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Das erste, was sie weckte, war das Rauschen einer nahen Flut, die ein dicht an den Planken umgeschütteter Eimer hergab, und als sie sich wendete, hatte sie nur eben Zeit, auf ein hochgerolltes Tau zu springen, denn schon ergriff das Wasser die Spitze des Decks und gleich fing der Matrose an, es zu scheuern. Sie sah das Wasser über die Ritzen rieseln, als wäre es über Glas, so dicht war alles gefugt, und ein Gefühl heiterer Sicherheit, die Freude, im Gefüge eines bewegten Ganzen geborgen zu sein, ließen sie lächeln und dann Umschau halten, in der Landschaft wie in diesen Anstalten des Jahrhunderts, zu denen sie wie aus der Vorwelt zurückkam.
Klippenreich, zerborsten stieg westlich, keine acht Meilen fern, die Küste empor, und was ihr unbewaffnetes Auge als ein kunstvolles Rund auf der Höhe erkannte, mochte das römische Theater von Taormina sein. Vor Jahren war sie hier gesegelt, doch hatte sie nie angelegt und kannte diese Küste der Insel nicht. Der junge, etwas dumpfe Matrose, bisher nur auf Amerikafahrern und nun zum erstenmal fürs Mittelmeer angeheuert, konnte nicht Auskunft geben, die Karten lagen noch beim Kapitän, der Steuermann war morgens wortkarg. Ein leises Klingeln, hartnäckig wiederholt, lenkte Diana ab, es zeigte an, daß man da unten anfing, sich zu erheben. An der Art des Läutens konnte sie unterscheiden, wer es war: so stark und präzis dreimal läuten konnte nur Scherer, der Herr des Schiffes, ein sorgsam langes, einziges Mal war der Prinz, drei kurze, synkopisch überstürzte Stöße bedeuteten Franklins Ungeduld, der Russe aber läutete gar nicht, ihm, dachte Diana, schien dies zu herrenhaft. Und wie sie lachte und auf ein Frühstück hoffte und die Küste zu enträtseln und eine Möwe im Spiel zu erspringen suchte, die sie dicht überflog, kamen Schritte herauf, und an dem langsam weichen Gange erkannte sie, daß es der fünfte ihrer Begleiter war.
Denn als der Plan zur Fahrt, bald nach dem Abend bei Scherer, von diesem festgesetzt war, als auch der Russe, schriftlich und ohne Gründe, kurz angenommen und Diana sich gefragt sah, wer etwa wohl noch passen könnte, da hatte sie Wilhelm genannt, dessen Lautenspiel und dessen Phantasien den weltlichen Seefahrern allen lieb sein möchten. Und wirklich hatte er, in diesen ersten Tagen, mit soviel Anmut und Gefallen sich in den Kreis geschlungen, daß der Wirt Diana für den Gast zu danken hatte.
»Guten Morgen, Wilhelm!« rief sie ihm entgegen. »Sie sind der erste und doch um eine Stunde zu spät. Das Beste ist vorbei!«
»Das Frühstück?«
»Nein! Der Morgen!«
»Der steigt doch eben auf!«
»Ja, wie ein Wanderer nach der ersten Stunde. Er schwitzt schon ein bißchen und hat sich eingerichtet. Der erste Tritt ins Freie, wenn noch das Haus schläft und der Fuß, der einzige, die Straßen hinaufhallt – die sind vorüber. Und dort liegt der Ätna!«
»Du bist kalt!« sagte Wilhelm und winkte ihm. »Adieu! Adieu! Wo landen wir?«
»In Syrakus, sagt Herr Scherer.«
»Mittags?«
»Nachmittags. Vielleicht gegen abend.«
»Und dort ist dann also der Tyrann?«
»Dort ist das Ohr des Dionysos!«
»Das ist doch kein Tyrann!«
»Nein, Wilhelm. Nur ein Gott!«
Er hockte in Türkenstellung auf dem Tauknäuel nieder, denn das Wasser war wieder abgelaufen. Blinzelnd vor dem Lichte und kritisch, wie seine träumerische Natur nur durch die Härte und den Strahl des Morgens werden konnte, blickte er zu der weißen Erscheinung auf, die auf dem lackierten Eisengitter balancierte, die Füße auf das darunter gespannte Tau gestützt und so, die blaue Küste hinter sich, beinahe zu schweben schien.
»Sie haben so eine Art, Diana,« sagte er, und kniff die Augen, »von den Göttern zu sprechen, als ob es Ihre Verwandten wären! Und nun wollen Sie sogar wissen, wo Dionysos seine Ohren hat, als ob es ihm auf was anderes ankäme, als auf Mund und Nase, denn die beiden braucht er zum Burgunder!«
»Und Sie haben auch keine Augen heute früh!« sagte sie lachend und stieß ihn sacht mit den weißen Schuhspitzen, denn nun schaukelte sie sich. »Wenn Sie wenigstens Ohren hätten! Dann hätten Sie gestern abend Herrn Scherers S-förmige Darlegungen über dieses Ohr gehört, denn diesmal ist es gar nicht Ihr Schutzgott, zu dem wir fahren, sondern der Tyrann, der sich nach ihm so genannt hat, wahrscheinlich, weil er sich den Göttern verwandt fühlte wie Diana – die jetzt unverzüglich frühstücken geht!«
Und damit sprang sie herab, zog ihn hoch und schlenderte an seinem Arm das Deck entlang bis zum Speisezimmer, das wie ein Kasten aus Glas und Eisen auf das Promenadendeck achtern aufgebaut war. Sie nahm die Spitze des länglichen Tisches.
»Bitte, Früchte, Tee und was Sie wollen!« rief sie dem Steward zu und schob die Karte beiseite. Wilhelm nahm sie auf.
»Es ist unmöglich!« seufzte er, indem er sie mit den ausgespannten Fingern der Rechten abmaß. »Elf Zentimeter Frühstück, das ist nicht abzuarbeiten, und dabei sind die Zwischenräume eng wie bei Reclam, von dem ich den Jean Paul unten habe. Also ich wähle heute Gang 2, 4, 6, 8, 10 und morgen die Ungraden!«
Er gab mit einer großherzoglichen Geste die Karte dem hochmütig-servilen Steward zurück und sagte, als dieser fort war, leise zu Diana:
»Haben Sie gesehen, wie der Russe ißt?«
»Tadellos ißt er,« sagte sie streng und legte die Serviette mit zurückweisender Deutlichkeit auf die Knie.
»So! Tadellos!« sagte er, stützte widerspenstig die Arme auf und sagte, als bekümmerten ihn solche Dinge sehr: »Gestern abend, bei den Wachteln, hat er eine so in die Hand genommen und ihr den Kopf einfach abgebissen, so scharf und beinah wild, als ob er einen Großfürsten speiste!«
Nun lachte Diana und während sie einen Apfel in die Zähne setzte, wie sie ihn auf dem Teller fand, sagte sie:
»Ja, Wilhelm!« und sie biß ihn durch: »Scharf und wild! Dieser eingebildete Russe, wissen Sie, ist nicht grade meine Schwärmerei und meinethalben konnte er zu Hause bleiben! Aber er hat die schönsten Zähne, die ich je habe beißen sehen, denn lachen tut er ja nie, und übrigens können Sie im Brillat-Savarin lesen, daß man Wachteln den Kopf abbeißen darf, auch wenn man Großfürst ist und heimlich denkt, es wären gebratene Anarchisten!«
»Da will ich erst einmal den Prinzen fragen,« sagte Wilhelm ärgerlich und machte sich an einen großen Teller Grütze. »Der ist selber beinah ein Großfürst und weiß das entschieden besser!«
Der Citierte trat ein, blieb aber in der Glastür stehen und sagte mit humanistischem Ernst:
»Da frühstückt man – und wir fahren dabei in diesen nie wiederkehrenden Augenblicken an Fiumefreddo, Gurna und selbst an Fondachello vorbei!«
»Sie schämen sich also bis halb acht zu schlafen,« rief Diana, »und kleiden Ihre Verlegenheit in obskure Namen, die Sie soeben in der Karte entdeckten!«
»Immerhin habe ich fabelhaft memoriert,« sagte der Prinz und nahm an ihrer anderen Seite Platz, denn um alle Etikette zu meiden, hatte man beschlossen, bei den Mahlzeiten zu sitzen, wie sich's grade träfe, was als einzige Schwierigkeit ein beständiges Austauschen der Servietten nach sich zog. Er fuhr fort: »Und hier hat das moderne Fatum in Gestalt von Giorgino, dem Küchenjungen, der aus Leidenschaft heimlich in der Dämmerung den Tisch deckt, wie ich höre, um sich in ästhetischer Sphäre zu bewegen, den Ring des Russen placiert, den ich hiermit in die dritte Rangklasse zurückversetze. Guten Morgen, Herr Wilhelm!«
Wilhelm, der inzwischen gelöffelt hatte, sagte ohne weiteres: »Guten Morgen! Haben Sie schon einmal Wachteln totgebissen?
Der Prinz zog die Brauen, wandte sich an Diana und sagte milde: »Hat Herr Wilhelm schwere Träume?«
Sie wiegte besorgt den Kopf: »Marsala, Hafergrütze, Salzluft, Jean Paul und viel Stromboli –«
»Zu viel Stromboli!« sagte Scherer, der mit dem Russen eintrat, und während sich alle begrüßten, fuhr er fort: »Und noch dazu auf die Riesenpost hinauf, die ich so unklug war, gestern in Messina zu erheben. Das gab einen schweren Kopf und ein zu spätes Aufstehn!«
»Und ich darf Sie bedienen,« sagte Diana und reichte ihm ihre Schüssel. Man aß, befragte den Nachbar nach seinem Gericht, bestellte, man war sehr bei der Sache.
»Kann ich denn nichts für mein Ressort erfahren?« fragte Diana.
»Proponiere schwimmende Redaktion,« sagte der Prinz. »Aufgabe der Schererschen Seefahrer: Lord Northcliffe zum Selbstmord zu treiben. Mittel: Publikation sämtlicher Nachrichten unmittelbar vor den Ereignissen. Schriftleitung: der Kapitän. Handel: Herr Scherer. Wandel: Fräulein de Wassilko. Technik: Herr Wilhelm. Annoncen: Herr Franklin. Kunst: Giorgino, der Tafeldecker. Erinnerungen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert: Doktor Sergjewitsch.«
»Und Sie, Prinz?«
»Ich bin natürlich der langjährige Abonnent, der sich beschwert: zu englisch, zu amerikanisch, zu russisch, zu italienisch: ich bäte ergebenst um etwas weniger Excelsior!«
»Es geht doch nicht,« sagte Scherer, »denn da wir ja von Annoncen leben, brauche ich einen Frühaufsteher für diesen entscheidenden Dienst!« Und nun sprach man von Franklins Unpünktlichkeit, als wäre man seit einer Stunde an Deck, Diana empfahl den früher erschienenen Wilhelm für dies Ressort, und als Franklin schließlich kam, war er und waren jene gleich verlegen.
»Verzeihung,« sagte er etwas hastig und nahm unruhig Platz. »Ich hatte – ich war nämlich – ich hatte einen wundervollen Traum!«
»Mit wem?« fragte Wilhelm einfach.
»Mit einem französischen Kolonialen, mit dem ich draußen häufig stritt.«
»Ach so!« rief Wilhelm enttäuscht. »Wir glaubten alle, mit einer Frau!«
Sie lachten und Diana sagte: »Gestern erzählte der Prinz ähnliche Dinge. Mir scheint, auf Excelsior wird zu viel geträumt. Die Herren sollten wettlaufen und hanteln. Haben wir Fechtzeug mit?«
»Nun, ich werde Sie nicht beunruhigen,« sagte Scherer, »ich träume nie.«
Er sagte das mit solcher Natürlichkeit, daß man es glauben mußte. Nur in dem Prinzen stieg ein Zweifel auf, doch rasch wurde er abgelenkt, denn Kyrill, der nach seiner Art zwischen den Scherzen aufmerksam geschwiegen hatte, fragte nun, und das plötzliche Lautwerden seines klaren, marmorkühlen Baritons drang in die leichte Unterhaltung:
»Es gibt also Menschen, die nie träumen?«
»Und trotzdem musikalisch sind, wollen Sie sagen?«
Der Prinz warf den Freunden dies Wort zu, um Kyrills grundsätzlicher Schwere auszubiegen, aber nun faßte dieser noch fester:
»Im Gegenteil! Es gibt also traumlose Männer, wollte ich sagen, die trotzdem zu handeln wissen!«
Dies Wort, das selbst der kreuz und quer denkende Prinz von einem Revolutionär nicht erwartete, weckte vollends die Geister, und der inkriminierte Scherer sagte fast pathetisch:
»Warum nicht, Doktor? Wenn nur der Mann in seinem Wirken den Traum niemals vergißt, den keine Nacht erschuf und darum auch kein Tag verlöschen kann!«
»Wilhelm!« rief Diana ausgelassen. »Träumer! Sie werden noch ein Mann der Tat!« Sie begegnete Franklins schweigendem Blick. Sie begriff, wie er, ins Tätige strebend, doch als ein Dichter von der Klasse der Träumenden nicht ausgeschlossen werden wollte, und lächelte zu ihm hinüber.
»Sie lachen mich aus?« fragte Scherer.
»Ich lache die Prinzipiellen aus, die nur auf ihre einzige Art Vollkommenheit dulden!«
Schweigend beobachtete der Prinz, wie zwischen Diana und den vier Männern ein System unsichtbarer Funksprüche sich aufbaute; ihm war, als sähe er die Funken, vollends, als nun der getroffene Russe nach zwei Seiten sprühte:
»Vollkommenheit? Die ist nicht einmal bei solchen Rationalisten; uns andere würde sie im Wirken ja nur hindern. Stirbt man nicht am Vollkommenen, so sollte man nicht geboren sein. Wer träumend schafft, ist noch gefährlicher, als wer dem Traum nachschaffen möchte. Ich bin auch hier für Trennung der Gewalten.«
Franklin, der ihn im Grunde nicht leiden konnte, folgte dem Fluidum seiner Worte selbst wie träumend, er dachte kaum an ihren Sinn, vor seinem Auge stand ein Mann, schön, jung, Haar, Teint und Auge so hell, wie diese umdunkelte Seele dämmerhaft lag, und er schloß aus seinen Worten auf einen Menschen von Inbrunst, Phantasie und einer Beherrschtheit, die sich in tiefauftürmenden Gedanken mehr verschloß als hingab. Schweigend warf er den Angelhaken in sein Herz.
Wilhelm, dem der Russe sympathischer war als Franklin, weil er ihn weniger verstand und weil seine schweifenden Sinne, vom Sonderlichen angezogen, überhaupt selten feindlich fühlten, fragte, nach einer kleinen Pause, unbefangen: »Was ist das: Trennung der Gewalten?«
»Freiheit und Gebundenheit im Wechsel,« sagte Scherer ruhig.
»Wenn Sie das keinesfalls politisch nehmen,« sagte Kyrill, »so möchte ich's gelten lassen. Gut pointiert, aber gefährlich.«
»Heute morgen«, sagte der Prinz artig, »scheint Ihnen wirklich zu vieles gefährlich, es ist ganz blau und windstill.« Und er fragte mit dem Blick Diana, ob sie nicht aufstehen wollte. Aber sie blieb, und in dem Wunsch, den fast störend ernsten Mann vollends verwickelt zu sehen, fragte sie sekundierend, aber zugleich herausfordernd zu ihm hinüber:
»Warum nicht politisch, Herr Doktor?«
Kyrill zog die Brauen zusammen, wie immer wenn Diana ihn befragte. Dann erwiderte er allen Dreien: »Weil es für unsereinen nie windstill ist und niemals blau. Weil Freiheit und Gebundenheit, dem Einzelnen heilsam, Knechtschaft im Staat bedeutet, der nur das eine kennt. Der Staatsmann, den ein Weltgefühl beseelt, sollte sich aus jener unendlichen Freiheit unter die Kuppel seiner Idee begeben. Ich liebe den Mann, dessen Tat nur sein Traum begrenzt!«
Scherer erwiderte ruhig: »Ich liebe den Mann, der wachend seine Tat begrenzt.« Franklin lauschte, dann sagte er leise: »Ich – liebe das Werk, das mir aus dem Traum gehämmert wurde!« Eine Pause entstand.
»Und der Prinz?« fragte nun Diana, mit einem Lächeln, das in die Sphäre einer Jacht zurücklenkte.
»Ich? Tja, ich liebe tatsächlich mehr das Volk als seine Führer und als ihre Werke, wobei ich es weder auf Kronen noch auf Lorbeer abgesehen habe. Aber das ist ja wohl unmodern.«
Und ungeduldiger als es seine Art war, ließ er den Blick zu Diana gehen mit dem offenen Wunsche, die Tafel aufgehoben, sich selbst befreit zu sehen, denn er hatte eine Ecke seines Innern freigelegt und war nun peinlich berührt davon. Indem er sich so von den Herren abwandte, bemerkte er nicht, wie Kyrill, der ihm stets zuzuhören pflegte, nun seine blauen Augen zu ihm aufhob, reiner, unbefangener als sonst. Volk – dies eine Wort und nach so vielen grade von dem paradoxen Prinzen und dazu auch noch so einfach ausgesprochen, verwirrte diesen Revolutionär und fing doch zugleich an, ihm Ahnungen zu bestätigen.
Diana, die im Aufstehen die Blicke der beiden Männer mied und nur Scherers klares Auge suchte, fand statt dessen unerwartet Wilhelms fragenden Knabenblick und hörte ihn im Gehen leise sagen:
»Ich habe kein Wort mehr verstanden.« Und damit schlich er sich hinter ihr aus der Glastür.