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»Es wäre äußerst wichtig, seine geheime Geschichte, zumal die Bildung seiner ersten Jugend zu wissen, wie er dazugekommen, gute Absichten für hinreichend zu einer glücklichen Regierung zu halten.«
Joh. von Müller über Joseph II.
Schrecken huschte durch die Wochenstube, angstvoll umstanden die Frauen das Kind. Die erste Freude im Berliner Kronprinzenpalais, daß es ein Knabe war und so die Thronfolge im dritten Gliede gesichert, erlosch, denn dort lag die 18jährige Mutter, mädchenhaft zart, in schwerer Ohnmacht, hier aber lag das Kind und schien tot. Vergebens mühten sich Arzt, Hebamme und Wartefrau, es durch Schwenken und Schlagen ins Leben zu rufen, anderthalb Stunden zögerte das Schicksal, aus dem bewegungslosen Wesen einen Menschen zu machen.
Endlich erwachte es, aber in der Verwirrung und Sorge um Mutter und Kind, in der Aufregung, die jetzt das Donnern der Geschütze von draußen her ins stille Zimmer trug, untersuchte niemand genau, wie denn dieser Erbe im einzelnen beschaffen wäre. Erst am dritten Tage bemerkte man, der linke Arm war gelähmt, das Schulterkugelgelenk zerrissen, die umgebende Muskelpartie so schwer beschädigt, daß im Stande damaliger Chirurgie kein Arzt sich an die Heilung des Gliedes wagen durfte (L. 74). Auch schien es zuerst mehr als ein örtlicher Defekt: das linke Bein gehorchte nur schwer, das linke Ohr und die linke Kopfseite schmerzten das Kind.
Diesen körperlich benachteiligten Knaben, Friedrich Wilhelm Victor Albert genannt und bis zum sechsten Jahre Fritz gerufen, schien die Natur zu einem zurückgezogenen Leben zu bestimmen, und wie sich bald vortreffliche Gaben der Auffassung zeigten, mochte es auch ein geistiges Leben werden, in dem er ohne Furcht vor Zurücksetzung bedeutend und glücklich werden konnte. Aber nun war er im Schlosse zu Potsdam geboren, in der historischen Holzwiege getauft, ein preußischer Prinz und gar als künftiger König dieses Staates unausweichlich nur einem Berufe bestimmt: Soldat mußte er werden, so forderte es jahrhundertelange Tradition der Väter.
Wer wollte dem Knaben sein Mitgefühl wehren, wie er nun unter eigener Zucht und in der Strenge seiner Lehrer mit allen Kräften zu ersetzen suchte, was ihm die Natur versagte! Unter heftigen Schmerzen wurde ihm der verkrüppelte Arm elektrisiert, bis man es aufgab, das gelähmte Glied zu stärken, und nun den Jungen zwang, den Schein des Gebrauches zu erwecken. Geschickt lernte er, die Linke in den Gürtel, in die Tasche zu stützen, aus der normalen Rechten die Zügel in die Linke gleiten zu lassen, Hantierungen aller Art ohne Diener zu betreiben; dadurch wurde der rechte Arm so überentwickelt und schwer, daß der arme Junge beim Reiten oft rechts vom Pferde glitt. »Durch ... eine unheilbare Schwäche des linken Armes«, schreibt sein Erzieher Hinzpeter, »war seiner physischen und psychischen Entwicklung ein ganz eigentümliches Hindernis bereitet, welches zu beseitigen alle Kunst und Sorgfalt unfähig bleiben mußte, wenn nicht das Kind in ungewöhnlicher Energie des Willens dabei mitwirkte. Es galt, das natürliche Gefühl körperlicher Unbeholfenheit und der damit unvermeidlich verbundenen Zagheit zu überwinden.«
So wächst ein Knabe heran, den eine unverschuldete Schwäche zu natürlicher Furcht vor dem Stärkeren, zu Eingezogenheit bestimmen mußte, und gerade dieser soll statt dessen Mut und Tapferkeit, die Tugenden des Soldaten, herauskehren; überdies wird ihm, über das Maß des Offiziers noch hinaus, ein energischer Auftritt anerzogen, da gerade er einst kühn und offen vor der Menge stehen soll, immer der Erste, »jeder Zoll ein König«. Wie sollte ein Kind solche Erziehung zum falschen Scheine jahrelang ohne Gefahr für seine Seele tragen! Der einzige Weg, ihn zu retten, wäre der, Schein und Wirklichkeit völlig zu trennen und hinter zynisch dargestellten Gesten des Purpurs in ihm eine Welt aufzubauen, in der Körperschwäche nicht entadelt.
Doch einem solchen Ausweg widersetzt sich entschieden der Charakter des Knaben. »Schon in dem wunderhübschen, sehr mädchenhaften Knaben«, fährt sein Erzieher fort, ... »frappierte der Widerstand, den jeder Druck, jeder Versuch, das innere Wesen in eine bestimmte Form zu zwängen, hervorrief;« nur Etikette und Eifer hätten ihn schließlich dazu vermocht, das Äußere zu erreichen. Um so schwerer war es, dem inneren Wesen eine Richtung zu geben. »Schon der Zucht des Denkens widerstrebte die spröde Natur auf das äußerste ... Die Bekämpfung solchen unheilvollen Mangels an Konzentrationsfähigkeit ist überall eine der wichtigsten Aufgaben der Prinzenerziehung. Diese war bei einer solchen an sich so spröden Natur schwer zu lösen. Nur die äußerste Strenge ... vermochte das Widerstreben zu überwältigen, bis das erwachte Selbstbewußtsein den eigenen Willen zum Widerstand heranführte, womit dann jede Schwierigkeit bald behoben war. Selbst diesem zeitweise gewaltigen Druck der methodisch vorgehenden moralischen Mächte entzog sich aber stets das innere Wesen des heranwachsenden Prinzen.«
Wenn der Erzieher eines Kaisers nach dessen Thronbesteigung als sein erklärter Freund so starke Wendungen öffentlich braucht, muß er einen ungewöhnlichen Grad von Trotz und Eigensinn an seinem Zögling erlebt haben. Ob diese sich zu Stolz und Selbständigkeit erheben oder in Eitelkeit und Autokratie versinken werden, das ist die Schicksalsfrage ihres Trägers. Gelangt er einst zur Macht, so kann es auch die Frage an das Schicksal eines Volkes werden; der große Ahnherr dieses jungen Prinzen Fridericus war noch als König nicht besser von Charakter und wurde erst unter furchtbaren Hammerschlägen ein Mann.
Wie dieser Friedrich, so hat Wilhelm die Herbheit eines Vaters, er hat dazu das stolze Herz einer Mutter erlebt, von der er zu viel Trotz und Kälte erbte, um sich mit ihr zu vertragen. Die ehrgeizige Victoria, Tochter der mächtigen Königin von England und ihres klugen Gatten, verzieh nicht einem Kind, das unvollkommen war, zumal sie das Blut ihres Gatten geringer als das ihres Vaters schätzte. Rassengefühle gefährdeten in ihr die Muttergefühle, statt Mitleid trug sie heimliche Vorwürfe gegen den entstellten Sohn im Herzen, gerade weil es der Erstgeborene war, und zog ihm ihre anderen, schöner erwachsenden Kinder in unverhüllter Parteinahme vor. Nie im Leben verwindet ein Kind solche Demütigung, besonders vor Zeugen, die ihm an Rang unterlegen sind. Einst wird es sich rächen.
Später hat sein Trotz die Entfremdung vertieft, aber zuerst wurde durch Schuld dieser Mutter das Herz des Knaben verbittert, seine entscheidenden Eindrücke wurden vergiftet, die ersten politischen Ideen in natürlichen Gegensatz zu denen der Eltern gezwungen.
Diese starke Mutter zog ihren schwachen Gatten mit sich fort, und obwohl den Knaben von außen die stärkste Suggestion zugunsten seines Vaters traf, blieb sein zurückgestoßenes Herz versteinert. Denn eben als er in Potsdam exerzieren lernte, war Schloß und Stadt, war das Land und Europa voll von den raschen und mächtigen Siegen, mit denen Vater und Großvater vordrangen, bis nach Paris. Wenn Prinz Wilhelm, zwölfjährig, Zeitungen und Bilder aufschlug, so war sein Vater überall im Glanze, der schöne, etwas weiche Blondkopf grüßte vom Pferde, und der glühende Knabe las und sah im Bilde, wie sich im Spiegelsaale zu Versailles der Vater vor dem Großvater auf ein Knie niederließ, um dem neuen Kaiser zu huldigen. Daneben stand wohl überall die metallene Gestalt des Kanzlers; da aber niemand den Kindern erzählte, welche ärgerlichen und skurrilen Dinge in jenen französischen Schlössern sich abspielten, so mußte sich die Phantasie mit heldischen Gestalten im Stile alter Sagen und Lieder erfüllen. Krieg und Sieg, das geschlagene Frankreich und das deutsche Kaisertum wurden im Kopfe des kleinen Soldaten zu einer Bilderreihe, deren Hauptfiguren er Vater und Großvater nannte.
So, verführt durch ein romantisches Exempel, lernte er früh die Geschichte seines Landes nur als die seiner Familie betrachten und mußte schon als Knabe König und Untertan in großem Abstand fühlen, wenn er vom Balkon herab, zwischen Mutter und Großmutter aufgestellt, Vater und Großvater in glanzvollem Einzuge die Linden heraufreiten sah, umjauchzt von einem Volke, das von Natur weniger frei als gehorsam, in seinen angestammten Herren nun auch die Sieger in der Schlacht verehren durfte. Und wenn er bald darauf, ein Fünfzehnjähriger, mit seinem Bruder Schloß Wilhelmshöhe bezog, mußte er nicht die hohen Räume mit Napoleons Gestalt und denen seiner letzten Getreuen bevölkern, die hier ein halbes Jahr gefangen saßen, der Macht beraubt durch das Genie des Königs von Preußen? Wer gab dem Jüngling denn ein Zeichen, daß all dies nur das Hirn eines hinterpommerschen Junkers erdacht, nur Schlagkraft und Opfer einer tapferen Nation vollbracht hatte? Gottes Gnade lag sichtbar auf der Stirn seines Großvaters, und Waffen, Waffen führten zum Rausch.
Aus England kam ein andrer Wind geweht. Victoria, entschlossen, ihre Söhne nach den Lehren ihres Vaters zu erziehen, durchbrach zum ersten Male das preußische Reglement und schickte sie aus dem Kadettendrill auf das Lyzeum nach Kassel, wo sie mit Bürgersöhnen auf der Schulbank sitzen, das Leben ohne Uniform kennenlernen sollten. Der Gedanke zerbrach. Prinz Wilhelm brauchte solche Absicht nur zu merken, so suchte er sie zu stören: je liberaler ihn die Eltern haben wollten, um so unnahbarer trat er auf. In Kassel war er schon »ganz der künftige Kaiser ... Diese Überhebung«, sagte später Caprivi, »wäre nicht eingetreten, wenn er nach guter alter Manier mit einigen Kameraden erzogen worden wäre.«
Von Hinzpeter aber ist aus diesen zwei Kasseler Jahren nur ein privater Satz bekannt geworden; seinem Gönner, der ihn an den Hof empfohlen, schrieb er: »Sie ahnen nicht, in welchen Abgrund ich geblickt habe!« (Al. 368, nach einem Briefe an Sir R. Morier). Später sagte er, der Kaiser habe »die erste Pflicht des Herrschers, das Arbeiten, niemals gelernt« (E. 231). Als er mit 18 das Gymnasium verließ, erreichte er daher, obwohl entschieden begabter als die meisten Mitschüler, nur den 10. Platz unter 17 Abiturienten und eben noch das Prädikat »Genügend«.
Und doch rühmt ihn sein Lehrer laut. Denn was den Prinzen, besonders als Offizier, auszeichnete, das war der Kampf gegen sein Gebrechen. Hier lag sein ganzer Ehrgeiz und Erfolg. Als er dem gefürchteten Großvater und dem als Reiter berühmten Onkel zum erstenmal seine Husaren vorführte, staunten beide, und als der alte Herr sagte: »Das hast du gut gemacht, das hätte ich nie geglaubt!«, da sprang in dem Prinzen der Glaube auf, die Schwäche ist zu überwinden, er selber ist stark und tapfer wie seine Väter und Kameraden. »Nie ist«, schreibt Hinzpeter, »in die preußische Armee ein junger Mann eingetreten, der physisch so wenig geeignet erschien, ein brillanter und schneidiger Reiteroffizier zu werden ... Die wenigen, die damals die Bedeutung ... dieses Sieges der moralischen Kraft über körperliche Schwäche ermessen konnten, fühlten sich seit der Zeit zu den stolzesten Hoffnungen auf diese Persönlichkeit berechtigt.«
In Wahrheit ist der moralische Sieg über die Physis sein Verderben geworden. Wenn dies der größte Tag des jungen Prinzen war, in glänzender Uniform auf galoppierendem Pferde im Morgensonnenscheine an der Spitze seines Regimentes den Vätern zu imponieren, so war dies nur das Vorspiel zahlloser Auftritte und Einzüge, klirrender Reden und drohender Fäuste, mit denen er sich jahrzehntelang vor seinem Selbstgefühl zu legitimieren suchte.
Vor dem 80jährigen Kaiser steht der 18jährige Enkel im Mantel des Ordensritters; heut, am Tag seiner Großjährigkeit, in den Hohen Orden des Schwarzen Adlers aufgenommen, leistet er dem Großvater den Eid, »auf die Ehre des Königlichen Hauses und die Königlichen Privilegien zu halten«. Am selben Januartage tritt er als Premier-Leutnant ins Erste Garderegiment zu Fuß ein, wo er schon mit 10 Jahren das Handwerk begonnen. Schlägt er am Abend die Zeitung auf, so liest er: »Aus dieser jugendfrischen Gestalt spricht zum landesväterlichen Herzen des Kaisers die Verheißung der Dauer dessen, was er übernommen und was er geschaffen. Mit jedem weitern Jahre werden die Augen der Welt erwartungsvoll auf ihm ruhen. Es ist mehr als eine Vorbedeutung, es ist eine Bürgschaft für den künftigen Lebensgang, daß er bisher in angestrengtem Tun das Ziel erreicht, das den besten Jünglingen unseres Volkes als der sichere Abschluß ihrer Jugendbildung vorgesteckt wird.«
Als er bald darauf ein sächsisches Bergwerk besuchte, tritt unter Tage unter bengalischen Flammen Rübezahl zwischen den Kohlenflözen hervor und rezitiert: »Glück auf! Ich ruf es tausendmal begeistert aus, ich Berggeist Rübezahl! Seid uns willkommen, Prinz Hohenzollern! Freut euch, ihr Berge, freut euch, ihr Hallen. Edler Prinz, Deutschlands Stern! Erhalte den Bergbau nah und fern!« Muß es ihm nicht zu Kopfe steigen?
Als Bonner Student, Februar 78, zum Kölner Karneval eingeladen, sieht er sich im zechenden Kreise einer als Feldherr verkleideten Maske gegenüber, man stellt den Herrn als Redakteur Grieben vor. Da klopft der Prinz ans Glas und bringt in gewandter Rede »auf diesen Kameraden, der täglich Tausende in den Kampf führt«, ein Hoch aus; Wilhelms des Zweiten erste öffentliche Rede, Befremden weckend und schon in der Presse leise glossiert. Wird das einmal ein Kriegsfürst? fragen die Leute.
Keineswegs. Über Ostern fuhr er nach Paris, betrachtete, was man ihm bot, nichts aber zog und hielt ihn wie Versailles. Wie konnte er ahnen, daß in diesem selben Spiegelsaal, in dem sieben Jahre vorher seine Väter glänzten, an einem weniger bunten, doch mächtigeren Tische einst das Ende seiner eigenen Regierung besiegelt würde! Selbstgefühl hielt ihn vor diesen prunkenden Bildnissen mächtiger Könige; zu ihrem Wesen hinzustreben, drängte ihn der Traum von Glanz und Macht stärker als zur Schlichtheit des Großvaters, dessen preußische Sparsamkeit ihn spöttisch oder bitter machte.
Auch später hat er die Franzosen niemals unterschätzt, vielmehr trieb ihn durch lange Jahre ein Gefühl innerer Verwandtschaft zu ihnen hin. Von seinem französischen Lehrer Ayme hatte er die Taten dieser Nation zuerst erfahren; dabei kam es einmal zum Streit:
»Sie hätten,« sagt eines Tages der Prinz im Gespräch über den letzten Krieg, »Sie hätten auch zehn bis fünfzehn Milliarden zahlen können!« Dann, nach einer Pause, lächelnd: »Na, nächstes Mal!«
»Nächstes Mal«, erwidert der Franzose ernst, »würden nicht wir es sein, die zahlen.«
»Um so schlimmer für Sie, denn bei uns würden Sie so eine Summe nicht auftreiben!«
Ayme, nun vollends bitter, repliziert, es wäre schrecklich, wenn die Deutschen nach ihrem glücklichen Fischzug ein andres Mal, wenn sie verlören, versichern würden, nichts zu besitzen: »Das erinnert mich an einen Abenteurer, der sich aus dem Spielsalon nach anfänglichen Gewinnen drückt, sobald er verliert.«
»Darauf verfinsterte sich das Gesicht des Prinzen, seine Augen blickten mich mit strengem Ausdruck an, es dauerte eine ganze Weile, bis er in kaltem Tone sagte:
»Sie haben meinen Scherz häßlich interpretiert. Niemals hielt ich Sie für fähig, Deutschland in einem Kriege auszurauben, solch ein Krieg wäre ja nur Diebstahl im großen. Das widerspräche vollkommen meinen Ideen. Sicher kommen die Konflikte wesentlich von den Intrigen und dem Ehrgeiz der Minister, die mit so strafbaren Mitteln ihre Macht befestigen wollen; man sollte sie dann allein mit der Waffe den Kampf ausfechten lassen, das würde sie von Abenteuern abhalten und unschuldiges Blut retten! Übrigens werde ich nicht mehr in die Lage kommen, mit Ihnen über diesen Gegenstand zu scherzen.«
Später suchte der Prinz durch Liebenswürdigkeit den Streit zu begraben.
Dies ist das erste wichtige Gespräch des jungen Wilhelm, das überliefert wurde: alle Elemente sind darin. Mit einer Taktlosigkeit setzt er ein, stellt, in die Enge getrieben, ein schlaues Argument dagegen, wird, nun scharf angefaßt, plötzlich unnahbar. Dann aber gibt er eine reife Anschauung über Gefahr und Verbrechen der Kriege kund, die er grundsätzlich lebenslang beibehält; schließlich sucht er, durch persönlichen Charme seinen fürstlichen Hochmut auszugleichen. Gedanken gut, Haltung unsicher: schwankend zwischen Intimität und Selbstgefühl, stößt er ab und zieht an, ein Jüngling, der eine stete Verlegenheit bemeistern will.
An seinem Vater hätte der Prinz ähnliche Züge, nur in viel weicherem Umriß, studieren können; daß auch diese beiden, Vater und Sohn, die innere Verwandtschaft ihrer Schwächen ahnten, erfüllte beide von vornherein mit Mißtrauen. Jetzt, da der Zwanzigjährige in seine Potsdamer Garnison und ins Elternhaus zurückkehrt, treten die Gegensätze im Innern der Familie schroffer zutage. Wie fand der Prinz mit geschärften Blicken die Eltern vor?
Niemand hat die tragisch-groteske Rolle aller Erbprinzen länger und ohnmächtiger getragen als dieser Friedrich Wilhelm, der jetzt, mit 50, noch immer beschäftigungslos, sogar unfrei dahinlebt, ohne alle Macht über Zeit und Geld, sogar in seinen Ideen immerfort gehemmt vom 80jährigen Vater und seinem ältesten Diener. Und waren diese Ideen denn die seinen? Dieser nicht ganz preußische, prunkliebende Hohenzoller, herrisch von Natur, durch lange Tatenlosigkeit in cäsarischen Anwandlungen bestärkt, ein Fürst, durchdrungen vom Gottesgnadentum, fühlte sich in freisinnige Gedanken nur gedrängt, weil eine leidenschaftliche Frau sie ihm als die höhere Form des Menschen- und Fürstentumes suggerierte. Er war geschmeichelt, die interessante Tochter der mächtigen Königin zur Frau zu haben, gekränkt, daß man sie zu Hause verkannte, und während ihn sein siegreicher Vater öffentlich als »großen Feldherrn« pries, wußte er genau, daß er das nie gewesen, und suchte Vergessen seiner Lage auf weiten und auf häufigen Reisen.
»Der Kronprinz«, so notiert sich damals Waldersee, »einer der schärfsten Beobachter an diesen Höfen, ist naturgemäß enttäuscht, daß er so lange auf den Thron warten muß. Schon vor zehn, sogar fünfzehn Jahren fand er es unbillig von der Vorsehung, daß sein Vater so alt wurde. Unter dem Einfluß seiner ehrgeizigen Frau beschäftigte er sich viel mit Zukunftsplänen, wobei ihm liberale Ideen vorschwebten ... Der Kanzler, den die Kronprinzessin nicht leiden kann und den daher der Kronprinz auch nicht leiden darf, steigt in den Augen der Welt immer höher ... Da ist für den Kronprinzen schwer Stellung zu nehmen. Die geistige Überlegenheit seiner Gemahlin ist ein großes Unglück geworden. Aus einem einfachen, braven und ehrlichen Prinzen ... hat sie einen schwachen Mann gemacht, der sich selbst nichts zutraut, der nicht mehr offen und ehrlich ist, der nicht mehr preußisch denkt. Sogar seinen festen Glauben hat sie ihm genommen ... Seine erwachsenen Kinder täuschen sich über die Sachlage nicht ... So weich wie der Vater, so unbeugsam wird der Sohn sein. Leider ist das Verhältnis zwischen beiden nichts weniger als gut ... Lebt der Kaiser noch einige Jahre, so ist der Kronprinz völlig aufgerieben und verbraucht. Schon jetzt hat er Anfälle von Schwermut und kein Vertrauen in die Zukunft.«
Das Dienstverhältnis zwischen Vater und Sohn, der indessen, mit 25, Major geworden, verschärft die Differenzen. »Öfters«, schreibt Waldersee aus dem Manöver 84, »machte sich (beim Kronprinzen) große Heftigkeit geltend, in der Regel über unbedeutende, meist die eigene Person berührende Dinge; bedauerlicherweise glaubt der Kronprinz, man erweise ihm absichtlich nicht die nötige Ehre ... Daß Prinz Wilhelm zur Leitung kommandiert war, also eigentlich zum Vater, wurde völlig ignoriert. Der Kronprinz vermied es, mich dabei auch nur einmal zu fragen, wo ist oder was macht mein Sohn? Als dieser im Laufe der Manöver mehrfach zu mir zurückkam, tat der Vater so, als wenn er ihn kaum bemerkte, beschäftigte sich aber gern mit dem Prinzen Heinrich, der zu seinem Stab gehörte. Prinz Wilhelm ließ es aber niemand merken, wie er diese Unfreundlichkeit des Vaters empfand.«
Ist es erstaunlich? Vorgefühle eines nicht mehr langen Lebens erfüllen diesen zart-herrischen Menschen, er hat es wiederholt bekannt, sie steigen mit dem überbiblischen Alter eines noch immer rüstigen Vaters, der ja auch Hundert werden kann: liegt der Gedanke dann nicht nahe, man könnte die Generation sein, die übersprungen wird? Muß sich ein alter Groll gegen den eigenen Erben nicht noch verschärfen, weil seine Wartezeit nach Menschengedanken viel kürzer sein wird? Was ist das, was er hier seit zwanzig Jahren tun darf? Manöver, Museen, Eröffnungen. Bei der Eröffnung eines Staatsrates im Jahre 84 trat er vor den großen Stuhl, der einem Throne ähnlich sah, und verlas eine Ansprache. »Hier zeigte er so wenig Takt und Haltung, seine Unlust ziemlich deutlich zu markieren. Er sprach mit matter Stimme, holte stets tief Atem, wie jemand, dem es recht sauer wird« (W. 245).
Wenn ihm die Laune vergeht über das lange Leben des Vaters, so läßt er sie am Sohne aus. Bei einem Gardediner Anfang 85 nimmt er Veranlassung, »besser gesagt, er brach sie vom Zaune, den Sohn vor allen Offizieren und Gästen als einen unreifen, urteilslosen Menschen hinzustellen. Der Prinz bewahrte seine Haltung, war aber außer sich. Es besteht nur Eine Meinung, daß er sich sehr verständig, der Kronprinz aber unglaublich fehlerhaft benommen hat ... Die Eltern suchen jetzt den Skandal und wollen es zu einem Bruche treiben« (W. 255).
Dennoch muß der geschundene Prinz noch froh sein, wenn er nur mit dem Vater zu tun hat. »Mit meinem Vater allein geht es ja immer ganz gut. Nun kommen wieder andre Zeiten«, sagt er zu Waldersee, als die Mutter von einem Besuch aus England heimkehrt.
Victoria, bei ihrem Einzuge als Achtzehnjährige von den Berlinern umjubelt, sah sich zwölf Jahre später von Mißtrauen umstellt. Jetzt, nach dem Krieg von Siebzig, in gestärktem Nationalgefühl räsoniert Hof und Gesellschaft, daß sie zu Haus englisch spräche, sich Vicky, den Sohn William nenne, mit englischen Gelehrten umgehe, englische Küche, Diener, Tafelgerät führe. War das Altpreußische und Norddeutsche ihr fremd, so zog sie Demokraten heran, deren Gedanken nach England paßten: Virchow, Helmholtz, das war antimilitaristisch, das war geeignet, den Hof der verkalkten Greise da drüben aufzuputschen. Überall dilettierend, anordnend, wie es die Maler machen sollten, das neue Jahrhundert witternd, ohne sich je in eine soziale oder auch nur in Frauenfragen zu vertiefen: so war sie ganz auf den Schein gerichtet, ganz wie ihr Sohn, und auch darum war sie sein Feind.
»Eine Mischung von hervorragendem Verstand und Koburgischer Schlauheit, von hoher Bildung und eisernem Willen, nebenbei Habgier, Mangel an christlichem Glauben:« dies Urteil Eulenburgs ist zu hart, denn es verschweigt Energie und Stolz, ihre besten Gaben, verschweigt auch die Problematik einer Stellung zwischen zwei Ländern, die selbst ihren Sohn noch verwirren sollen. Dieser Herrennatur mußte das Warten auf einen Thron, dessen Erledigung sie nicht einmal den Vater kosten würde, ihre Entfremdung gegen dies augenscheinlich barbarische Land mußte noch schwerer werden, da es ihr die Blüte der Jahre ohne Gegengabe nahm. »Wenn dein Vater vor uns sterben sollte,« sagte sie zu ihrem Sohn, »so gehe ich fort. Ich bleibe nicht in einem Lande, wo ich nichts als Haß und nicht einen Funken Liebe empfangen habe« (E. 136).
Der Sohn wußte längst, die Mutter war immer Engländerin geblieben; von diesen achtziger Jahren ab glaubte er aber, daß sie »bewußt für englische Interessen gegen preußische und deutsche arbeitet« (W. 239). Rasch übertrug sich sein Trotz und seine Feindschaft auf das, was die Mutter liebte und pflegte: mit 20 Jahren wurde Prinz Wilhelm aus Widerspruch gegen die Mutter zum ersten Male Englands Feind. Um jene Zeit verfolgte er den Sudankrieg mit militärischen Notizen und erwies sich dabei »stark gegen England eingenommen« (W. 247). An diesem Punkte wußte ihn besonders Herbert Bismarck zu fassen, der sagte: »Gegen England kann Prinz Wilhelm niemals genug aufgehetzt werden ... Wenn seine Mutter zur Regierung kommt, ist es mit Deutschland ohnedies aus« (E. 176). Doch zugleich entdeckt schon der Minister Lucius hinter solcher zur Schau getragenen Abneigung »eine unbewußte große Vorliebe für England«.
Jahrzehntelang schwankte sein Herz zwischen diesen Gefühlen der Abneigung, Bewunderung und Eifersucht, ein Leben lang bebte es in dieser persönlichen Haßliebe gegen sein Mutterland, deren Folgen das Schicksal der Nation entscheiden sollten.
An diesem Gegensatz entzündete sich der erste offene Streit. Vater und Mutter, von der alten englischen Königin angestiftet, die antirussische Interessen hatte, wollten ihre Tochter durchaus mit dem Fürsten von Bulgarien vermählen, zwischen dem Mädchen und diesem Battenberger Prinzen war es schon zum Austausch von Ringen gekommen, als Bismarck aus Rücksicht auf den Zaren dazwischenfuhr und gleich auch den Prinzen Wilhelm auf seiner Seite fand. Eine heftige Szene zwischen Mutter und Sohn hat Anfang 85 zur Folge, daß man ihn aus Potsdam entfernen will. ›Sollte jetzt der Kronprinz plötzlich Kaiser werden, so bleibt nichts übrig als die Versetzung des Prinzen in eine entfernte Garnison‹ (W. 258).
Indessen versucht der Prinz ehrlich, die Eltern durch Erfolge zu gewinnen. Jetzt ist er Mitte Zwanzig, auch selbst schon Vater, denn mit Zweiundzwanzig hat er die holsteinische Prinzessin zur Frau genommen, die man ihm ausgesucht. Zweimal ist er dann nach Rußland geschickt und bei seiner Rückkehr »von allen Seiten aufs herzlichste empfangen worden, außer von seinen Eltern. Sie hatten zuviel Gutes über ihn hören müssen, den sie für einen völlig ungeratenen, undankbaren Sohn halten. Sie sind eifersüchtig auf ihn« (W. 242).
Um diese Zeit fällt ein furchtbares Wort von Victorias Lippen: »Sie glauben gar nicht,« sagt sie einem österreichischen Adligen, »wie ich Ihren schönen, geistvollen und eleganten Kronprinzen bewundere, wenn ich daneben meinen ungeschlachten, vierschrötigen Sohn Wilhelm betrachte.« (Corti, Alexander von Battenberg, S. 328.) Gesprochen von einer als Fürstin erzogenen Frau, zu einem Fremden gesprochen, im Bewußtsein, daß dies Wort nach Wien, von Wien nach allen Höfen Europas dringen wird.
So tief saß die unnatürliche Abneigung gegen den halbentstellten Sohn im Herzen der Mutter.
Fern von Potsdam, auf einem andern Erdteil, liegt Unter den Linden zu Berlin das Schloß des alten Kaisers. Augusta, an die Achtzig, veranstaltet kleine intime Abende, in der sogenannten Bonbonnière. Hier haben sich einige alte Minister und andere Adlige versammelt, auch Professoren werden geladen, Curtius, der Olympia ausgegraben, Hofmann, der Meister des Anilin, – und dazu gar kein Gefolge, denn darin liegt die Erholung der Wirte. An diesen Abenden sehen sie endlich einmal nichts von dem bemalten Gesicht des ausgestopften Grafen Perponcher, nichts von den pergamentenen Zügen des alten Albedyll, Plessen zeigt heute sein Flügeladjutanten-Lächeln anderswo, und Goltz, der ganz konfus gewordene Generaladjutant, mag schlafen.
Im Rollstuhl wird die Kaiserin hereingefahren, an einem kleinen Tische etabliert, woran sie die Gesellschaft Platz nehmen heißt, zu ihrer Linken der Stuhl bleibt für den Kaiser frei. Tee, Mandarinen, Eis, ein Gläschen Wein. Man staunt, wie sie mit ihrer schwachen Stimme, mit Händen, in denen die Teetasse zittert, noch in der Welt erscheinen kann. Nach einer Weile tritt Kaiser Wilhelm ein. Jetzt ist er beinah Neunzig. Im offnen Überrock, meist kommt er aus dem Theater, begrüßt er jeden einzeln und freundlich, nimmt seinen Stuhl ein, immer zwanglos, immer heiter. Nor daß er in den letzten Jahren etwas schwerhörig wird, macht die Verständigung schwierig, sonst möchte man ihn für einen rüstigen Siebziger halten. Mit Neunzig schießt er noch auf seiner letzten Jagd seine 26 Stück Hochwild.
Am liebsten erzählt er aus seiner Jugend. Einmal erzählte er in der Bonbonnière, wie er als Leutnant nach der Schlacht bei Leipzig beim Siegesmahl vom Zaren gefragt wurde, warum er keinen Hummer nehme. »Ich wüßte nicht, wie das zu essen wäre, sagte ich, denn im Hause meiner Eltern hatte ich einen Hummer nie zu Gesicht bekommen« (Al. 348).
Lauschend sitzen die Gäste, staunend hören wir zu. Diesen König, der noch mit Alexander dem Ersten zu Tische saß, der Talleyrand kannte und nach Waterloo in Paris mit einzog, neben ihm diese Königin, die noch mit Goethe Gespräche führte, die Karl August kannte und in den Märztagen von 48 im selben Schlosse für ihr Haus kämpfte, – und doch sind beide dieselben geblieben, noch immer sucht sie ihn zu beherrschen, noch immer entzieht er sich mit Galanterie, und wenn er auch jetzt Hummern kennt, so fragt, er doch jeden zweiten Mittag nach dem Rest der gestrigen Flasche Champagner. Diese Bescheidenheit ist es, die ihm die angeborene Würde sichert, denn »in der Mitte steht er wie ein Felsen, an welchem die Wellen branden, hoch erhaben über das elende Treiben. Er steigt in dieser Zeit immer höher, weil er ein Mann ist, der die Lüge nicht kennt, an den Intrigen gar nicht herantreten können« (W. 285).
Als es aber im letzten Lebensjahre noch einmal nach Krieg aussieht, sagt er zum alten Albedyll: »Ich werde wieder selbst das Kommando führen, mein Sohn wird bei mir sein. Wie weit ich kommen werde, weiß Gott allein, weit wird es wohl nicht sein, aber ich gehe mit« (W. 315).
Keine tausend Schritte entfernt regiert der Mann, der die Entscheidungen über Krieg und Frieden im Busen wälzt, Bismarck, das unheimliche Zentrum dieser drei Höfe, doch auch er scheint eine Welt für sich zu bevölkern. Seines alten Herrn freilich ist er sicher, aber selbst diesem wird der Diktator zuweilen zu viel, und als der Kabinettchef ihn eines Tages nach des Kanzlers Vortrag aufgeregt findet und kurzerhand rät, ihn doch gehen zu lassen, wenn er nicht wolle, wie Majestät will, da sagt der Kaiser: »Daran habe ich trotz aller Dankbarkeit auch schon gedacht. Sein selbstbewußtes Wesen ist manchmal gar zu bedrückend. Aber das Vaterland braucht ihn zu sehr.«
Augusta vollends kann diesem Menschen den Glanz ihrer Kronen nicht verzeihen, die sie beide am Ende ihm dankt, es wurmt diese herrschsüchtige Greisin, daß im Grunde ihre Lebenskraft gegen den Fremden die Partie verlor. Noch in diesen achtziger Jahren hat sie Bismarcks Mahnung ertragen müssen, sie möge den Kaiser nicht durch Beeinflussung erregen. »Ich habe«, schreibt Bismarck, »die Kaiserin Augusta in dem letzten Jahrzehnt ihres Lebens nie so schön gesehen wie in diesem Augenblicke; ihre Haltung richtete sich auf, ihre Augen erhellten sich zu einem Feuer, wie ich es weder vorher noch nachher erlebt habe. Sie brach ab, ließ mich stehen und hat später gesagt: »Unser allergnädigster Reichskanzler ist heute sehr ungnädig.«
Solche Interna wurden an den Berliner Höfen vom Obersthofmeister bis zum letzten Lakai mit Behagen herumerzählt, kein Stirnrunzeln oder Grollen des alten Herrn blieb dem Enkel unbekannt, und er hätte, bei seiner entschiedenen Furcht und Ehrfurcht vor den Großeltern, der allgemeinen Feindschaft gegen den übermächtigen Kanzler sich nur anschließen dürfen, zu dem ihn an sich keinerlei Gefühle zogen. Aber der Haß seiner Eltern vereinte den Prinzen mit Bismarck.
Es war schon Geschichte, doch dem Knaben hatte man wohl wie jedem Untertan verschwiegen: wie im Konflikt von 63 sein Vater sich in öffentlicher Rede vom Staatsstreich seines Großvaters, des Königs, trennte. Jetzt aber, erwachsen und von jungen Freunden leicht mit allem Material versehen, was gegen den Vater sprach, erfuhr Prinz Wilhelm nicht bloß von diesen Zerwürfnissen, er konnte in kühneren Geschichtsbüchern auch schon lesen, daß seine Mutter es damals war, die unter englischem Druck den Vater zu diesem Schritte drängte, »um die Zukunft ihrer Kinder sicherzustellen«. Mit der Begierde des aufbegehrenden Jünglings las und hörte der Sohn vom damaligen Aufbegehren seines eignen Vaters.
Doch sogleich ergreift er im Innern Partei nicht für ihn, sondern gegen ihn. Die liberale Fronde des Vaters paßt ihm nicht, das Antidemokratische in Bismarcks Welt liegt seinem Wesen; in einem Buch über ihn unterstreicht er damals alle straffen Royalismen Bismarcks und alles gegen England. Neben die Stelle aus Bismarcks Rede vom selben Jahre 63, in der er des heutigen Geburtstages des jüngsten Prinzen gedachte und dem Landtage zurief, Preußens Königtum sei noch nicht reif, einen bloßen Schmuck des Verfassungsgebäudes zu bilden, schreibt der Prinz: »Und was dieser Jüngste dazu tun kann, so soll es nie dazu kommen!« (L. 292).
So wird seinem ersten politischen Denken von der Feindschaft gegen die Eltern die Richtung gewiesen, darum spiegelt er sich in Bismarck. Und hatten nicht »Blut und Eisen« gesiegt gegen Englands liberale Dogmen? Mit welcher Befriedigung hörte der Prinz nicht von den Zeugen jener Tage, wie sich sein stolzer Vater dem Großvater unterwarf! Oder wie Bismarck den grollenden Kronprinzen fragte, warum er sich von den Sitzungen einer Regierung fernhielte, die doch »in wenigen Jahren« die seinige sein würde. Da reckte sich der schon damals verbitterte Kronprinz empor, mißtrauisch, daß dieser böse Geist Preußens den Übergang in seine Dienste anbahnen wolle. »Ich sehe noch heute«, schrieb Bismarck nach 30 Jahren, »den zurückgeworfenen Kopf, das gerötete Gesicht und den Blick über die linke Schulter vor mir. Ich unterdrückte meine eigne Aufwallung, dachte an Carlos und Alba und antwortete, ich hätte in einer Anwandlung dynastischen Gefühls gesprochen ... Ich werde (sein Diener) niemals sein.«
Da sieht man sie vor sich stehn, in der Ecke eines kaltglänzenden Saales, vielleicht schon an der Tür, diesen Minister, gegen Fünfzig, riesig, doch fast schon kahl, kaum zwei Jahre an der Leitung der Geschäfte, ganz ohne Erfolge, ohne Ruhm, der bestgehaßte Mann in Preußen und stolz darauf, daß er es sei, und doch schon mit dem ganzen Anspruch des Genies, im Gleichgewicht eines Selbstgefühls, das sich die Rettung dieser Dynastie zuschreibt. Neben ihm, nicht minder hünenhaft, Anfang Dreißig, hochblond und sehr gepflegt der Thronfolger, sein Gegner und doch vom selben Gedanken erfüllt: wann wechselt die Macht? Der Minister, ein Fremder, wünscht dem König, der ihm vertraut, ein langes Leben, der Sohn und Erbe steht im alten Zwiespalt der Kronprinzen-Gefühle, in Wahrheit ist es kein Zwiespalt mehr.
Ist's möglich! denkt sein Sohn Wilhelm bei solchen Geschichten. Heut, nach über 20 Jahren, sind es noch immer dieselben drei Männer, die in denselben Räumen verbunden durch dieselben Zweifel und Meinungen, einander im Auge behalten, vertrauend und böse, ungeduldig und nachgiebig? Noch immer folgt der alte Herr demselben Berater, noch immer haßt dieser des Herren Sohn, aber inzwischen ist die Macht dieses fremden Mannes, der das Geschick des Fürstenhauses bestimmt und dessen Glieder in Parteien zerspalten hat, heimlich und unheimlich zur Autokratie gewachsen, sein Hirn hat die Lage Europas umgestaltet, bis an die Pole ist sein Ruhm gedrungen, und er, dessen Macht kein Gesetz verewigt, scheint sicherer auf seinem Stuhl als die Glieder einer Familie, die das Gesetz der Sukzession beschützt!
Dunkle Gefühle zwischen Stolz und Furcht kreuzen sich in der Seele des jungen Prinzen, wenn er vor dem alten Kanzler steht. Inmitten feindlicher Strömungen, die das Königshaus verwirren, ist dieser Fremde der einzige, an den sich niemand wagt.
»Angesichts der mangelnden Reife sowie der Unerfahrenheit meines ältesten Sohnes, verbunden mit seinem Hang zur Überhebung wie zur Überschätzung, muß ich es gradezu für gefährlich bezeichnen, ihn jetzt schon mit auswärtigen Fragen in Berührung zu bringen.«
Mit diesen Worten suchte im Herbst 86 der Kronprinz vom Auslande her die Beschäftigung seines Sohnes im Auswärtigen Amt zu verbieten, die Bismarck durch den alten Kaiser hatte anordnen lassen. Was aber muß er in des Kanzlers Antwort lesen? In der königlichen Familie gehe die väterliche Autorität in der des Monarchen unter. Aufs neue fühlt er sich geschlagen, er, der morgen zur Macht gelangen und übermorgen diesen besoldeten Beamten vertreiben kann!
Denn er weiß es: nur Bismarcks Wille hatte die Ordre erwirkt, die dem Prinzen geheime Zusammenhänge aufschließen, ihn für jeden Fall und Unfall der Zukunft vorbereiten soll. Suchte der Alte sich wohl den Prinzen zu verpflichten, die Mißgunst zwischen Vater und Sohn zu seinen Gunsten zu wenden? Sieht es nicht aus, als wolle man ihn selber, den Kronprinzen, übergehn? Und doch sitzt er soeben an der Riviera in voller Gesundheit, ein Mann gegen Sechzig, als Fürst von aller Welt gegrüßt, der Erbe eines der mächtigsten Reiche; und doch verhindert ihn dieser ewige Minister, der sich in alles mischt, selbst seinem eignen unreifen Sohne zu verbieten, was ihm gefährlich scheint!
Gerade jetzt aber scheinen Bismarck und der Kronprinz sich wieder zu nähern. Da mit jedem steigenden Jahre, bei jedem Unwohlsein des regierenden Greises der Thronwechsel immer wahrscheinlicher wird, beraten die beiden Männer, klatschen zugleich die Höfe über das, was kommen soll. Als der Kronprinz den Kanzler um diese Zeit fragt, ob er bei einem Wechsel bleiben wolle, hört er als Bedingung: keine Parlamentsregierung und keine auswärtigen Einflüsse in der Politik. Trotz diesem deutlichen Wink an England erwiderte der Kronprinz mit einer entsprechenden Handbewegung: ›Kein Gedanke daran!‹«
Dies alles sieht Prinz Wilhelm in der Nähe, wir wissen, was er davon denkt: Waldersee, ihm persönlich befreundet, zeichnet in den Jahren 85 und 86 mit stetem Bezug auf die Rolle des Prinzen die Erwägungen jenes Kreises auf:
»Ich halte Kanzler und Kronprinzessin zusammen einfach für eine Unmöglichkeit, solange wir mit England nicht völlig alliiert sind. Wie soll der Kanzler auswärtige Politik treiben, wenn die künftige Kaiserin, durch die Schwäche des Gemahls Mitwisserin der Politik, im Herzen englisch gesinnt ist? Wen soll anderseits der Kronprinz als Kanzler nehmen? Er hat keinen brauchbaren! ... Es kann aber keinen Monat dauern, dann folgt der Zusammenbruch und das Chaos ... Sein Sturz bedeutet nach meiner Überzeugung innere und äußere Verwicklungen, wahrscheinlich den Krieg. In das große Intrigenspiel kommt immer mehr Klarheit. Es handelt sich um die Macht an unserem künftigen Kaiserhofe. Bismarck Vater und Sohn, wollen allein regieren und bilden sich ein, die Kronprinzessin führen zu können ... Tritt der Kronprinz die Regierung an, so sind (von Bismarck) leicht Meinungsverschiedenheiten vorgeschützt und auch geschaffen, um den Abschied nehmen zu können. Sein Sohn geht dann auch, um bei Prinz Wilhelm, auf den man bald rechnet, wieder einzutreten« (W. 251 f.).
Unheimlich, mit welcher Sicherheit die Umgebung auf den baldigen Tod oder Rücktritt eines Mannes rechnet, der seit dreißig Jahren wartet, kerngesund und noch nicht 60 ist!
All diese Kalkulationen und Wünsche dringen ans Ohr, ins Herz des Prinzen, früher als andere Thronfolger beginnt dieser das Leben des Vaters in seiner Phantasie zu umschleichen. Um so fester läßt er sich von dem mächtigen Kanzler anziehen, der als Meister mit dem Prinzen spielt. Der Alte weiß, wie der eifersüchtige Vater jeden Besuch des Sohnes überwacht. Er selber führt ihn in die auswärtigen Dinge ein, nennt ihm seine wichtigsten Mitarbeiter, denn das ganze Auswärtige Amt war ja nur noch sein Bureau, und nur bei Einem stutzt der Prinz: »Als der Name des Geheimrats von Holstein fiel,« so schreibt er später, »klang es mir durch die Worte des Fürsten wie eine Warnung vor diesem Manne.. Er nannte ihn (später) den Mann mit den Hyänen-Augen, von dem mich fernzuhalten ich gut tun würde.«
Doch rasch erlahmt des Prinzen Interesse, nur noch sporadisch besucht er die ihm geöffneten Ministerien, nimmt »von den interessanteren Akten mit Bereitwilligkeit, aber ohne Neigung zu ausdauernder Arbeit, Kenntnis.« Auch »fällt es nicht angenehm auf, daß der Prinz, obwohl nun Regiments-Kommandeur, fortwährend von Potsdam abwesend ist« (W. 267), was auch der alte Kaiser tadelt. Meist ist er auf Jagd oder reist, nach Wien, nach Schottland, wieder nach Wien.
Bald gerät sein Verhältnis zum Hause Bismarck ins Schwanken, zuerst nicht durch seine Schuld. Der Kanzler hat Anfang 86 gewisse Gründe, sich dem Kronprinzen und damit auch Victoria zu nähern, die er im Grunde verachtet. »Sie ist keine Katharina,« sagt er, »in erster Linie ist sie feige. Sie will populär sein ... liberal erscheinen, Leute durch Paradoxa in Verlegenheit setzen, mehr nicht. Vor zirka zwanzig Jahren hat sie mir einmal gesagt, der preußische Adel diene, weil er arm sei, in Birmingham sei allein mehr Silbergeschirr als in ganz Preußen ... und ich möchte wohl am liebsten König sein oder Präsident einer Republik. Ich habe erwidert: »Gewiß ist England viel reicher, dafür hat Preußen manche andere wertvollen Eigenschaften. Und was die Gefahr einer Republik betrifft, die liegt in Deutschland noch weit. Vielleicht werden sie unsere Kinder und Enkel erleben – aber nur, wenn die Monarchie sich selbst aufgibt!« (L. 396).
Prophetisch böse Worte: er meint, indem er von Selbstaufgabe spricht, die Liberalismen der Kronprinzessin und ahnt vorläufig kaum, auf wie verwandelten Wegen ein Menschenalter später sein Wort zur Wahrheit werden soll. Für jetzt sucht er aus weltpolitischen Gründen die Potsdamer Herrin zu gewinnen. Im gleichen Maße wie seine Politik sich England anzunähern anfängt, muß das Mißtrauen der Engländerin schwinden, jetzt kann er ihren Briefwechsel mit London für seine Pläne gerade brauchen.
Zu solchem Zwecke taugt ihm jedes Mittel. »Der Kanzler ist jetzt mit Kronprinz und Kronprinzessin auf dem allerbesten Fuße ... Es kann nicht ausbleiben, daß sie den Sohn scharf anfassen und demütigen will und die Hilfe des Kanzlers dazu verlangt ... Naturgemäß folgt daraus ein Abrücken des Prinzen ... Für ihn wird es eine arge Enttäuschung, vielleicht aber eine nützliche Erfahrung sein« (W. 288).
Die Enttäuschung des Prinzen war groß. Im Strudel der Intrigen, eingebaut zwischen feindlichen Höfen, im Grunde abhängig von den Stimmungen des schwer enträtselbaren, noch schwerer zu behandelnden Kanzlers, dem er bisher aus Verehrung anzugehören, dem er vor allem zu gefallen glaubte, sah er mit einem Male, wie er selbst nur eine Figur auf dem Brette des Meisters war, fortgeschoben fühlte er sich zugunsten der verhaßten Mutter. Kenner diplomatischer Künste, Erkenner hochpolitischer Wandlungen, Vertrauter von Bismarcks hohen Plänen hätte dieser junge Mann sein müssen, um an solcher Erfahrung nicht irre zu werden.
Doch wie er war, jung und unerfahren, so empfindlich wie unbeständig, mußte er in diesem Chassez-Croisez einen Umfall des Fürsten, eine Art Untreue besonders von Herberts Seite erblicken. Feinde der Bismarcks taten das ihrige, um ihn in solchem Glauben zu bestärken. Es litt ja alles und ächzte unter der Last des allmächtigen Mannes, und mit glücklichem Lächeln schrieb und sagte man sich's leise, Prinz Wilhelm fange endlich an, von seinem Wahn für Bismarck zu genesen. Als damals eines Tages die Nachricht aufkommt, Bismarck sei tot, und der Prinz, nach Berlin geeilt, vom Minister von Scholz das Dementi in glücklichem Tone hört, »daß wir ihn doch noch haben«, sagt der Prinz kalt: »Unersetzlich ist niemand. Einige Jahre wird man ihn freilich noch brauchen. Später werden seine Funktionen geteilt werden, der Monarch muß selber mehr davon übernehmen.«
Indessen will Bismarck ihm einen ernsten Berater zur Einführung in die Verwaltung geben, aber der Prinz lehnt den Herrn mit der Begründung ab: »Mit einem so ungepflegten Barte habe ich mir in der Jugend Rübezahl vorgestellt.« Doch auch der, den er selbst aussucht, will schon nach wenigen Wochen wieder gehen, da er »zu dem Bewußtsein einer geschäftlichen Tätigkeit nicht gelangen und sich nicht mit einem müßigen Hofleben befreunden könne« (B.4).
Trotzdem hat der Prinz Erfolge, besonders auswärts, seine beiden Missionen zum Zaren verlaufen günstig, man rühmt an ihm Geschick und Munterkeit, Sprachkenntnis und eine gewisse Anmut. In der Konversation ist er vielseitig, »er unterhielt sich sehr lebhaft und schwärmte für Wagnersche Musik und Felddienstübungen« (L. 213). Doch zugleich klagt der ihm ganz ergebene Waldersee schon jetzt über aufgeregte Briefe um nichtige Dinge und über große Mühe, ihn zu ruhiger Beurteilung von Menschen zu bringen. Auch verschenkt er schon als Prinz zu Geburtstagen seine Büste, setzt unter sein Bild die verfrühten Worte »oderint dum metuant« und unter eines nach England: »I bide my time.« Vorklänge eines Selbstgefühls, das sich entfalten möchte.
Freilich, gesund ist er nicht, wiederholt muß er bei großen Anlässen wegen seines Ohrenleidens fehlen, im Frühling 86 führt Schwindel und Erbrechen zu ernsten Diagnosen, »da die Gefahr vorliegt, daß das Gehirn mit affiziert werden kann« (W. 292). Bald darauf erkrankt auch das gesunde Ohr, man muß das Trommelfell durchstechen, alles dies gefährdet seine innere Ruhe.
Vom 23. bis 28. Jahre spielt sich das Leben des Prinzen in drei Kreisen ab. Er ist Gatte, wird alle Jahre Vater und spricht bei der Geburt des ersten Sohnes gleich die Hoffnung aus, er möge die Bahn des Urgroßvaters wandeln. Gerüchte und Berichte über eheliche Untreue in jenen Jahren werden nicht bloß von seinen Freunden, auch vom Psychologen bestritten, denn zu den preußischen Tugenden, auf die er stolz ist, gehört ja diese Treue, und wenn ihm Bismarck starke Sexualität zuschreibt, so hat sich solche außerhalb seines Hauses kaum dokumentiert.
Gewiß ist nur, daß er schon in solchen jungen Jahren lieber unter Männern saß als unter Damen, und froh war, im Kasino seiner Garde mit den Potsdamer Kameraden vergnügt zu sein. Bismarck, dieses Leben mit Ernst beobachtend, wünscht ihm andere Eindrücke, denn, sagt er, »ein Thronerbe als Kamerad unter jungen Offizieren, deren begabteste vielleicht ihre dienstliche Zukunft im Auge haben, kann nur in seltenen Fällen darauf rechnen, durch den Einfluß seiner Umgebung in der Vorbereitung für seinen künftigen Beruf gefördert zu werden. Diese Beschränktheit des Vorlebens ... habe ich tief beklagt« (B. 5). Der Wunsch, ihn nach Berlin zu versetzen, scheitert trotz Bismarcks Drängen an der Sparsamkeit des alten Herrn, der ihm kein Schloß herrichten will. So hat eine preußische Tugend verhindert, den preußischen Thronfolger gehörig zu schulen.
Was die Kameraden an ihm bewunderten, war die Energie, mit der er sein Gebrechen überwunden und sich zum guten Reiter und Schützen erzogen hatte. Denn immer strebt er, an Schneidigkeit es allen voranzutun. Als seine Braut zur Hochzeit über die Linden ins Schloß eingeholt wird, steht er im Schloßhof und kommandiert die Leibkompanie »mit solchem Eifer, als ginge ihn der Einzug sonst nichts an« (L. 203), und bei der Grundsteinlegung des neuen Reichstags führt er »seinen Schlag so kräftig aus, daß allgemeiner Beifall laut wurde« (L. 296). Nur die Nächsten wissen, wieviel Nervenkraft ihn dies Auftreten kostet. »Der arme Prinz«, schreibt Eulenburg, »ist wegen seines lahmen linken Armes sehr geniert. Da muß der Leibjäger, seinen rechten Arm auf eine lange Stange stützen, dem Prinzen als Stützpunkt zum Auflegen der Büchse dienen. Das lassen sich nicht alle Böcke gefallen« (E. 137).
Nur wer diesen lebenslangen Kampf gegen die angeborene Schwäche nachfühlt, wird ihm gerecht, wenn er den späteren Kaiser seine Nervenkraft überspannen oder verlieren sieht. Der stete Kampf gegen ein Übel, das jedem Besucher ins Auge fallen, das er darum lieber zur Schau tragen mußte, dieses stündliche, lebenslängliche Bestreben, ein angeborenes, nicht einmal abstoßendes Zeichen der Natur zu verstecken, hat seine gesamte Charakterbildung mit entschieden. Der Schwache suchte die Stärke zu betonen, doch statt sie im Geiste zu suchen, wo sein beweglicher Intellekt sie finden konnte, trieb ihn Tradition und Ehrgeiz, sie in einem helden-, das heißt offiziersmäßigen Auftreten zu beweisen. Alles kam zusammen, um ihn in solchem Wahn zu stärken: kriegerischer Ruhm seines Vaters, Geringschätzung von Seiten der Eltern, Widerspruch gegen ihre demokratischen Ideen; zuletzt und vor allem eine angeborene, vom Vater ererbte, in dieser Familie häufige Eitelkeit trieben ihn zeitlebens zu scheinen, was er nicht war.
Am liebsten verweilt der Prinz im dritten Kreise, bei seinen Kameraden. Wen wählt er sich zum Freunde? Hinzpeter sein Lehrer berät ihn, aber der ist zu alt und auch sozial zu fern, um sein Freund zu heißen.
Auch der General Waldersee, Mitte Fünfzig, kann nicht der Herzensfreund eines jungen Mannes von Mitte Zwanzig werden; doch schon seine Wahl zum Vertrauten ist bedeutsam. Unter den Generalen der vorangehenden Generation, die Preußens beste Überlieferungen durch drei siegreiche Kriege mit getragen, ist Graf Waldersee vielleicht der einzige, dem die Tugenden Moltkes, Roons, Blumenthals, dem Geradheit, Verschlossenheit, Strenge fehlen, und der dafür Intrige, Politik und einen nach allem strebenden Ehrgeiz auf Gebieten pflegt, die seiner Schlauheit schmeicheln. Sein Tagebuch, als Deutung Wilhelminischer Stimmungen unschätzbar, reich an Tücke und Menschenkenntnis, zugleich in den Schleier einer Frömmigkeit gehüllt, die immer an Geburtstagen und bei Krankheitsfällen auftritt, ist das erste Dokument eines preußischen Offizierstypus, der mit ihm beginnt und in den nächsten dreißig Jahren zu entscheidender Macht, nämlich in die Kabinette des Königs berufen wird.
Dieser erste Hofgeneral, der zugleich die Politik der Flügeladjutanten inauguriert, gewann sehr rasch den unheilvollsten Einfluß auf den Prinzen. Seine Politik richtete sich nach der Bismarcks: er vertrat immer das Gegenteil. Denn wenn der alte Moltke müde, Waldersee aber von ihm protegiert, auch zum General-Quartiermeister gemacht wird, Bismarck angeblich einen andern an dieser Stelle wünscht, was folgt daraus für Waldersee? Todfeindschaft mit den Bismarcks. Wenn aber Bismarck entdeckt, daß Waldersee beim Prinzen nach dem künftigen Kanzleramte strebt, was folgt daraus für die Bismarcks? Todfeindschaft mit Waldersee.
Nun geht Waldersees ganzes Sinnen dahin, zunächst Herbert beim Prinzen Wilhelm zu verdächtigen, der Staatssekretär des Äußern und mit ihm befreundet ist. Darum suggeriert Waldersee dem Prinzen Feindschaft gegen Rußland, weil Bismarck pro-russische Politik macht; zugleich aber durchlöchert er systematisch den Glauben des Prinzen an Bismarcks staatsmännische Größe. Doch zugleich befreundet er sich auch plötzlich mit dem Geheimrat von Holstein, den er noch vor kurzem als »einen der schlimmsten Agenten Bismarcks« bezeichnet hat, im Augenblick einer Krisis, als er Holsteins beginnenden Abfall vom Kanzler spürt.
Dazwischen ruft er am Karfreitag, am Bußtag oder in der Langenweile eines Badeortes die treue Liebe seiner frommen Gattin an, einer Verwandten der Prinzessin Wilhelm, und aus dem Sumpf der Personalien, Hofgeschichten, kleiner und großer Verrätereien, schimmern plötzlich religiöse Worte, »wie Marie meine innere Wandlung erfreuen wird«, und wie er von nun an »das Ziel nicht in Ehre und irdischen Dingen, sondern in der Vorbereitung auf das Jenseits suchen will«. So war der selbstgewählte Mentor des Prinzen.
Sein Herzensfreund war von jenem völlig verschieden. Prinz Wilhelm hatte eine harte Jugend hinter sich, angeborene Kälte sah sich durch ihre Erfahrungen bestätigt. Weder Vater noch Mutter, weder Bruder noch Schwestern haben ihm jene Wärme des Herzens gewährt, die die besten Kräfte eines Jünglings zum Erblühen bringt; in seiner recht stumpfen Ehe fand er nachher keine Quietive gegen die Hölle des bisherigen Familienlebens. Verliebt ist er wohl nie gewesen. War nun seine Seele zu echter Hingabe des Herzens an eine Frau nicht geschaffen, hat er aus Selbstgefälligkeit gefürchtet, sich zu verlieren, folgte er der Sitte jener Zeit und Kreise, in denen Männerfreundschaften auch ohne Perversion sich häuften: gewiß ist, daß Prinz Wilhelm mit 27 Jahren zum erstenmal sein Herz verschenkte.
Weil er alles stramm Preußische von den Kinder jähren an aus Furcht vor körperlicher Unterlegenheit pflegte, nur in der steten Angst, als Offizier nicht voll zu gelten, suchte der passive Teil seines Wesens nach einem Ausgleich, die unterdrückte Weichheit brauchte ein Feld zum Schwärmen, die Phantasie ein künstlerisches Herz. Musik und Lieder, lyrische Verse und mystische Gedanken, nordische Sagen und südliche Sonne, die edlen Stellungen heldischer Gestalten, mit schönen Mänteln angetan: das, was ihm Richard Wagner gab, suchte er unter den Menschen. All dies fand er im Grafen Philipp Eulenburg, dem er dreißig Jahre aufs engste verbunden blieb.
Dieser merkwürdige, vielbegabte Mann, dessen Natur jetzt in seinen Memoiren deutlicher vor uns liegt, als er wünschen möchte, war vor allem ein Schauspieler. Seine Fähigkeit, sich anzupassen, war so groß, daß er sich diese Wahrheit eines Freundes über ihn notierte: »Brächte man seine Freunde einmal alle zusammen, das gäbe eine große Schlacht.« Und als er von seinem Vater und Onkel spricht, fügt er hinzu: »Ich war den beiden in der Wirkung meiner geselligen Talente gleich, doch war ich der Schauspieler, jene waren echt.« Auch seine Gaben waren mehr die einer weiblichen, vielseitig schwankenden Natur, und nachdem er in der Jugend ungewiß gewesen, ob er zum Musiker, Maler, Architekten oder Dichter bestimmt sei, erkannte er schließlich, daß alle seine Fähigkeiten, verbunden mit Stand und Erziehung, in keinem Felde glänzender zutage träten als in der Diplomatie.
»In diesen erregten Zeiten innerlicher Kämpfe und überschäumenden Produktionsbedürfnisses, angeregt durch das Münchener Künstlerleben ... fuhr ich verzweifelt in den See hinaus, sprang vom Boot in die blauen Fluten oder zog versunken in Träumen die Schleppangel stundenlang, bis ich, dem Kampf entrückt, in der großen Natur, auf dem blaugrünen See in meinen dichterischen und musikalischen Projekten und Phantasien eine Art von Ruhe fand.« Dies ist nicht nur der Dilettant, auch der Schauspieler, der mit schlichtem Augenaufschlag schreibt: »Ich bin schon als Kind von grenzenlosem Mitleid beherrscht worden ... zu helfen, war immer mein Schönstes.« Wer solche Sätze mit dem Anschein voller Naivität nach Jahrzehnten in seinen Memoiren aufzuzeichnen wagt, der hat ein Leben hinter sich, in dem die falschen Töne niemand, in dem er sie schließlich selbst nicht mehr hörte.
Eine große, biegsame Gestalt, verdeckte Züge, Augen, die nach Bismarcks Urteil einem das beste Frühstück verderben konnten, große, aber weiche Hände, eine narzissushafte Koketterie, mit der er den Staatsfrack wie die Gardeuniform zu tragen liebte, glänzender Witz, Magazin von Anekdoten, schöne, etwas verschleierte Stimme, Kunst auf dem Klavier elegant zu phantasieren, Verse zu improvisieren, Menschen zu kopieren, Briefe zu stilisieren, über allem eine Glätte des Umgangs, die Reibungen mit irgendeiner anderen Natur ausschloß, dies Ganze, getragen von soviel Klugheit als Unechtheit, der Glanz zugleich oxydiert durch eine unüberwindliche Scheu vor Verantwortung: das verführerische Bild eines adligen Cagliostro, geschaffen, dem zwölf Jahre jüngeren Prinzen die Vereinigung menschlicher Gaben, das Gesamt-Kunstwerk vorzuspiegeln, das hier lebend vor ihn trat.
So war die erste Wirkung. Auch wenn man die Superlative abzieht, ohne die solche Naturen nicht leben und schreiben können, bleibt sicher viel Wahres an Eulenburgs Erzählung, »daß der Prinz in Freundschaft für mich erglühte ..., als ihn die musikalischen Vorträge fast fieberhaft begeisterten.« Zu seinen Skalden-Gesängen und Rosenliedern – die beiden Typen der Eulenburgischen Muse – begleitete der Prinz »stundenlang ... stets neben mir sitzend, die Notenblätter wendend ... Auch liebte er es, mich mit gewissen Wendungen und Worten aus meinen Dichtungen zu empfangen, wenn wir uns morgens im Walde zur Jagd trafen. Wohl habe ich oft begeisterte Zuhörer bei meinen Vorträgen erlebt ... doch kaum jemals eine solche Begeisterung, wie ich sie bei Prinz Wilhelm auslöste. Da ich aber zugleich im Hause Bismarck aus und ein ging, zu den Offizieren der vom Prinzen vergötterten Garde gehörte und leider tief in die Schleichwege der Politik ... eingeweiht war, so begreife ich, daß der junge Prinz in mich hineinblickte wie in einen Becher, gefüllt mit einer Mischung, deren Ingredienzien ihm vortrefflich schmeckten.«
Aus solcher schwülen Luft nährt sich die Eitelkeit des zauberischen Tenors, zugleich die Naivität des bezauberten Backfisches. Und doch zürnt man nicht einmal dem Grafen, daß er dem aus Verlegenheit schneidigen Preußenprinzen am Ausgang einer liebes- und phantasiearmen Jugend zum erstenmal das Tor des romantischen Gartens aufschloß.