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VI. Kapitel.
Katastrophen

I

Das Netz, in dem die drei Regierer Deutschlands einander und den Kaiser hielten, aus Mißtrauen und Eifersucht geknüpft, mußte endlich zerreißen. Holstein und Eulenburg, gefesselt durch gemeinsame Sache bei getrennten Lebenskreisen, getrennt durch die Fessel eines gemeinsamen Hasses: der Einsiedler und der Hofmann suchten einander zu überwinden, und da der eine dem Kaiser gar nicht, der andere nicht mehr als einziger Freund begegnete, umbuhlten sie beide den Dritten, der Amt und Verantwortung, zugleich die stete Nähe des Monarchen hatte: zwischen beiden stand Bülow und suchte sich von ihren Ketten zu befreien.

Vor beiden hatte er die Kühle voraus. Denn während Eulenburg in seiner undinenhaft feuchten Wärme für den kaiserlichen Freund, Holstein in Handwerksleidenschaft für die Konflikte Europas glühte, war Bülow von keinem andern Streben bewegt, als möglichst lange die drohenden Gefahren niederzuhalten, die das Temperament seines Herrn heraufbeschworen hatte. Aktivität und Zynismus belebten ihn reiner als seine beiden belasteten Freunde, und wenn Holstein in seinem Laboratorium etwas vom Doktor Wagner, Eulenburg manches von Marthe Schwerdtlein hatte, so spielte Bülow zuweilen den Mephisto, der den Kaiser durch das Flammengaukelspiel seiner Noten, Reden und Aufführungen unterhielt.

Bülow, im Sommer 05 nach seinem größten Fehler, nach Marokko gefürstet, konnte auf dieser Höhe seiner Macht nur noch einen persönlichen Wunsch im Busen tragen: die beiden Rivalen im Amt und beim Kaiser zu entfernen, um diesen und damit die Regierung allein seiner Suggestion zu unterwerfen. Darum bot er, zwei Monate nach dem Fürstentitel, wegen des russischen Vertrages seinen Abschied an und glaubte sich nach jenem Zusammenbruch des nach ihm weinenden Kaisers der Herrschaft sicher. Hatte er schon vorher Holstein in der Amtsentfernung Eulenburgs unterstützt, wenn auch mit fast unsichtbaren Mitteln, so half er jetzt Eulenburg mit den gleichen, Holsteins Sturz vorzubereiten, beides keineswegs als Initiator oder gar als Intrigant, nur seiner Natur folgend als Glücksritter, der jeden Weg benutzt, den ihm der Himmel weist.

Der Himmel aber richtete es so ein, daß erst Eulenburg durch Holstein halb, dann Holstein durch Eulenburg und Bülow ganz, dann Eulenburg durch Holstein ganz, dann der Kaiser durch Bülow halb und am Ende Bülow durch den Kaiser ganz entmachtet wurde. Am Ende dieser Komödie stand das deutsche Volk unwissend, sein Genius trauernd auf der Trümmerstätte. Das Ganze hat sich in drei Jahren, 06-09, erst insgeheim, dann allzu öffentlich abgespielt.

Die Anfänge lagen zurück. Der Streit um Goluchowski, den Holsteins verletzte Eitelkeit haßte, hatte ihn von Eulenburg vollends entfernt, der als Botschafter in Wien das Heil des Reiches gegen ihn zu verteidigen glaubte und schrieb: »Auf Goluchowski, der Schratt und mir steht momentan der ganze Dreibund.« Holstein dagegen zeigte in Berlin dem österreichischen Botschafter, der ein Gegner seines Chefs Goluchowski war, des Kaisers abfällige Randnoten gegen diesen, damit man sie in Wien erführe: er beging also Landesverrat durch Mitteilung von Staatsgeheimnissen an eine fremde Macht. Neujahr 99 kam es zum letzten Wechsel von Briefen zwischen den beiden früheren Freunden:

»Von ganzem Herzen meinen Gruß und treue Wünsche« sendet in einem schlauen Schreiben Eulenburg an Holstein und fügt, um ihn zur Stärkung seiner eigenen Stellung wieder zu gewinnen, die doppelsinnigen Zeilen hinzu: »Wir haben so viel Hartes miteinander durchgemacht ... wir sind gewissermaßen zusammengebrannt und gesiedet worden! ... Je älter man wird, desto mehr muß man sich an die alten Beziehungen halten.« In glänzend ironischer Antwort bedauert Holstein, daß »Sie nicht nach dem Semmering fuhren und sich dort amüsierten ... Also warten wir ab und trinken irgendwas, am besten Tee! Ich hoffe, daß der jetzt von Falb prophezeite Eismonat Ihnen und Ihrer Familie zu einer heitern Lebensanschauung, soweit sie nicht schon vorhanden ist, verhelfen wird. Mit herzlichem Gruß Holstein.«

Dieser herzliche Gruß war sein letzter Betrug an Eulenburg. Mit so hochmütigen Bosheiten schloß er eine zwölfjährige Korrespondenz ab, den nächsten Brief beantwortete er nicht mehr und ließ sich dann in Berlin verleugnen. Ein Jahr darauf mußte er freilich mit ansehen, wie Eulenburg Fürst und damit auch in seiner Wiener Stellung gefestigt wurde, aber er ließ nicht ab und verstand, durch den Schein sachlicher Gründe nun auch Bülow zum ersten amtlichen Affront gegen seinen Intimus zu bewegen: einen schneidigen Erlaß vom März 1900 an Eulenburg gegen seine Politik, um einer geringen Sache willen, unterzeichnete Bülow, und man begreift Eulenburgs Bitterkeit, wenn er sich dazu bemerkt: »Daß sich Bülow dazu hergab, einen solchen gefährlichen Unsinn mitzumachen, kennzeichnet seine Abhängigkeit von Holstein. Ich bin außer mir über dieses sich mir plötzlich enthüllende Bild!«

Während aber im Laufe des Jahres Holstein seine Federn gegen den deutschen Botschafter in Wien schreiben ließ, verstand Bülow sich diesen zu erhalten, obwohl er zugleich Holstein ergeben war; eine Weile glich er dem Manne, der seine alte Geliebte durch unverminderte Zärtlichkeit zur Anerkennung einer neuen nötigt und beider Klagelieder mit Teilnahme anzuhören vorgibt. »Wenn ich denke, schrieb Eulenburg, daß ich Holstein nur Gutes tat, für ihn eintrat, ihm half, wo ich konnte, viel, sehr viel um seinetwillen gelitten habe, – und nun diese Feindschaft, dieser Haß!« In Wahrheit hatte er Holstein gefürchtet, ihm nur geholfen, wo er sich half, und nie um ihn gelitten. Jetzt rächte sich der allgemeine Betrug und wurde zum Selbstbetruge.

Denn so wie Holstein damals noch Bülow beherrschte, so hatte Bülow den Kaiser kaptiviert und hielt, indem er in diesen nicht sehr klaren Wellen herumschwamm, an einer langen Leine auch noch den fernen Eulenburg: »Lasse Dich überhaupt nicht so sehr ins Bockshorn jagen«, schrieb er im März 02, »verliere Deine Nerven nicht ... Ich denke oft an Achilles, mit dem unser Herr viel Ähnlichkeit hat, und von dem Homer sagt: sein ruhmatmendes Herz kennt weder Furcht noch Entfliehen.« Daß Bülow ein solches Schattenspiel vor Eulenburg aufführen konnte, wurde durch dessen Antwort akzentuiert: »Ich nehme an, daß Du bei Deinem achilleischen Vergleiche nicht an die Ferse des Helden dachtest.«

Inzwischen hält in Berlin der Freund den neuen Achilles in Fesseln der Schmeichelei, ja, es gelingt ihm, den gemeinsamen Freund selbst im Herzen des Kaisers zu verdunkeln, seinen Rücktritt anzubahnen. Ohne politisch zu antworten, kann er darum im nächsten Brief nach Wien schreiben, Eulenburg solle seine Gesundheit wieder herstellen, »um noch lange Jahre für Dein Leben und Wirken und Deine reichen Gaben in einer Dich ... wahrhaft beglückenden Weise verwerten zu können.«

Wie? Sind es erst neun Jahre, daß Bülow, noch außerhalb des Allerheiligsten, das Flötenkonzert ihrer schwesterlichen Seelen in den jungen Mond verhauchen ließ, – und heute soll der Freund seine reichen Gaben außerhalb des Tempels verwerten, in den er jenen eingeführt? Schlimme Momente für den Königsmacher, wenn er solche Zeilen seines Geschöpfes liest! Doch er weiß den so deutlich gewünschten Abschied höfisch zu instrumentieren. Seine Superlative türmen sich: »Mein Gesundheitszustand ist ein qualvoller, das ist die reine Wahrheit. Durch zehn Jahre furchtbarer, mühevoller Arbeit mit unserm lieben Herrn bin ich total erschöpft ... Der Arzt erklärte mir, folgte ich nicht seinem Rate, so sei ich in einigen Jahren ein toter Mann. Machte ich jetzt diesen Schritt, so sei es möglich, daß ich mich meiner Familie noch eine Zeitlang erhielte.« (Trotz schwerster Erschütterungen lebte er noch zwanzig Jahre.)

Im Mai kommt es zur Aussprache zwischen den Busenfreunden, in der Bülow sagt: »Das preußische Wesen ist hart und rücksichtslos, feine Naturen, wie Du es bist, ... sind dafür nicht geschaffen.« In Wahrheit ist von preußischer Härte so wenig wie von feinen Naturen die Rede, sondern von einem klugen Kanzler, der seinen neurasthenischen Herrn wie ein Arzt bewacht. Eulenburg, der das alles seit fünfzehn Jahren kennt, ist fast ergreifend, wenn er dem heut noch unverbrauchten Freunde Bernhard nach der Aussprache schreibt: »Ich will nicht mehr Deine Freundschaft belasten und ich bin nicht mehr imstande, den ungeduldig schwankenden Zustand zwischen Launen, Verdächtigungen, Freundlichkeiten und Phrasen zu ertragen.« Nur des Kaisers Freundschaft und das Glück hätten das alles überbrückt; jetzt »sinkt vor meinem Entschluß mein Amt, die Politik, das weltliche Leben ... zusammen, und es steigt meine Musik, mein stilles Liebenberg, die mir wiedergegebene Familie mit glücklichen Klängen auf. Wie wenigen ist dies Doppelleben von Gott gegeben, – die Möglichkeit einer Rückkehr in das Eigentliche!«

Nirgends wirkt Eulenburg so sympathisch wie hier, wo er zu resignieren scheint, alles Mitgefühl sammelt sich auf ihn, nach 15jährigem Trubel wünscht man ihm ein langes klares Alter mit Musik und Versen, ohne nach deren Qualität zu fragen. Ja, als er dann im Sommer den Staatsdienst verläßt, bricht er an Bülow in die Worte aus, er scheide ohne Bitterkeit, »denn neben dem geliebten Kaiser sehe ich den einzig möglichen Mann – und um Dein Haupt weht der rätselhafte Schleier des Geschicks, das Dir bestimmt ist: Gott möge es in die Fluten der Gnade tauchen!«

Zwar, um Bülows Haupt weht völlig rätselfrei nur der Wind der Parteien und der Ventilator der Presse, auch würde ein in die Fluten getauchter Schleier nicht mehr wehen; wäre aber sonst alles in Ordnung, wäre dieser Favorit wirklich so klug, sich beizeiten in Kunst und Stille zurückzuziehen, Respekt und Teilnahme würden ihm folgen. In Wahrheit ist alles Theater, Hofmann und Günstling zu sein kann er nicht entbehren: und daran soll er zugrunde gehn. Mit wahrhaft prophetischen Worten schreibt Eulenburg um diese Zeit, fünf volle Jahre vor seiner Katastrophe, dem Freunde Bülow Rufe der Angst, die nur einer ausstößt, der manches zu verbergen hat: »Ich werde auch auf Dich einmal zählen können ... Einem gebrochenen und todkranken Mann werden die preußischen Landsleute und Freunde allerdings noch einen Eimer Gift und Kot über den Kopf gießen, daran zweifle ich nicht ... Dein Freundesschutz wird mir zu der Zeit nicht fehlen, dazu kenne ich Dich zu genau.«

Worte der Ahnung und Mahnung, zwischen denen das Mißtrauen gegen solchen Freundesschutz angstvoll atmet.

 

II

Aber nicht lange durfte Holstein der Königsstürzer den halben Sturz des Königsmachers genießen: Eulenburgs Verkehr mit dem einseitigen Duzfreund gewährleistete ihm die Gunst des Kaisers auch außer Amt und dann vielleicht besonders, Holsteins Fremdheit gegen den Kaiser dagegen bedrohte ihn bei Abgang aus dem Amt sogleich mit voller Vernichtung. Endlich zog sichs nun auch um ihn zusammen.

Marokko: das war Holsteins Erfindung gewesen, und als er im März 04 die Landung des Kaisers in Tanger durch Bülow erzwang, fühlte er sich Meister Europas. Zwar, auch er wollte den Krieg nicht, der sein Handwerk vielleicht zerstört, zumindest unterbrochen hätte, er wollte nur das Prestige heben, das heißt, er wiederholte die Phrase von einer nationalen Ehre, die durch vernünftige Verständigung in kolonialen Fragen angeblich gekränkt würde. Draußen aber mußte man glauben, Deutschland suche mit Frankreich den Krieg, jetzt, während der Russe in Asien festgehalten war, und als im April die Diplomaten kamen, um nach dem. Zweck der kaiserlichen Landung und Rede zu fragen, gaben Holstein und Bülow die Parole aus: »Die Sphinx markieren.« Die Franzosen demütigen, das war die Absicht, Bülow wagte es zu diesem Zweck sogar, eine Pariser Anfrage zur Schlichtung aller Kolonialfragen auf der Konferenz dem Kaiser zu verheimlichen, dessen friedliche Absichten ihn jetzt störten.

In seiner Zelle saß Holstein und wachte über seinen Phiolen. Er war stark genug, als Geheimrat eine Beratung mit den Spitzen der Armee und der Marine zu erzwingen, um diese zu gewinnen, und während der Staatssekretär gegen ihn sprach, saß Bülow in verantwortlichem Schweigen. Als im Juli 04 Delcassé zum Fürsten Lichnowsky sagte, man wolle sich über Marokko ruhig verständigen, da war Holstein außer sich über Lichnowskys Bericht und ließ ihn verschwinden; wenigstens fehlt er in den Akten. Was ein andrer gegen, ja nur ohne ihn machte, schien Holstein verwerflich; er wollte Frankreich demütigen, besonders um sich für persönliche Demütigungen aus seiner Pariser Amtszeit zu rächen.

Um diese Zeit begann sich Bülow endlich von ihm zu lösen; bei der noch dauernden Freundschaft mit Eulenburg ist dessen Einverständnis ebenso natürlich, wie Eulenburgs treibender Einfluß auf Bülow gegen Holstein, den Feind, Bülow selber, nun sieben Jahre Führer der Geschäfte, hatte Holstein verbraucht und dachte, da er gern in Faust-Zitaten liebte, von dem einst Unentbehrlichen jetzt: »Was kannst du armer Teufel geben!« Zuweilen hatte er sich schon gegen Holstein durchgesetzt, aber er blieb dabei, zu erklären, »daß es eine Hölle sei« (E. 2, 380). Eulenburgs immer noch wirksame Fürsprache beim Kaiser konnte er überdies durch Holsteins Sturz nur erhöhen: so beschloß er die Verbannung des Alchimisten.

Doch nur mit höchster Vorsicht! Hatte selbst Bismarck nicht gewagt, sich seiner zu entledigen, »weil er im Auslande plaudern könnte«, um wieviel mehr mußte Bülow ihn fürchten, der – nach jenem dunklen Worte von Eulenburg – persönlich irgendwie durch ihn beunruhigt war. Was Bülow jetzt gelang: Holstein zu stürzen und ihn doch zum Freunde zu behalten, das ist sein Meisterstück und würde genügen, ihn als Diplomaten hohen Ranges zu erweisen.

Ein Anlaß war bald ausgefunden, er knüpfte sich an die Person des damaligen Staatssekretärs von Richthofen, dessen Absetzung, nach mancherlei Intrigen, Holstein im Juni 04 vergeblich von Bülow forderte, worauf er zum zwölften Mal um seine Entlassung bat. Diesmal schrieb er aber zugleich in erstaunlichem Tone an Hammann (Bilder aus der letzten Kaiserzeit, 29), natürlich für Bülows Augen:

»Seit mehr als einem Viertel-Jahrhundert sitze ich in meinem Bureau, gehe nicht an Hof und verlange keine Rolle zu spielen ... Ich hatte in dieser Zeit ungezählte, größere Arbeiten zu liefern, die vielleicht S.M. zu der Ansicht hätten bringen können, daß ich ein nützliches Mitglied des Auswärtigen Amtes sei. Aber was ist aus allen meinen ... Aufzeichnungen geworden? Nur selten und ausnahmsweise ging eine derselben als Innendienstbericht an den Kaiser, ... die größte Zahl ging zu den Akten. Kein Wunder, daß der Kaiser sich an den Gedanken gewöhnt zu haben scheint, dieses unproduktive Amt als einen verknöcherten Organismus anzusehen ... Die Genehmigung (meines Abschiedsgesuches) ist unter den obwaltenden Umständen selbstverständlich, ebenso die Angriffe und verdächtigenden Mutmaßungen, welche sich aus dem bekannten feindlichen Winkel ... gegen mich richten werden. Ich werde mich dann nach Kräften mit allen verfügbaren Mitteln verteidigen. Persönliche Rücksichten habe ich dabei nicht zu nehmen ... Das Prestige Deutschlands ist in den letzten Jahren geschwunden, während unsere Gegner einen Ring zu bilden im Begriffe sind. Es sind schwierige Situationen zu gewärtigen, für welche ich den Anteil von moralischer Verantwortung, den jeder Mitarbeiter hat, lieber nicht übernehmen möchte, deshalb sage ich Ihnen lieber Lebewohl.«

Der ganze Holstein: Nachdem er sich immer dem Lichte des Tages entzogen, klagt er über mangelnde Anerkennung eines Kaisers, den er verachtet; weil er einen unbequemen Chef zum erstenmal nicht los wird, tritt er nicht etwa zurück, sondern er macht sein formelles Gesuch dahin durch unverhüllte Drohungen zur Farce, indem er, ganz Erpresser, Geheimnisse über hohe Personen zu erzählen androht, und dies nicht etwa einem der Bedrohten, sondern einem Mittelsmann; zugleich aber lehnt er für alle Fälle jede Verantwortung an den Folgen seiner eigenen entscheidenden Schritte ab. Aus diesen Briefen kann das deutsche Volk nicht nur den Charakter, auch die Form des Denkens und Verhandelns erkennen, in der der Baron von Holstein fünfzehn Jahre lang die Geschicke des Reiches mitbestimmte.

Glänzend schlägt ihn Bülow ab, indem er an Hammann schreibt: »Seit Bismarcks Entlassung ist von der Nichterneuerung des russischen Vertrages und vom ostasiatischen Dreibund bis zur Behandlung der Marokkofrage, von dem sogenannten Uriasbrief nach Wien bis zur Veröffentlichung der Swinemünder Depesche, von der im Jahre 96 erfolgten Wendung gegen England bis zur Shanghai-Differenz mit dieser Macht ... in unserer auswärtigen Politik nichts von Bedeutung geschehen, wozu Holstein nicht geraten hätte.«

Mit Verlesung dieses Kataloges, der zugleich die Fehler der deutschen Außen-Politik von 1890 bis 1904 zusammenfaßt, packt Bülow den seiner Verantwortung enteilenden Geheimrat am Rockzipfel, zugleich sucht er sich selber zu entlasten. Der Abschied wird nicht bewilligt, aber Bülow läßt das Gesuch unbeantwortet, damit es über Holsteins grauem Barte hängen bleibe. Nach den Ferien erscheint der Geheimrat wieder im Amt, nimmt Dienst und Verkehr auf, glaubt, es sei nichts geschehn: er fühlt sich sicher.

Im nächsten Jahre steigern sich seine Exzentrizitäten. Während Bülow in Marokko auf Einigung hinarbeitet, hetzt Holstein die Presse und läßt seine sogenannte Geisel-Theorie verbreiten, wonach die Franzosen in einem englischen Krieg unsere Geiseln seien. Als dadurch die Spannung mit Bülow und dem ihm verbündeten Pressechef Hammann wächst, sucht Holstein sich nun auch formell zu sichern, wird vollends Haustyrann und verletzt am Ausgang seiner Bahn zum erstenmal sein innerstes Gesetz: Neujahr 06 fordert er unter neuer Androhung seines Rücktrittes sofortige Ernennung zum Direktor der Politischen Abteilung, mit Unterstellung des Pressedienstes.

Als Bülow, der krank liegt, jene Unterstellung verweigert, erschmeichelt sie sich Holstein durch Zusage steter Einigkeit. Andern Tages sagt Bülow zu Hammann: »Ich verstehe vollkommen Ihren moralischen Widerwillen gegen diesen Erpresser. Nach dem Ende der Konferenz werde ich ihn entfernen, jetzt muß ich ihn noch halten, er könnte durch Stänkereien das Reichsinteresse bedenklich schädigen« (Hammann, Bilder, 36). Als dann die Frage vor den Reichstag kommen soll und man eine »Holstein-Debatte« androht, durch die die Nation zum erstenmal von einem ihrer wichtigsten Lenker erfahren hätte, siegt Holsteins Lichtscheu noch einmal über seine Autokratie, er tritt von seiner Forderung zurück.

In solcher Zersetzung der Freundschaften, Wünsche, Motive leben beide miteinander, als Bülow aus Paris den Entschluß erfährt, man wolle wirklich kämpfen, wenn es nicht anders gehe. Großartig tritt nun seine Energie hervor; an diesem März 06 sieht man, was er im Juli 14 geleistet hätte. Von heut auf morgen entzieht er dem Allmächtigen die Akten der von ihm durch Monate geleiteten Konferenz, wirft sich darauf, arbeitet Tag und Nacht, um die Konferenz zu liquidieren, die Kriegsgefahr zu verscheuchen. Dieser März, der seine stärkste Arbeitsleistung umfaßt, wird ihm aber zugleich von einem täglichen Kampf mit dem noch immer amtierenden, noch immer befreundeten, nicht heut, erst morgen zu entlassenden Holstein zerrieben, dessen Briefe und Entlassungsdrohungen, wie Hammann schreibt, des Kanzlers Nerven ruinieren mußten.

Endlich, in den ersten Apriltagen ist man auf der Konferenz mit Frankreich einig geworden. Die Entente hatte sich in Algeciras zum erstenmal erprobt und zusammengeschlossen, Deutschland hat die Konferenz verloren, bestätigt sich aber einen großen Erfolg, am 5. soll der Kanzler das Werk vor dem Reichstag vertreten. Jetzt ist der Augenblick, den Unerträglichen loszuwerden, sein letztes Gesuch liegt noch im Schreibtisch, der Kaiser ist vorbereitet, am Morgen jenes Sitzungstages trägt Tschirschky, der von Holstein scharf bekämpfte neue Staatssekretär, dessen Entlassungsgesuch dem Kaiser vor, »im Auftrage des Kanzlers«. Der Kaiser unterzeichnet. Gleich darauf teilt Bülow das Geschehene Hammann mit: der Kaiser habe die Entlassung »gerne erteilt« (Hammann, Vorgeschichte, 151). Dann fährt er in den Reichstag, ihm folgt das halbe Amt, man nennt das einen Großen Tag.

Einsam sitzt Holstein in seiner Zelle, vom eben Geschehnen weiß er noch nichts. Nach beinah dreißig Jahren tätigen Wirkens sitzt er heut hier zum letztenmal als entlassener Geheimrat mit Pension und einem Orden: der Strom rinnt morgen nicht mehr durch ihn, sein Motor wurde abgestellt. Unheimlich mag ihm zumute sein, die letzten Wochen ließen Zweifel über die Abnahme seiner Stellung kaum mehr zu; wer ist noch, dem man klagen kann, so daß es nutzt? Wer ist der mächtigste seiner Freunde? Der englische Botschafter. Während im Reichstag seine Politik über Marokko kritisiert wird und nur eines glänzend hohlen Nekrologes von Bülows geschickten Lippen sicher ist, bittet der Urheber den Engländer zu sich, erzählt ihm alle internen Intrigen, und denkt nicht, daß dieser sie alle am nächsten Tage nicht bloß nach Hause schreiben, daß er sie auch dem Staatssekretär wiedererzählen wird. So groß war Holsteins Menschenkenntnis.

Zur selben Stunde, während Bebel seine Anklagerede hält, bricht der Kanzler im Reichstag plötzlich ohnmächtig zusammen.

Diese Ohnmacht war einer von Bülows glücklichsten Zu- und Einfällen. Freilich waren Gehirn und Nerven überreizt, freilich war alles echt; daß es ihm aber jetzt, im Plenum des Reichstages, vor vollem Haus und Galerien, im Augenblicke der Kritik einer fatalen Sache passiert, nicht eine Stunde vorher oder nachher: daß er vor aller Augen die Opfer eines Dienstes demonstriert, in dem er sich zuletzt tatsächlich aufgerieben, beweist eine Geschicklichkeit sich anzupassen, die aus dem Zentrum eines Regierungs- bis ins Zentrum eines Nerven-Systems vordringt. So feine Sinne sind auch unter Diplomaten selten, unter den wilhelminischen unbekannt.

Denn als diese Ohnmacht andern Tags bekannt wurde, waren nicht nur Millionen unpolitischer Deutscher geneigter, an die Erfolge der Marokko-Politik, es war auch Holstein genötigt, an Bülows Unschuld bei seiner Entlassung zu glauben. Sein erster Gedanke bei der telephonischen Nachricht von dem Unfall war gewesen: das kann zum Abgang führen, ein neuer Kanzler kann mir gehorsamer sein, auf alle Fälle sollte man das alte Entlassungsgesuch zurückholen. Er war um sechs Stunden zu spät gekommen. Als er am andern Morgen seine Entlassung erfuhr, stand er ungläubig vor diesem traumhaft unwirklichen Dokument. Wann war die grauenvolle Tat geschehn? Leise ließ man die sanfte Fälschung durchsickern, Tschirschky habe den Akt, während Bülow handlungsunfähig lag, hervorgeholt und auf seinen Kopf vom Kaiser zeichnen lassen, er war ja Holsteins Vorgesetzter.

Bülow aber erwachte auch aus dieser Ohnmacht mit einem Lächeln. Wie leicht konnte er jetzt dem alten Freunde seine Unschuld beteuern! Lag er nicht da, im Dienst verwundet? Wie sollte, wann konnte er –? Und da er Holsteins Feindschaft fürchtete, seinen sachlichen Rat aber wünschte, stellte er den entlassenen Freund wortlos vor die Frage, ob er nicht indirekten Einfluß auf die Geschäfte und schließlich auch die Freundschaft Bülows einer Rache vorziehen wollte, deren Folgen ungewiß waren.

In Holsteins Herzen, das den Ausdruck der Macht immer gemieden, mußte der Wunsch siegen, im alten Felde seines Wissens fortzuwirken. War Bülows Anteil an seinem Sturz unbeweisbar, so war doch Holsteins Anteil an Bülows Entschlüssen bewiesen, man konnte also über jenen schweigen, um diesen fortzuführen. Auch braucht ein Mann, der Rache sucht, nur ein Objekt, nicht zwei, und eines war gegeben. Wie gerade Holstein von heut auf morgen aus bloßem Mißtrauen die Gruppe wechseln konnte, hatte er bei seinem Übergang von Marschall zu Bülow bewiesen. Indem er nun an diesem festhielt, dem er sich damals, vor neun Jahren vor Eulenburgs Weinglas verschrieben, warf er Haß- und Rachegefühl nun ganz auf Eulenburg und konnte diesen, schon seit Jahren verfeindeten Freund sich leicht und sogar mit Recht zum Todfeinde stilisieren, der seinen Sturz beim Kaiser vorbereitet hatte.

Nachdem sie so ihre Stellungen bezogen, blieb Bülow auf der Wahlstatt als Sieger ohne Verluste zurück, Holstein als formell Besiegter mit dauerndem Einfluß; der einzige, der alles dabei verlor, war Eulenburg. Sein tödlicher Sturz wurde beschlossen.

 

III

Seit den Jugendjahren als Attaché hatte Eulenburg vor Tagebuch und Freunden geklagt, wie ihn die Politik von seiner Kunst entfernte, und wie er diese nur seinem geliebten Kaiser opferte. Als er nach 20jährigem Reichsdienst ausschied, schilderte er sich auf den Tod erkrankt, nur belebt von Hoffnung auf Heilung, um dann, vom Spiel der bösen Welt erlöst, nur noch seinen Musen und den heißgeliebten Seinigen im stillen Liebenberg zu leben. Doch kaum war er wieder Privatmann, so schien er frisch und willig, dem Kaiser, »um ihm keine Enttäuschung zu bereiten«, aufs neue zu folgen: im Juni 03 nach Norwegen, im September nach Rominten, im November empfing er ihn auf seinem Schloß. Dabei versah er jetzt und in den folgenden Jahren als einziger Diplomat beim Kaiser den entscheidenden Dienst, vermittelte, ganz wie in der Jugend, von Bord und aus dem Busch des Kaisers Willen an das Amt und sah ihn in den Jahren 03 bis 06 jeden Herbst in Liebenberg, wo jedesmal Entscheidungen fielen.

Ganz Favorit warf er seinen außeramtlichen Einfluß vor allem auf Personenfragen. Zu placieren waren freilich nur noch wenige, die alten Freunde saßen in höchsten Stellungen, neue wuchsen hoffähig nicht nach; so galt es jetzt mehr zu deplacieren. Warum nicht einen zweifelhaften Freund, dem man zum höchsten Amt im Staat verholfen, nach einem Jahrzehnt von dieser Stelle wieder entsetzen helfen? Bülow jedenfalls fühlte sich bedroht, Eulenburg wollte ihn stürzen. Und mußte er nicht mißtrauen, wenn er, noch immer »liebster Bernhard« angesprochen, in Eulenburgs Jagdbriefen des Kaisers Unzufriedenheit mit seiner Politik verzeichnet fand, und von des Freundes Hand, Oktober 06, las, der Kaiser habe gesagt: »Wenn Bülow die Sache energisch durchhält, hat er ja Gelegenheit zu zeigen, daß er noch der alte ist?« Eulenburg fährt fort: »Sicher ist, daß er absolut niemand weiß, den er an Deine Stelle setzen könnte. Ich fühlte das heraus aus der Art, wie er trotz dieses Ärgers über Dich spricht.«

Noch der alte? denkt Bülow und zweifelt nur, ob Kaiser und Eulenburg noch die alten sind. Als er dann in der Presse von der Liebenberger Kamarilla gegen ihn las, bestritt er im Reichstag durchaus nicht ihre Existenz, sagte nur warnend, diese fremde Giftpflanze habe man ohne großen Schaden für Fürst und Volk nie in den deutschen Boden versenkt.

Der Marokkostreit hatte Eulenburg ins Hochpolitische zurückgeführt. Einer seiner Freunde, der auf der Berliner geheimen Polizeiliste der Perversen stand (Tresckow, Von Fürsten und anderen Sterblichen, 152), der Legationsrat Lecomte, war durch den Kreis der Freunde intimer Kenner politischer Stimmungen geworden, soweit es die Freunde waren, erhielt im Pariser Auswärtigen Amt Eulenburgs Informationen über des Kaisers Friedlichkeit, um Holsteins Unruhe zu übertönen, und wurde im Herbst 05 nach Berlin versetzt, um hier alles noch rascher zu erfahren.

Wie in den letzten drei Jahrzehnten vor dem Kriege Angst und Drohungen aller Großmächte einander im Rhythmus von Tag und Nacht auf beiden Hemisphären ablösten, daß immer auf dieser Seite Licht, auf jener Dunkel herrschte: so konnte auch in der Marokko-Krisis die Versicherung eines einzigen Eingeweihten genügen: das Staatshaupt sei in Wahrheit friedwillig, um einen Zusammenstoß zu vertagen. In diesem Sinn war Eulenburgs Einfluß zweifellos segensreich. Da die Entmachtung Holsteins, der immerfort das Gegenteil versicherte, aus dieser Politik des Friedens sich herschrieb, war er bei seiner Entlassung doppelt gereizt, sich zu rächen. Hatte er sich nicht immer wieder eingeschossen? Jetzt war der Augenblick für den Scharfmacher da, gegen den Flaumacher sich selber scharf zu machen; jetzt um die Sechzig waren die Freunde reif, einander totzuschießen. Es war nur noch die Frage eines Mutes, den beide bisher an den Tag zu legen nicht Gelegenheit genommen hatten.

Konnte dem Menschenfeinde ein solcher Ausgang gefallen? Dem Musenfreunde? Holstein riskierte nichts, als er, gleich nach seinem Sturz, 1. Mai 06 an Eulenburg einen bodenlosen Brief abschickte: »... Ihr langjähriges Ziel, meine Beseitigung ist nun endlich erreicht. Auch sollen die gemeinen Angriffe gegen mich gerade Ihren Wünschen entsprechen ... Aus gewissen Gründen ist es freilich bedenklich, mit Ihnen zu verkehren.« Eulenburg liest es, rasch nach Berlin, Varnbüler als schneidiger Sekundant, eilige Beratung, Kugelwechsel bis Kampfunfähigkeit oder Tod, Meldung im Amt, Bülow ist noch so glücklich krank zu sein, Tschirschky fällt in einen Stuhl und sieht »einen der größten Skandale der Welt« kommen. Der Brief, von dem bisher nur die zitierten Sätze bekanntgegeben wurden, war, wie der um Rat gefragte Freiherr von Reischach berichtet, »wie ich noch nie einen gelesen, voller Beschimpfungen gemeinster Art. Er drohte ... die Verfehlungen des Fürsten der Öffentlichkeit zu übergeben, falls er noch einmal offizielle Ämter ambitionierte.«

Reischach: »Wird der Fürst die letzten Konsequenzen ziehen und schießen?«

Varnbüler: »Jedenfalls werden wir ihn als Helden frisieren.«

In diesen Worten des Freundes und Ehrenretters erklärt sich wenigstens zum Teil ein Protokoll, das am selben Nachmittag von Holstein unterzeichnet wurde: »Nachdem der Fürst zu Eulenburg auf sein Ehrenwort erklärt hat, daß er zu meiner Entlassung in keiner Weise mitgewirkt hat, auch allen gegen mich gerichteten Presseangriffen vollständig ferne stehe, ziehe ich die in meinem Brief an ihn gebrauchten verletzenden Ausdrücke hiermit zurück.«

Je entschiedener man das Duell als den »Mut von Kannibalen« bekämpft, wie es Napoleon verspottete, um so lächerlicher erscheint Abgabe und Annahme dieser Erklärung, die unter zwei adligen Offizieren und Exzellenzen, von denen der Beleidigte Fürst, Botschafter und Gardeoffizier gewesen, einen Ehrenkodex im Privatleben verleugnet, den dieselben Männer und Kreise auf Kosten friedlicher Völker unablässig im Munde führten. Beleidigungen wie diese würden nach jener untergehenden Weltanschauung zwischen Staaten Vernichtungskriege rechtfertigen; hier wurden sie von einem Fürsten akzeptiert, von einem Baron nicht zurückgenommen, und »vor Sonnenuntergang« wie das Stichwort heißt, war durch eine komische Erklärung die Ehre des Fürsten gereinigt.

Aber die Rache des Barons war nicht gesättigt.

Denn gleich darauf erhielt Eulenburg als letzte, noch fehlende Gunst des kaiserlichen Freundes den Schwarzen Adler; es blieb seine letzte. Er erhielt ihn als Dank für ein Prunkwerk über die Hohenzollern, das mit Eulenburgs Vorwort und Protektion im Format eines römischen Meßbuches einschließlich Lesepult zu kaufen war: in Wahrheit erhielt er den Orden für seine Verdienste um den Marokko-Frieden, die man einem Privatmann amtlich nicht zuerkennen durfte. Als Holstein sah, sein Feind blieb von den Anwürfen so unberührt in kaiserlicher Gunst, hatte nichts versprochen und alles erhalten, erzählte und schrieb er allenthalben, Fürst Eulenburg, Ritter des Schwarzen Adlers, läßt sich einen verächtlichen Menschen nennen und kneift; Hof und Gesellschaft sprachen von der Sache, doch noch rührte sich nichts. Da faßte Holstein, dem es bei aller Klugheit an Geist mangelte, den Plan, Geist zu suchen.

Er fand ihn in Harden, der Holsteins Wirken lange bekämpft, doch in der Marokkozeit seine Politik der Drohungen geteilt und übrigens seit zwanzig Jahren jede Form der Kamarilla attackiert hatte; vom Hofe wußte Harden wohl mehr als Holstein und mag jetzt nur ein paar bezeugte Daten oder Dokumente aus der Hexenküche des Alchimisten erhalten haben, die seine Angriffe sicherten; es waren nicht die ersten.

Harden begann zu Jahresende einen Feldzug in seiner Zeitschrift mit leisen, nur den Eingeweihten verständlichen Warnungen; so horchte auch nur der Freundeskreis auf und erblaßte wohl, als man sich mit intimen Namen angerufen hörte, die Eulenburg und Kuno Moltke, Stadtkommandant von Berlin, und ihre Freunde vertraulich führten. Vor allen erschrak Eulenburg: schon das erste, noch rein politische Auftauchen Holsteins in der »Zukunft« enthüllte ihm im voraus sein ganzes Schicksal: »Die zwischen Holstein und Harden eröffnete Aussprache öffnet eine höchst bedenkliche Perspektive. Ich sehe darin nicht nur die Rache, sondern Weiteres, viel Bedenklicheres und kann meine Sorgen nicht verbergen«: so stark lebte in ihm das Gefühl, zwar keineswegs ein Verbrecher, aber nach einem rückständigen Gesetz als Perverser strafbar zu sein. Er ging sofort ins Ausland, ließ Harden um Einstellung der Angriffe ersuchen, der sein Schweigen zusagte, wenn der politische Einfluß aufhöre, also bewies, daß er nicht das Opfer wollte wie Holstein, sondern die Sache. Am Hofe war alles glücklich und gespannt, endlich sollte er fallen, der ewige Favorit; nur die Freunde wußten, daß sie sich durch Zurückhaltung retten konnten.

Da hat Eulenburg einen Fehlschluß gemacht, der seine Gedankenwelt kompromittiert. So rasch und klug er den Grad von Holsteins Rachedurst erkannte und dessen Brücken und Mittel voraussah, so ganz verkannte er den Grad von Wilhelms Liebe. Da er die Feinde im Besitze von Beweisen gegen seine Unschuld wußte und beide Gegner, den persönlich und den sachlich erregten, für unerbittlich nahm, kann man seine Rückkehr zum Kaiser nach Wiesbaden nach wenigen Wochen der Selbstverbannung, ohne amtliche Nötigung, als ein angeblich schwerkranker, unabhängiger, den Künsten hingegebener Mann, seine Ballons in der Presse nur als kapitalen Irrtum über die Freundesstärke des Kaisers erklären. Eulenburg, der auch hier wie gegen Holstein nicht kämpfen wollte, jetzt, Anfang 07 am Genfer See vor die Frage gestellt, von Politik und Kaiser endgültig abzudanken oder sich auf die Treue seines Lebensfreundes zu verlassen, entschied sich für die Treue und verlor das Spiel.

Denn nun vervielfachte sich die Gewalt der Angriffe, nun trugen die Freunde darin nicht mehr die romantisch undurchsichtigen, sondern ihre Adelsnamen, Inland und Ausland gerieten in Bewegung; zum erstenmal erfuhren die Untertanen, welche Art von Männern seit zwanzig Jahren die ungenannten Berater ihres Herrschers waren. Von Verfehlungen gegen das Strafgesetz, wie sie Holsteins Brief dem Feinde ungestraft vorgeworfen, erfuhr man nichts, denn der Politiker wollte nur die geistigen Folgen anormaler Empfindungsart, nicht die Frage aufrollen, ob ein Strafgesetz verletzt worden sei, das jeder Arzt verspottet: man erfuhr aus der »Zukunft« nur das nämliche, was Bismarck von Eulenburg und seinem Kreis gesagt: »Unmännliche Naturen, Spiritisten, Geisterseher, Schönredner: für das Temperament des Kaisers besonders gefährlich.«

Im Lande war alles, bei Hofe war niemand überrascht, auch trat niemand auf, um Männer zu verteidigen, deren Schwächen man richtig dargestellt fand – und doch wagte es wieder niemand dem Kaiser zu sagen: erst im Mai brachte ihm der Kronprinz die Artikel und Nachricht von ihren Wirkungen.

War der Kaiser wirklich der einzige Überraschte? Ein paar Jahre zuvor hatte ihm der Kriminalinspektor von Meerscheidt-Hüllessem ein versiegeltes Paket vermacht, in dem er laut Beilage in einem durch Jahrzehnte bearbeiteten Kartenregister die Namen von über hundert Homosexuellen aus den höchsten Kreisen mit Dokumenten finden sollte; das sorgsamste Vermächtnis eines Polizeimannes an seinen Herrn. Als aber Lucanus das Paket überbrachte, der Kaiser die Beilage gelesen, ließ er die Siegel uneröffnet und sagte nur kurz: »Polizeisache. Schicken Sie das Paket an den Polizeipräsidenten.« (Von Tresckow, S.115, der es darauf empfing.) So wich der Neurastheniker einer Erkenntnis aus, in der er Prüfungen seines Gefühles ahnte: ein Zeichen zugleich von seiner Furcht und seinem Leichtsinn. Denn eben diese Erkenntnis hätte ihm die Reinigung seiner Sphäre vertraulich ermöglicht, ohne Presse und Gerichte, da alle adligen Namen, die später kompromittiert wurden, nebst ihren Spionen und Erpressern in dieser Liste standen.

Wovon aber sollte diese Sphäre im Grunde gereinigt werden? Perverse Betätigungen und wunderliche Neigungen, wie sie durch alle Grade ineinander übergingen, waren in allen Graden auch dem Kaiser bekannt, ein Prinz war des Hofes verwiesen, andere des Hofes Lieblinge geworden, nur weil jener am Ende, diese am Anfang einer langen psychischen Entwicklung und Form des anormalen Sexus standen. Und doch sollte mit seinen labilen Nerven gerade der Kaiser in zwanzig Jahren nicht bemerkt haben, was die Männer seiner Wahl von denen seiner Antipathie trennte? Er sollte Eulenburgs »Adoranten-Stellungen« nicht von Kiderlens Würfelformen, Kuno Moltkes weibliche Eleganz nicht von Tirpitz' Männlichkeit unterschieden, sollte nicht bemerkt haben, daß von einem brutal-perversen Oberst zu einem verfeinert abnormen Künstler ein verschlungener Waldweg läuft, auf dem keine Frauen spazierengehn? Hatte er nicht aus Eulenburgs Händen oft jene Briefe empfangen, in denen sich die Freunde »Geliebter Phili, liebster Kuno« ansprachen und in einem süß-larmoyanten Tone die Freundschaft priesen?

So gewiß er diese Zusammenhänge gespürt haben muß, so gewiß hat er an ihnen vorbeigesehn: er brach die Siegel nicht von solchen Paketen. Jetzt wird ihm eines vom eigenen Sohn entsiegelt überreicht. Wie? Vor seiner Garde, seinen Untertanen, vor König Eduard und dem Zaren sollte nun er, der schneidigste von allen, als Freund effeminierter Männer dastehn? Hatte er dazu ein Leben lang die innern Folgen des äußern Gebrechens niedergekämpft, um sich mit fünfzig Jahren als Freund von Epheben zu entpuppen, mit denen er doch nie das geringste vorgehabt? Weil einer schöne Lieder singt, muß er gleich Schmutzereien treiben? Lieber eine verlorene Schlacht, als diesen Feldzug des Lebens verlieren!

Mit raschen Schritten geht er vor, Friedheim vom Polizeipräsidium wird geholt, der weiß Bescheid (Von Tresckow, 164). »Der Harden ist ein verdammter Halunke,« sagt der Kaiser, »aber er würde die Angriffe nicht wagen, wenn er nicht Material in Händen hätte. Bringen Sie mir Ihre geheime Liste.« Am nächsten Tag liest er einen Teil des Materials, vor dem er sich damals gefürchtet hatte: da steht freilich weit mehr als in der »Zukunft«. Abends zu Bethmann Hollweg, den er sich als Staatssekretär des Innern kommen läßt: »Eulenburg, Hohenau, Kuno Moltke habe ich jetzt als pervers erkannt. Sie sind für mich erledigt.« Dann zu Zedlitz: »Hier muß vor aller Welt und unnachsichtlich ein moralisches Exempel statuiert werden!«

Niemand ist glücklicher an diesem Tag als Graf Hülsen-Haeseler, den einst Eulenburg durch einen boshaften Bericht aus Wien entfernt und der, als er jüngst Chef des Militärkabinetts geworden, jenen Brief bei den Akten gefunden und dem begünstigten Feinde Rache geschworen hatte. Schon Hülsens Ernennung war eigentlich ein Affront gegen Eulenburg, dessen Einfluß überhaupt wohl schon im Abnehmen gewesen war. Jetzt verschwinden im Handumdrehn fast alle von Harden genannten Personen, teils mit schlichtem Abschied, teils unter militärischer Untersuchung: zwei Grafen Hohenau, beides Flügeladjutanten, einer Kommandeur der Gardekürassiere, Söhne Prinz Albrechts, ebenso Graf Lynar, ein dritter Adjutant, ein Prinz von Preußen, dem der Kaiser den Offiziersrang abnimmt, Kuno Moltke, Kommandant von Berlin, nachher auch ein Graf Wedel, Zeremonienmeister.

Und Eulenburg? Der einzige, den er im Leben seinen Busenfreund genannt? Für den er in der Jugend »glühte«? Dem er noch spät die Kritik des Beraters freigab? Den er zum Fürsten und eben noch zum Ritter des Schwarzen Adlers gemacht? Was war das erste, was jeder anständige Freund, ja nur der vernünftige Präsident einer Körperschaft getan hätte? Hat er aus der übereilten Anschuldigung des Herrn von Kotze nicht gelernt, daß man Verleumdung nicht mit Ostereiern repariert? Damals war er noch jung, jetzt ist er beinah Fünfzig, Serien von Menschen, dann wieder Einzelne und Private hat er indes erprobt und wählte unter ihnen keinen zweiten mit gleicher Sicherheit des Herzens wie diesen einen, und hielt unter allen Günstlingen an keinem so lange fest: jetzt wird es grade dreißig Jahre, daß sie sich fanden. Jetzt ist der Augenblick der Prüfung da.

Wilhelm der Zweite ist den Prüfungen des Schicksals nicht gewachsen. In einer einzigen Stunde gibt er den hundertmal Erprobten auf, läßt ihn nicht kommen, um ihn zu befragen, sucht nicht Aug' in Auge das Wort der Unschuld gegen Dokumente, die ja auch falsch sein können, und sind sie echt, auch dann sehnt er sich, nach so vielen vertrauten Zwiegesprächen, nicht nach einem letzten, in dem er nun die Beichte eines anormalen, also vollkommen schuldlosen Menschen hören und ihm als Freund erwidern konnte: ›Für viele Gunst des Glückes wirst du nun gehetzt, um der Welt Nachrede willen muß auch ich dich jetzt verlassen. Geh ins Ausland, bleibe mir treu, und wenn ich dich nie wiedersehen sollte, sei meiner Freundschaft sicher!‹

Was tut er statt dessen? Er schickt nach Liebenberg einen Adjutanten, der Eulenburgs Feind ist, um seinen Abschied einzufordern – der Fürst war nur zur Disposition gestellt und unterzeichnet ihn sofort. Der Lärm ist riesengroß. Als einige Tage später Harden schreibt, er habe aktive Perversitäten nie behauptet, sagt Zedlitz: »Wie unglaublich haben wir uns blamiert! So leichtfertig haben wir Leute in hervorragendsten Stellungen und beste Freunde unseres Monarchen in der unerhörtesten Weise kompromittiert!« Draußen der Sturmwind stockt einen Augenblick, dann schlägt er nach der andern Seite um. Sofort wendet sich mit dem Winde der Herr, der ihn machen sollte, »Ich glaube es auch nicht«, sagt er jetzt. »Aber Eulenburg hat sich nicht schneidig genug benommen.« Auch jetzt läßt er ihn nicht zur Rechtfertigung kommen, nur schroff zur Erklärung auffordern, daß er »einwandfrei« sei, oder er solle ins Ausland gehn. Alles fällt von ihm ab.

Und nun beginnt eine Reihe von Prozessen, Privatklagen, Selbstanzeigen: alles was der Kaiser ermöglicht hat und was er aus menschlichen, politischen und höfischen Gründen um jeden Preis hätte verhindern müssen. »Diese Prozesse sind die größte Dummheit der Hohenzollern«, sagte König Eduard. Statt reinigend zu wirken, barst alles von Gift, Gestank und Ekel, die Rolle der verfolgten Unschuld fiel auf den ersten Ankläger zurück, die öffentliche Meinung wandte sich zugleich gegen ihn und gegen den Gestürzten, der monarchische Gedanke wurde geschädigt, ohne daß der demokratische im geringsten gewann, am untauglichsten Beispiel verwirrten sich die Fäden der Sympathien und Gegnerschaften, und schließlich wurde ein Fürst, dessen politischen Einfluß der Kritiker angegriffen, in die Enge und Verleugnung von Dingen getrieben, die gerade dieser moderne Kritiker immer für straffrei und privat erklärt hatte. Eulenburg wurde von der Logik der Prozesse in einen Meineid geradezu hineingedrängt, den der Kaiser nicht ihm und Harden nicht der Nation gewünscht hatte.

Nicht einmal die Umgebung des Kaisers wurde grundsätzlich anders, denn Zedlitz, der alles aus der Nähe sieht, bestätigt, »daß man durch die Prozesse die Homosexuellen keineswegs aus der Umgebung des Monarchen vertrieben hat.« Den schwankenden Resultaten dieser Prozesse folgte die ohnehin labile Stimmung des Kaisers, denn diesmal las er die Berichte ganz. »Er hat Augenblicke,« schreibt Zedlitz im November, »wo er tief niedergeschlagen und durchdrungen ist, daß die ganze Angelegenheit eine Blamage sei. Dann hat er in einem für Eulenburg und Moltke günstigen Moment die phantastische Auffassung, er müsse ihnen eine Rehabilitierung zuteil werden lassen ... Dieser Plan hat nunmehr festere Formen angenommen – heißt es im Dezember – ich bin überzeugt, daß er ihn zur Ausführung bringt ... Dann wieder, wenn er über einen Artikel sehr empört ist, denkt er ganz ernstlich daran, direkt Rechenschaft zu fordern und sagt mit voller Überzeugung: ›Wenn es jetzt in den Zeitungen nicht aufhört, schicke ich einen Flügel-Adjutanten hin und lasse den Redakteur totschießen!‹ Kurz, er hat sozusagen die Nerven verloren.« Anfang 08 ist er so erfreut, daß er »am liebsten gleich eine Rehabilitierung vorgenommen hätte, wie sie noch nie dagewesen; aber es haben in diesem Falle bisher noch Persönlichkeiten die Oberhand behalten, die vor einer Exponierung der Allerhöchsten Person warnten« (Z. 171 f.).

Dieser selbst bei ihm seltene Grad der Schwankungen zeigt sein Gefühl für den Busenfreund, zugleich das schlechte Gewissen Philipps von Spanien: »Man hat zu rasch verfahren«, zugleich eine ganz weibliche Abhängigkeit von jeweiliger Umgebung. In jedem dieser Augenblicke konnte der Kaiser den Freund retten, eben weil alle die Verwickelung zum Meineid voraussahen und erwarteten, mußte er es tun und kann, nach allem, was er zwanzig Jahre lang gegen Demokratie getan und gesagt, sich niemals mit einer Ehrfurcht vor der Gleichheit aller im Sinne der Gerechtigkeit entschuldigen, der er in allen Gebieten des Staatslebens die Klassenherrschaft entgegengestellt hat.

Als es zu Anklage wegen Meineides kommt, ist es zu spät. Nun muß der Ministerpräsident den Antrag auf Verhaftung stellen, Bürgschaft wird abgelehnt, Krankheit festgestellt, der Fürst in der Charité eingesperrt, dann unter schrecklichen Umständen im Stuhl und Bett in den Gerichtssaal gebracht, um, mit 60 Jahren, seine Beziehungen zu jungen Fischern und Soldaten zu verteidigen, mit denen er vor Jahrzehnten unerlaubten Verkehr hatte. Zusammenbrüche, die von seinen Nerven, indirekt also von seinem Willen abhängen, retten ihn, Verhandlung wird auf unbestimmte Zeit vertagt, er geht auf sein Schloß zurück, wo er dann 12 Jahre lang bequem weiterlebt, ohne bei gebesserter Gesundheit den Versuch einer Wiederaufnahme zu seiner Reinigung zu machen. Er hat nicht bloß den Tod Holsteins erlebt, sogar die Entmachtung seines Kaisers, die er vorausgesagt hatte.

Auch den Sturz Bülows. Dieser hatte den Freund schon zehn Jahre vorher vor einem geheimen Protokoll gewarnt, das ihn von Wien her schwer belastete und das durch Holstein schon damals der Polizei übergeben worden sei (E. 2, 323 f.). Zugleich mit dieser Warnung soll sich aber Bülow das Material über Eulenburg von der Polizei haben geben lassen (Tresckow, 130). Nun, im Beginn der Affäre, riet er zwar dem Freund ins Ausland zu gehen, da er die Akten kannte, wird aber dann von Kennern als Begünstiger der Prozesse genannt; später setzte er seinen Namen unter den Verhaftsbefehl.

Bülows bis heut unklare Rolle in dieser Sache, die er selbst noch aufhellen wird, erklärt sich leicht aus einer Atmosphäre, in der echte Freundschaft ersticken mußte. Kaiser, Bülow, Eulenburg, Holstein hatten seit zehn Jahren die Regierung in Händen. Wenn jetzt Holstein den Eulenburg beschimpfte und auf Tod und Leben fordern ließ, wenn Eulenburg über Bülows Mitwirkung an seiner Amtsentlassung klagte, wenn Bülow in Eulenburg nun seinen heimlichen Feind auch beim Kaiser argwöhnen durfte, wenn der Kaiser Holstein und bald auch Bülow aufgeben und in Eulenburg seinen treusten und ältesten Freund, ohne zu zucken, schon auf bloßen Verdacht hin opfern konnte: so war in solcher treulosen Luft am Ende auch Bülow an keine Rücksicht mehr gebunden, einen sehr zweifelhaft gewordenen Freund aus unrettbarer Lage, durch eine persönliche Opfergeste zu reißen.

Als im September 08 die Prozesse endeten, standen auf dem Schlachtfelde nur noch zwei Männer aufrecht: Bülow und Tirpitz. Mit Eulenburg und Holstein, die tatsächlich beide einander gemordet hatten, waren nicht die einzigen, aber die wichtigsten Männer politisch tot, die ohne Verantwortung in Deutschland regierten. Bei Hof und in den Kabinetten waren noch andere zu entscheidendem Einfluß gelangt, von denen hier kaum die Rede war, weil die Darstellung all dieser Intrigen verwirren müßte.

Holstein, als Spezialist unter einem Führer bedeutend, hat als heimlicher Führer unter dem Zwange seines mißtrauischen Charakters dem Reiche nur schaden können; Eulenburg, disziplinlos im Denken und Fühlen, kannte seine Grenzen besser, wollte nie führen und hat dem Reiche durch viele Mahnungen an den Kaiser, sogar durch Nominierung Bülows weit mehr genutzt, als er durch Placierung anderer Freunde und Verwöhnung des Kaisers schaden konnte. Darum sieht sich der Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit bei Holsteins Sturze befriedigt, während des Kaisers Verrat an Eulenburg sein Schicksal schließlich beklagenswert enden läßt.

Nur wenige Wochen nach dieser Katastrophe des Freundes sollte der dritte und letzte, Fürst Bülow selber den tödlichen Stoß empfangen.

 

IV

In Dunkelheit und Sorge war das Jahrhundert für England zu Ende gegangen, damals, als Chamberlain den ersten Schritt zum Anschluß Englands an Europa getan und Deutschland die Hand geboten, als er für seine verabredete Bündnisrede Bülows kalte Dusche empfangen hatte; damals, als der Kaiser dem Zaren durch den russischen Botschafter riet, in Asien den Augenblick zu nutzen, über England herzufallen und dabei des Schutzes seiner Ostgrenze durch Deutschland sicher zu sein.

Mit seinen beglückten Kondolenzen nach London, die die englischen Verluste noch übertrieben, schickte der Kaiser, Dezember 99, dem Onkel einige Bogen mit »Gedankensplittern« und schrieb dazu: »Ich schicke den Extrakt von Unterhaltungen, die hier in militärischen Kreisen über den Burenkrieg geführt werden, in der Form von Reflexionen, die nur eine Orientierung für Dich über das sein sollen, was hier das Militär sagt und denkt. Ich habe es ohne einen Kommentar und ohne jede Parteinahme aufgesetzt. Tu damit, was Du magst, Du kannst es auch ruhig in den Ofen stecken« (Lee, 755).

Obwohl nur ein kurzer, kalter Dank zurückkam, schickte der Kaiser Anfang Februar 1900, als die englischen Truppen schon wieder besser standen, eine zweite Sammlung solcher Splitter, diesmal als eigene Arbeit und Ansicht, auch mit mehr Anspruch, als einen Rat, »They may possibly be ... of some use, if you think so ... denn sie sind von einem Manne niedergeschrieben, der dem aktiven Militärdienst seit dreiundzwanzig Jahren angehört und die Ausbildung der deutschen Armee seit zwölf Jahren entscheidet und leitet.« Die letzte dieser Reflexionen lautete: »Aus der gegenwärtigen Kriegslage ist militärisch Durchschlagendes nicht mehr recht zu machen. Kann daher die Politik die obenverlangte, absolut sichere Garantie nicht erreichen, dann ist es jedenfalls besser, die Sache zu liquidieren. Auch der schneidigste Fußballklub nimmt, wenn er trotz tapferer Gegenwehr geschlagen wird, schließlich seine Niederlage mit Gleichmut hin. Bei dem großen Match England gegen Australien im vorigen Jahre hat England den Sieg der andern mit ritterlicher Anerkennung ruhig getragen.«

Dies war der schlimmste Gedankensplitter Wilhelms des Zweiten. Die verwandte Dynastie, Großmutter und Onkel waren in schweren Krieg verwickelt, die Stellung des Kaisers war im Krüger-Telegramm zuerst auf Seiten der Gegner gewesen, hatte sich nachher nur äußerlich geändert, war bis zum Rat eines Überfalls auf das kämpfende britische Reich und zum Versprechen der Unterstützung eines solchen an Rußland gestiegen, zugleich das Angebot eines englischen Bündnisses abgewiesen worden, einmütig waren Nation und Kaiser mit ihren Gefühlen auf der andern Seite: und jetzt, von einem eiskalten Empfang aus England heimgekehrt, schickt er nicht bloß einen unerbetenen Rat in dilettantischer Form mit dem Anspruch zu helfen, rühmt sich dabei seiner eigenen langen Erfahrung, wirft dann alles selber mit dem Wink zusammen: Gebt diese Sache auf, ihr seid verloren! Nein, er spricht die Worte Sieg und Niederlage aus wie über einen schon entschiedenen Feldzug, den er mit einem Ballspiel vergleicht. Was muß bei geschlossenen Türen die alte Königin ihrem Sohn über den krausen Enkel vertrauen, wenn dieser Brief auf dem Tische liegt, voll von Entgleisung und Beleidigung! Es ist eher zu wenig als zu viel, daß nun der Onkel erwidert, er weise den Vergleich vom Fußballspiel zurück, denn »wie Dir wohl bekannt sein dürfte, kämpft gegenwärtig das Britische Reich um seine Existenz.«

Sieben Jahre später erzählte der Kaiser, ein paar Wochen lang Gast des Oberst Stuart Wortley, dem Schloßherrn, was er alles für England getan und wie man ihn dennoch verkannte; als er ihn dann September 08 beim Manöver im Elsaß wiedersah, und sich die englischen Stimmungen wegen der Flotte gegen Deutschland gerade verschärften, hat der Kaiser selbst »wahrscheinlich den Wunsch zu erkennen gegeben, daß die englische Öffentlichkeit über seine von Haus aus englandfreundliche Gesinnung möglichst umfassend aufgeklärt werde« (A. 24, S. 167f., zugleich als Quelle für das Folgende). Darauf stellte der Oberst aus jenen Erzählungen einen Aufsatz in Form eines anonymen Interviews zusammen, das er im »Daily Telegraph« zur Beruhigung der Presse und Stimmung publizieren wollte und vorher dem Kaiser unterbreitete. Dieser findet »den Artikel gut geschrieben und seine Worte wahrheitsgetreu wiedergegeben«, schickt ihn durch den Gesandten von Jenisch an Bülow, damit er »ihm gutdünkende Veränderungen vornehme und sie neben den jetzigen englischen Text schreibe«, und zwar direkt, ohne Auswärtiges Amt, mit dem Befehl, »tunlichst niemand anders in das Vertrauen zu ziehen« und die Sache bald an ihn zurückzusenden. Jenisch, er ist ja Diplomat, liest den Artikel gar nicht, spielt nur den Schreiber und tut, wie ihm befohlen.

Als Bismarck mit über Siebzig lange in Friedrichsruh blieb, klagte der junge Kaiser und das alte Amt über Verschleppung des Dienstes; jetzt ist Anfang Oktober noch niemand in Berlin, und wenn der Kaiser in Rominten jagt, Bülow in Norderney badet, Staatssekretär von Schön in Berchtesgaden klettert, kann es einem Schriftstück in seiner verschlossenen Mappe übel ergehen. Zwar, es sind nur ein paar Seiten in Maschinenschrift, und der Kaiser hat sie als Geheim bezeichnet, aber der Inhalt scheint zu alltäglich, nur Kaiserworte, um den Kanzler zur Lektüre zu verlocken, also fort damit nach Berlin, mit dem Vermerk »Ganz geheim«, dem Auftrag »Sorgsam prüfen« und Korrekturen am Rande eintragen. Dort öffnet es der stellvertretende Unterstaatssekretär Stemrich, stutzt beim Begleitbrief, liest es infolgedessen auch nicht, gibt es einem Geheimrat: »Die Sache ist mir nicht recht geheuer, sehn Sie doch, was damit zu machen ist.«

Der Geheimrat Klehmet ist ein ordentlicher Mann: der liest, hat zuerst »sehr große Zweifel an der Angängigkeit der Publikation«, beruhigt sich aber sofort in der Erwägung, »daß das Auswärtige Amt als solches dem entschiedenen Willen des Kaisers nicht entgegentreten dürfe, nachdem auch der Reichskanzler seinerseits kein Bedenken zu erkennen gegeben hatte ... Unter diesen Umständen nahm ich an, daß über die Opportunität der Reichskanzler schon entschieden hätte oder entscheiden würde.« Denkt's, läßt sich die Akten kommen, verbessert zwei sachliche Irrtümer des Kaisers und schlägt noch eine Änderung im Sinne der Wirkung vor.

Zurück zu Herrn Stemrich, der, da er es ja auch vorher nicht gelesen, es wieder nicht liest, aber unterzeichnet, zurück nach Norderney, wo der Gesandte von Müller, des Kanzlers Gehilfe, es empfängt, wieder nicht liest, Stemrichs Brief mundiert, zurück zu Bülow, der den Akt grundsätzlich nicht liest, aber mit Klehmets Korrekturen unterzeichnet, die er amtlich »mir wünschenswert erscheinende Änderungen« nennt. Alles kehrt nach Berlin zurück, der Staatssekretär erhält den Akt als eilig, während er gerade zum Kanzler gerufen wird, hat aber »keine Zeit, von dem Inhalt Kenntnis zu nehmen«, übergibt ihn Bülow wieder, der sagt, diese Sache habe er selbst erledigt. Zurück an Jenisch, an den Kaiser, an den englischen Oberst, und nun in die Londoner Zeitung.

Gelesen hatte das Schriftstück also nur der Kaiser und der Geheimrat, jener mit den Vatergefühlen des Autors, dieser mit der Gefühllosigkeit des Philologen; dazwischen hielten fünf Diplomaten das Schriftstück in Händen mit dem Auftrag oder der moralpolitischen Aufgabe es zu lesen, ein Kanzler, zwei Staatssekretäre, zwei Gesandte, von denen nicht einen Verantwortung, Amtseifer, nicht einmal Neugier antrieb nachzusehen, was zwei Wochen später ganz Europa als des Kaisers authentische Worte lesen sollte:

»Ihr Engländer seid verrückt, wie Stiere, die Rot sehen! Was hat euch eigentlich befallen, daß ihr uns mit Verdacht überschüttet, der einer großen Nation nicht würdig ist! Was soll ich denn noch tun! Immer habe ich mich als Freund der Engländer bezeichnet ... Habe ich mein Wort jemals gebrochen? ... Diese Mißdeutung empfinde ich als persönliche Beleidigung! ... Ihr macht es einem wahrhaftig schwer, Englands Freund zu bleiben! ... Im Burenkriege war die deutsche Meinung und Presse euch entschieden feindlich. Was aber taten wir? Hören Sie zu! Wer war es denn, der den Delegierten der Buren, die in Europa Vermittlung suchten und in Frankreich gefeiert wurden, plötzlich Halt gebot und ihre Mission zum Zusammenbruch brachte? Ich allein habe sie nicht empfangen.

»Dann, auf der Höhe des Krieges wurden wir von Rußland und Frankreich eingeladen, England zum Frieden zu zwingen; der Moment, sagte man uns, sei gekommen, England in den Staub zu demütigen. Was aber war meine Antwort? Deutschland würde sein Schwert gebrauchen, um solche gemeinsame Aktion zu hindern! ...

»Das ist noch nicht alles: während Ihrer schwarzen Woche, wo ein Unfall den andern jagte, erhielt ich einen Brief meiner verehrten Großmutter, in dem Trauer und Sorge ihre Ruhe und Gesundheit zu untergraben schienen. Sogleich schrieb ich ihr eine mitfühlende Antwort, aber ich tat noch mehr! Ich ließ mir von meinem Adjutanten eine möglichst genaue Aufstellung der Zahl und Stellung beider Armeen machen, wie sie damals standen. Mit diesen Zahlen arbeitete ich den nach meiner Idee besten Feldzugsplan aus und übergab ihn meinem Generalstab zur Kritik; dann schickte ich ihn nach England, wo er in Windsor Castle das unparteiische Urteil der Geschichte erwartet. Und, lassen Sie es mich aussprechen, welch merkwürdiges Zusammentreffen: mein Plan deckte sich fast völlig mit dem, den Lord Roberts nachher wirklich angenommen und in erfolgreicher Operation durchgeführt hat. Und nun frage ich Sie: ist dies nicht die Handlungsweise eines Mannes, der England wohl will? England möge gerecht sein und antworten!«

Dann sprach er noch über die Flotte, die er nicht gegen England, sondern für die großen Ereignisse baue, »die sich im Stillen Ozean vorbereiten und die nicht so fern liegen, als man glaubt ... Jetzt ist Japan ganz oben. Chinas Erwachen steht bevor. Dann werden nur Mächte mit vielen Schiffen bei den Entscheidungen gehört werden« (Daily Telegraph, 27. 10. 08).

In diesem Dokument wird England zuerst zur Freundschaft herangerufen, nach dem Rezept: Und willst du nicht mein Bruder sein, so hau ich dir den Schädel ein! Dann wird die Rettung Englands während der höchsten Krisis erlogen, dagegen verschwiegen, daß der Kaiser selbst mehr als einen gemeinsamen Vorstoß zum Frieden, nämlich den Angriff dem Zaren vorgeschlagen hatte und nachher erst vor den Folgen seiner Idee zurückwich. Hierauf fälscht er eine Reihe kleiner Aphorismen in einen Feldzugsplan um, für den er das Urteil der Geschichte anruft, erfindet die Billigung seines Generalstabes, dem die Blätter nie vorgelegen haben, und läßt als Trumpf deutlich durchblicken, sein großer Plan habe den englischen Generalstab erleuchtet, nach Wilhelms Plänen habe Lord Roberts gesiegt: des Deutschen Kaisers Ingenium hat England aus seiner höchsten Not gerettet.

Als Metternich, den niemand befragt hatte, an jenem Morgen den Artikel aufschlug, sagte er zu den Herren seiner Botschaft: »Jetzt können wir die Bude zumachen.« Seine Berichte über die Wirkung übersetzten dies Wort in die diplomatische Sprache und ließen die volle Verzweiflung nur in einem Worte durchklingen: »Es wird langer Zeit absolut ruhiger Politik bedürfen, um auch diesen Eindruck zu verwischen.« Englische Minister und Generale lehnten zuerst jede Äußerung über den Artikel ab, die Wut der Presse glich der nach der Krüger-Depesche, zwölf Jahre der Annäherung schienen verloren. Aus dem aufgeregten Tokio kamen gleiche Berichte, in Paris, Rom, Petersburg schrieb alles gegen den Kaiser; dies alles hatte man wiederholt erlebt. Neu war die Wirkung in der Heimat.

Zum erstenmal erhob sich das deutsche Volk. Zwanzig Jahre lang hatte es geschwiegen, während der Kaiser sprach; jetzt sprach es, damit der Kaiser schweigen lerne. Aus tiefen Quellen brach ein Strom des Zorns hervor, unmittelbarer, echter, als je zwischen 1870 und 1914. Ja, es geschah das Unerhörte: das gehorsamste Volk der Erde stand gegen seinen König auf und forderte Abhilfe. In diesem Augenblicke hätte es seine Abdankung verlangen und haben können; nicht die Republik, aber den Sohn des Kaisers, denn die Bewegung war nicht sozialistisch, sie ging durch alle Klassen. Es trug sich zu, daß sich die Untertanen gegen ihren Herrn erhoben, nicht wegen eines verlorenen Krieges oder aufgedrungenen Gesetzes, nicht einmal wegen eines bestimmten Übergriffs, dessen Schaden zutage trat: es erhob sich gegen sein Naturell, gegen seine Geschwätzigkeit im allgemeinen, gelegentlich eines neuen Falls, den es auf seine Lügen hin damals gar nicht prüfen konnte. Aber dieser Fall barg in sich die Kraft der Anekdote: jeder Bürger, jeder Bauer konnte sich seinen Kaiser vorstellen, wie er bei seiner Lampe der Großmutter den Feldzugsplan entwarf; das war zugleich gefährlich und lächerlich, und deshalb erhob sich damals der erste Sturm gegen den Kaiser, genau zehn Jahre vor dem zweiten.

Daß die politische Linke losging, war weniger erstaunlich, als daß die Witzblätter den Monarchen zerreißen durften, ohne daß sie der Zensor zerriß. Im »Simplizissimus« flehte der alte Kaiser den lieben Gott um Gnade für den Enkel an: »Er ist doch von Gottes Gnaden«, und Gott erwiderte: »Jetzt wollt ihr mir wieder die Schuld zuschieben!« Auf einem Bild von Zille hockte ein Junge, »der kleine Willy«, mit des Kaisers Zügen auf einem Schreibtisch, sich und ihn mit Tinte beschmierend, und wurde von Mutter Germania und Vater Bülow angeschrien: »Haben wir dir's nicht gesagt, du sollst nie mehr Korrespondenz spielen!« Auf einem dritten Blatt hob ein Hofprediger die Hände zum Himmel mit den Worten Jesus Sir. Kap. 23, V. 33: »O könnte ich ein Schloß an meinen Mund legen und ein fest Siegel auf mein Maul drücken!« Noch zu Sylvester stellte ihn das Witzblatt dar, wie er sich selber einen Maulkorb gießt. Dies alles war erlaubt in deutschen Landen, und in Spottversen hieß es:

»Majestäts-Beleidigungen
tanzen auf Geheimratszungen.«

Im November 1908 konnte man die Deutschen für eine freie und unabhängige Nation halten.

Aber der Gedanke an Abdankung war viel zu revolutionär, er wurde nur von denen erwogen, die sich in diesem Staate stark fühlen dürften, von den Royalisten selber. »Der Schatz monarchischer Gesinnung,« schrieb ein konservatives Blatt, »ist unzweifelhaft sehr reich; auch das reichste Erbe kann vergeudet werden, wenn unverantwortlich darauf los gewirtschaftet wird ... Den Rechten des Monarchen stehen Pflichten gegenüber, deren Verletzung die Fundamente der Monarchie erschüttern kann.« In diesen Kreisen, doch nur in diesen ging man weiter: »Im Kreise der deutschen Minister, welche zu einer Sitzung des Bundesrats-Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten in Berlin zusammengekommen waren, wurde der Gedanke erörtert, den Kaiser zur Abdankung zu bewegen.« (Staatssekretär von Schön, Erlebtes, 100.) Elf Jahre vorher waren solche Pläne geheimes Gut aus Holsteins Kopf und so in seinem engen Kreis geblieben; jetzt standen die Herren aus Bayern und Sachsen, aus Oldenburg und Württemberg zusammen in der Fensternische, bissen die Lippen und dachten an kurzen Prozeß. Deutschland hätten sie retten können!

Zwischen allen stand Bülow und tat zunächst, was er mußte, er bot seine Entlassung an, zugleich mit den verantwortlichen Staatssekretären. Der Kaiser war im formalen Rechte, grade diesmal hatte er den vorgeschriebenen Weg beschritten, getrost konnte er den Kanzler entlassen. Aber er hielt ihn ohne Zwang, nicht aus Treue, sondern aus Angst: jetzt ohne Deckung dazustehn, furchtbare Aussicht! Jetzt war ja eben des Kanzlers Stunde da, mit seiner Zustimmung zum kaiserlichen Schritte zugleich den Kaiser zu decken! Der tat es am nächsten Tag in einer amtlichen Erklärung, die den Sachverhalt zur Entlastung des Kaisers in seiner ganzen tragikomischen Wahrheit wiedergab. Die Schwierigkeit stand erst im Reichstage bevor. Dem Kaiser wurde unbehaglich, er verließ Berlin: vom 4. bis 16. November war er fort, um jetzt, nachdem er den englischen Bock geschossen, bei Franz Ferdinand Hirsche, dann beim Fürsten Fürstenberg Füchse zu schießen.

Zwischen allen Amüsements blickt er zurück: »Die zwei Tage hier«, drahtet er aus Wien an Bülow, »verliefen sehr harmonisch und heiter ... Die Jagd verlief glänzend, ich streckte 65 Hirsche ... Ich gedenke Ihrer stets in meinem Morgen- und Abendgebet. Er half uns aus allem Menschenhaß und Neid doch durch! There is a silverlining to every cloud. Gott mit Ihnen! In alter Freundschaft Wilhelm I. R.« Wie klug ist hier die Mahnung an den Hüter seiner Stellung daheim zwischen Gott und Freundschaft geschoben; wie blind bleibt der von seinem Volke verklagte König gegen jede Einsicht, die ihn bessern könnte! Er ist es, der beleidigt und verkannt ward; so streckt er indessen in heiterer Stimmung 65 Hirsche.

Am 10. November trat der Reichstag mit allen Zeichen eines Volksgerichts über seinen Kaiser zusammen. Heute war alles möglich: Gelöbnisse, Verfassungsänderung, wahrscheinlich auch die Abdankung, da sie von Männern des Bundesrates ja schon erwogen wurde. Nichts von allem geschah! Die Deutschen, nach zwei stürmischen Wochen, waren in ihr Untertanen-Gefühl bereits zurückgekehrt, niemand wagte das entscheidende Wort, auch nicht die Sozialisten. Der Kaiser, der nach der Gewohnheit aus der Debatte bleiben mußte, stand zwar in ihrer Mitte, aber die Führer hielten aus sämtlichen Parteien ihm nur ihre Strafpredigt vor. Am ernstesten klang der Ton aus dem Kreis der Paladine, bei Heydebrandt und Hatzfeldt. Andere schuldigten den Byzantinismus an, den sie zwanzig Jahre lang gefördert, Anträge auf Abänderung der Verfassung blieben ergebnislos, es kam nicht einmal zur devotesten Form, zur Adresse, viel weniger zum parlamentarischen System.

An diesem Tage hatte der Kaiser bereits nichts mehr von seinem Volk zu fürchten, wohl aber Bülow von seinem Kaiser. Denn in Wahrheit war Bülow der sogenannte tragische Held des 10. November; daß er sich stets weniger klug gestellt als er war, sollte sich nun rächen. Er hätte den Kaiser decken oder preisgeben, er hätte dem Reichstag auf Bismarckisch erklären müssen: der Kaiser hat in bester Absicht, zugleich nach der Verfassung gehandelt, die Entlassung des Kanzlers abgelehnt, und so wird man weiter regieren, ob es dem Volke paßt oder nicht. Oder er hätte mit dem Volk und dem Reichstag gehen, den Kaiser auf der Tribüne verlassen, anklagen und andern Tags in Ungnade gehen können. Da dieser Weg seinen loyalen Grundgedanken widersprach, so beschloß er den ersten zu gehen und hatte eine Rede zugunsten des Kaisers vorbereitet, in der er, wie Hammann mitteilt, ihn offen verteidigte.

Doch im letzten Augenblicke siegt der Staatsmann in Bülow, wahrscheinlich nur der Volksmann über den Höfling; er überschätzte die Deutschen, indem er einen Bogen zu überspannen fürchtete, der schon wieder abgespannt war, und verlor auf einem Mittelwege zugleich seine Stellung beim Volk und beim Kaiser. Er kritisierte ihn, nannte seine Ausdrücke zu stark, führte den Feldzugsplan auf einige Gedankensplitter zurück, schaltete den Generalstab aus und versprach schließlich, die Erregung im Volke werde »S. M. den Kaiser dahin führen, künftig auch in seinen Privatgesprächen sich diejenige Zurückhaltung aufzuerlegen, die für eine einheitliche Politik und für die Autorität der Krone unerläßlich ist ... Wäre es nicht so, so könnte weder ich noch einer meiner Nachfolger dafür die Verantwortung tragen.«

Ein leises Murren auf der Linken, – aber das Haus war mit dieser lahmen Erklärung zufrieden, man forderte nichts weiter.

Am selben 10. November 08 erschien folgender Erlaß an die Marine: »S. M. haben befohlen, daß das Hurrarufen innerhalb der einzelnen Schiffe absolut gleichmäßig unter Hochheben der Mützen zu erfolgen habe ... Beim Kommando ›Drei Hurras für S. M.‹ werden die Flaggen hochgenommen. Gleichzeitig verläßt die rechte Hand der in Parade aufgestellten Leute das Geländer und geht an den Mützenrand. Auf das erste Kommando Hurra gehen die Winkflaggen nieder, das Hurra wird wiederholt, während die Mützen durch Strecken des rechten Armes unter einem Winkel von etwa 45° kurz hochgehoben und, sobald das Hurra verklungen ist, unter Krümmung des Armes kurz vor die Mitte des Oberkörpers gehoben werden ... Beim dritten Hurra werden die Mützen kurz aufgesetzt, worauf die rechte Hand wieder an den Platz am Geländer geht. Bei der bevorstehenden Anwesenheit S. M. zur Rekruten-Vereidigung ist bereits nach diesen Bestimmungen zu verfahren.«

Alle, die diesen vom Kaiser genehmigten, wo nicht angeregten Befehl im Militär-Wochenblatt lasen, fühlten sich dabei natürlicher und herzlicher in ihrer Heimat, als bei Lektüre der nörgelnden Reichstagsreden; im Takte seinem Landesherrn Hurra zu rufen, im Winkel von 45°, das war die natürliche Haltung des anständigen Untertanen, nicht diese unfruchtbare Kritik am guten Willen des ewig jungen Kaisers.

Der hielt an jenem 10. November, als alle über ihn redeten, zunächst einmal selber eine Rede. Zeppelins Luftfahrten waren bisher von ihm verachtet, die Prüfung seiner Pläne und Modelle vom Kriegsministerium abgelehnt, sämtlichen Offizieren war verboten worden, sich an den Phantastereien des Grafen zu beteiligen; noch vor drei Monaten nannte ihn der Kaiser »von all den Süddeutschen den Dümmsten« (Z. 196). Heut sprach er ihn also an: »Unser Vaterland kann stolz sein, einen solchen Sohn zu besitzen, den größten Deutschen des 20. Jahrhunderts, der durch diese Erfindung uns an einen neuen Entwicklungspunkt des Menschengeschlechts geführt hat. Es dürfte wohl nicht zu viel gesagt sein, daß wir heute einen der größten Momente in der Entwickelung der menschlichen Kultur erlebt haben.« In Friedrichshafen, versteht sich, nicht in Berlin, denn dort fand der große Moment ein kleines Geschlecht.

In Donaueschingen, von wo aus man am 10. den Ausflug zu Zeppelin arrangierte, wohnte der neue Freund des Kaisers, der Eulenburgs Intimität ohne seine Intelligenz erbte. »Die wirklichen Freunde, ... jetzt Fürst Fürstenberg und General von Kessel, waren es ihrer amüsanten Geschichten halber. Das sind Menschen, die nicht nur stunden-, sondern gradezu tagelang amüsante Geschichten erzählen können. Das geistige Niveau wird dadurch nicht gehoben, obgleich man es Eulenburg lassen muß, daß seine Unterhaltung geistig höher stand. Jetzt sind alle Erzähler so banal und roh, daß sie sich durch ihre Späße, noch mehr durch die mit ihnen gemachten zu Hanswürsten erniedrigen« (Z. 231).

In diesem Kreis verbringt der Kaiser die kritischsten Tage seiner Regierung. Zedlitz, der hier den persönlichen Dienst hat, berichtet von kaiserlichen Tränen, als er die Reichstagsrede las. »Diese Depression äußerte sich sehr bald so, daß er nichts mehr über die Angelegenheit las, und sich von seinen trüben Gedanken zu zerstreuen suchte. Er ging früh etwas spazieren, frühstückte mit uns um 9 Uhr, blieb in Unterhaltung bis ½12, fuhr zur Jagd, kam zurück gegen 5 Uhr, blieb in gemeinsamer Unterhaltung beim Tee bis gegen 7 Uhr, legte sich etwas zu Bett, erschien gegen ½9 Uhr zum Essen und verbrachte dann den Abend mit uns bis ½l Uhr.«

An einem dieser Abende spielte ein Kabarett vor den Herrschaften und konnte bald dem deutschen Volk in Form eines Inserates verkünden: »Zweistündige Vorstellung vor dem deutschen Kaiser, dem Fürsten Fürstenberg und dem Grafen Zeppelin mit sensationellem Erfolge nachts ½1 Uhr geendet. Der Kaiser und die hohen Herrschaften applaudierten stürmisch und sprachen in persönlichen Unterredungen ihre dankbare Anerkennung für das brillante Programm und die tadellose Vorführung aus.« Blätterte er um, so las der Bürger auf der zweiten Seite, wie stürmisch gleichzeitig der Reichstag seine Redner applaudierte, und wie ein Ministerrat über die Sache bis nachts ½1 Uhr beraten habe.

Einmal aber muß geschieden sein, die Pflicht ruft, in Kiel warten die Rekruten auf ihre Vereidigung mit dem neuen Hurra: Abschiedsabend im Schlosse Fürstenberg, glänzend, Damen in großer Toilette, Herren in grünen und schwarzen Fracks mit schwarzen Eskarpins und, da gerade eine Reitjagd in der Nähe gewesen, einige auch im roten Frack.

»Die wirklich ungewöhnlich glänzende und elegante Gesellschaft«, schreibt der Hofmarschall, »war nach Tisch in der schönen Halle des prachtvollen Schlosses versammelt, während auf der Treppe eine Kapelle musizierte. Plötzlich erschien Graf Hülsen-Häseler als Ballett-Tänzerin kostümiert, was er auch sonst gelegentlich getan, und begann zu tanzen. Alles war aufs höchste amüsiert, denn der Graf tanzte großartig, und es hatte ja auch etwas Eigenartiges, den Chef des Militär-Kabinetts, als Dame kostümiert, ein Ballett aufführen zu sehen. Als der Graf eben einen Tanz beendet hatte, begab er sich auf die anstoßende Galerie, um Luft zu schöpfen. Ich stand vier Schritt vom Eingang und hörte dort plötzlich einen schweren Fall. Ich eilte hin und sah den Grafen lang ausgestreckt, mit dem Kopf in der Fensternische, auf der Erde liegend.«

Herzschlag, Arzt, Meldung beim Kaiser, der sich eben, am Kamin stehend, unterhält, dieser zum Sterbenden, Versuche zur Wiederbelebung, die Musik spielt noch eine Weile weiter, ein zweiter Arzt, vergebens. Der Tote wird in den großen Speisesaal getragen, Absage nach Kiel, Depesche an die Kaiserin: »Ich habe meinen besten Freund verloren«, neue Depeschen, Vorbereitung zur Trauerfeier für morgen, der alte Ortsgeistliche wird geholt, erscheint zitternd mitten in der Nacht vor seinem Kaiser, der ihm einprägt, was er morgen zu sagen hat, aber, durch Schreck und langes Stehen ermüdet, plötzlich vor ihm umsinkt.

Der Priester erholte sich, der General lag tot auf der Bahre, rasch hatte man ihn aus einer Tänzerin zum Soldaten zurückverwandelt, es war ein Totentanz. Aber der Kaiser merkte die Winke Gottes nicht. Er sah nicht, wie eine höhere Macht seinen Leichtsinn noch einmal warnte. Mitten im Groll und Zorn von 60 Millionen friedlicher, tüchtiger Menschen saß da ein Einzelner, untätig und provokant, zerstreute seinen Ärger in Couplets und Witzen, Jagden und Tänzen, ließ aufreizende Hofgerüchte ins Volk gehen, und als einer der höchsten von seinen Generalen vor großer Gesellschaft als Balletteuse erscheint und so den ehrenreichsten Stand im Lande verhöhnt, um an dem letzten dieser lustigen Abende den Höhepunkt der Scherze zu erreichen, da greift die Hand von oben ein, sie schlägt den Höfling nieder: mit riesigen Lettern steht ein Menetekel an der Wand des Schlosses von Donaueschingen geschrieben, damit er in sich gehe, der zechende König!

Der aber denkt nichts anderes als: wie verwandeln wir in der Nacht den Speisesaal zur feierlichen Grabkapelle? Wie reisen wir bei veränderten Dispositionen, und als er mitten in der Nacht zum drittenmal alles umwirft und die devote Warnung des Hofmarschalls hören muß, ein neues Verschieben zweier Sonderzüge sei doch schwierig, da versteckt sich der Schauspieler hinter seine falsche Trauer, affektiert plötzliche Ernüchterung und sagt mit traurigen Augen: »Und in diesem Augenblicke wollen Sie mir Schwierigkeiten machen!«

 

V

Zu Hause wartete der Hauslehrer mit seiner Strafpredigt. Der Simplizissimus bildete vor einem Lakaien den Kanzler in Trauer ab, wie er ein großes Schloß vor sich herträgt und memoriert: »Wie sag ich's meinem Kaiser?« Hier machte Bülow den zweiten Fehler: heut hätte er alles erreichen können, hätte er nur die Depression ganz ausgenutzt, denn »die Nerven des Kaisers sind keiner ernsten Stunde gewachsen«. Statt ihn zu schrecken, stellt er ihm nur in höfischer Art gewisse Folgen plötzlicher Eingriffe dar. Der Kaiser, in erzwungener Ruhe, gibt nur einsilbige Antworten, zeigt weder Erkenntnis noch den Wunsch nach Besserung, genehmigt schließlich widerwillig eine Erklärung im Reichsanzeiger (was er später bestreitet): er habe dem Kanzler, heißt es dort, Audienz gewährt, sich über die Stimmung und die Reden Vortrag halten lassen.

»S. M. nahmen die Darlegungen des Reichskanzlers mit großem Ernst entgegen und gaben seinen Willen dahin kund: unbeirrt durch von Ihm als ungerecht empfundene Übertreibungen der öffentlichen Kritik erblicke er seine vornehmste kaiserliche Aufgabe darin, die Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten zu sichern. Demgemäß billigten S. M. die Ausführungen des Reichskanzlers im Reichstage und versicherten den Fürsten seines fortdauernden Vertrauens.«

Die Deutschen atmeten auf: nun war ja alles wieder gut und unterschrieben. Klein war die Zahl besorgter Patrioten, die einander ansahen und fragten: Ist dies alles? unbeirrt? ungerecht, übertrieben, verfassungsmäßig? Selbst jenes Minimum, was die Nation verlangte, das Gelöbnis sich zu bessern, verschwand im Flaggenschmuck des Autokraten, wie die verschlossenen Fenster der Franzosen-Fronde bei den Einzügen im Elsaß; nur, daß er des Kanzlers Rede gebilligt, war gesagt, und großer Ernst in einer Weise attestiert, deren Vorkehrung eher beleidigend wirkte.

Das war alles. Aber das war sehen genug, den stets verwöhnten, immer von Sonne überglänzten Monarchen zum Zusammenbruche zu bringen. Jetzt kam es nach. Der Kaiser erfuhr von dem Plan aus dem Bundesrate, der über die Eingriffe des Reichstages hinaus bis zur Abdankung gegangen war, und fiel als Neurastheniker über der schon überwundenen Gefahr zusammen. Am 24. kam der alte Kammerdiener Schulz im Neuen Palais aufgeregt ins Zimmer des Flügeladjutanten und stotterte hervor: »Seine Majestät – haben mir befohlen, – sofort den Herrn Reichskanzler ans Telephon zu rufen: ich soll ihm direkt mitteilen, – S. M. ließe ihm sagen, Allerhöchstdieselben hätten durch die Vorkommnisse der letzten Zeit einen so starken Nervenschock erhalten, daß er genötigt sei, – sich von allen Geschäften zurückzuziehen und sie dem Kronprinzen zu übergeben« (Z. 194).

Schrecklicher Augenblick für den Flügeladjutanten! Der Kammerdiener meldet den Rücktritt von Serenissimus, der Kanzler soll benachrichtigt, der Erbprinz geholt werden. Hat der Offizier Humor, um diese unsterbliche Szene zu goutieren? Er sagt nur, diesen Befehl könne Schulz unmöglich ausführen, läßt den Oberhofmarschall holen, Beratung zwischen Kanzler und den beiden Kabinetten. Als andern Tags der Kronprinz eintrifft, sagt ihm die weinende Mutter, was geschehen sei und solle. Er findet den Vater im Bette, beruhigt ihn, nach ein paar Tagen ist alles überstanden.

Doch warum lehnt der Kronprinz ab? Warum ergreift er nicht diese, nur einmal dargebotene Hand, da er doch über des Kaisers Befehle genug seufzt und bei dessen Konstitution noch ein paar Jahrzehnte des Wartens vor sich sehen muß? Auch hier kein männlicher Entschluß, nirgends der Mut, das Seil zu fassen, das das Schicksal auch dem Tapferen nur einmal zuwirft, nirgends die Freude der Verantwortung, nirgends die Lust zur Tat. Dieser Augenblick, November 08, von einem beherzten Erben benutzt, hätte vielleicht dem Reiche, sicher dem Kaiser gedient, der damals als Märtyrer und Weiser freiwillig entsagen und damit nicht nur in der Geschichte besser wegkommen konnte.

So rasch wie der Zusammenbruch kam die Erholung: beides war nervös, nichts hatte Folgen. Ende November ließ er sich im Berliner Rathause eine Rede vom Kanzler reichen, um sie ostentativ zu »verlesen«: mehr Verachtung als Wandlung lag in dieser Geste; auch blieb es bei dieser einen Demonstration. Keine vier Wochen – und alles war vergessen. Ins alte Gleis zurückzukehren, mahnten ihn die dienenden Augen seiner Umgebung. »Wenn man mich nicht schützt,« schrieb er an den Rand eines Ausschnittes, »dann werde ich mich selbst schützen müssen!« Mit diesem weiblichen Argumente steuerte er sehr geschickt aus seinen Mißgriffen in die Autokratie zurück, die ihm natürlich war, und er drohte: »Kommt noch eine ähnliche Gelegenheit wieder, dann werde ich nicht mehr konstitutionell handeln!« (Z. 239). Daß seine Stimmung nicht verändert ist, schildert Zedlitz Weihnachten aus täglicher Beobachtung:

»Im innersten Grunde ist der Kaiser eben immer noch so wie früher ... An unseren stillen Abenden, wo er öfters diplomatische Berichte vor den Damen und Adjutanten vorliest, liebt er es besonders, humoristische Szenen, in denen etwas im Auslande schlecht oder lächerlich gemacht wird, mit Sehr gut oder auch Sehr richtig zu bezeichnen. Kommt aber etwas vor, das einen für uns ungünstigen Rückschluß gestattet, dann schreibt er daneben ›Wie töricht‹ oder etwas Ähnliches.« Besonders erfreuen ihn jetzt englische Angriffe, alle anonymen Briefe läßt er sich vorlegen und fühlt sein Interview in seinem Flotteneifer nur bestätigt, wenn er den englischen Rat liest, er möge es aufgeben, »an der Spitze eines Volkes von 60 Millionen zu stehen, um statt dessen Präsident eines Fußball- oder Cricket-Klubs zu werden ... Das hat er tatsächlich lesen müssen« (Z. 199).

Gleich nach Weihnachten kommt Nachricht über Diamantenfelder in Südwestafrika: da erzählt er wiederholt, sie sind 40 Kilometer lang, zwei breit und fügt noch viele Zahlen hinzu, »mit jeder neuen Erzählung wurden sie um einige Ziffern größer und die phantasievolle Hoffnung höher.« Zugleich vor zufälligen Gästen und vor der Dienerschaft: »Noch vor vierzehn Tagen haben diese Schafsköpfe (im Reichstag) bei Erwähnung der ersten Nachrichten alles für unmöglich gehalten, und nun sieht man, was für dummes Zeug diese Nachtwächter reden ... und den, dessen Ideen sie nicht verstehen, und ohne den sie gar nicht vorwärts kommen könnten, bewerfen sie mit Schmutz! ... Zeitungen lese ich überhaupt nicht mehr, was diese Schafsköpfe schreiben, ist mir ganz gleich!« Vor denselben Zeugen sagt er solche Dinge über die Deutschen in Amerika, die Zedlitz gar nicht aufzuzeichnen wagt: »Wenn nur der vierte Teil der Äußerungen bekannt würde, das Entsetzen müßte der Erregung über das Kaiser-Interview ... wohl gleichkommen.«

Solches Vergessen konnte sein nervöser Charakter nur leisten, weil er einen Schuldigen gefunden hatte. Hülsen war tot, aber Dutzende von neuen behelmten Köpfen waren der Hydra nachgewachsen und hundert Zungen zischelten: Bülow hat seinen König verraten. Man gab in Potsdam als Parole aus: Bülow hat gelogen, er hat das Interview genau gekannt, gebilligt, dann aber seinen Herrn dem Hagel der Geschosse preisgegeben. Von jetzt ab hieß er nur der Hochverräter. Erst im März 09 gelang es ihm, den Kaiser zu einer Aussprache in der Bildergalerie des Schlosses zu bringen, worin er mit Ernst um seinen Abschied bat (Hammann, Um den Kaiser, 30).

Kaiser: »Nein, ich habe Ihnen verziehen. Aber im November haben Sie mich nicht genug verteidigt. Sie hatten ja brieflich und privat mir zu meinem Interview zugestimmt.«

Bülow: »Dann bitte ich E. M. um diese Briefe.«

Kaiser: »Es ist – auch mündlich geschehen, nach meiner Rückkehr aus Rominten.«

Als Bülow an frühere Übereilungen erinnert, weiß der Kaiser davon nichts; nachher behauptet er, Bülow habe sein Unrecht eingesehen und um Verzeihung gebeten, die Presse berichtet sogar Bülows Tränen. Vertraulich sagt aber der Kaiser: »Mit dem Bülow bin ich fertig. Er muß mir nur noch die Finanzreform durchbringen.«

In fast unablässiger Beratung bleibt Bülow mit dem schwerkranken Holstein, der durch hochpolitische Schreiben – sogar durch Rohrpost – auf ihn und den neuen Staatssekretär bedeutenden Einfluß übt; seine Praxis in fingierten Entlassungsgesuchen blüht jetzt zum letzten Male, indem er für Bülow eins von acht Seiten Länge im Januar 08 aufsetzt. Noch Ende April, dicht vor seinem Tode, beschwört er den Kanzler, im Amte zu bleiben: »Wenn Sie fortgehen, wird der Krieg unvermeidlich.« Dies war Holsteins einzige richtige Voraussage.

Als dann aber im Juni die Erbschaftssteuer und mit ihr der Block im Reichstage scheitert, nimmt Bülow seinen Abschied auf der Hohenzollern, am selben Fleck und am selben Jahrestage, wo er zwölf Jahre vorher die Geschäfte übernommen hatte. In Berlin bespricht der Kaiser die Nachfolgefrage mit ihm, auf und ab gehend im offenen Schloßgarten und entläßt ihn mit Kuß und Umarmung.

»Bülow soll mein Bismarck werden«, hatte der Kaiser etwas knabenhaft ausgerufen; er war es geworden, d. h. er überragte seinen Herrn nicht weniger, als jener den Großvater; nur die Größenklasse war verschieden. Bismarcks Leidenschaft hatte sich in Gruben und Falten, Bülows Eleganz in Grübchen und Fältchen den Zügen eingezeichnet.

Sein Abgang war die stärkste dieser vier Katastrophen: Holsteins und Eulenburgs Sturz, des Kaisers Krisis änderten wenig am Lauf der Dinge; Bülows Verschwinden aber machte »den Krieg unvermeidlich«. Das beste Urteil hatte Zedlitz der Ältere in einem Brief gefällt: »So lange den Wagen vor dem Absturz bewahrt und am Rande vorbeigesteuert zu haben, ist auch eine dankenswerte Leistung.«

Als die Angriffe der Kaiserpresse durch falsche Darstellungen des Kaisers gegen Bülow zunahmen, ersuchte er seinen Nachfolger um amtliche Verteidigung und schrieb im Rückblick: »Ich habe das Interview vorher so wenig gekannt, wie ich vorher etwas wußte ... von der Swinemünder Depesche nach Bayern, von dem Telegramm an den Fürsten von Lippe ... von der Hunnenrede des Sommers 1900 bis zur Schwarzseher-Rede im Manöver 06 ... Ich habe S. M. oft gebeten, den Engländern kein Wort zu sagen, das Russen und Franzosen, Japaner und Amerikaner nicht wiedererfahren könnten. Ich habe ihn immer und wiederholt gewarnt, das empfindliche und mißtrauische Volk der Japaner nicht zu argwöhnisch zu machen ... Ich entsinne mich, telegraphisch einen schon seit mehreren Tagen abgegangenen Brief S. M. an Roosevelt zurückgehalten zu haben, weil er mir unvorsichtige Wendungen über Japan zu enthalten schien ... Ich habe einen großen Teil meiner Zeit und Arbeitskräfte darauf verwenden müssen, die stattgehabten Entgleisungen und Indiskretionen wieder gutzumachen.«

Das war zwölf Jahre so gegangen, und auch wer Bülows englische und vieles an seiner inneren Politik tadelt, muß Respekt vor seiner glänzenden Geschicklichkeit und unermüdlichen Arbeit bekennen; vor allem müßte es der Kaiser, der ihn stärker als jeden anderen verbraucht hatte. Was tut er nach dem Abgang seines Freundes, von dessen Bleiben er noch vor vier Jahren sein eigenes Leben abhängig gemacht? »Die ganze Schuld am Eulenburg-Skandal trägt Bülow, da ... er auch noch persönliche Motive hatte, ihn zu wünschen. Hätte er damals Eulenburg bewogen, im Auslande zu bleiben, dann gab es gar keinen Skandal. Sogar seine berühmten Reden hat er sich von Hammann machen lassen, dann hat er sie wörtlich auswendig gelernt und so ein Phänomen in Europa abgegeben ... Seit Cäsar Borgia hat ein so heuchlerischer und verlogener Mensch nicht mehr gelebt!« (Z. 237).

Und als er, wie Kiderlen schreibt, dem König von Württemberg ein Bild des Schloßgartens zeigte, wo er Bülow mit Kuß und Umarmung entließ, zeigte er auf die Stelle und sagte: »Hier habe ich das Luder weggejagt!«


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