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Der Gedanke meines berühmten Freundes, den Sagenschatz der Ureinwohner seiner Heimat in einem Gedichte epischen Gepräges zusammenzufassen, hat sich in überraschender Weise glücklich und erfolgreich erwiesen. »Der Sang von Hiawatha« erschien zuerst im Oktober 1855, und ein halbes Jahr später, im April 1856, hatte die Bostoner Originalausgabe bereits dreißig Auflagen, jede von tausend Exemplaren, erlebt, der in England veranstalteten, ebenfalls mehrmals aufgelegten Editionen nicht zu gedenken. Die Wirkung des Gedichts nach allen Seiten hin war die außerordentlichste. Anerkennende und absprechende Beurteilungen überstürzten sich; das Metrum, fremd wie es dem angelsächsischen Ohre klang, gab Anlaß zu literarischen Fehden; Parodien (zwei davon ganze Bücher) und Nachahmungen legten Zeugnis ab für die der Dichtung innewohnende lebenweckende Kraft; Schoolcraft, der gelehrte Kenner des Indianertums, stellte die in seinen verschiedenen Werken zerstreuten indianischen Sagen in einem besondern, dem Dichter des »Hiawatha« gewidmeten Bande zusammen; The Myth of Hiawatha, and other oral Legends mythologic and allegoric, of the North American Indians, By Henry R. Schoolcraft, LL. D. Philadelphia: Lippincott. London: Trübner. 1856 von einem der ersten Schiffswerfte Bostons wurde ein prächtiger Dreidecker, die »Minnehaha«, vom Stapel gelassen; Vorleser und Vorleserinnen beeiferten sich, die weichen Verse und die harten Eigennamen des Gedichts vor zahlreichen und glänzenden Auditorien zur Geltung zu bringen: Künstler von Rang illustrierten Szenen aus »Hiawatha«; und die vorliegende ist bereits die zweite deutsche Übersetzung.
Ein gut Teil dieser mannigfachen Erfolge ist gewiß dem Umstände zuzuschreiben, daß das Gedicht neu war, – neu dem Stoffe und (für Amerika und England wenigstens) auch so gut wie neu der Form nach. Der Urwald und die Steppe waren bisher tot und seellos gewesen; die vor dem Gange der Zivilisation nach Westen flüchtende Rothaut, glaubte man, konnte sie nur mit den Rufen der Jagd oder des Krieges erfüllen; ein höheres Interesse schien sich den ursprünglichen Zuständen dieser »Völkernatur« nicht abgewinnen zu lassen. Das Poetische darin, das bei uns schon vor sechzig Jahren Schillern anwehte, und ihn zu seiner »Nadowessischen Totenklage« begeisterte, wurde von den nächsten Erben des roten Mannes nicht erkannt, oder gelangte wenigstens nicht zum künstlerischen Ausdruck bei ihnen. Was der Art bei Schoolcraft, Catlin und andern sich findet, war lange Zeit hindurch ein ungehobener Schatz. Da kam ein Dichter und bemächtigte sich des bereit liegenden rohen Stoffes, hauchte ihm eine Seele ein, machte ihn lebendig. Der Urwald war jetzt nicht mehr öde. Der Geist des Menschen, nicht auf Mord und Zerstörung bedacht, nein, still und sinnig schaffend und den Gang seiner Entwicklung in kindlichen Hervorbringungen, in Bild und Sage, wiederspiegelnd, trat uns aus ihm entgegen. So ist das Gedicht ein humanistisches und doch auch wieder ein spezifisch amerikanisches, – ebenso amerikanisch, wie die »Evangeline« des Dichters, jenes reizende Bild altkanadischen Kolonistenlebens. Longfellow, kann man wohl sagen, hat den Amerikanern, in der Poesie, Amerika erst entdeckt. Kein Wunder, daß sie dem Entdecker zujauchzten, und ihm dankbar in seine Wälder nachschritten!
Dann ließ man sich auch durch die Form des Gedichtes überraschen und gefangen nehmen. Man hielt sie für durchaus neu; man glaubte, der Dichter habe sie selbst geschaffen, – ein Irrtum, in den gelegentlich sogar die Kritik verfiel, und der durch die Kenner erst berichtigt werden mußte. Denn allerdings ist diese Form eine entlehnte, – wenn auch eine so passende, eine der Eigenartigkeit des Stoffes so ganz und gar entsprechende, daß eine neue, gleich gemäße, zu erfinden, selbst einem Meister der Sprache und des Verses, wie Longfellow, schwer gewesen sein möchte. Finden, in solchen Fällen, gilt manchmal ebensoviel als Erfinden. Longfellow, indem er seine amerikanischen Sagen, mit geringen Modifikationen, in das analoge Gewand der finnischen Runen kleidete, verfuhr mit einer Umsicht und einem Feingefühl, die wir bewundern müssen. Er hätte nun freilich den »Sang von Hiawatha«, statt eine indianische Edda, richtiger eine indianische Kalewala genannt; doch wollen wir deswegen nicht mit ihm streiten. Meine Gründe für die Behauptung, daß die Form des »Hiawatha« den Trochäen der finnischen Runen, und nicht etwa den trochäischen Dialogassonanzen der Spanier nachgebildet sei, habe ich bereits an einem andern Orte (Athênacum, No. 1470, vom 29. Dezember 1855) entwickelt. Ich trage dem dort Gesagten hier noch zweierlei nach; einmal: daß Longfellow, ohne die Alliteration der Runen durchzuführen, sich derselben dennoch gelegentlich mit Vorliebe bedient (worin ihm meine Übersetzung möglichst zu folgen bemüht ist;) – und dann: daß das zweite charakteristische Attribut der finnischen Volkspoesie, der (von Longfellow konsequent in Anwendung gebrachte) Parallelismus, sich merkwürdigerweise auch in den indianischen Idiomen angedeutet findet. (Vergl. Anmerkung 14.)
Ob sich der Dichter, außer in der Form, nicht auch zuweilen in der Sache durch sein Vorbild hat anregen lassen, möchte schwer zu entscheiden sein. Im ganzen, darf man wohl annehmen, hat er uns die indianische Tradition treu und ohne Beimischung fremder Elemente wiedergegeben; und auch da, wo er von seinem Eigenen dazutun mußte, um die lose umherflatternden Fäden zu einem einigen Ganzen zusammenzuschürzen, ist er mit Mäßigung und künstlerischem Takt zu Werke gegangen. Bedenklich dürfte in dieser Hinsicht nur der Schluß des Gedichtes scheinen, insofern er Sage und Geschichte fast allzu schroff und unvermittelt sich berühren läßt. Hiawatha, der Sohn des Westwindes, der Enkel der aus dem Monde herabgefallenen Nokomis, schüttelt plötzlich den französischen Missionären des siebzehnten Jahrhunderts die Hand! Wie ungleich mehr im Geist der Sage ist dasselbe kulturhistorische Moment, das Hereinbrechen des Christentums, in der Kalewala angedeutet!
In dem Pantheon der Weltpoesie, an dem wir seit Herder fort und fort bauen in unserer Literatur, durfte, meines Erachtens, der »Sang von Hiawatha« nicht fehlen. Ich entschloß mich drum gleich nach dem Erscheinen des Gedichts zu einer Übersetzung desselben, und sandte bereits im Dezember v.J. einige Bruchstücke meiner Verdeutschung (ungefähr ein Drittel des Ganzen) an das Morgenblatt ein. Im darauf folgenden Mai war die Übersetzung, wie sie jetzt vorliegt, druckfertig. Von den zahllosen Ausgaben des Originals ist ihr die erste, gleichzeitig mit dem Bostoner ersten Druck in England erschienene (London bei Bogue), zugrunde gelegt, doch sind verschiedene kleine Änderungen und Verbesserungen des Dichters in späteren Auflagen (sie betreffen zumeist nur die Quantität des einen oder andern indianischen Wortes) gewissenhaft berücksichtigt worden. Hoffentlich wird meine Arbeit auch nach der meines Vorgängers (die ich übrigens bis jetzt nur durch Buchhändleranzeigen kenne) sich Freunde zu erwerben wissen.
Wer sich durch das Gedicht zu einem nähern Studium der indianischen Sage hingezogen fühlen möchte, kann sich keinem bessern, wissenschaftlichen Führer anvertrauen, als I. G. Müllers trefflicher, selbst in Amerika als Autorität anerkannter »Geschichte der amerikanischen Urreligionen«. – Noch glaube ich bemerken zu müssen, daß die in der Dichtung vorkommenden indianischen Wörter, nach einer brieflichen Mitteilung Longfellows an mich, sämtlich der tschippewäischen Sprache angehören, mit Ausnahme lediglich einiger Eigennamen. So sind die Namen »Minnehaha« und »Unktahee« aus der Dacotahsprache; »Hiawatha« ist irokesisch.
London, Oktober 1856,
F. Freiligrath