Jean-Baptiste Louvet de Couvray
Leben und Abenteuer des Chevalier Faublas – Erster Band
Jean-Baptiste Louvet de Couvray

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Erstes Buch

I. Kapitel.

Meine Ahnen waren, wie man mir gesagt hat, in ihrer Provinz angesehene Leute; sie besaßen fortwährend ein bedeutendes Vermögen und einen sehr hohen Rang. Mein Vater, der Baron Faublas, brachte seinen alten Adel unverfälscht auf mich; meine Mutter starb sehr früh.

Ich hatte noch nicht das sechzehnte Jahr erreicht, als meine Schwester, die achtzehn Monate jünger war, nach Paris in ein Kloster gegeben wurde. Mein Vater, der sie dorthin führte, ergriff mit Vergnügen die Gelegenheit, seinem Sohne, bei dessen Erziehung er bis jetzt nichts vernachlässigt hatte, die Hauptstadt zu zeigen.

Im Oktober 1783 kamen wir in Paris an und stiegen in der Vorstadt St. Marceau ab. Mein Auge betrachtete neugierig die prachtvolle Stadt, von der ich so glänzende Beschreibungen gelesen hatte, ich erblickte aber nichts als garstige hohe Hütten und lange, enge Straßen, Unglückliche mit Lumpen bedeckt, und einen Haufen halbnackter Kinder.

Ich sah eine zahlreiche Bevölkerung und ein großes Elend. Ich fragte meinen Vater, ob dies Paris wäre? er antwortete kalt, es sei nicht gerade das schönste Stadtviertel, doch würden wir morgen Zeit haben, ein anderes zu besuchen. Es war beinahe Nacht; Adelheid, so heißt meine Schwester, gieng in ihr Kloster, wo sie erwartet wurde.

Mein Vater und ich bezogen in der Nähe des Arsenals das Haus des Herrn Duportail, seines vertrautesten Freundes, von dem in diesen Memoiren öfter die Rede sein wird.

Am folgenden Tage hielt mein Vater sein Versprechen. Ein schnell dahinrollender Wagen brachte uns in einer Viertelstunde auf den Platz Ludwigs XV. Hier stiegen wir aus und ein prachtvolles Schauspiel blendete meine Augen. Zur Rechten die Seine, die an majestätischen Schlössern vorbeifloss, zur Linken herrliche Paläste, hinter mir entzückende Spaziergänge und vor mir ein prächtiger Garten. Wir giengen weiter, und ich erblickte den Palast der Könige. Meine Verwunderung lässt sich leichter vorstellen als beschreiben. Mit jedem Schritte zogen neue Gegenstände meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich bewunderte bald die kostbaren Moden, bald den eleganten Aufputz und die feinen Sitten. Auf einmal fiel mir wieder die Vorstadt St. Marceau ein, und mein Erstaunen wurde immer größer; ich konnte nicht begreifen, wie ein und derselbe Ort so ganz entgegengesetzte Dinge enthalten könne. Die Erfahrung hatte mich noch nicht gelehrt, dass die Paläste überall Hütten verbergen, dass der Luxus Elend erzeugt, und der unmäßige Reichthum einiger Weniger die bitterste Armut vieler Anderer zur Folge hat.

Wir brauchten mehrere Wochen, um die Merkwürdigkeiten von Paris zu besehen. Der Baron zeigte mir eine Menge im Auslande berühmter Monumente, auf welche die Besitzer fast gar keinen Wert legen. Diese Meisterwerke alle, die mich anfangs in Erstaunen gesetzt hatten, flößten mir bald nur noch kalte Bewunderung ein.

Wie sollte auch ein Jüngling von fünfzehn Jahren den Ruhm der Kunst und die Unsterblichkeit des Genius zu schätzen verstehen? Nur lebendige Schönheiten können das junge Herz erwärmen und in glühende Bewegung setzen.

Im Kloster meiner Schwester Adelheid sollte ich den anbetungswürdigen Gegenstand zum ersten Male erblicken, mit dem mein wahres Leben eigentlich erst beginnt. Mein Vater, der meine Schwester liebte, besuchte sie fast alle Tage im Sprechzimmer. Alle Mädchen von guter Erziehung wissen, dass man im Kloster gute Freundinnen hat; gar manche von unseren schönen Damen versichern, dass man sie selten wo anders findet, kurz meine Schwester, ein gemüthreiches Mädchen, hatte bald ihre Wahl getroffen. Eines Tages erzählte sie uns von Fräulein Sophie von Pontis mit großen Lobeserhebungen, die wir für übertrieben halten. Mein Vater war begierig, die Freundin seiner Tochter kennen zu lernen; eine süße Ahnung durchbebte mein Herz, als der Baron Adelheid bat, Fräulein von Pontis mitzubringen. Meine Schwester gieng und brachte ... eine vierzehnjährige Venus. Ich wollte vortreten, sie grüßen, sprechen; allein ich blieb mit starren Augen und herabhängenden Armen unbeweglich stehen.

Mein Vater bemerkte meine Verwirrung und hatte seine Freude daran.

»So machen Sie doch wenigstens Ihr Compliment,« sagte er. Meine Verlegenheit wurde immer größer und ich machte eine äußerst linkische Verbeugung.

»Mein Fräulein,« sagte jetzt der Baron, »ich versichere Sie, dass dieser junge Mensch einen Tanzmeister gehabt hat.«

Dies brachte mich vollends ganz außer Fassung. Mein Vater sagte Sophie viel Schönes, sie antwortete bescheiden und mit einer zarten Stimme, die im Innersten meines Herzens wiederhallte. Ich machte große Augen und hörte mit größter Aufmerksamkeit zu, doch war ich nicht im Stande, einige zusammenhängende Worte zu sprechen. Zum Abschied umarmte mein Vater seine Tochter und grüßte Fräulein von Pontis. Ich in einem Zustand gänzlicher Bewusstlosigkeit grüßte meine Schwester und wollte Sophie umarmen. Ihre alte Gouvernante aber, die mehr Geistesgegenwart hatte als ich, machte mich auf meinen Irrthum aufmerksam. Mein Vater sah mich erstaunt an, Sophie's Gesicht überzog eine liebenswürdige Röthe, doch flog ein leichtes Lächeln über ihre rosigen Lippen.

Wir kehrten zu Herrn Duportail zurück; man setzte sich zu Tisch; ich aß wie ein verliebter Jüngling von fünfzehn Jahren, d. h. schnell und lang. Nach dem Essen schützte ich eine leichte Unpässlichkeit vor und begab mich auf mein Zimmer. Hier konnte ich mich meinen Gedanken an Sophie und ihre Reize ungestört überlassen. »Welche Grazie, welche Schönheit!« rief ich aus; ihr reizendes Gesicht ist voll Geist, und ihr Geist, das bin ich gewiss, entspricht ihrem Gesicht. Ihre großen schwarzen Augen haben mir, ich weiß nicht was eingeflößt; ... gewiss ist es die Liebe! – ach, Sophie, das ist Liebe und ewige Liebe! – Als ich wieder zur Besinnung kam, erinnerte ich mich, in einigen Romanen von den wunderbaren Wirkungen eines unerwarteten Zusammentreffens gelesen zu haben; der erste Blick einer Schönen war hinreichend, die Gefühle eines zärtlichen Liebhabers zu fesseln, und die Geliebte selbst wurde durch einen einzigen sieghaften Zug im Gesicht des Freundes unwiderruflich hingerissen. Doch hatte ich auch gelesen, wie tiefsinnige Philosophen in langen Abhandlungen die Macht der Sympathie leugneten und dieselbe eine Chimäre nannten. »Sophie,« rief ich aus, »ich fühle deutlich, dass ich Dich liebe; aber ob Du wohl meine Verwirrung und meine Unruhe getheilt hast?« Die Art, wie ich mich betragen, war nicht sehr geeignet, Vertrauen auf meinen Geist einzuflößen; aber ihre schöne, anfangs zitternde Stimme, der sie nur mit Mühe nach und nach Festigkeit zu geben wusste, das sanfte Lächeln, womit sie meinen Irrthum zu billigen, und mich für meine Entbehrung trösten zu wollen schien ...!

Ich fasste Hoffnung, und es kam mir sehr wahrscheinlich vor, dass die Philosophie in Herzensangelegenheiten nichts verstehe, und in dieser Beziehung nur die Romane recht haben.

Ich hatte mich zufällig an das Fenster gestellt und sah von da aus den Baron und Herrn von Duportail mit großen Schritten im Zimmer auf und abgehen. Mein Vater sprach mit Feuer, sein Freund lächelte von Zeit zu Zeit; beide richteten hie und da ihre Augen auf mein Fenster, woraus ich schloss, dass ich der Gegenstand ihrer Unterhaltung sei, und mein Vater meine entstehende Leidenschaft vielleicht bemerkt hatte. Dieser Gedanke beunruhigte mich, mehr jedoch der an die Abreise meines Vaters, die ich nahe glaubte.

Meine Sophie verlassen, ohne zu wissen, wann ich das Glück werde haben können, sie wiederzusehen! mehr als hundert Meilen zwischen sie und mich stellen! ich konnte nicht ohne Zittern daran denken. Tausend traurige Betrachtungen beschäftigten mich den ganzen Abend; ich speiste mit schwerem Herzen zu Nacht; ich kannte die Freude der Liebe noch nicht und schon fühlte ich ihre tödtlichen Bekümmernisse.

Ein Theil der Nacht verlief in dieser Unruhe. Endlich schlief ich ein in der Hoffnung, meine Sophie morgen zu sehen; ihr Bild verschönerte meine Träume; die Liebe war meinen Wünschen hold und verlängerte den angenehmen Schlaf. Ich erwachte erst spät und erfuhr zu meinem großen Verdruss, man habe mich schlafen lassen, weil mein Vater früh ausgegangen sei und erst am Abend nach Hause kommen werde. Ich war untröstlich, meine Schwester nicht besuchen zu können, als Herr Duportail in mein Zimmer trat. Er überhäufte mich mit Artigkeiten und fragte, wie es mir in der Hauptstadt gefalle; ich versicherte ihm, dass ich nichts so sehr fürchte, als sie wieder zu verlassen. Er erklärte mir, ich solle mich deshalb nicht kümmern; mein Vater, dem alles daran gelegen sei, dem einzigen Erben seines Namens die sorgfältigste Erziehung zu geben und über das Glück seiner geliebten Tochter in der Nähe zu wachen, habe sich entschlossen, sich auf einige Jahre in Paris niederzulassen und da standesgemäß ein Haus zu führen. Diese angenehme Nachricht machte mir so große Freude, dass ich dieselbe nicht verhehlen konnte. Herr Duportail mäßigte jedoch diese Freude durch die Bemerkung, dass man mir zum guten Anfang einen tüchtigen Hofmeister und einen treuen Bedienten ausgesucht hatte. In diesem Augenblick kündigte man Herrn Person an.

Ein bleiches, ausgetrocknetes Männchen trat herein, dessen ganzes Aussehen den üblen Eindruck, den schon sein Titel auf mich gemacht hatte, vollkommen rechtfertigte. Er näherte sich mit ernster gesetzter Miene und begann in langsamem, süßlichem Tone: »Mein Herr, Ihr Gesicht ...« Zufrieden, so viel herausgebracht zu haben, hielt er inne und besann sich, was er weiter sagen sollte. »Ihr Gesicht entspricht Ihrer Person.« Ich beantwortete das schöne Compliment äußerst trocken. Da mir das Glück, meine Sophie zu sehen, versagt war, wusste ich mir nicht anders zu helfen, als indem ich mir das Vergnügen machte, an sie zu denken, und diesen Trost sollte mir jetzt der Herr Abbé rauben. Ich beschloss daher, ihn zur Verzweiflung zu bringen, und es gelang mir schon am ersten Tage ziemlich.

Abends bestätigte mir mein Vater in eigener Person die Veränderung, die er zu treffen gesonnen sei, und bedeutete mir zugleich, dass ich von nun an nicht ohne meinen Hofmeister auszugehen habe. Dies war für mich ein Wink. Es lag mir jedoch daran, ihn zu schonen und mich zu fügen. Meine Lage wurde kritisch und meine Liebe durch die Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellten, nur gesteigert. Ich hatte ziemlich gute Studien gemacht, und jetzt sollte ich einen eingebildeten Hofmeister zur Seite haben, unter dessen Anleitung ich sie zu vollenden hätte; glücklicherweise bemerkte ich schon nach der ersten Lection, dass der Schüler dem Lehrer zum mindesten gewachsen war.

»Herr Abbé,« sagte ich zum ihm, »Sie können mich gerade so viel lehren, als ich zu lernen Lust habe. Warum uns gegenseitig genieren? glauben Sie mir! lassen wir die Bücher, über denen wir ohne Nutzen erbleichen würden; wir wollen meine Schwester im Kloster besuchen, und wenn Fräulein Sophie von Pontis ins Sprechzimmer kommt, dann werden Sie sehen, wie hübsch sie ist.«

Der Abbé wollte anfangs böse werden, allein ich benutzte den Vortheil, den ich hatte, und sagte: »Sie lieben, wie ich sehe, den Spaziergang nicht; nun gut, so bleiben wir zu Hause! Allein noch diesen Abend erkläre ich dem Herrn Baron, dass ich ein außerordentliches Verlangen habe, in meinen Studien weiter zu kommen und dass Sie durchaus nicht der Mann sind, meine Geschäfte zu leiten; und wenn Sie leugnen, so verlange ich eine Prüfung, die Herr Duportail mit uns anstellen wird.« Das Gewicht dieser letzten Beweisgründe schlug den Abbé zu Boden; er machte eine abscheuliche Grimasse, nahm sein Stöckchen und seinen niedrigen Hut, und wir eilten ins Kloster. Adelheid kam ins Sprechzimmer, bloß von ihrer Gouvernante, die Manon hieß, begleitet. Dieses Mädchen war in den Diensten unserer Mutter gestanden und hatte uns erzogen; ich bat sie uns allein zu lassen, was sie gerne that.

Nun blieb noch der fatale Hofmeister übrig, der sich unmöglich auf die Seite schaffen ließ. Meine Schwester beklagte sich, dass man sie mehrere Tage lang nicht besucht habe; mit Erstaunen hörte ich, dass der Baron sie ebenfalls nicht besucht habe; wir dachten uns, seine neuen Pläne müssen ihm viel zu schaffen machen, dass er seine liebe Tochter nicht besucht und vernachlässigen konnte.

»Aber Sie, Faublas,« sagte Adelheid, »wer hat denn Sie diese ganze Zeit zurückgehalten? zürnen Sie Ihrer Schwester und ihrer lieben Freundin? dies wäre undankbar! Fräulein von Pontis ist ausgegangen; besuchen Sie uns morgen wieder, aber hüten Sie sich vor Missgriffen! Sophie will sich Mühe geben, Sie mit ihrer alten Gouvernante zu versöhnen, die Ihnen Ihre Zerstreutheit noch nicht verziehen hat.«

Ich sagte zu meiner Schwester, ich müsse von dem Herrn Abbé Urlaub erhalten, der sehr auf ununterbrochene Arbeit halte. Adelheid, welche das für baare Münze nahm, wandte sich jetzt an meinen ernsten Lehrer mit der dringendsten Bitte, worin ich in demselben Tone einstimmte. Er ließ sich den Ton meines Spottes gutmüthiger, als ich geglaubt hatte, gefallen, und bemerkte sogar, als ich von Heimgehen sprach, dass es noch sehr früh sei; eine Gefälligkeit, die mich gänzlich mit ihm aussöhnte.

Mein Vater erwartete mich bei Herrn von Duportail, um uns in ein sehr schönes Hôtel zu führen, das er in der Vorstadt Saint-Germain gemietet hatte. Ich wurde noch an demselben Abend in den Besitz des für mich bestimmten Appartements gesetzt. Dort traf ich Jasmin, den Bedienten, von dem man mir gesagt hatte. Es war ein großer hübscher Bursche, der mir auf den ersten Blick gefiel.

»Zürnen Sie Ihrer Schwester und ihrer Freundin? dies wäre undankbar!« hatte Adelheid zu mir gesagt. Ich wiederholte diesen Vorwurf hundertmal und deutete ihn auf die verschiedenste Art. Es war also von mir die Rede gewesen, man hatte mich erwartet, man hatte mich gewünscht. Wie lang erschien mir die Nacht, wie tödtlich lang der Morgen! welche Qual, die Stunden schlagen zu hören und das Erscheinen derjenigen, die uns mit dem geliebten Gegenstand zusammenführt, nicht beschleunigen zu können. Endlich kam der ersehnte Augenblick! Ich sah meine Schwester, ich sah Sophie, eben so schön, ja noch hübscher als das erste Mal. In ihrem einfachen Anzug lag etwas noch anziehenderes und verführerisches, das ich nicht zu bezeichnen vermag.

Bei diesem zweiten Besuche verschlangen meine Augen, so zu sagen, ihre Reize, und mehr als einmal begegneten sich unsere Blicke während dieser angenehmen Beschäftigung. Ich bewunderte ihre langen schwarzen Haare, die mit der feinen, blendend weißen Haut auffallend kontrastierten; ihre elegante, schlanke Taillie, die ich mit meinen zehn Fingern hätte umfassen können; die zauberische Grazie, die über ihrer ganzen Person ausgebreitet war; ihre niedlichen Füße, deren glückliche Vorbedeutung ich noch nicht kannte; besonders aber ihre Augen, diese schönen Augen, die zu sagen schienen: Ach! wie wollen wir diesen fesselnden jungen Mann lieben, der es verstehen wird, uns zu gefallen.

Ich machte dem Fräulein von Pontis ein Compliment, das ihr umsomehr schmeicheln musste, je leichter sie merken konnte, dass ich es nicht lange vorbereitet hatte. Die Unterhaltung drehte sich anfangs um Gegenstände von allgemeinem Interesse; Sophies Gouvernante mischte sich darein; ich sah, dass man die Alte schonte und dass sie gern plauderte; ich fand daher die abgeschmackten Erzählungen, womit sie uns übertäubte, entzückend.

Während sich Herr Person mit meiner Schwester unterhielt, richtete ich mit leiser Stimme hundert Fragen und hundert Complimente an meine Sophie. Die Alte erzählte ununterbrochen ihre schönen Geschichten, auf die wir nicht mehr hörten, bis sie endlich merkte, dass ihre vielen Worte in den Wind giengen. Dann stand sie plötzlich auf und sagte zu mir: »Mein Herr, Sie lassen mich eine Erzählung anfangen und hören sie nicht bis zu Ende; das ist sehr unartig.« Sophie tröstete mich beim Scheiden mit einem zärtlichen Blick.

Wir hörten einen Wagen rollen; der Baron trat herein. Adelheid beklagte sich über die Seltenheit seiner Besuche, worauf er in etwas gezwungenem Tone von den vielen Geschäften sprach, die eine Wohnorts-Veränderung mit sich führe. Er unterhielt sich mit uns einige Minuten mit befangener Miene, stand dann rasch auf mit einem merklichen Zeichen der Ungeduld und kehrte ins Hotel zurück.

Am Thore trafen mir eine glänzende Equipage. Der Schweizer sagte dem Baron, dass ein dicker schwarzer Herr ihn seit einer Stunde erwarte, und eine schöne Dame soeben angekommen sei. Mein Vater schien freudig überrascht und stieg eilig die Treppe hinauf; ich wollte ihm folgen, allein er bat mich, auf mein Zimmer zu gehen. Jasmin, den ich fragte, ob er den dicken schwarzen Herrn und die schöne Dame kenne, antwortete: »Nein.«

Begierig dieses Geheimnis zu enthüllen, und gereizt, dass es eines für mich war, stellte ich mich an einem Fenster meiner Wohnung, das auf die Straße gieng, auf die Lauer. Bald sah ich einen dicken schwarzen Herrn, der mit vergnügtem Gesichte sich mit sich selbst unterhielt. Eine Viertel Stunde darauf sah ich eine junge Dame sich leicht in den Wagen schwingen; der Baron wollte es ihr nachmachen und brach beinahe das Genick; ich erschrak, allein das schallende Gelächter aus dem Innern des Wagens beruhigte mich wieder vollkommen. Ich wunderte mich, dass mein Vater, der etwas aufbrausender Natur war, keine Empfindlichkeit zeigte; er stieg ruhig ein, sah zum Schlag heraus, erblickte mich am Fenster und schien etwas verlegen. Ich hörte, wie er den Bedienten den Befehl gab, mir zu sagen, dass er in Geschäften ausgefahren, und dass ich ihn beim Nachtessen nicht zu erwarten brauche. Ich theilte meine Neugierde Jasmin mit, der mein Vertrauen zu verdienen schien. Dieser fragte gelegentlich die Bedienten des Barons aus und noch an demselben Abend erfuhr ich, dass mein Vater die Theater besuche und die öffentlichen Blätter lese; er hatte in der Opera eine Maitresse, und durch die petites affiches einen Haushofmeister gefunden. Ich schloss daraus, mein Vater müsse sehr reich sein, da er diese Doppellast auf sich nehme; doch war dieser Gedanke nur vorübergehend. Ich liebte, ich hatte Hoffnung zu gefallen, – wer wird im Frühling seines Lebens nach irdischen Gütern fragen?

In kurzer Zeit machte ich meiner Schwester viele Besuche; Fräulein von Pontis begleitete sie fast immer ins Sprechzimmer. Die alte Gouvernante grollte nicht mehr, weil ich sie ihre Geschichten endigen ließ, und Adelheid ihr von Zeit zu Zeit kleine Geschenke machte. Herr Person war nicht mehr der strenge Hofmeister, er hatte nicht mehr die Manie, wie viele seiner Amtsgenossen, Sachen zu lehren, die sie selbst nicht verstehen. Er war wie so viele andere, ein kleiner rosenfarbener Pedant, mit stets sauber frisierten Haaren, in seinem Anzug bis zur Kleinigkeit pünktlich, in seiner Moral lax, bei den Damen entwickelte er eine gründliche Gelehrsamkeit und gab sich bei Männern das Ansehen, bloß die Oberfläche zu berühren. Ebenso sanft und gefällig, als er sich anfangs rauh und störrig gezeigt hatte, schien er keinen andern Wunsch zu haben, als den meinigen zuvorzukommen; und wenn ich von einem Besuch im Kloster sprach, so war er immer so schnell dazu bereit als ich.

Indes überließ sich mein Vater den rauschenden Vergnügungen der Hauptstadt und empfieng viele Besuche in seinem Hause. Das schöne Geschlecht schenkte mir viele Aufmerksamkeit, man gab mir Winke, die ich nicht verstand. Besonders eine alte Gräfin versuchte die ganze Macht ihrer verblichenen Reize an meinem jugendlichen Herzen; man stellte sich kindisch, man erlaubte sich reizende Frivolitäten: allein ich begriff die Bedeutung von all' dem nicht. Ich sah auf der ganzen Welt nichts als meine Sophie; eine unschuldige und reine Liebe gegen sie erfüllte mein Herz, und ich wusste noch nicht, dass es auch eine andere Liebe gäbe.

Seit mehr als vier Monaten sah ich meine Sophie fast täglich; die Gewohnheit, beisammen zu sein, war für uns ein Bedürfnis geworden. Bekanntlich erfindet die Liebe, so lange sie sich ihrer selbst nicht bewusst ist, oder sich zu verhehlen sucht, freundliche Namen für die weit süßeren Benennungen, die sie im Hintergrund sieht und erwartet.

So nannte Sophie mich ihren jungen Vetter, ich nannte Sophie mein schönes Bäschen. Unsere gegenseitige Zärtlichkeit schimmerte aus unseren geringsten Handlungen hervor, unsere Blicke drückten sie aus; mein Mund hatte das Geständnis noch nicht gewagt, und meine Schwester ahnte es in stillem Herzen. Den ersten Eindrücken der Natur blindlings mich überlassend, war ich weit entfernt, ihr geheimes Ziel zu errathen. Zufrieden mit Sophie zu sprechen, glücklich sie zu hören und ihre schöne Hand bisweilen zu küssen, wünschte ich noch etwas mehr, hätte jedoch nicht sagen können, was ich wünschte.

Doch der Augenblick nahte heran, wo die flatterhafte und galante Liebe die Finsternis, die mich umgab, zerstreuen und mich in ihre süßesten Geheimnisse einweihen sollte.


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