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Plötzlich brach eine ungeheure Hoffnung auf den Prinzen ein.
Als sich im März 87 ganz Deutschland um den Kaiser scharte, der nun das sagenhafte neunte Jahrzehnt beschloß, um sich den Hundert zu nähern, war der Kronprinz bei seiner Ansprache heiser. Acht Tage später flüsterten die Höflinge das erste Schreckenswort durch die Vorgemächer. Im Mai war das Halsleiden so weit vorgeschritten, daß ein Konzilium von sechs deutschen Ärzten zusammentrat, lauter Gelehrte von Weltruf, darunter Virchow und Bergmann, zudem als liberale Männer dem Hause des Kranken befreundet. Trotz schwankender Befunde Virchows beschließt das Konzil Laryngotomie: den äußeren Kehlkopfschnitt, der weder das Leben bedroht noch die Stimmbildung, nur meist eine rauhe und heisere Stimme zurückläßt. Zur Operation war der 21. Mai bestimmt, der Kranke und seine Gattin waren einverstanden. Bergmann besonders, der Operateur, hoffte auf die Konstitution Friedrich Wilhelms, zumal ihm die Statistik 70 Prozent Erfolge versprach.
Am Abend zuvor traf im Schlosse zu Potsdam Sir Morell Mackenzie ein, in England als Spezialist bekannt, bei seinen Kollegen meist gering geschätzt, doch den deutschen Kollegen durch seine Arbeiten nicht fremd. Mit ihm tritt das Schicksal ins Haus der Hohenzollern.
Denn eigensinnig hielt seit Wilhelms unglücklicher Geburt Victoria an dem unsinnigen Gedanken fest, die deutschen Ärzte wären an der Verkrüppelung ihres Sohnes schuld. Diese fixe Idee veranlaßte sie – so bestätigen es alle überlebenden Freunde –, aus Mißtrauen gegen deutsche Heilkunst einen Engländer zu ihrem Gatten zu rufen. Da nur seine falsche Behandlung den Kranken vor der Zeit ums Leben und so den Prinzen Wilhelm zur Macht brachte, knüpfen sich auch auf diesem Umweg die schwersten politischen Folgen an das Unglück dieses einen gelähmten Armes. So fällt, wie in der antiken Tragödie, das Schicksal dieser Dynastie und damit das der Deutschen in furchtbarer Notwendigkeit von einem Fallstrick der Götter in den andern, und mit kalter Logik folgt aus einem scheinbar nichtigen Fehler bei der Geburt eines Prinzen die Trübung seines Wesens, der verfrühte Tod seines Vaters, seine übereilte Heraufkunft und alles, was durch sie die Sicherheit von Millionen Menschen gefährdet hat.
Mackenzie erklärte nach der ersten kurzen Untersuchung das Leiden für gutartig, die Operation für gefährlich und überflüssig und verpflichtete sich gegen Victoria und die deutschen Ärzte, in den nächsten Tagen auch gegen andere Personen (L. 390), den Kronprinzen in sechs bis acht Wochen »bestimmt zu heilen, wenn er wie ein andrer Sterblicher mit ihm nach England in seine Klinik kommt«. Daraufhin zog der Kranke seine Genehmigung zur Operation zurück. Die Herausnahme einzelner Gewebestücke durch den Engländer hatte Verletzungen im Kehlkopf zur Folge, die von den Deutschen auf Kunstfehler zurückgeführt wurden.
Die sichere Folge der unterlassenen Operation war Ausbreitung des Krebses und Tod nach Ablauf eines Jahres. Die Folge rechtzeitiger Operation war mit großer Wahrscheinlichkeit Rettung für Jahre, vielleicht für Jahrzehnte, war somit ein anderer Mann auf Preußens Thron und mit ihm eine andere Politik. In ihren amtlichen Erklärungen vor der Nation schrieben später, nach dem Tode des Kranken, zwei Ärzte:
Professor Gerhardt: »Keine Statistik kann die ganze Wahrscheinlichkeit dauernd günstigen Erfolges wiedergeben, die in diesem Falle bestand. Denn in keinem andern war die Krankheit so früh, ich möchte sagen im Keime, erkannt. Die Körperbeschaffenheit des hohen Herrn war die denkbar kräftigste, alle Hilfsmittel standen zur Verfügung.« Professor Bergmann: »Die Operation, die wir vorschlugen, war nicht gefährlicher als der Luftröhrenschnitt, dem ohnehin, wenn unsere Krebsdiagnose richtig war, der Kronprinz doch dereinst ganz bestimmt verfallen mußte. Wir schlugen also nicht mehr vor, als was für ihn einmal unvermeidlich war.«
Damals schrieb Bismarck, unverkennbaren Stiles Autor eines Artikels in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung: Mackenzie erkläre soeben, auch er habe die Krankheit damals gleich richtig erkannt, der Kronprinz aber habe ihm anvertraut, er wolle sich nicht für unheilbar erklären lassen, sondern aus höheren moralischen und praktischen Gründen kurze Zeit regieren. Eine Fälschung! Kein Staats- oder Hausgesetz existiere, wonach unheilbare Krankheit die Thronfolge Preußens ausschlösse. »Dagegen hat er keine Zweifel darüber gelassen, daß er die Regierung nicht antreten würde, wenn es außer Zweifel stünde, daß er vom Krebs unheilbar befallen sei; dies entsprach seiner vornehmen und selbstlosen Denkungsweise. Da sie bekannt war, so wurde es Aufgabe derjenigen, welche den Kaiser Friedrich aus für uns nicht kontrollierbaren Beweggründen auch bei vorhandener Regierungsunfähigkeit auf den Thron bringen wollten, den hohen Herrn über seinen Zustand zu täuschen. Es ist nun festgestellt, daß ein unbedeutender englischer Arzt von radikalpolitischer Gesinnung sich herausgenommen hat, den Geheimen Kabinettsrat zu spielen und bestimmend in die Geschichte der deutschen Nation eingreifen zu wollen.«
Mit dieser halbamtlichen Erklärung hat Bismarck seiner alten Feindin Victoria vor aller Welt nicht weniger als die mittelbare Veranlassung des vorzeitigen Todes ihres Gatten vorgeworfen: sie wollte, deutet er an, lieber Kaiserin-Witwe als die Frau eines krebsleidenden, abgedankten Prinzen sein. Ihr Charakter und ihre Haltung während der Krankheit machen jedenfalls die Fahrlässigkeit ihres Vorgehens wahrscheinlich. Freilich wurde sie auch von drüben gedrängt, und Bismarck selbst erzählt von unkontrollierbaren englischen Einwirkungen, nach denen man den Kronprinzen regierungsfähig erhalten müsse, weil seine russenfeindlichen Anschauungen für England unschätzbar seien (L. 97). Auch ist man Victoria zur Beurteilung schuldig, daß sie ja keine Tigerin, vielmehr eine fühlende, liebreiche Frau und darum zu der Hoffnung berechtigt war, den Gatten vielleicht dennoch zu retten.
Vor Gericht würden sie die Indizien wegen Leichtsinns belasten. Da wird ein nicht hervorragender Arzt aus ihrer Heimat hergeholt, weil sie einen Mißgriff der Natur den Ärzten des fremden Landes vorwarf. Oder wollte sie aus Neigung und Mitgefühl dem Gatten sein Schicksal verheimlichen? Dann mußte sie vor dem Gutachten der deutschen Ärzte versuchen, ihnen das tödliche Wort abzuschneiden; schon dieser Versuch, obwohl zum Mißlingen verurteilt, hätte genügt, sie vor der Nachwelt zu retten. Sprach der Engländer die Wahrheit, so hätte damals der Kronprinz zum erstenmal eine Entscheidung allein und heimlich gefällt und seiner Gefährtin eben das verschwiegen, worum ihr gemeinsames Hoffen seit dreißig Jahren kreiste. Da sich der Doktor aber »Vertrauensmann beider Herrschaften« nannte, um wieviel wahrscheinlicher war er dann der ihrige, die den Landsmann schon in London instruieren lassen, ihn in Potsdam zuerst sprechen, ihre Wünsche wissen, mindestens merken lassen konnte! Und hatte sie nicht wirklich den eignen Sohn zu fürchten, wenn er, den sie so lange moralisch mißhandelt hatte, vor ihr zur Macht gelangte?
Auch der Verlauf der Ereignisse stützt Bismarcks Anklage. Dies ganze Jahr lang hielt Victoria die Fiktion aufrecht, der Kronprinz ist nur leicht erkrankt, es geht ihm besser, bald wird er gesund, nicht bloß durch eine Masse von Depeschen und Protesten vor der Welt, die zu täuschen man wohl politische Gründe haben konnte, vor ihren eignen Freunden und Kindern spielte sie dreizehn Monate lang diese Rolle, während der Gatte an ihrer Seite hinlosch. Gleich nach dem verhängnisvollen Entschluß im Juni kam das Jubiläum ihrer Mutter heran. Dort sollte sie fehlen? In solchem Glänze sollte ihr Sohn sich sonnen? Und gegen den Rat ihrer Vertrauten nötigt Victoria den leidenden, schon fast stimmlosen Gatten, im Londoner Festzuge sich hoch zu Roß zu zeigen, um alle Gerüchte niederzuschlagen.
Auf dieser englischen Reise hatte Mackenzie eine dauernde Beobachtung des Kranken durch Professor Gerhardt abgelehnt, das Wachsen der Geschwulst dem Kranken und den Ärzten verheimlicht: »Wer das Fortbleiben Gerhardts bewirkt hat, trägt die Verantwortung für die verhängnisvolle Wendung der Sache«, sagt Bergmann (dessen Dokumenten in Buchholtz' Biographie wir hier folgen). Darauf verhindert die englische Partei des Kronprinzen Rückkehr nach Berlin, man reist ohne deutsche Autoritäten von einem Bad zum andern; doch wenn man die vorbildliche Pflege durch Victoria in all dieser Zeit betrachtet, so glaubt man wieder, daß sie den Krebs bei ihrem Gatten wirklich für unmöglich hielt.
Anfang November: plötzliche Wendung zum Schlechten, Reise nach San Remo, entschiedene Stellungnahme der Ärzte, Mitteilung im Reichsanzeiger, daß der Thronfolger an Krebs erkrankt, Operation jedoch nicht beschlossen sei, da sie der Kranke nicht wolle und da es wahrscheinlich auch zu spät dafür sei. »Prinz Wilhelm ist mit der Stellvertretung betraut.«
Von diesem Tag an spannen sich alle Nerven des Prinzen. Jetzt ist er faktisch Kronprinz und darf den Hintritt eines neunzigjährigen und eines tödlich erkrankten Vorgängers in Kürze erwarten. Zu um so heftigeren Graden steigt jetzt der Haß der Eltern gegen den Sohn. Dreißig Jahre zu warten und nun dem Nichts entgegen! Und dieser unreife Knabe soll die vergebens ersehnte Macht wie ein Spaziergänger empfangen, ohne Geduld und Kämpfe? Sein Stellvertreter? Er selber also gilt schon für tot! »Ich bin doch nicht blödsinnig oder undispositionsfähig«, ruft der Kranke aus, als er seine Ersetzung erfährt.
Bald aber kehrt er zu seinem Schicksal zurück, denkt an den Tod und an Gott. Geduld, ein Leben lang von ihm geübt, beschließt er nun auch am bittern Ende zu bewahren, und als ein paar Tage nach jener Nachricht sein ältester Sohn in San Remo erscheint, die Mutter auf der Treppe ihn abweisen will, erblickt er den Vater lächelnd auf der Terrasse (L. 402). Von nun an, in seinen letzten Monaten, sieht man den alten Stolz des Kronprinzen nur noch wenige Male aufleuchten.
Victoria dagegen spannt ihre Nerven genau wie ihr Sohn. »Die Zustände sind haarsträubend«, erzählt der Prinz nach Rückkehr; die Mutter bezeichne die deutschen Ärzte als Schwindler und suche sie wegzudrängen, »mich hat sie behandelt wie einen Hund« (W. 333). Ein hoher Offizier, der von San Remo kommt, schildert sie vor Waldersee als »nahezu wahnsinnig. Man glaubt sogar, sie intrigiere mit den Orléans gegen Berlin«. Nach Hause aber schreibt sie vom Weihnachtsfeste: »Wir waren sehr vergnügt, hatten auch keine Veranlassung traurig zu sein, denn deinem Vater geht es gut. Das einzig Traurige ist, daß deine Großeltern so alt sind.« (E. 155). Mit welcher Kälte sind diese Worte gesetzt! Was muß der junge Sohn, der sie empört seinem Freunde zeigt, vom Gefühlsleben der Frauen denken, wenn er von seiner Mutter Hand solche Zeilen liest!
Nicht anders in Berlin. Während das Volk aufgefordert wird, für die Gesundheit des Thronfolgers zu beten, tanzt die Gesellschaft jeden Abend. Eulenburg nennt die allgemeine Bestürzung über die Wendung der Krankheit ungeheuer, aber »das lukullische Mahl« bei Borchardt, bei dem die Unterhaltung sich nur um das Leiden und um die Schuld Victorias drehte, habe »von 7 bis 12 gedauert«. Auch Victoria, die Tochter, durchtanzt die halben Nächte und erklärt, »es ist alles nur Pimpelei von Papa«.
Nur der uralte Kaiser kann nicht mehr schlafen. Über den Sohn spricht er nie, aber er denkt an ihn, fühlt sich um seine natürliche Stütze gebracht, und da er eben den Besuch des Zaren erwartet, wiederholt er sich nachts die Sätze, die er ihm sagen soll und will. »Ein Traum, wonach der Zar, von niemand empfangen, auf dem Bahnhof gestanden hat, ängstigt ihn so, daß er ihn öfters erzählt« (E. 146). Wo ist mein Sohn? denkt der Greis. Wer wird mich vertreten? fragt sein neunzigjähriges Pflichtgefühl. Denn er weiß, die Zeiten sind sehr ernst, wieder liegen Krieg und Frieden auf der Wage.
Gegen Weihnachten bringt Bismarck den Prinzen zum erstenmal in die Beratung mit. Im Kreise um den 90jährigen Kaiser sitzt Moltke 87, Bismarck 72, Albedyll 63, Waldersee 56jährig, daneben Prinz Wilhelm, schmächtig, unruhig, ein Jüngling, dem morgen alle Macht zufallen kann. In der aufs neue gespannten Lage will der Kaiser seine Berater über einen Zwei-Fronten-Krieg hören, fängt an von alten Zeiten zu sprechen und wie ungern er gegen den Zaren das Schwert ziehen würde: »Ich habe ihm gesagt: Wenn Sie mit Frankreich verbündet gegen uns Krieg führen wollten, so wären Sie die stärkeren und könnten uns vernichten. Aber, glauben Sie mir, das würde Europa nicht dulden.«
Mit stummem Schrecken hört der Kreis diese gefährlichen Wahrheiten seines obersten Kriegsherrn, man berechnet die Wirkung solcher Worte am Zarenhofe, wo man doch Angst vor Preußen haben soll. »Mir lief es eiskalt über den Rücken«, schreibt Waldersee. Im übrigen erklärt der Alte, wenn es doch losgeht, so will er an die Westfront. Die Herren unter Achtzig denken: welche Absurdität! »Mobilmachung mit einem 90jährigen Kaiser, einem todkranken Kronprinzen und einem 87jährigen Feldmarschall« (W. 345).
Den Prinzen behandelt der Kaiser »als ein Kind« (E. 155) und ermahnt ihn, ja nicht über den Vortrag zu sprechen. Was lernt der Prinz aus dieser Konferenz?
Bei Ausbruch der Krankheit hat er begonnen, fieberhaft nachzudenken; Trommeln hört er von ferne nahen, die Trommeln der Macht. Dem Freunde, der bei ihm wohnt, hat er schon damals, Anfang Juni, sein Herz aufgeschlossen; nachdem er Philis Balladen gelauscht hat, begleitet er ihn »in sein entzückendes Schlafzimmer«, wie der weiblich empfindende Eulenburg es nennt, erklärt das Urteil der deutschen Ärzte für richtig, spricht »mit Ernst, aber ohne jede Wärme. Der Vater ist ihm immer der fremde Mann, die Mutter die dem Vaterland feindliche Engländerin, und das Erbteil dieser Mutter, der feste, unbeugsame Wille, lehnt sich nun in tiefster Vaterlandsliebe gegen die auf, der er dieses kräftige Empfinden verdankt. Ich sagte dem Prinzen, daß der Gedanke mich erschrecke, ich hielte es für unendlich schwer, als ein so junger Mensch dem großen alten Kaiser zu folgen. Der Prinz schwieg. Er steht immer auf dem Standpunkt ... daß die Regierung des Kronprinzen, d. h. der Kronprinzessin, das Verderben des Vaterlandes bedeutet.«
Dann, an jenem Novemberabend, an dem er von San Remo zurückkehrt, spricht er dem Freunde sehr erregt von der Regentschaftsfrage, und als sein Bruder Heinrich, ganz Mutters Partei, ihm heftig entgegnet, ruft Prinz Wilhelm aus: »Es ist übrigens sehr fraglich, ob ein Mann, der nicht sprechen kann, überhaupt König von Preußen werden darf!« (E. 147). Dem Freunde vertraut er: »Ich bin jeden Augenblick bereit, ich habe alles überlegt, was ich tun werde, im entscheidenden Augenblick ist Überlegung nicht mehr möglich, vorher muß alles fertig sein!« Und als ihm Eulenburg in seinem alten Schloß auf einem Wandschirm die Völker als Ströme zeigt, von der Antike bis zu Napoleon, blickt Wilhelm nur immer auf den kleinen Strom, der Preußen darstellt, dann sagt er: »Und hier wird es ganz groß werden!« (E. 138). Zugleich sagt er zu Puttkammer auf der Jagd: »Wenn ich einmal drankomme, werde ich keine Juden in der Presse dulden,« und, als der Minister auf die Gewerbeordnung hinweist: »Dann schaffen wir diese Gewerbeordnung ab!« (L.410).
Wie's wieder brodelt, wieder glüht! Wie sich die kalte Ungeduld nicht zähmen, den Tod zweier Väter nicht erwarten kann! Kenntnislos in den Rechten der Staatsbürger wie in den internationalen Aussichten, und doch im festen Glauben an seine Bestimmung, dem Lande zu nutzen, beseelt von gutem Willen, doch viel zu früh zur Macht berufen – und beinah rührend, wie er, ein Knabe, vor der Weltgeschichte steht, auf Preußen starrend: »Und hier wird es ganz groß werden!«
Doch schon beginnen Alle, die ihm begegnen, ihn zu verderben. Vertraulich betonen, wie Lucius schreibt, »alle Beobachter immer seine mangelnde Reife, was allerdings im Alter von 29 auffällig«. Ihm selber aber und seinen Vertrauten, die es ihm wiedersagen sollen, rühmt nun plötzlich jeder laut seinen »festen Charakter und wieviel er für die Zukunft verspräche ... Dieselben Leute, die gegen den Prinzen intrigierten, sehen, daß er jetzt bald Kaiser werden kann, und wollen sich nun gern gut plazieren« (W. 327).
Zu früh wird auch sein militärischer Rang durch die drohende Krisis erhöht: Weihnachten hat es der alte Herr noch abgelehnt, den Enkel zu befördern, dann gibt er nach und macht ihn am 29. Geburtstage zum General. Daß die Ordre von Mißtrauen erfüllt ist, sieht der Prinz nicht, er sieht nur, wie weit er es so jung gebracht hat, und fängt an, sich Fähigkeiten zu suggerieren, auf die er die Beförderung zurückführt.
Der Herzensfreund tut nichts, um ihn aufzuklären, tut alles, um ihn durch Schmeichelei nur rascher zu verderben, denn gerade seine Briefe liest der Prinz mit einer Art von Andacht. Da kann er denn lesen, wie Eulenburgs Kinder zum Vater sagten, »wie wunderschön« der Prinz in Uniform ausgesehen, und wie der Freund ihm im Tone einer Geliebten schreibt, beim Neujahrsempfang in München, inmitten kalter Hofleute habe er nur »an Potsdam gedacht, an unsere Schlittenfahrten, an unser vertrautes Zusammensein, und ein Gefühl so tiefer Freundschaft kam über mich, daß ich plötzlich allen Glanz um mich wie eine unerträgliche Qual empfand. Wie stehe ich Ihnen menschlich so nahe – und wie quält mich der Gedanke, daß die Kluft, die uns gesellschaftlich trennt und die unsere Freundschaft überbrückt, mit der Kaiserkrone immer weiter, immer tiefer werden muß!«
Dem Tone muß man lauschen, dieser süßen Schäferstimme, die der Vielgewandte so fein zu affektieren weiß wie zynische Witze in Gesellschaft älterer Herren, immer wohlstilisiert, denn alle diese Briefe, die er nach Jahrzehnten für seine Erinnerungen aussucht, sind sehr vertraulich und schon darum handschriftlich, ohne Kopie geschrieben; er zitiert sie nach den Entwürfen, die er aufgehoben. Dazwischen berät er den Freund in weltpolitischen Perspektiven, die seine klugen Finger stets in träumerische Stimmungen und Kunstnachrichten so einbauen, daß sie den ungeduldigen Leser nicht ermüden.
Daß er zugleich auf sein Fortkommen bedacht ist, könnte man ihm so sehr nicht übelnehmen, gäbe er nicht unablässig vor, Stellung und Welt zu verachten: »Ich erzähle«, schreibt er bei Ernennung zum Legationsrat, »dieses nur ganz freundschaftlich Eurer Königlichen Hoheit, weil ich weiß, daß es Ihnen Freude machen wird, daraus zu ersehen, daß ich mir eine Stellung erworben habe, die es mir ermöglicht, meinem geliebten König und dem Vaterlande nützlich sein zu können – und das ist mir der beste Lohn.« Worauf ihn der Freund zum Gesandten befördert.
So ist der Mann beschaffen, von dem Wilhelm um diese Zeit zu Hinzpeter sagt: »Mein Busenfreund Eulenburg, der einzige, den ich habe!« (E. 2, 46). Ringsum ist niemand, der den Prinzen leitet, berät, ihn auch nur warnen würde.
Nur Einer bleibt unbestechlich, ihm sucht er vergebens zu imponieren. Als Eulenburg mit unruhvollen Gefühlen am Tage nach der Premiere seines romantischen Dramas zum Prinzen kommt, findet er ihn, der alles schon jetzt, November 87, vorbereiten will, über dem Entwurf einer Proklamation an die deutschen Fürsten zum Tage seiner Thronbesteigung; anstatt dies Schriftstück zu verhindern, redigiert er es, nach seiner eignen Erzählung, für seinen Freund. Der schickt es an Bismarck:
»E. D. erlaube ich mir anbei ein Schriftstück zu übersenden, welches ich im Hinblick auf die nicht unmögliche Eventualität eines baldigen oder überraschenden Hinscheidens des Kaisers und meines Vaters verfaßt habe ... Es ist ein kurzer Erlaß an meine künftigen Kollegen, die deutschen Reichsfürsten.« Da es diesen sauer ankommen würde, unter einen so jungen Herrn zu treten, müsse man ihnen keine Zeit zum Grübeln lassen. »Daher ist mein Gedanke, daß ... an jeder Gesandtschaft diese Proklamation versiegelt deponiert und im Falle meines Regierungs-Antrittes sogleich durch die Gesandten den betreffenden Fürsten übergeben werde.« Er hoffe, daß »die alten Onkels dem lieben jungen Neffen nicht Knüppel zwischen die Beine stecken ... Mir wird es leicht werden, per Neffe zum Onkel mit diesen Herren, sie durch kleine Gefälligkeiten zu kirren. Habe ich sie erst von meinem Wesen und Art überzeugt und in die Hand mir gespielt, nun, dann parieren sie mir um so lieber. Denn pariert muß werden!«
Dies ist der erste staatspolitische Einfall des Prinzen Wilhelm, zugleich das erste Dokument, das Eulenburg begutachtet und stilisiert hat. Niemand weiß, welche Zynismen Bismarck seinem Sohne gesagt haben mag, als er so takt- und kenntnislose Zeilen las. Sie kamen nicht allein.
Rasch folgte ihnen ein zweites Schreiben zur Erklärung gewisser sozialer Bestrebungen des Prinzen, die Bismarck ihm zu bekämpfen scheint: »Meine hohe, warme Verehrung und die herzliche Anhänglichkeit, die ich für E. D. hege – ich ließe mir stückweise ein Glied nach dem andern für Sie abhauen, eher, als daß ich etwas unternähme, was Ihnen Schwierigkeiten machen ... würde –, sollte, mein' ich, Bürge sein.« Sollte es zum Kriege kommen, so »mögen Sie nicht vergessen, daß hier eine Hand und ein Schwert bereit sind, von einem Manne, der sich wohl bewußt ist, daß Friedrich der Große sein Ahnherr ist ... und der seine zehn Jahre militärischer Ausbildung nicht umsonst hart gearbeitet hat! Im übrigen Allerwege guet Zollere. In treuester Freundschaft Wilhelm, Prinz von Preußen.«
Der Alte schmunzelt. Je mehr die Superlative der Verehrung sich häufen, um so schlechter, so fühlt er, ist des Prinzen Gewissen. Wird er ihn nun durch Artigkeiten zu gewinnen trachten? Sechs Wochen läßt er sich Zeit, um beide Briefe zugleich eigenhändig zu beantworten, denn »meine Hand leistet mir den Schreibedienst nicht mehr so leicht wie früher. Außerdem müßte ich ... ein historisch politisches Werk (als Antwort) schreiben.« Den Aufruf an die Fürsten schickt er zurück »und möchte ehrerbietigst anheimgeben, ihn ohne Aufschub zu verbrennen ... Schon das einzige existierende Exemplar, welches ich hier sorgfältig unter Verschluß gehalten habe, kann in unrechte Hände fallen.« Um wieviel gefährlicher seien einige Zwanzig! Was würden die Fürsten später sagen, wenn sie erfahren, die Proklamation sei bei Lebzeiten regierender Herren verfaßt und bereit gehalten worden. Übrigens möge er ihre verfassungsmäßigen Rechte schützen. »Die festeste Stütze suche ich aber ... in einem Königtum, dessen Träger entschlossen ist, nicht nur in ruhigen Zeiten arbeitsam mitzuwirken an den Regierungsgeschäften des Landes, sondern auch in kritischen lieber mit dem Degen in der Faust auf den Stufen des Thrones für sein Recht kämpfend zu fallen als zu weichen.« Dann widerrät er ihm mit Ironie jede Teilnahme an christlich sozialen Bestrebungen und endigt mit einem kalten Dank für das »huldreiche Vertrauen«.
Da sitzt der Alte in seinem Zimmer zu Friedrichsruh, es ist Januar, der Raum überheizt, die steile Feder muß er selber führen, um an den Erben seines Herrn einen Brief von acht Druckseiten zu schreiben, den er nicht einmal dem Sohne diktieren durfte. Und wie er sitzt, steigt's vor ihm auf in großer Vision, vor Leichtsinn und Arbeitsscheu warnt er den Prinzen, und plötzlich sieht er ihn in schwererer Krisis vor sich, in einer ungewissen, vielleicht sehr fernen Zukunft, in seinen Rechten, auf seinem Throne selbst bedroht, und ruft ihm zu, er möge lieber kämpfend fallen als weichen! Dunkle Worte, geschrieben vom 73jährigen Bismarck an Wilhelm den Zweiten, dicht vor seiner Thronbesteigung, Anno Domini 1888. Wie wird es wirken?
Statt zu lauschen, bricht der Prinz plötzlich ab. In der sozialen Sache wolle er nachgeben, erwidert er, um jeden Verdacht zu zerstreuen. »Wenn nicht, dann wehe ihnen, wenn ich zu befehlen habe!« Ein neuer Ton: plötzlich Fanfaren! Ein höfischer Schluß, Bewegung, Hackenschlag, jedoch verbunden mit einer Drohung, die sich auf das rasch heranreifende Recht stützt, zu befehlen, damit die andern parieren.
Inzwischen ringt am Mittelmeer der Kranke nach Luft. Der alte Kaiser in Berlin hat Schwächeanfälle. Als am 9. Februar den Kronprinzen Erstickung bedroht und Mackenzie noch immer die Operation verweigert, hat endlich ein Adjutant den Mut, ihn anzufahren: »Wenn Sie nicht sofort Bramann herüberrufen (Bergmanns dort wartenden Assistenten), so werden Sie vor ein Kriegsgericht kommen!« Nach leidenschaftlichen Kämpfen zwischen Bramann und der Kronprinzessin, setzt der Kranke den Luftröhrenschnitt durch, wobei Bramann zugleich operieren und chloroformieren muß, da Mackenzie, einer Ohnmacht nahe und, wie er später sagt, »während der Operation mehr tot als lebendig« war.
Zwischen dem hinschwindenden Greise und seinem hinsiechenden Sohn beginnt der unsichtbare letzte Wettlauf. Victoria zittert, »im Volke zeigen sich bedenkliche Strömungen gegen sie« (E. 146). Sie »scheint kaum mehr zurechnungsfähig, so fanatisch vertritt sie den Gedanken, ihr Gemahl sei nicht ernsthaft leidend« (W. 365). Prinz Wilhelm ist außer sich, weil er allein unter allen Kindern nicht nach San Remo reisen darf; so reist er ohne Meldung, sieht sich behandelt wie im November, die Mutter fordert, er solle nach Rom weiterreisen, um des Vaters Wohlbefinden zu bekräftigen. Bismarck ruft ihn zurück.
»Was für Zustände würde es geben – so überlegt Waldersee in diesen Tagen –, wenn der Kaiser uns jetzt genommen werden sollte, die schlimmsten Wirren sind unvermeidlich! Der Kronprinz kann ja nicht regieren, wohl aber unter dem Drucke seiner leidenschaftlichen Frau noch Unheil genug anrichten. Und sie wird, gerade weil sie weiß, daß ihr Regiment nur von kurzer Dauer ist, ... ihre Zukunft sicherzustellen versuchen. Es fragt sich, wie weit Prinz Wilhelm dies geschehen läßt.« Wenige Tage darauf tritt das Gefürchtete ein.
In seinem kleinen Zimmer liegt der Greis auf dem alten Feldbett, mit weißer Jacke, rotem Halstuch, die Kaiserin hat sich neben sein Bett rollen lassen, Verwandte, Intime füllen den engen Raum, Prinz Wilhelm steht dabei.
Der Kaiser stirbt als Soldat. Am letzten Lebenstage kreist die Phantasie nur noch um Kriege, künftige und vergangene. »Ich scheue den Krieg nicht, wenn ich dazu genötigt werde«, sagt er vor sich hin. Es scheint, er spricht mit dem Zaren: »Ich hoffe, daß er nicht wortbrüchig wird.« Wiederholt hört man ihn über den Krieg nach zwei Fronten reden, dann über die Vierten Bataillone und über Taktik der Franzosen. Jetzt gleitet sein Geist in den Französischen Krieg zurück, doch nicht in den letzten, der ist ja kaum zwanzig Jahre vorüber: in die Befreiungskriege ist er heimgekehrt »und dabei ist er auch geblieben. Viele Namen von Offizieren aus jener Zeit hat er genannt, die mit ihm in Verbindung gestanden haben« (W. 269).
Als Bismarck ihm die Ordre über Schluß des Reichstags reicht und sagt, sein W genüge, erwidert er im alten Dienstgefühl: »Ich werde den ganzen Namen zeichnen«, doch glückt es ihm nicht mehr ganz. Plötzlich aber hält er den Kanzler, der sich dicht an sein Ohr beugt, für seinen Enkel, spricht ihn als Prinz Wilhelm an und sagt: »Ich bin immer mit dir zufrieden gewesen. Du hast alles gut gemacht.«
Mit dieser ergreifenden Verwechslung zugunsten seines Enkels schließt das Leben Wilhelms des Ersten.
»In tiefer Betrübnis über den Tod meines Vaters, bei dem es nicht mir, aber dir vergönnt war, zugegen zu sein, spreche ich bei der Thronbesteigung die feste Zuversicht aus, daß du in Treue und Gehorsam allen ein Beispiel sein wirst.«
Mit diesem drohenden Ruf nach Berlin beginnt der Sterbende in Italien seine Regierung als Deutscher Kaiser. Zugleich verkündet er, der jetzige Kronprinz sei zu seiner Stellvertretung nicht mehr berufen, das Staatsministerium solle ihn nötigenfalls vertreten. Erst Bismarcks Antwort zeigt ihm, daß er in seinem Haß gegen den Sohn hiermit verfassungswidrig handeln würde. Am dritten Tag empfängt er auf der Heimfahrt in Leipzig Kanzler und Minister, alles geht leise vor sich, Konversation schriftlich; der Einzug in Berlin, von dem er so lange geträumt, stumm wie er selber, und hinter der Leiche seines Vaters auf stundenlangem Wege schreitet nicht er, sondern, allein vor allen Fürsten, sein Sohn, der wahre Erbe. Mit seinem starken Sinn für Allegorie und Gestus empfindet Wilhelm, jetzt Kronprinz, diesen Weg durch den Tiergarten, quer durch dies wortlos grüßende Volk als ein Gleichnis direkter Nachfolgeschaft. Erst draußen in Charlottenburg grüßt durch's geschlossene Fenster der Sohn den toten Vater, der Enkel den sterbenden Sohn.
In einem kleinen Saal nimmt Kaiser Friedrich die Eidesleistung der Nächsten entgegen, der Oberhofmarschall läßt sich auf ein Knie nieder, die Minister küssen dem neuen Herrn die Hand, auch Bismarck. Vor dem König von Preußen schweigt sein Stolz, nur vor diesem. Patinierte Begriffe eines uralten Lehnsgefühls, unverrückbar in ihn gepflanzt, zwingen ihm jetzt diesen Handkuß ab, der seinem ganzen Wesen zu widersprechen scheint; sein Selbstgefühl ist gar nicht touchiert, er fühlt sich als Ritter. Sein alter Herr freilich fing ihn in den Armen auf, als der Kanzler am 70. Geburtstage seine Hand küssen wollte; der heutige läßt es geschehen und genießt vielleicht diesen Scheinsieg über seinen alten Feind mit den letzten Vibrationen einer schwindenden Lebenskraft.
Aber von Kampf ist keine Rede mehr, verlöschen fühlt er sich und läßt den Diktator an seiner Macht, ja, er will ihn erhöhen, denn seine Gedanken sind ganz auf formale Dinge beschränkt. Einer der ersten Befehle: Abschaffung der Epaulettes nach englischem Muster, eine der ersten Fragen: welches Bild wird für die neuen Münzen verwendet? Und als er erfährt, vor Pfingsten würden sie nicht fertig, schlägt er, wie Lucius beobachtet, mit schmerzlichem Ausdruck die Hände zusammen, als ob er dies nicht mehr erlebte. Die ersten Wünsche dieses Liberalen sind: Freiherrn, Grafen und Fürsten zu machen, so daß Bismarck ironisiert: »Um den Haß zwischen Bürgertum und Adel abzustellen, sollte der Kaiser sein ganzes Volk adeln.« Als der Fürst aber selber zum Herzog, Herbert zum Prinzen gemacht werden soll, bittet er dringend, dies zu unterlassen und begründet nachher die Ablehnung mit seinem ganzen Zynismus: »Ja, wenn ich zwei Millionen Taler hätte, ließ ich mich selbst zum Papste machen!«
Außer diesen Spielen der Macht fehlt dem Kaiser die Kraft, sich durchzusetzen. Dem Minister Friedberg, geborenem Juden, gibt er den Schwarzen Adler, aber das Sozialistengesetz unterschreibt er nach anfänglicher Weigerung doch und gibt auch in einer europäischen Frage nach. Denn als er, nach dem alten englischen Plane, den Battenberger Prinzen zur Verlobung seiner Tochter kommen lassen will, wünscht Bismarck, der gerade jetzt keine Differenz mit Rußland leiden darf, die Sache aufgeschoben. Der lebensmüde Mann gab zunächst nach, »eine furchtbare Szene zwischen Kaiser und Kaiserin war die Folge« (W. 382).
So voll von Haß und Kämpfen, so dumpf erschüttert vibriert das Leben dieser Familie, die Jugend Wilhelms des Zweiten.
Aber dem alten Zauberer gelingt es jetzt, seine Todfeindin zu gewinnen, zu beherrschen. »Ich verkehre«, sagt er zu Lucius, »mit der Kaiserin Friedrich wie ein verliebter Greis,« das heißt, er steckt der aufgeregten Frau so viel Geld zu, daß sie ihm nicht widerspricht. Gleich die ersten Tage nach ihrer kaiserlichen Heimkehr sind von Verhandlungen bewegt: zuerst stellt sie »wegen ihres Wittums exorbitante Forderungen« (W. 375), denn sie ist ergrimmt, weil der alte Kaiser die Enkel, nicht aber die Enkelinnen im Testament bedacht, und vollends weil er sein ganzes Vermögen, 22 ersparte Millionen, durch ein Fideikommiß der Familie erhalten, also unangreifbar gemacht hat. Alles ist außer sich, alles ratlos. Bismarck findet den Ausweg: im Testamente sei nicht von Fideikommiß, nur von einem »Krontresor« die Rede, dem das Vermögen zufalle. Rechtsgutachten: also gehört es dem Sohn zur freien Verfügung. Dieser vermacht es sofort zu gleichen Teilen Frau und Kindern (W. 403). Mit diesen 11 Millionen, die Bismarck durch anders auslegende Gutachten Victoria auch hätte entziehen können, hat er ihre Widerstände gebrochen.
So war sie gesichert. Geehrt war sie weniger, von Krönung konnte nicht die Rede sein, darum zog die Engländerin eine altpreußische Sitte hervor: die Trauercour, die sie allein abhält, nur um einmal im Leben auf dem Throne die Huldigung der ersten Männer und Frauen auszuschlürfen. Waldersee »stand unmittelbar am Thron, als sie kam ... Sie versuchte eine stolze Haltung zu gewinnen, riß den Kopf hintenüber und nahm die beiden Stufen nicht langsam, sondern halb springend. Trotz des schwarzen Schleiers konnte ich seitwärts doch ab und zu vom Gesicht etwas lesen und hatte den Eindruck, daß sie sich an dem Anblick weidete.«
Bismarck läßt sie gewähren. Obwohl er des Kaisers Geduld bewundert und auf die Roheit der englischen Ärzte und Pfleger schimpft, die ihn beim Wechseln der Halskanüle unnötig quälen, greift er nicht ein. »Wenn alles wahr und nicht übertrieben ist, was man mir erzählt, so müßte man den Staatsanwalt (gegen die Kaiserin) schicken, um den Kaiser zu schützen« (Ho. 430). Durch Wein und andere Mittel läßt sie ihn zu Repräsentationen stärken, nachher fällt er zusammen; als man dem Schweratmenden ein Zelt als Aufenthalt vorschreibt, läßt sie ihn warten, bis ein englisches von drüben kommt. Als Mackenzie, der auf seiner eignen Kanüle bestand, im April eines Tages Bergmann angstvoll nach Potsdam ruft, findet er den Kaiser im Ersticken. »In wenigen Minuten war die Gefahr durch Einführung der mitgebrachten Kanüle beseitigt.« Gegen den Wunsch der Ärzte zwingt Victoria den Kranken um diese Zeit zu einer Fahrt nach Berlin, schließlich muß er drei Wochen vor dem Tode in Charlottenburg an einer Hochzeit teilnehmen, wobei in der Kapelle die zunächst Sitzenden seine Atemnot sehen und hören. »Beim Stehen war die Haltung forciert stramm, ... dann verließ der Kaiser mit drei großen Schritten die Kapelle. Etwa eine Viertelstunde später sah die Gesellschaft ihn auf einem Rollstuhl vorüberfahren, ... er war in Zivil und völlig zusammengesunken.«
In diesen Hundert Tagen ist die Feindschaft gegen den Sohn noch gestiegen; zugleich hat gerade dadurch seine Stellung sich befestigt. Als in den ersten Wochen seine Wiedereinsetzung als Stellvertreter besprochen wird, scheitert der Versuch, »weil sichtlich der Wunsch erkennbar ist, den Sohn zu mißhandeln« (W. 372). Wie nun aber der Vater, den der Sohn fast nie sehen darf, in seiner Ohnmacht doch kapitulieren muß, da fühlt sich der Erbe stark genug zu Bedingungen. Da die liberalen Kreise klein sind, die auf Friedrich rechneten, wächst allenthalben die Hoffnung auf den Kronprinzen, und der erfährt von dieser Stimmung nur zu viel (W. 402). Herrschsucht und Eigensinn der Mutter, die solche schon von ihrer Mutter geerbt hat, wirken im Sohne fort.
Nach allem, was er zu Hause erlitt, noch jetzt erleidet, kann niemand dem jungen Manne die ganze Kälte einer Erwartung verübeln, in der er, mit dem Vertrauten auf und ab gehend, nur konstatiert: »Es ist ganz gut gekommen, daß mein Vater noch vor mir regiert hat,« worauf er ausführlich von neuen Formen und Personalien spricht, genau wie kürzlich sein Vater; und als Waldersee, von soviel Kälte wunderlich berührt, ihm rät, den Segen seines Vaters zu erbitten, der in diesen Tagen schon als sterbend galt, sagt der Prinz: »Oh, den habe ich wohl ... Meine Mutter läßt mich aber nicht allein mit ihm« (W. 389).
Um diese Zeit hat er seiner Mutter selber gesagt: »Wäre Papa doch bei Wörth gefallen (vor 19 Jahren), das wäre glücklich gewesen!«
»Aber Wilhelm, rechnest du das Glück, das er die ganze Zeit über genossen, rechnest du mein, unser aller Glück so wenig?«
»Nein, es wäre doch besser so gewesen« (Dohme, Deutsche Revue 37, 84).
Liebevoll ist es nicht, aber verständlich von einem Prinzen, der in diesen zwanzig Jahren wenig Glück vom Vater erlebt hat und der zudem für den Tod anderer gern romantische Umstände wünschte.
Der Kranke erholt sich, aber der Thronfolger, die Macht immer in greifbarer Nähe, wird nun mit jedem Tage stolzer. Er hat Herbert Bismarck auf ¾1 Uhr ins Schloß bestellt; als dieser »2 Minuten nach ¾1 Uhr einfährt, fährt der Kronprinz grüßend an ihm vorüber« und hat hinterlassen, er müsse seine Husaren besichtigen, Exzellenz solle 5 Uhr 10 Minuten auf dem Potsdamer Bahnhof sein. Für den Vortrag hätte er höchstens 3 Minuten gehabt. Dann, auf dem Bahnhof, zu Herbert: »Ich habe keine Zeit, Akten zu lesen«. Herbert ist nicht nur Staatssekretär, seit Jahren ist er sein persönlicher Vertrauter; nie hätte früher der Prinz, der mit ihm manche halbe Nacht gezecht, ihn um Minuten abgewiesen. Jetzt, Stellvertreter des Kaisers, ergreift ihn sogleich Unsicherheit, er affektiert den vielbeschäftigten jungen Herrscher und fährt, anstatt es ihm wenigstens mit zwei Worten zu erklären, absichtlich grüßend an ihm vorüber.
Auf dem Umweg über den Sohn will der Kronprinz auch gleich dem Vater winken, erklärt, er werde Bismarck keinen Eingriff in Sachen der Armee gestatten, »und ich glaube, daß der gute Herbert auf die Konservierung meiner Freundschaft einigen Wert legt« (W. 375). Am Geburtstage des Kanzlers vergleicht er in seinem Toast die Lage mit der eines stürmenden Regimentes, »der Regimentskommandeur ist gefallen, der Nächste im Kommando reitet, obwohl schwer getroffen, kühn voran«. Darüber ist der Kranke außer sich und schreibt dem Sohn einen bösen Brief (W. 384).
Das alles war im April. Im Mai, als der Vater ganz hinsinkt, reckt sich der Sohn noch kräftiger auf, nun fängt er an, sich auch ins Auswärtige zu mischen: Bismarck hat ihn gereizt, denn da der Kronprinz nach Art des Großen Friedrich die Akten mit Marginalien zu bedecken beginnt, hat jener ihn ersucht, das zu unterlassen, da solche Stücke sekretiert werden müßten, wodurch der Geschäftsgang leide. Nun warnt der Kronprinz in einem ihm von Waldersee entworfenen amtlichen Schreiben den Kanzler vor Rußland:
»Freilich, hätte man damals in Versailles Frankreich seine Festungen und Flotte genommen, so drohte nicht heute doppelte Gefahr. »Das war«, fährt der Schreibende fort und erteilt dem Alten eine wohlabgemessene Zensur, »militärisch betrachtet falsch, politisch betrachtet jedoch ... in dem Moment richtig«; seitdem aber suchten die beiden Nachbarn über uns herzufallen. In dieser Mitteilung »liegt meines Erachtens eine durchaus erforderliche Hilfe für die Leitung auch der friedliebendsten Politik ... Wilhelm, Kronprinz des Deutsches Reiches und von Preußen.« Über diese Unterschrift schreibt Bismarcks Bleistift mit großen Lettern die fünf apokalyptischen Worte: »Es wäre ein Unglück, wenn –.«
Hier klafft es schon. Der Kronprinz, nur Stellvertreter in den laufenden Geschäften und weder in diesem Falle noch nach der Verfassung zum Eingriff berechtigt, kleidet seine Mitteilungen nicht mehr wie früher in verehrungsvoll private Anfragen, er bezeichnet die Hilfe als »erforderlich«, der Alte aber glossiert die amtlich stolzierende Unterschrift mit einer dunklen Wendung, in der er alles enthüllt, was er zu verstecken scheint.
Unbekannt mit diesen Kämpfen schwindet der Kaiser dahin. Zwei Wochen vor dem Ende ist er mit Victoria in Potsdam nach ihrem alten Heim gezogen. Dort war er geboren, dort blühte ihre junge Ehe, und nun, am Ende seiner Bahn, ein abgemagerter Mann, stumm, mit kleinem Gesicht und fieberndem Atem, im Besitze einer Krone, die er zu lange erwartet hat und jetzt nicht mehr zu tragen vermag, nun tauft der Kaiser Friedrich das Neue Palais um in »Schloß Friedrichskron«. Schon vorher war die alte Königin von England gekommen, sie wollte für ihre Tochter zum Rechten und nach ihren Rechten sehen, der Schwiegersohn schreibt ihr seinen Gruß aufs Papier, sie kümmert ihn wenig; er sitzt am Fenster und horcht hinüber nach den Menschenmassen, die das Schloßgitter umstehen. Immer wieder fragen seine Zettel nach den öffentlichen Berichten über sein Befinden; besonders rührt ihn, was die Franzosen teilnahmsvoll drucken lassen. Einmal läßt er sich seine Pferde in den Garten holen und versucht sie zu füttern.
Bis in die letzten Tage hält Victoria ihre Rolle inne, noch Ende Mai leugnet sie den Krebs. Zwei Tage vor dem Tode, als das Schloß und ganz Deutschland das Ende erwartet, haben Mutter und Sohn eine »heftige Szene«: sie läßt ihn nicht zum Vater.
Am vorletzten Tag erscheint Bismarck im Schlosse, Victoria führt ihn zum Kaiser. Der erkennt beide und, mit einer letzten Anstrengung vereint er ihre Hände und drückt sie mit seinen beiden Händen fest. Zu wem in der Welt, so fühlt der Sterbende, soll sie Vertrauen fassen? Das Leben ist aus, nun soll es auch die Feindschaft sein. Dieser hier ist der Mächtigste, trotz allem: auf ihn soll sie bauen. Kein Zeichen aber, daß er den Erben seiner Krone zu sehen, zu segnen, auch nur zu warnen wünsche. Bismarck ist der Letzte, den Friedrichs Bewußtsein aufnimmt, der Einzige, dem er die sehr geliebte Gattin anvertraut.
Kaum haben die beiden sein Zimmer verlassen, so sind sie die alten: Stahl gegen Stahl. Victoria erklärt, sie wolle ein Schloß am Rhein als Witwensitz, das müsse ihr Sohn gewähren. »Es soll aber ein Haus sein,« fügt sie hinzu, während die letzten Atemzüge des Gatten durch die Türe dringen, »wo ich Wände einreißen und nach eignem Geschmack, ohne den Hausminister, bauen und wirtschaften kann«. Bismarck seinerseits, obwohl selber ergriffen, sagt einem Vertrauten: »Ich kann jetzt keine Gefühlspolitik treiben« (Ho. 473). Er geht zum Kaiser von morgen, findet ihn »sehr verständig« und legt ihn auf seine eignen Grundsätze fest (L. 465). Während er all dies am nächsten Vormittag den versammelten Ministern mitteilt, kommt die Nachricht vom Ende.
Seit vierundzwanzig Stunden war das Schloß – so schildert es als Augenzeuge Kaiser Friedrichs Freund, Robert Dohme (Deutsche Revue 37,81) – von vorher nicht gesehenen Offizieren erfüllt, die Nachtquartier und Verpflegung verlangten, dann, einige Stunden vor dem Tode, gab der neue Hausmarschall bereits die Weisungen des neuen Gebieters aus: »Niemand im Schloß, auch kein Arzt darf nach außen korrespondieren ... Will einer der Ärzte das Schloß verlassen, so wird er verhaftet.« Dohme fragt den schon beiseite geschobenen alten Hofmarschall, ob denn das Kodizill, das die Erbschaft der Kaiserin enthält, ob vor allem die Anweisung der Summe für den gewünschten Landbesitz in sicheren Händen sei; »glücklicherweise hatte es Seckendorf auf seinem Schreibtisch, sonst wäre es zu spät gewesen«.
Kaum war, nach elf, der Tod eingetreten, so verwandelte sich die Szene: es schien, ein König sei ermordet, sein Feind und Nachfolger habe alles vorbereitet, um von der neuen Herrschaft Besitz zu ergreifen. »Im Laufschritt hatten sich Abteilungen des Lehrbataillons dem Schlosse genähert, planmäßig wurden rings um die Sockelterrasse Posten mit geladenem Gewehr aufgestellt. Der Major von Natzmer, der bisher einer der Eindringlinge gewesen, hatte im Moment des Todes sein Pferd zur Hand und jagte um das Schloß herum, Ordres verteilend, die Posten revidierend. Plötzlich erschienen im Trab die Gardehusaren, Abteilungen legten sich vor alle äußeren Eingänge des Parkes, das Schloß war militärisch hermetisch verschlossen.« Als auf Beschluß der Ärzte Virchow zur Sektion geladen werden soll und der Generalarzt die Depesche wegbringen will, ruft ihm an der Terrasse der Posten Zurück! zu, sonst würde er ihn verhaften. Wer das Schloß verlassen wollte, brauchte einen Geleitschein vom ersten Adjutanten des neuen Herrn, Telegramme sein Visum.
So war alles, waren auch Ärzte, Brüder, Schwestern, sogar die Mutter des neuen Kaisers, seine Gefangenen. Vergebens bittet die Mutter die junge Kaiserin um Hilfe, der Sohn, argwöhnisch, daß Staatspapiere schon seit Wochen nach London gegangen seien, bewacht die Festung, in deren Mitte der tote Kaiser liegt.
Weder für Priester noch für Sammlung war an diesem Tage Zeit. »Im Sterbezimmer ... keine Feierlichkeit, keine Weihe ... nichts erinnerte an Religion« (E. 169). Um Mutter und Großmutter anzuklagen, gestattet darauf der Sohn die Sektion: sie bestätigt das deutsche Gutachten, das dreizehn Monate zurückliegt. Er selber geht mit Waldersee im Park auf und ab und bespricht wieder Personalien. Bald darauf erhält er ein versiegeltes Kuvert, das laut Bestimmung jedem König von Preußen beim Antritt übergeben werden muß: darin beschwört Friedrich Wilhelm IV. alle seine Nachfolger, die ihm gewaltsam abgerungene Verfassung schnellstens zu beseitigen. Der Kaiser verbrennt das Papier (Z. 104). Ist er so sehr von seiner Aufgabe durchdrungen, diese Verfassung zu schützen, daß er selbst seinen Nachfolgern den Wunsch des toten Königs unterschlägt?
Noch vor der Beerdigung vernichtet der Sohn einen Lieblingswunsch des Vaters. »Für den Fall,« hatte dieser am 12. April in sein Testament geschrieben, »daß ich ... abberufen würde, will ich als meine ausschließliche Willensmeinung erklärt haben, daß ich mit der Vermählung Deiner zweiten Schwester mit dem ... Prinzen Alexander von Battenberg mich einverstanden erkläre. Ich lege es Dir als Kindespflicht auf, diesen meinen Wunsch, den Deine Schwester Victoria seit so vielen Jahren im Herzen trägt, auszuführen ... Ich rechne darauf, daß Du Deine Pflicht als Sohn erfüllst, indem Du meinen Wunsch genau achtest und als Bruder Deiner Schwester Deine Hilfe nicht entziehst. Dein Dich liebender Vater.« (Hartenau-Archiv, zitiert von Corti S. 336). Zwei Tage nach dem Ende des Vaters hob der Sohn die Verlobung nicht bloß auf, indem er sich auf Bismarcks Veto stützte, sondern er bezog sich in seinem Absagebriefe an Battenberg ausschließlich auf den »bisher von meinem hochseligen Herrn Großvater und Vater innegehabten Standpunkt«: nur, weil diese Ehe ein Herzenswunsch seiner Mutter war.
»Mit vorher nie gekannter Hast« war das Begräbnis ins Werk gesetzt. Der Tote wird in seine Uniform gekleidet, fremde Fürsten werden nicht geladen, während man die Kapelle dekoriert, steht der Sarg wie eine Arbeitskiste zwischen den Hämmernden. Bei der Beisetzung ist der kurze Weg zur Kirche von Truppen besetzt. »Die Truppen würdevoll, die Geistlichkeit lachend, schwatzend, Feldmarschall Blumenthal mit der Standarte über dem Rücken, hin und her torkelnd, sprechend, es war schauderhaft« (E. 169).
Volk durfte nicht in die Nähe. Des Volkes gedenkt der neue Herr auch nicht in seinen ersten Proklamationen: am ersten Tag ergeht Befehl an die Armee und einer an die Marine, längst vorbereitet und nur durch Einschiebung der Todesstunde ergänzt, gehalten in einem etwas übermännlichen Ton und schließend: »So gehören wir zusammen – Ich und die Armee – so sind wir füreinander geboren, und so wollen wir unauflöslich fest zusammenhalten, möge nach Gottes Willen Friede oder Sturm sein. Ihr werdet Mir jetzt den Eid der Treue und des Gehorsams schwören, und Ich gelobe, stets eingedenk zu sein, daß die Augen Meiner Vorfahren aus jener Welt auf mich herniedersehen, und daß Ich ihnen dermaleinst Rechenschaft über den Ruhm und die Ehre der Armee abzulegen haben werde.«
Das Ausland erschrickt: will der neue Herr Krieg anfangen, gewappneter kann er am ersten Tage seiner Regierung nicht erscheinen! Da schon seit einiger Zeit die Lage drohend ist, glossieren fremde Blätter diese Sätze in erregtem Tone. Aber der Kaiser dachte nicht an Krieg, als er dies schrieb; er dachte nur an die Garde, Offiziere, Generalstab, zum tausendsten Male fühlte er, und nun noch schärfer als früher, die Augen all seiner Soldaten auf sich gerichtet; ob da wohl ein kritischer Blick auf seinen Arm fiel, ob jemand merkte, wie er die Zügel hinüber gleiten ließ, und darum faßt er sie lieber zu straff, die Zügel des Pferdes und der Regierung: schneidig, das ist der erste Eindruck, den sie haben sollen, wenn heut abend in Hunderten von Klubs und Messen seine ersten Kaiserworte durchgesprochen, wenn sie morgen früh beim Appell über zahllose Kasernenhöfe hallen werden.
Drei Tage später denkt er auch an sein Volk. Alle Aufrufe hat er »selbst geschrieben, alle fremden Vorschläge verworfen« (M. 142). Auch in dem Aufruf an sein Volk beginnt er mit dem Ruhm der Schlachten, den sich sein Vater erworben, doch er fährt fort: »Auf den Thron meiner Väter berufen, habe Ich die Regierung im Aufblick zu dem König aller Könige übernommen und Gott gelobt, nach dem Beispiel meiner Väter, meinem Volke ein gerechter und milder Fürst zu sein, Frömmigkeit und Gottesfurcht zu pflegen, den Frieden zu schirmen, die Wohlfahrt des Landes zu fördern, den Armen und Bedrängten ein Helfer, dem Recht ein treuer Wächter zu sein ... Auf diese Treue ... zähle auch Ich in dem Bewußtsein, daß Ich sie aus vollem Herzen erwidere, als treuer Fürst eines treuen Volkes, beide gleich stark in der Hingebung für das gemeinsame Vaterland.«
Deutschland hört diese schönen Sätze und ist zufrieden. Manche fragen: Ist dies ein frommer Fürst, daß er so häufig Gottes Namen braucht? Er ist's auf seine Art, denn wenn er hier und wenn er in zahllosen Reden der Zukunft die Vorfahren im Himmel anruft, die auf ihn niederblicken: dies ist sein echter Glaube. »Nehmen Sie mir den Glauben, und Sie nehmen mir meinen König«, sagte Bismarck, obwohl er eines viel komplizierteren Glaubens war als Wilhelm und nach entschiedenem Atheismus erst durch das Medium der Liebe gläubig wurde. Die Quelle ist bei beiden ähnlich: Bismarck rechtfertigte damit die Königstreue vor seinem Stolze, Wilhelm seinen Stolz als König, Bismarcks Kuß auf die Hand seines Souveräns wäre ihm unmöglich ohne den Glauben an eine gottgesetzte Ordnung, in der er trotz seinem unbegrenzten Selbstgefühl der Zweite war. Wilhelm konnte diesen Kuß, er konnte die Macht und Herrlichkeit seiner Stellung als Christ nur durch solche gottgesetzte Ordnung deuten.
Unwissend mißdeutete er Karls des Großen demütigen Titel Dei Gratia Imperator, drehte seinen Sinn ins Gegenteil um, und während jener alte Kaiser daraus seinen Kniefall vor Gott ableitete, dem er alle irdische Macht verdankte, schloß dieser neue auf einen Kniefall der Menschen vor ihm, weil er von Gottes Gnaden sei. Seine immanente Überhebung, ererbt von beiden Eltern, von keiner vernünftigen Erziehung bekämpft, durch jugendliche Unterdrückung gesteigert, angeboren und naiv, braucht Gott nach zwei Seiten und mißbraucht ihn: er war ihm die Schutzwehr gegen einen Größenwahn, der ihn den Göttern gleichsetzen konnte, zugleich aber gegen das Volk und gegen alle Menschen, die nicht gleich ihm als Könige geboren und so gleich ihm von Gott mit Macht begnadet waren. Zeitlebens fühlte Wilhelm der Zweite sich wie ein antiker König, der zugleich oberster Priester war, buchstäblich Mittler zwischen Gott und Volk und hat aus diesem Bewußtsein die bedeutendsten Folgerungen gezogen, besonders im Verkehr mit Königen und Republiken.
Glänzend wie nie zuvor in der Geschichte Preußens erstrahlte nach seinen Befehlen eine Woche später der Weiße Saal im Schlosse zu Berlin, die Schloßgarde hatte er in alten fridericianischen Uniformen aufziehen, die Ritter des Schwarzen Adlerordens in roten Mänteln erscheinen lassen, um ihn selbst tragen zu können. Bismarck, der sich geweigert hatte, diesen Mantel anzulegen, führte als Kürassier »die Mitglieder des Bundesrates wie eine Herde von Lämmern herein« (M. 143), und als alles versammelt war, ging er selbst, um es dem Kaiser zu melden, machte also an diesem Tage den Hofmarschall. Eintritt der Pagen in schwarzen Escarpins, mit Trauerflor an den Knien, dann Reichsinsignien, dann Moltke allein, dann der Kaiser, in lang wallendem Purpurmantel, also nicht als Soldat, sondern als sagenhafter König, mehr Eulenburg als Waldersee: das hatte er selbst erfunden und bestimmt.
Tiefernst, feierliches Neigen des Kopfes, dann »hatte er wieder einen sehr schönen Moment, als der Kanzler ihm die Thronrede überreichte, er dieselbe ergriff, mit einem energischen Ruck den Helm aufsetzte und den Mantel zurückwarf, um hochaufgerichtet den Blick über die lautlos harrende Versammlung gleiten zu lassen.« Das war der große Augenblick, auf ihn hatte er seit einer Woche gewartet. Dann las er, mit zuerst undeutlicher Stimme, die Sätze ruckweise und mühsam hervorstoßend, »er war trotz der Totenstille kaum zu verstehen«. Allmählich gibt sich das Organ, er spricht fließender, als er zu den Hauptstellen kommt, in denen Bismarck die Furiosa der ersten Armeebefehle durch doppelt betonte Friedensliebe auszulöschen sucht.
In dieser ersten feierlichen Stunde tritt der Widerspruch gegen den Kanzler deutlich zutage, obwohl er dessen eigne Sätze spricht, denn, so berichtet der jüngere Moltke, »wie er an die Stelle kam: ›Ich bin entschlossen, Frieden zu halten mit jedermann, soweit es an Mir liegt‹, betont er das Wort Mir so laut und schön, daß es wie ein elektrischer Funke durch alle Hörer fuhr; es lag so viel darin, das volle Bewußtsein der Herrscherkraft, es grollte gleichsam darin die Warnung: aber wehe dem, der es wagen sollte, mir zu nahe zu treten, eine ungemeine Stärke und Sicherheit lag in dem Wort, so daß spontan alles in laut begeisterten Beifallsruf ausbrach.« Der einzige Skeptiker in diesem Augenblicke war offenbar der Autor dieser Sätze, denn Bismarck ließ den Redner fortfahren: »Meine Liebe zum deutschen Heere ... wird Mich niemals in Versuchung führen, dem Lande die Wohltaten des Friedens zu verkümmern, wenn der Krieg nicht eine durch Angriff uns aufgedrungene Notwendigkeit ist ... Diese Stärke zu Angriffszwecken zu benutzen, liegt mir fern. Deutschland bedarf weder neuen Kriegsruhms noch irgendwelcher Eroberungen, nachdem es sich die Berechtigung, als einige und unabhängige Nation zu bestehen, endgültig erkämpft hat.«
Bismarck wollte also gerade den Frieden betont wissen, weder grollen noch warnen und hoffte nur, daß die Betonung nicht in die Presse käme. Auch sonst an strenge Formen solcher Eröffnungen gewöhnt, war er überrascht, als der Kaiser sich nach der Rede gegen die Sitte zu ihm wandte, um ihm die Hand zu schütteln; aber im selben Augenblicke schloß sich die logische Kette seiner Gefühle, und er küßte nun auch dem dritten und jüngsten seiner Herren zum ersten, zugleich zum letzten Male die Hand. Wieder brach Beifall über dieser Szene aus (L. 470).
Was hatte Wilhelm als Kaiser und gleich darauf als König feierlich beschworen? Welche Grenzen setzten seiner Macht die Reichs- und die Staatsverfassung? Wem war er verantwortlich?
Als er 23 war, erschien ein Erlaß seines Großvaters, in dem Bismarck den König sagen ließ: »Es ist Mein fester Wille, daß sowohl in Preußen wie in dem gesetzgebenden Körper Meines Reiches über Mein und Meiner Nachfolger verfassungsmäßiges Recht zur persönlichen Leitung der Politik Meine Regierung keinen Zweifel gelassen und der Meinung stets widersprochen werde, als ob die ... Unverletzlichkeit der Person des Königs oder die Notwendigkeit verantwortlicher Gegenzeichnung Meinen Regierungsakten die Natur selbständiger königlicher Entschließungen benommen hätte.«
Mit Begierde hatte der Prinz diese Sätze eingesogen, an die er nur zu bald appellieren durfte, und sein Beifall für Bismarck konnte nur wachsen, wenn er ihn diesen Erlaß bald darauf im Parlament erklären hörte: »Wenn der Kaiser einen Kanzler hat, der das, was die kaiserliche Politik ist, nicht kontrasignieren will, so kann er ihn jeden Tag entlassen. Der Kaiser hat eine viel freiere Verfügung als der Kanzler, der von dem Willen des Kaisers abhängig ist und ohne die kaiserliche Genehmigung keinen Schritt tun kann ... Ich kann hier keine Meinung vertreten, für die ich nicht des Einverständnisses S. M. sicher bin und es vorher eingeholt habe ... Der Minister ist ein in der Verfassung kaum genannter Lückenbüßer. Ob das nun in die konstitutionelle Theorie paßt oder nicht, ist mir vollständig gleichgültig. In den festen, tiefen Gleisen, die die Politik Preußens im Deutschen Reich allein gehen kann, bestimmt S. M. der König im Prinzip. Er bestimmt, was geschehen soll, wie die preußischen Vertreter im Bundesrat danach instruiert werden sollen, nach der eignen Überzeugung; nur die Ausarbeitung, das Formelle ist Sache der Minister. Der königliche Wille ist und bleibt das allein Entscheidende. Der wirkliche, faktische Ministerpräsident in Preußen ist und bleibt S. M. der König.«
Bevor er nun die beiden Verfassungen beschwor, hat sie der junge Herrscher gewiß oder doch die Teile gelesen, die ihn angingen, obwohl er später behauptete, sie gar nicht zu kennen. Was fand er in diesen »konstitutionellen« Papieren, deren eines Bismarck gemacht, deren anderes im Sinne des Königs zu interpretieren er nicht nachgelassen hatte? Ein Netz von Widersprüchen, in dem die Verantwortlichkeit immer vom König auf den Kanzler und Premier geschoben, von diesem auf den König zurückgeschoben wird und schließlich in den Maschen ganz erstickt.
De facto verantwortlich in dem demokratischen Sinne, der heut alle Länder Europas beherrscht, war in Preußen und in Deutschland niemand. In Wahrheit war Kaiser und König fast absolut; das einzige, was seine Macht beschränkte, waren die Rechte der Kammern, Gelder zu bewilligen und zu verweigern, doch auch über dieses Recht hatte sich Bismarck, der »keinen Schattenkönig« wollte, bei seinem Eintritt hinweggesetzt. Freilich machte die Gegenzeichnung des Kanzlers, die zur Gültigkeit der kaiserlichen Verfügungen nötig war, ihn gegen das Parlament »verantwortlich«, doch nur auf dem Papier: kein Parlament war imstande, einen Kanzler oder Premier abzusetzen oder gar zu bestrafen. »Ich werde an dieser Stelle stehen, solange ich das Vertrauen S.M. genieße«, das haben auf der Tribüne alle Kanzler und Staatssekretäre des Reiches, alle Minister -in Preußen gesagt, und dies mit Recht. Freilich hatte der Reichstag, zusammen mit dem Bundesrate, das Recht der Gesetzgebung, die »Regierungs-Befugnisse« aber hatte der Kaiser, der zur Gegenzeichnung seiner Befehle jederzeit einen gefügigen Kanzler fand.
Daß dieser seine eigne Ernennung gegenzeichnen mußte, machte das Blindekuhspiel von Unverantwortlichkeiten vollkommen. Gerüstet mit solcher Gegenzeichnung, wie sie der älteste Prokurist eines großen Handelshauses so leicht und hemmungslos nicht findet, konnte der Kaiser alle Reichsbeamten ernennen und entlassen, den Reichstag nach Gefallen berufen, eröffnen, vertagen, schließen und auflösen. Die Leitung der internationalen Politik war ihm allein überlassen: da war kein Reichskabinett, das Richtung geben konnte, nur Kanzler und Staatssekretär des Äußeren durften raten, mußten aber schließlich gehorchen oder sich bei Weigerung durch einen Kollegen ersetzen lassen; faktisch einflußlos blieb sogar der Bundesrat, die Sitzungen seines Ausschusses blieben fast leere Form.
Selbst jene Verantwortung des Reichskanzlers beschränkte sich darauf, daß des Kaisers Akte der Verfassung und den Gesetzen entsprächen, daß er die Maßnahmen vertrat und die Kritik auf sich nahm.
In zwei entscheidenden Punkten war aber der Kaiser sogar formell von jeder Gegenzeichnung frei: persönliche Meinungsäußerungen und Armeebefehle unterzeichnete er allein. Nur auf sich selbst gestellt, keines Rates bedürftig, keine Gegenrede oder gar Anklage befürchtend, erklärte der Kaiser den Krieg, schloß er den Frieden, führte er den Oberbefehl über Heer und Flotte, er konnte demnach die Gesamtheit seiner wehrfähigen Untertanen ganz allein in den Krieg zwingen. Der stets gefügige Bundesrat mußte zur Kriegserklärung zwar zustimmen, doch nicht, wenn ein »Angriff auf das Bundesgebiet« erfolgte, der sich fast in jedem Falle konstruieren ließ; daß der Herrscher auch ohne Geld Krieg führen konnte, in dessen Nichtbewilligung sich die Rechte des Reichstages erschöpften, hatte Bismarck bewiesen.
So hatte der Kaiser und König mit seinem Eide nur seine eigne tatsächliche Macht beschworen, alle vitalen Fragen der Nation »nach seinem besten Wissen« zu entscheiden – und nach welcher andern Norm entscheiden vernünftige Menschen? Trotzdem blieb er, was auch folgen mochte, unverletzlich, unverfolgbar oder, wie es in andern deutschen Landesverfassungen hieß, geheiligt. In der Alten und in der Neuen Welt hatte im Beginn des 20. Jahrhunderts außer dem Zaren und dem Sultan niemand so große Macht wie damals Wilhelm der Zweite.
Der sie ihm gegeben, mußte von der persönlichen Schwäche seines Königs, aber zugleich von seiner eignen Stellung und Stärke durchdrungen sein, als er es wagte, sich selber Lückenbüßer zu nennen. Dieser antidemokratische Gedanke war Bismarck nur recht, solange er seine eigne Autokratie dahinter verbergen konnte; kam ein König mit eignem Willen, so mußte sich diese Theorie mit tragischer Vergeltung gegen ihren Meister kehren. Bismarck hat die Verfassung nicht bloß, wie es oft hieß, auf seine Figur zugeschnitten, vor allem auf die Lenkbarkeit des von ihm formell so gestärkten Königs.
Nun aber schlug in dem neuen Herrn das Bewußtsein seiner verbrieften Rechte mit einem ungeheuren Selbstgefühl zusammen, und so, durchdrungen Gottes Werkzeug zu sein, zu plötzlich und viel zu früh zur Allmacht berufen, war ein Mann im 30. Jahre allen Gefahren der Verblendung, der Verführung preisgegeben; Wilhelm trieb zur Darstellung seiner Macht auch noch der stete, sogar der unbewußte Wunsch, sich keine Körperschwäche merken zu lassen.
In ähnlicher Lage ist der junge Fritz: auch er, geschwächt, auch er, zu früh berufen, denselben Gefahren zum Opfer gefallen, hat sich aus Eitelkeit und Ruhmsucht mutwillig in den ersten Krieg gestürzt und erst viel später unter Schlägen und Niederlagen begonnen, ein Mann, spät, mit ergrauenden Haaren ein großer Mann zu werden. Als ihn bei seiner Thronbesteigung der tapferste Rat und Freund seines Vaters, der alte Dessauer, bat, ihm Stellung und Autorität und im bevorstehenden Kriege den Oberbefehl zu lassen, schlug ihm der junge Friedrich diese Bitte mit den hochmütigen Worten ab: »Die Autorität in Meinem Lande besitzt allein der König von Preußen ... Die jetzige Unternehmung behalte Ich Mir allein vor, auf daß die Welt nicht glaube, der König von Preußen gehe mit einem Hofmeister ins Feld.«