche Interessen Deutschland in diesem Krieg zu kämpfen hat«. Rußland aber stoppte noch einmal ab, Poincaré war darüber »in größter Bestürzung« und suchte nach den »verborgenen Gründen« der Umkehr.
Auf dem englischen Ohr ist der Kaiser wieder taub: große Anerbietungen Greys in Orientfragen werden durch Überforderung und Mißtrauen zerschlagen, genau wie anno Holstein gegen Chamberlain, und wieder wird gleich nach dieser deutschen Ablehnung ein Abkommen mit Frankreich, diesmal das briefliche mit Cambon, von England geschlossen. »Jetzt wissen wir,« schreibt der Kaiser, »was wir zu erwarten haben ... Jede Macht, die zu haben ist, ist gut genug, uns zu helfen. Es geht um Sein oder Nichtsein Deutschlands« (8. 12.). So tief ist jetzt der Anspruch gesunken, vereinsamt steht das Reich, und da es sein Kaiser endlich erkannte, will er mit jedem gehen, der sich bietet. Größte Vorsicht überall! Der Kaiser, März 13: »Die Politik Wiens Serbien gegenüber war verfehlt! Man gewähre ... ihm Rückhalt. Österreich muß die slawische Welle teilen, da man sonst alle Slawen den Russen in die Arme treibt.«
Mit solchen pazifistischen Gedanken suchte der Kaiser Berchtold zu stürzen, es glückte ihm nicht; doch auch schon damals hat er die Gefahr erkannt, die im Leichtsinn und Ehrgeiz von ein paar Grafen in Wien und Petersburg lag. Auch als aus dem Bukarester Frieden Serbien mächtiger hervorging, als nun die Wiener Politik noch zielloser wurde und sich im fehlerhaften Kreis ihrer inneren Probleme drehte: da war es allen, auch dem Kaiser klar, wie er, mit einem zerfallenden Reich verbündet, mit furchtbarer Notwendigkeit dennoch daran geschmiedet blieb. Den »Kampf zwischen Germanen und Slawen«, wie er es immer nannte, fühlte er näherrücken und mußte sich doch sagen, daß die »Germanen« dabei an einen halbslawischen Staatenbund gefesselt waren.
Holsteins These von der Unlösbarkeit dieses Bündnisses, durch die Geschichte so ganz und so rasch widerlegt, wie seine zweite von der ewigen Feindschaft Englands gegen Rußland, zugleich die unstäte Politik des Kaisers, die in seinem Kreuz- und Querreisen ein Symbol fand, hatte das Reich am Schlusse so vereinsamt, daß jede Erkenntnis zu spät kam. Selbst Tschirschky, lange Jahre Botschafter in Wien, schrieb noch im Mai 14, »ob es wirklich lohnte, uns so fest an dieses in allen Fugen krachende Gebilde anzuschließen und die mühsame Arbeit weiterzuleisten, es mit fortzuschleppen«. Bei alldem fühlte man sich in Berlin nicht einmal Österreichs sicher! Vergebens hatte früher Schuwalow, jetzt, Frühjahr 14, Ssasanow nach Berlin hin gesagt: »Lâchez l'Autriche et nous lâcherons les Français.«
Diese aus seinen eigenen Entscheidungen im wesentlichen hervorgegangene Lage des Reiches erkannte der Kaiser wohl und war durch keine Gefühlsmomente zur Überschätzung des Bündnisses genötigt; er verehrte auch den alten Kaiser nicht übermäßig, er war nur in seine Verehrung verliebt, weil sie ihm gut stand, und was den Thronfolger betraf, so war er ihm so völlig wesensfremd, wie die Verschiedenheit ihrer Köpfe es darstellt. Hart, wild, nie liebenswürdig, wenig liebenswert, Pessimist und Menschen-Verächter, dunkel und furchtlos, brutal und geizig, weder Redner noch Sprachkenner, aber passionierter Schütze und Gärtner, nur weich als Gatte und Vater, und somit allem Scheine fremd, so stellte Franz Ferdinand in allem den Gegenpol zu Kaiser Wilhelms Wesen dar, und war ihm durch nichts als durch den Zug zur Autokratie verwandt und durch einen Pakt verbunden, dem beide nur im Sinn einer alten verdrossenen Ehe noch anhingen.
Je mehr der Kaiser Österreich mißtraute, um so stärker suchte er, besonders zuletzt, des Balkans sich zu versichern. Serbien hatte er auf der Konferenz gegen Wien unterstützt, die Bulgaren erklärte er für »das Volk der Zukunft und in ihrer Entwicklung ebensowenig aufzuhalten, wie einst die Preußen«. Den Griechen, deren Königin jetzt seine Schwester war, verschaffte er im Frieden gegen große Widerstände Kawalla und schloß von einem ihm vorgestellten Wohlstand in Korfu auf den Reichtum Griechenlands. Bei den Türken, deren Leben oder Sterben unentschieden blieb, versah er sich für beide Fälle, er schrieb: »Vorbereitungen für die Aufteilung der Türkei, die anscheinend näher bevorsteht, als man glaubt! ... Aufgepaßt! daß die Aufteilung nicht ohne uns gemacht wird!« und belegte im Kopfe Mesopotamien für Deutschland. Zugleich aber schickte er im November 13 den General Liman von Sanders mit großen Vollmachten und Strafgewalten als Kommandeur hinunter, regte dadurch die Russen auf und machte die Engländer unruhig, die dort auch herumkommandierten, wenn auch nur auf den Schiffen. Schließlich gab er auch in dieser übereilten Sache im entscheidenden Punkte nach.
Nur wegen der Flotte war und blieb er intransigent, wie dies in der Geschichte seiner Jugend tiefbegründet lag. Sonst aber hatte er nun fünf Jahre lang erkannt, daß, eingekreist, wie er war, ihn und sein Reich nur noch die höchste Vorsicht zu erhalten vermochte.
Die Kieler Woche war auf ihrer Höhe. Der Kaiser als Admiral, unter dem Sonnensegel der »Hohenzollern«, leitete die Regatta: man schrieb den 28. Juni 1914, und es war 3 Uhr. Wandte er den Blick östlich, so sah er ein paar schwarze Schiffe ihren Schattenriß vor die Sonne werfen, die trugen den Union Jack. Churchill selber wollte dabei sein, aber man konnte sich über die Form der Einladung nicht einigen und versäumte noch diese äußerste Gelegenheit zu vernünftiger Aussprache durch die bedeutsame Erwägung, der Engländer müßte seinen Wunsch zur Einladung, den er vertraulich geäußert, auch noch offiziös ausdrücken. Aber auch Briand war ausgeblieben, und war doch durch den Fürsten von Monaco eingeladen. Warum?
Jetzt, da der Kaiser mit der Regatta beschäftigt ist, nähert sich ein Motorboot, man winkt herauf, nun will es anlegen, der Kaiser winkt ab, man soll ihn ungeschoren lassen; aber der Offizier im Boot gibt nicht nach, hält eine Depesche hoch, legt sie in sein Zigarettenetui, wirft es an Bord hinauf, daß es der nächste Matrose aufheben und seinem Herrn präsentieren muß. Ein unerhörter Vorgang. Wehe, wenn die Nachricht solche Störung nicht lohnt!
Vor drei Stunden, so liest der Kaiser, hat man den Erzherzog und seine Frau in Serajewo ermordet. »Jetzt muß ich wieder von vorn anfangen!« Das sind seine ersten Worte. Flagge Halbstock, Regatta und Kieler Woche abgebrochen, Rückkehr nach Berlin.
Der serbische Schütze, der die Weltkatastrophe unter dem Namen Gabriel Princip doppelt symbolisch zum Ausbruch brachte, traf den Kaiser mitten ins Herz. Nicht um des Ermordeten willen, der nie sein Freund gewesen und dessen Gedächtnis ihm zunächst kein Wort der Trauer entriß. Viel mehr als Freundschaft war in ihm getroffen: aus seinem Weltbild und Glauben hatte der Serbe das Kernstück herausgeschossen. Von Gottes Gnaden: das ist das tiefste Gefühl in der Seele Wilhelms des Zweiten, echt und naiv lebt es in ihm, Antrieb und zugleich Rechtfertigung seines Selbstbewußtseins; durch dies Gefühl allein wird er zur eigenen Überordnung über die anderen Menschen, zu den Begriffen König und Untertan im Sinne der Alten geradezu religiös verpflichtet.
Fürsten sind heilig, da Gott mit ihnen unmittelbar verkehrt, das ist sein ganz antiker Glaubenssatz, und noch der feindlichste, noch König Eduard, ist ihm bei persönlicher Begegnung irgendwie vertrauter als Roosevelt, dem er um seines mächtigen Landes willen schmeichelte. Obwohl er den Zaren als Schwächling und Träumer verachtete, bedeutete ihm sein Leben viel mehr als das des »Holzfällers Fallières«. Als Carnot ermordet wurde, rührte sich in seinem Herzen nichts, als König Umberto fiel, erhoben sich grimmig alle Lebensgeister des Kaisers. Nicht nur seine ganze äußere Politik erstrebte deshalb Verbindung mit Dynastien, klagte noch 120 Jahre nach der Enthauptung der Bourbonen die blutenden Trümmer an, auf denen Jaurès seinen Sitz aufgerichtet habe, und vermißte sogar in dem halbrepublikanischen England mit seinen wechselnden Mehrheiten die Stetigkeit der Bündnisse; auch nach innen bestimmte sein Königsglaube den dreißigjährigen Kampf gegen die Sozialisten, die er mit Anarchisten zusammenwarf und einfach als Königsmörder empfand.
So mußte die Nachricht aus Serajewo mit diesem Grundgefühle seines Standes in ihm das Bewußtsein der Würde, der Berufung, zugleich aber seine immer wache Furcht vor gleichem Schicksal treffen, und die durchaus friedwillige Haltung bei den letzten Krisen mit einem Schlag in den brennenden Wunsch nach Sühne und Abschreckung verwandeln. Drei serbische Brände waren in den letzten fünf Jahren wesentlich durch das Veto des Kaisers gebannt worden; jetzt endlich hatten die Wiener Kriegsgrafen und die Berliner Alldeutschen, Pariser Revanchisten und Petersburger Kriegsfürsten samt ihren Militärs den lang erhofften, glücklichen Tag. Der Weltkrieg, der sich seit dreißig Jahren, schon unter Bismarck am russisch-österreichischem Gegensatze, d. h. im Grunde am Widersinn der Habsburgischen Monarchie ein dutzendmal entzünden wollte, konnte nicht logischer ausbrechen als um dieser serbischen Frage willen.
Weder Poincarés Eitelkeit noch Wilhelms Provokationen, weder das Geschrei von ein paar tausend Lothringern auf den Boulevards noch der Übermut von ebensoviel Alldeutschen können eine Kriegsschuld ihrer Völker vor der Geschichte jemals stabilieren. Seit Jahrzehnten war die Situation gegeben, seit Jahren die Gefahr gesteigert, mit ihr die Vorsicht von fast allen Seiten; kein Staatshaupt aber fürchtete im Herzen und mied deshalb den Krieg mehr als der Kaiser. Blieb er auch diesmal ruhig, wie in den drei Krisen der letzten Jahre, so war Europa durch Staatskunst auch diesmal zu retten, obwohl er in dem entscheidenden England sich einen Feind herangezogen hatte. Nur die tiefste Gemütsbewegung konnte seinen nervösen Charakter aus seiner Bahn werfen, und auch diese nur für kurze Frist.
Im Anfang des Juli 14, dessen Geschichte hier so wenig wie die des Krieges zu schreiben ist, hätte ein Kenner der menschlichen Seele die Haltung des Kaisers vorzeichnen können, und zwar in zwei Phasen: Strafe für Fürstenmord, rasch, hitzig, dann aber, im Gefühle der Einkesselung, wenn sich's zusammenzöge, Abstoppen jeden Lärms. Seine ganze schneidige, übermännliche Prätention war durch den Schuß des Fanatikers wieder frei geworden, doch nur für einen Augenblick; und wie sich seine Großmannssucht an jenem Januarmorgen 96 von der Entfesselung eines englischen Krieges wegen Transvaal bis zum Glückwunsch an Krüger eindämmen und ableiten ließ, so hätte achtzehn Jahre später das blutige Haupt jenes Serben genügt, um seinen Zorn zu stillen.
Drei Psychologen von Verantwortungsgefühl an der Spitze des Petersburger, des Wiener und des Berliner Kabinetts konnten am 1. Juli 14, trotz aller kriegslustigen Militärs in Europa, den Sturm aufs neue beschwören, genau wie seit dreißig und wieder seit fünf Jahren; Witte, Tisza und Bülow wäre es gelungen. Iswolski und Berchtold aber spielten verbrecherisch mit dem Kriege, jener, um sich für seine Niederlage in Buchlau zu rächen, wo er den Österreichern Bosnien überließ, dieser, um seinen serbischen Echec vom vorigen Jahre auszugleichen, den er grollend dem Friedenswunsche Kaiser Wilhelms zuschrieb.
Drei ausgesprochen antikriegerische Kaiser wurden von Ehrgeiz, Rachsucht, Ungeschick ihrer Minister in einen Krieg getrieben, dessen Gefahren für ihre Throne sie alle drei vorausfühlten und schon deshalb zu meiden suchten. Ihre drei Völker waren dabei so gut wie alle andern, die später kämpften, friedlich gesinnt, sie wurden erst durch Lügen von allen Seiten aufgehetzt; denn weder Handelsneid noch Rassenfeindschaft, weder materielle noch moralische Gründe haben an irgendeiner Stelle Europas diesen Kabinettskrieg notwendig gemacht. Das Blutopfer von zehn Millionen seiner Söhne hat Europa keiner »tragischen Notwendigkeit«, keiner »Verkettung der Schicksale«, sondern nur dem Treiben seiner Führer zu verdanken.
Das erste von den vielen Worten, die der Kaiser an den Rand der 879 deutschen Akten vor Kriegsbeginn schrieb, zwei Tage nach dem Attentat, hieß: »Jetzt oder nie!« (D. 7.) Als von der Abrechnung mit Serbien die Rede ist«, und als der Botschafter in Wien verständig berichtet: »Ich benutze jeden solchen Anlaß, um ruhig, aber sehr nachdrücklich und ernst vor übereilten Schritten zu warnen«, fährt ihm der Kaiser wütend dazwischen: »Wer hat ihn dazu ermächtigt? Das ist sehr dumm! geht ihn gar nichts an ... Nachher heißt es dann, wenn's schief geht, Deutschland hat nicht gewollt!! Tschirschky soll den Unsinn gefälligst lassen! Mit den Serben muß aufgeräumt werden, und zwar bald!« In den nächsten Tagen drängt er auf allen Berichten zur Beschleunigung der Wiener Forderung an Serbien.
Am 5. Juli empfing er ein Handschreiben seines Verbündeten, bei dessen Erklärung Graf Hoyos die Aufteilung Serbiens ankündigte, und gab, ohne Befragung des Kanzlers, dem österreichischen Botschafter nach dem Frühstück in Potsdam eine Blanko-Vollmacht, die er ihm noch vor Tische verweigert hatte. Ohne diese Zusage konnte Österreich nichts wagen, mit ihr wurden die Wiener Pläne ausführbar. Am 5. und 6. besprach der Kaiser, da alle Chefs auf Urlaub, mit deren Vertretern die Kriegsbereitschaft zu Lande und zu Wasser, was in einer Krisis natürlich, hielt aber keinerlei Kronrat ab. Dann ging er – verhängnisvoll – auf die Nordlandreise, halb gedrängt von denen, die auf Krieg hofften und seine Timidität fürchteten.
Drei Jahre vorher, Juli 11, hatte ihn die bloße Mitteilung, Kiderlen wolle gegen die Franzosen kräftig auftreten, auf der Nordlandreise in solche Erregung versetzt, daß er ganz folgerichtig schrieb: »Dann muß ich sofort nach Hause. Denn ich kann meine Regierung nicht so auftreten lassen, ohne an Ort und Stelle zu sein, um die Konsequenzen genau zu übersehen und in der Hand zu haben! Das wäre sonst unverzeihlich ... Le Roi s'amuse! Und derweilen steuern wir auf die Mobilmachung los! Ohne mich darf das nicht geschehen!«
Jetzt übersäte er drei Wochen lang die ihm gedrahteten Berichte mit Glossen, die seine Stimmungen deutlich machen wie in einem Tagebuch; alles, was darin mehr als Gefühlsausbruch, was Wille und Anschauung war, wurde als des Kaisers Befehl und Entscheidung den Botschaftern »zur Regelung ihrer Sprache« sofort weitergedrahtet. Aus diesen Befehlen, herausgeschleudert von einem aufgeregten Mann an Bord, den niemand und den keine Volksstimmung direkt beraten oder warnen konnte, wurden in den entscheidenden drei Juliwochen die Beschlüsse der Verbündeten geformt, legitimiert oder zumindest nicht aufgehalten.
Im Wiener Bericht vom 10. las der Kaiser die Maßlosigkeiten der gegen Serbien geplanten Forderungen im allgemeinen mit dem Zusatz: »Sollten die Serben alle gestellten Forderungen annehmen, so wäre das eine Lösung, die dem Grafen Berchtold sehr unsympathisch wäre, und er sinnt noch darüber nach, welche Forderungen man stellen könne, die Serbien eine Annahme völlig unmöglich machen würde.« Neben diesen diabolischen Gedanken schreibt der Kaiser: »Den Sandschak räumen! Dann ist der Krakeel sofort da! Den muß Österreich sofort wiederhaben, um die Einigung Serbiens und Montenegros und das Erreichen des Meeres seitens der Serben zu hindern!«
Vor anderthalb Jahren hieß es: »Um dieser Frage willen würde ich noch weniger als um den Sandschak einen Krieg auf mich nehmen. Der Dreibund deckt nur den wirklichen Besitzstand der Verbündeten, nicht andere Ansprüche. Das würde ich weder vor meinem Volke noch vor meinem Gewissen verantworten können ... Ein Krieg, bei dem alles aufs Spiel gesetzt werden muß, eventuell Deutschland untergehen kann, und das alles wegen Albanien und Durazzo!«
So blind hat ihn die Wut gemacht. Zugleich schreibt er neben die Bemerkung, Graf Tisza sei für Vorsicht und Anstand: »Mördern gegenüber nach dem, was vorgefallen ist! Blödsinn!« Darunter: »Ungefähr wie zur Zeit der Schlesischen Kriege: »Ich bin gegen die Kriegsräte und Beratungen, sintemalen die timidere Partey allemal die Oberhand hat.« Friedrich der Große (D. 29).
Verletzt vom Gefühle der Tempelschändung, getrieben von dem Wunsch, in dieser rasch ansteigenden Krisis vor den Seinigen als Hort des Königsgedankens dazustehn, umgeben nur vom Meere und von seinen schneidigen Fahrtgenossen, zu Haus vertreten von zwei schwachen Staatsmännern: so vergißt er alle verständigen Einwürfe, die ihn bisher gegen die Abenteuer der Wiener Kriegsgrafen skeptisch gemacht, und drängt zur Bestrafung der Mörder. Ja, es scheint, er kann es gar nicht erwarten, denn auf zwei Wiener Berichte vom 14., nach denen man mit dem Ultimatum auf Poincarés Abfahrt warten wolle, schreibt er zweimal: »Wie schade!«
Entscheidend für diese Heftigkeit war sein fester Glaube, niemals könne sich der Zar für »Fürstenmörder« einsetzen. Sein jahrzehntealter Irrtum, die Völker würden noch heut, wie einst, von ihren Monarchen regiert, diese tiefe Überschätzung dynastischer Entscheidungen in Europa, die er aus dem Schwergewicht seiner eigenen Entscheidungen in Deutschland herleitete, setzte auch in seinen Kalkulationen dieser Wochen die Person des Zaren von Gottes Gnaden an die Stelle der russischen Regierung, und obwohl er Nikolaus' Schwäche aus Erfahrung kannte, schrieb er doch wiederholt, niemals könnte sich dieser für Serbien einsetzen, »dem Täter und Vertreter des Fürstenmordes«. So war es wieder sein Königsglaube, der ihn an Rußlands Schweigen bei Serbiens Demütigung glauben ließ, anstatt mit Rußlands Eintreten und dadurch mit dem Weltkrieg.
Dies Motiv kehrt immer wieder, auch gegen England, vor dessen feindlichem Eingreifen Fürst Lichnowsky vom ersten Tag an beschwörend warnte; er, Bernstorff und Wangenheim waren die einzigen, die vor dem Eintritt der Feinde in den Krieg richtig gesehn und berichtet haben. Jetzt tritt das beleidigte Gottesgnaden-Motiv in doppelter Form beim Kaiser auf: gegen Fürstenmörder, denen sich kein König anschließen könne, und für die freie Entschließung des Habsburgers, dem man nicht dreinreden dürfe:
»Wie komme ich dazu,« schreibt der Kaiser neben Greys Aufforderung, »die Wiener zu kalmieren! Die Kerls haben Agitation mit Mord getrieben und müssen geduckt werden ... Das ist eine ungeheure britische Unverschämtheit. Ich bin nicht berufen, à la Grey S.M. dem Kaiser Vorschriften über die Wahrung seiner Ehre zu machen! ... Das soll Grey aber recht ernst und deutlich gesagt werden, damit er sieht, daß ich keinen Spaß verstehe ... Serbien ist eine Räuberbande, die für Verbrechen gefaßt werden muß! Ich werde mich in nichts einmischen, was der Kaiser zu beurteilen allein befugt ist! ... Echt britische Denkweise und herablassend befehlende Art, die ich abgewiesen haben will! Wilhelm I.R.«
Bis in die feierliche Unterschrift gleicht dieser Ausbruch den wildesten Dokumenten seiner Mittelzeit, mit denen er Europa zu beherrschen glaubte; doch während er ablehnt, seinen Verbündeten zu besänftigen, läßt er in Paris fordern, daß Frankreich das nämliche mit den seinigen tue. Dies ist geschrieben auf der Höhe von Balholm am 24. Juli, vor Kenntnis des Wiener Ultimatums an Serbien, dessen Wortlaut der Kaiser gar nicht, seine Minister erst 24 Stunden vor Übergabe mit Schrecken kennen lernten. Die Erregung, die ihn zeitlebens vor England erfaßt hat, weckte auch in diesen Tagen die alten Triebe und Schwächen, Stolz und Verlegenheit in ihm, und während er den Ritter spielt, der dem »ehrwürdigen Herrn« in Wien Schutz und Schirm zugesagt hat und keineswegs fragen darf, für welche Abenteuer, faßt er zugleich den Engländer wie einen Schulbuben an.
Noch immer steigt seine kriegerische Aufregung, nichts, was in Wien geschieht, erscheint ihm genug. Noch am 26. schreibt er (D. 145) neben einen Bericht aus Paris: »Ultimata erfüllt man oder nicht. Aber man diskutiert nicht mehr! Daher der Name!« und neben einen aus Wien (D. 155), wonach Berchtold vor dem russischen Botschafter auf jede Eroberung verzichtet und auch sonst versöhnend gesprochen habe: »Gänzlich überflüssig, wird Eindruck der Schwäche erwecken ..., was Rußland gegenüber unbedingt falsch ist und vermieden werden muß. Österreich hat seine guten Gründe ... Nun kann der Schritt nicht hinterher quasi zur Diskussion gestellt werden! ... Esel! Den Sandschak muß es wiedernehmen, sonst kommen die Serben an die Adria!« So geht es weiter: »Serbien ist kein Staat im europäischen Sinne«, heißt es am selben Tage (D. 157), sondern eine Räuberbande!« Als Grey im selben Berichte sagen läßt, die Gefahr eines europäischen Krieges sei »in nächste Nähe gerückt«, schreibt der Kaiser nur: »Das wird sicher kommen«, und als der Engländer eine vermittelnde Konferenz zur Vermeidung des Krieges zu viert vorschlägt: »Ist überflüssig ... Ich tue nicht mit, nur wenn Österreich mich ausdrücklich darum bittet, was nicht wahrscheinlich. In Ehren- und vitalen Fragen konsultiert man andere nicht.«
Mit diesen Worten, die am 26. nachts nach Berlin, am andern Morgen nach London weitergedrahtet wurden, brach Greys Vorschlag zusammen, der den ganzen Streit genau wie voriges Jahr durch eine Konferenz der Botschafter schlichten wollte, – freilich, vorher schuldhaft versäumt hat, in Petersburg die Neutralität oder in Berlin die Kriegsbereitschaft Englands als entscheidende Warnung amtlich mitzuteilen.
An diesem 26., als ganz Europa um die Annahme des Ultimatums bangte, erreichte das Tempo des Kaisers seinen Höhepunkt: jetzt glaubt er sogar nicht mehr an Rußlands Fürstenstellung, denn er schreibt: »Seit seiner Verbrüderung mit der französischen Sozial-Republik (hat es diese) nicht mehr!« An anderer Stelle: »Das kommt vom Bunde der absoluten Monarchie und der absoluten sozialistischen Sansculotten-Republik.« Schließlich schreibt er auf Ssasanows Drohungen, wenn Österreich Serbien verschlinge, werde Rußland fechten, im berlinischen Tone: »Na, denn zu!« Am selben Tag unter einen warnenden Bericht aus Rom: »Das ist lauter Quatsch und wird sich schon von selbst geben im Lauf der Ereignisse,« und auf eine Mahnung des Kanzlers, die Heimsendung der Flotte zu unterbrechen, wütend: »Unglaubliche Zumutung! Unerhört! ... Die (allgemeine Lage) hat der Zivilkanzler noch nicht begriffen!« (D. 182).
In diesen Julitagen hatten den Kaiser mitten auf dem Meere alle seine guten Geister verlassen.
Noch am nächsten Tage, als Bethmann vor übereilter Mobilmachung warnt, auf Englands Vermittlung erneut hinweist und eine ruhige Haltung fordert (D. 197), heißt es mit Hohngelächter: »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! Nur Ruhe, immer nur Ruhe!! Eine ruhige Mobilmachung ist eben auch was Neues,« und weil Bethmann in dieser Depesche anfragt, wo der Kaiser »an Land steige«, verspottet der Admiral des Atlantischen Ozeans die Landratte mit zwei Ausrufungszeichen, weil der Kanzler im Drang der Geschäfte nicht seemännisch drahtet, »an Land gehen«.
Fast zugleich mit dem Kaiser traf in Berlin die serbische Antwort ein; es war beinahe jene unbedingte Annahme, die Berchthold so sehr gefürchtet hatte. Der Kaiser liest sie, – und mit einem Schlag ist seine ganze Stimmung umgeworfen. War es der sorgenvolle Ausdruck seiner Untertanen, den er auf der Fahrt von der Küste zur Hauptstadt diesmal befragt hat? War es der Wechsel der Umgebung? Der endlich, viel zu spät erneuerte Kontakt mit seinen amtlichen Beratern? Oder ist es vielleicht nur die Erkenntnis gewesen, mehr könne niemand fordern? Gewiß ist, daß er am 28. unter die Antwort der Serben schreibt (D. 271): »Eine brillante Leistung für eine Frist von bloß 48 Stunden! Das ist mehr, als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort, und (der Gesandte) Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen. Daraufhin hätte ich niemals Mobilmachung befohlen!«
Ja, nun entschließt er sich sogar zu einem längeren Handschreiben an seinen Staatssekretär, wie solche von ihm sonst fast immer durch Marginalien oder mündlichen Befehl ersetzt wurden. Es heißt darin:
»Die Kapitulation demütigster Art liegt urbi et orbi verkündet, und durch sie entfällt jeder Grund zum Kriege.« Indessen, man brauche Belgrad als Faustpfand zur Durchsetzung der Forderungen, besonders, damit der Armee, die dreimal umsonst mobilgemacht, eine satisfaction d'honneur gegeben werde und das Bewußtsein, wenigstens auf fremdem Boden gestanden zu haben ... Ohnedem dürfte bei Unterbleiben eines Feldzuges eine sehr üble Stimmung gegen die Dynastie aufkommen, die höchst bedenklich wäre. Falls E. E. diese Auffassung teilen, würde ich vorschlagen, Österreich zu sagen: ... man gratuliere. Natürlich sei damit ein Kriegsgrund nicht mehr vorhanden. Wohl aber eine Garantie nötig, daß die Versprechungen durchgeführt werden ... Auf dieser Basis bin ich bereit, den Frieden in Österreich zu vermitteln ... Das werde ich tun auf Meine Manier, und so schonend für das österreichische Nationalgefühl und für die Waffenehre seiner Armee, als möglich ... Sie muß unbedingt eine sichtbare satisfaction d'honneur haben; das ist Vorbedingung für meine Vermittlung ... Ich habe im obigen Sinne dem Chef des Generalstabs durch Plessen schreiben lassen.«
Ein maskierter Rückzug in die Vernunft. Hört man ihn aufatmen, den zur ewigen Uniform verurteilten Zivilisten? Das Gewitter ist vorüber, von Krieg nicht mehr die Rede, die Räuberbande braucht nicht ecrasiert, der Sandschak nicht besetzt, Serbien von der Adria nicht mehr verdrängt zu werden, aus Eroberung und Weltbrand ist eine militärische Promenade geworden, es geht nur noch um Waffenehre, Satisfaktion, Prestige der Dynastie, und die Fürstenmörder werden für ihre brillante Leistung gelobt. Die volle Ernüchterung rechnete auf Frieden.
Zu spät! Die Büchse der Pandora war geöffnet.
Alles, was in den entscheidenden vier Tagen nun folgt, ist Friedenswille, und wo der Kaiser seine früheren Impulse fälscht, geschieht es im guten Glauben eines nervösen Charakters, der in jeder entschiedenen Stimmung die vorige vergißt. Alle Fahrlässigkeit, mit der man in Berlin den Verbündeten handeln ließ und vorher alles unterschrieb, was er nachher aufschreiben würde, war durch die Marginalien des Kaisers legitimiert; wären die Dämpfer, Mahnungen und Warnungen, die sich vom 28. Juli ab nach Wien hin jagten, in den beiden vorigen Wochen dort hingelangt, genau so, wie es Grey vom Kaiser wünschte, wäre er schon an Bord in kalmierender Stimmung gewesen, so hätte Wien das Ultimatum niemals ablehnen, London die Konferenz durchsetzen, Petersburg den Degen kaum noch ziehen können.
Jetzt, da in ganz Europa die Wiener Ablehnung des Ultimatums auf deutsche Schultern gelegt und ungerecht gelegt wurde, fühlte sich der Kaiser auch nach rückwärts völlig gutwillig. Nachdem er noch am 26. jeden Verlaß auf den Zaren seit seiner Alliance mit der Republik geleugnet, heißt es nun (D. 288): »Das war mir nicht bekannt (daß Rußland Serbien unterstützen würde). Ich konnte nicht voraussetzen, daß der Zar sich auf Seiten von Banditen und Königsmördern stellen würde, selbst auf die Gefahr hin, einen Krieg in Europa zu entfesseln. Einer solchen Mentalität ist ein Germane unfähig, die ist slawisch oder lateinisch.«
Jetzt sucht er mit allen Mitteln zu bremsen. Seine eindringliche Depesche vom 28. an den Zaren kreuzt sich mit einer ganz ähnlichen von diesem an ihn: zwei Hilferufe, die symbolisch aneinander vorüberrauschen, aber der Ton, in dem er nun die russischen Depeschen behandelt, ist ruhig. Dagegen schrillt Haß und furchtsame Energie gegen die eigenen Untertanen: »Die Sozen machen antimilitärische Umtriebe in den Straßen, das darf nicht geduldet werden, jetzt auf keinen Fall; im Wiederholungsfalle werde ich Belagerungszustand proklamieren und die Führer samt und sonders einsperren lassen.«
Draußen steigt ein Millionenheer an den Grenzen empor, von einem Tag zum andern melden dem Kaiser seine Organe, nicht nur aus Petersburg, daß Rußland mobil macht. Es schreckt ihn nicht. Daß aber das Volk von Berlin oder ein Teil davon sich erhebt, um mit letzter Kraft das Unheil zu verhüten, bringt ihn in Harnisch. Wilhelm der Zweite hat zeitlebens die Koalition draußen weniger gefürchtet, als den Aufstand drinnen.
Nur gegen England ist er voll Haß, wie vorher, und während sonst die Marginalien vom 28. ab plötzlich sachlichen und ruhigen Stil annehmen (nur noch zuweilen durch »Schwein« und andere Zoologica belebt), hagelt es gegen England auch weiterhin von Beschimpfungen und Moralismen. Freilich hat er recht, daß Grey »durch ein einziges, ernstes, scharf abmahnendes Wort in Petersburg ... beide sofort stillmachen kann«; dann aber steigert er sich in ein Paradoxon hinein, das er aufs erstaunlichste von Deutschland hinüberwirft: »Gemeiner Hundsfott! England allein trägt die Verantwortung für Krieg und Frieden, nicht wir mehr! Das muß auch öffentlich dargestellt werden!«
Da plötzlich kommt die entscheidende Nachricht, seit Jahren gefürchtet, seit Tagen geahnt, nun wird es Wahrheit: Rußland macht an der ganzen Grenze mit seinem Millionenheer mobil. Da ist es, als stände der immer Redende vor diesem nun verkörperten Gespenste sekundenlang sprachlos; mit seiner letzten Hoffnung brechen die Nerven zusammen. Da hängt es plötzlich mit unheimlichen Maschen vor der Sonne, das längst gefühlte, unsichtbare Netz! Dann läßt der Eingeschlossene die Wasser seines Zornes in Kaskaden niederstürzen, ein beleidigter, betrogener, unschuldiger Fürst, der nur seine Absicht bekennt, nicht seine Fehler, und darum sich subjektiv schuldlos fühlt. In einem wahrhaft großartigen Schriftstück (D. 401) entlädt sich endlich sein aufgestautes Vorgefühl:
»Mein Amt ist aus ... Leichtsinn und Schwäche sollen die Welt in den furchtbarsten Krieg stürzen, der auf den Untergang Deutschlands schließlich abzielt. Denn das läßt jetzt für mich keinen Zweifel zu: England, Frankreich und Rußland haben sich verabredet ... gegen uns den Vernichtungskrieg zu führen ... Das ist in nuce die wahre, nackte Situation, die langsam und sicher durch Eduard VII. eingefädelt, ... schließlich ins Werk gesetzt wird. Dabei wird uns die Dummheit und Ungeschicklichkeit unseres Verbündeten zum Fallstrick gemacht. Also die berühmte Einkreisung Deutschlands ist nun doch endlich zur vollsten Tatsache geworden ... Hohnlachend hat England den glänzendsten Erfolg seiner beharrlich durchgeführten, pure antideutschen Weltpolitik ... eine großartige Leistung, die Bewunderung erweckt, selbst bei dem, der durch sie zugrunde geht! Eduard ist nach seinem Tode noch stärker als ich, der ich lebe! ... Wir sind ins Garn gelaufen ... in rührender Hoffnung England damit zu beruhigen!!! Alle Warnungen, alle Bitten meinerseits sind nutzlos verhallt. Jetzt kommt der englische Dank dafür! Aus dem Dilemma der Bundestreue gegen den ehrwürdigen alten Kaiser wird uns eine Situation geschaffen, die England den gewünschten Vorwand gibt, uns zu vernichten ... Unsere Konsuln in Türkei und Indien, Agenten usw. müssen die ganze mohammedanische Welt gegen dieses verhaßte, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen; denn wenn wir uns verbluten sollen, dann soll England wenigstens Indien verlieren! W.«
Nirgends im Umkreise seiner Millionen Worte hat Wilhelm der Zweite einen so elementaren Aufschrei getan, nie in seinem Leben mit solcher Glut das Böse auf einen Feind herabgewünscht. So bricht nur blinde Wut einer echten Leidenschaft, so bricht sie nur einmal im Leben hervor. Dieser Fluch ist unter einen drohenden Bericht aus Petersburg geschrieben, der England mit keinem Wort erwähnt. Bei der russischen Mobilmachung hat der Kaiser den Krieg als unvermeidbar erkannt, den er fünf Jahre lang zu verhindern wußte, Englands Stellung ist drohend, doch noch unentschieden, der Konflikt ist russisch, Mobilmachung, Betrug sind russisch: und doch wirft sich des Kaisers Bitterkeit und Zorn, Enttäuschung und Entsetzen weder auf die Streiche des Verbündeten noch auf die Tücke des russischen Hofes, nicht einmal auf den englischen Premier; vor der Passion dieser dunkelsten Lebensstunde steigt nichts auf als die Gestalt des vielgehaßten Feindes, den er im Tode überwunden glaubte, und neben ihm schwanken ins Ungewisse Mutter und Großmutter. Es ist der Zusammenbruch einer Familie, der im Herzen Wilhelms des Zweiten zum Weltkrieg führt. Als ein Verzweifelter beginnt der Kaiser den Krieg.
Und doch behält er in allem die Haltung eines absoluten Königs, er achtet mitten im Gewühle, daß alles so ritterlich arrangiert werde, wie es sein historisches Formgefühl fordert, und während allenthalben die Parlamente des 20. Jahrhunderts Krieg oder Frieden entscheiden, werfen sich die drei letzten Kaiser den Handschuh hin, wie zum Turnier der Troubadoure, ohne indessen selber auf Tod und Leben in die Arena zu reiten. Uralte Akten schlägt man auf, um die eleganteste Wendung über den Handschuh und die Herausforderung zu finden, man schreibt in der Wilhelmstraße (D. 542): »S.M. l'Empereur, mon Auguste Souverain, au nom de l'Empire relève le défi et Se considère en état de guerre avec la Russie.«
So knarrt die alte rostige Maschine zum letztenmal durch das erste Geknatter der Gewehre, und während sich Kaiser und Zar noch gegenseitige Angstschreie zudrahten, die auf beiden Seiten gleich aufrichtig sind, da beide um ihren Thron zittern, werden beide schon wider Willen von der ungeheuren Turbine erfaßt, deren gefährliche Schwungkraft vorher kein König richtig beargwöhnt hatte. Selbst mit England wird der Familienhaß für einen Augenblick in Vetternschaft gehüllt, wie alte Puppen versichern sich Prinz Heinrich und König Georg Frieden und Freundschaft, und George und Willy tauschen noch am 1. August Depeschen, die freilich kälter sind als selbst die kriegerischen Abschiedsgrüße zwischen Nicky und Willy.
Viel schlimmer als dem Zaren, dessen Truppen schon schießen, geht es im Herzen des Kaisers dem verbündeten König von Italien, der eben erst anfängt sich zu drücken: »Schurke! Halunke!!« (D. 700) heißt es in den Marginalien, und der König von Griechenland, der sein Bündnis mit Serbien als Grund zur Neutralität anführt, wird im fridericianischen Stile mit den Worten kommandiert: »Ihr sollt nach Rußland marschieren!«
Überhaupt steigert sich mit dem Beginn des Konfliktes im Kaiser das Gefühl des germanischen Stolzes, und obwohl diese Souveräne alle Vettern sind und fast alle eine gemeinsame Groß- oder Urgroßmutter haben, steckt er die Grenze ab, spricht von »slawischem Verrat, lateinischem Hochmut, echt britischer Verlogenheit«; neben Äußerungen von Tyrrell und Bunsen heißt es sogar: »Ein Sohn einer Deutschen, der so lügt« und »ein Deutscher, der solche Lügen schreibt« (D. 764). Trotzdem erkennt er im einzelnen die deutschen Fehler früher als ein anderer, und obwohl er alle Schuld am Konflikt auf Rußland und England schiebt, nie auf Paris, doch auch nie auf Wien, schreibt er am 4. August neben einen Bericht, der den Ausfall auch des rumänischen Bundesgenossen bekräftigt: »Die Verbündeten fallen schon vor dem Kriege von uns ab, wie die faulen Äpfel! Ein totaler Zusammenbruch der auswärtigen deutschen bzw. auch österreichischen Diplomatie. Das hätte vermieden werden müssen und können« (D. 811).
Diese klassisch geformten Sätze, mit denen seine Randbemerkungen im wesentlichen enden, eröffnen einen Blick in seine Seele am Nachmittage nach der Rede im Weißen Saal; ein kurzer, lichter Augenblick, in dem er mit Bitterkeit zwar nicht die eigenen, doch wenigstens die Fehler der Seinigen erkennt. Die ungeheure Vereinsamung, in die seine persönliche Politik, in die sein nervöser Charakter ihn und das Reich durch 25 Jahre getrieben, läßt ihn beim Abfall der Verbündeten doppelt erschauern. Jetzt fühlt er wohl endlich auch, was es heißt, sich mit einem Leichnam beladen, den alle meiden, und, schlimmer wie Hamlet den toten Polonius, ihn gar noch selber auf die Bühne schleifen. »Ich habe nie ein so tragisches und zerstörtes Gesicht gesehen – äußerte ein Vertrauter (T.238), – wie das des Kaisers in diesen Tagen.«
Wilhelm der Zweite stand vor der ersten, vor der letzten Probe seines Lebens. Im Angesichte der Nation und der Geschichte sollte er nun sein System von Autokratie und Gottesgnadentum, vor seiner inneren Stimme aber das große Wagnis seines Lebens rechtfertigen: Mut und Willensstärke sollte er sich beweisen, Entschlußkraft und Gelassenheit, die er durch dreißig Jahre sich nicht hatte abzwingen können. Denn heute ging die ganze Machtfülle, die er so oft sich angemaßt, verfassungsmäßig auf ihn über.
Jetzt oder nie galt es, den Meister zu zeigen.