Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Koralle wächst, die Palme wächst, aber der Mensch stirbt.«
Tahitanisches Sprichwort.
Ah Cho verstand kein Französisch. Er saß in dem überfüllten Gerichtssaal und hörte müde und der ganzen Geschichte satt auf den beständigen Strom heftiger französischer Ausbrüche, bald von dem einen, bald von dem anderen Beamten. Es war das reine Kauderwelsch für Ah Cho, und er wunderte sich über die dummen Franzosen, die so viel Zeit brauchten, um den Mörder Chung Ga's zu finden, und ihn doch nicht fanden. Die fünfhundert Kulis auf der Plantage wußten, daß Ah San der Mörder war, und Ah San war nicht einmal festgenommen. Allerdings hatten alle Kulis sich heimlich verabredet, daß sie kein Zeugnis gegeneinander ablegen wollten, andererseits aber hätten die Franzosen ja leicht herausfinden können, daß Ah San der Mörder war. Sie waren sehr dumm, diese Franzosen.
Ah Cho hatte nichts getan, was er zu fürchten hatte. Er hatte nichts mit dem Morde zu schaffen. Allerdings war er dabei gewesen, als er stattfand, und Schemmer, der Plantagenaufseher, war gleich hinterher in die Baracke gelaufen und hatte ihn dort mit vier oder fünf andern gefunden – aber wenn schon? Chung Ga hatte nur zwei Stiche bekommen. Da mußte der gesunde Menschenverstand einem doch sagen, daß fünf oder sechs Mann einem andern nicht zwei Dolchstiche beibringen konnten. Schlimmstenfalls, wenn jeder nur einmal gestochen hatte, waren es zwei Mann gewesen.
So dachte Ah Cho, während er mit seinen vier Kameraden das Gericht, als sie das Geschehene erklären sollten, anlog, daß es schwach wurde. Sie hätten den Lärm gehört, als der andere totgeschlagen wurde, und wären wie Schemmer zum Tatort gelaufen. Sie seien früher als Schemmer gekommen – das wäre alles. Allerdings hatte Schemmer erklärt, daß er Streit gehört hatte, als er zufällig vorbeikam und fünf Minuten draußen stehengeblieben war, daß er beim Eintritt die Arrestanten vorgefunden hatte, und daß sie nicht eben erst vor ihm gekommen sein konnten, weil er vor der einzigen Tür gestanden hatte, die in die Baracke führte. Aber wenn schon? Ah Cho und seine vier Mitgefangenen hatten feierlich erklärt, daß Schemmer sich geirrt hatte. Zuletzt mußte man sie wohl laufen lassen. Fünf Mann konnten doch nicht für zwei Messerstiche geköpft werden, übrigens hatte keiner von den fremden Teufeln gesehen, wie der Mord begangen wurde. Aber die Franzosen waren so dumm. In China – das wußte Ah Cho sehr gut – hätte die Obrigkeit Befehl erteilt, sie alle der Tortur zu unterwerfen, und auf die Weise wäre die Wahrheit zutage gekommen. Es war sehr leicht, die Wahrheit zu erfahren, wenn man die Tortur anwandte. Aber die Franzosen wandten keine Tortur an – diese Narren! Und deshalb erfuhren sie nie, wer Chung Ga getötet hatte.
Aber Ah Cho verstand nicht alles. Die englische Gesellschaft, der die Plantage gehörte, hatte mit großen Kosten fünfhundert Kulis importiert. Die Aktionäre verlangten Dividende, und die Gesellschaft hatte noch keine Dividende gegeben, weshalb die Gesellschaft nicht wünschte, daß die Arbeiter, die sie sich für so teures Geld angeschafft hatte, einander totschlügen. Und dabei waren die Franzosen so darauf versessen, den Chinagos zu erzählen, welch herrliches und ausgezeichnetes Ding das französische Gesetz war. Nichts war so gut, wie daß hin und wieder ein Exempel statuiert würde, und im übrigen, wozu sollte Neu-Caledonien sonst gebraucht werden, als um Menschen hinzuschicken, daß sie ihr Leben in Elend und Qual verbrachten und so dafür bezahlten, daß sie schwache Menschen waren.
Ah Cho verstand nicht alles. Er saß im Gerichtssaal und wartete auf den verzögerten Urteilsspruch, der ihn und seine Kameraden in Freiheit setzen sollte, so daß sie zur Plantage zurückkehrten und den Rest ihrer vertraglichen Zeit abarbeiteten. Dieses Urteil mußte bald fallen. Die Verhandlungen näherten sich ihrem Abschluß – das konnte er jedenfalls sehen. Es gab keine Zeugenaussagen, kein wirres Gerede mehr. Die französischen Teufel waren auch müde und warteten offenbar darauf, daß ein Urteil gefällt werden sollte. Während er wartete, gingen seine Gedanken zu dem Tage zurück, da er den Kontrakt unterschrieben und das Schiff bestiegen hatte, das ihn nach Tahiti bringen sollte. Es waren schwere Zeiten in einem Küstendorf gewesen, und als er sich zu fünfjähriger Arbeit auf der Südseeplantage für fünfzig mexikanische Cents täglich verpflichtete, hatte er gedacht, daß sein Glück gemacht sei. Es gab Männer in seinem Dorfe, die ein ganzes Jahr für zehn mexikanische Dollar arbeiten mußten, und es gab Frauen, die das ganze Jahr für fünf Dollar Fischernetze verfertigten, während bei den Ladenbesitzern Mädchen waren, die vier Dollar für ein Jahr Dienst bekamen. Und er sollte fünfzig Cents den Tag haben; für einen Tag, nur einen einzigen Tag, sollte er eine solche fürstliche Summe erhalten. Was schadete es da, wenn die Arbeit schwer war? Wenn die fünf Jahre vergangen waren, würde er heimkehren – das stand ja im Kontrakt – und dann brauchte er nie mehr zu arbeiten. Für den Rest seines Lebens würde er ein reicher Mann sein und sein eigenes Haus und eine Frau und Kinder haben, die heranwuchsen und ihn ehrten und achteten. Ja, und hinter seinem Hause wollte er ein Gärtchen haben, eine Stelle, wo er grübeln und ruhen konnte, und darin sollte ein winziger See mit Goldfischen sein, und in einigen von den Bäumen sollten Glocken hängen, die läuteten, wenn der Wind hindurchwehte, ja, und alles sollte von einer hohen Mauer umschlossen sein, so daß er in seinen Grübeleien und seiner Ruhe nicht gestört würde.
Nun ja, drei von den fünf Jahren hatte er jetzt abgedient. Kraft des ersparten Geldes war er schon ein reicher Mann geworden – jedenfalls für die Verhältnisse in seinem eigenen Lande – und jetzt trennten ihn nur noch zwei Jahre Baumwollplantage auf Tahiti von der Grübel- und Ruhezeit, die seiner wartete. Augenblicklich aber verlor er nur Geld, weil er das Unglück gehabt hatte, daß er bei der Ermordung Chung Gas zugegen gewesen war. Drei Wochen hatte er im Gefängnis gesessen, und jeder Tag in diesen drei Wochen hatte ihn fünfzig Cents gekostet. Jetzt aber sollte der Traum bald aufhören und er zu seiner Arbeit zurückkehren.
Ah Cho war zweiundzwanzig Jahre alt. Er war ein lustiger und gutmütiger Bursche, dem das Lächeln locker saß. Obwohl er, wie die meisten Asiaten, schlank war, war sein Gesicht kugelrund. Es war rund wie der Vollmond und strahlte sanfte Zufriedenheit und Wohlwollen aus, wie man es nicht oft bei seinen Landsleuten trifft. Und sein Aussehen log auch nicht. Er wurde nie schwierig und beteiligte sich nie an Streitereien. Er spielte nicht. Seine Seele war nicht von der harthändigen Art, die man haben muß, wenn man ein Spieler sein will. Er war zufrieden mit den kleinen Dingen und den stillen Freuden. Friede und Stille der Abendkühle nach der brennenden Mühe in den Baumwollfeldern bedeutete ihm unendliche Zufriedenheit. Er konnte stundenlang dasitzen und eine einzelne Blume anstarren, während er über die Mysterien und Rätsel des Daseins philosophierte. Ein blauer Reiher an einem winzigen halbmondförmigen Strande, silberschimmernde fliegende Fische und ein Sonnenuntergang in Perlmutter und Rosenfarben auf der andern Seite einer Lagune konnten ihn die lange Reihe mühseliger, beschwerlicher Tage und die schweren Peitschenhiebe Schemmers völlig vergessen lassen.
Schemmer, Karl Schemmer, war eine Bestie, eine brutale Bestie. Aber er war seinen Lohn wert. Den letzten Rest Arbeitskraft, den er aus den fünfhundert Sklaven herauspressen konnte, brachte er aus ihnen heraus, und Sklaven waren sie, bis die Zeit, auf die ihr Kontrakt lautete, abgelaufen war. Schemmer arbeitete schwer, um die Arbeitskraft aus den fünfhundert schwitzenden Körpern herauszupressen und in leichte, versandfertige Baumwollballen zu verwandeln. Es war seine alleinherrschende Brutalität, die ihn befähigte, diese Verwandlung zuwege zu bringen. Ferner half ihm getreulich ein schwerer Lederriemen, drei Zoll breit und einen Meter lang, mit dem er immer ritt, und der, wenn sich eine Gelegenheit bot, den gebeugten Rücken eines Kulis mit einem Knall wie ein Pistolenschuß treffen konnte. Diese Knalle ertönten häufig, wenn Schemmer durch das Feld mit den vielen Furchen ritt.
Zu Anfang des ersten Jahres ihres Kontraktes hatte Schemmer einmal einen Kuli mit einem einzigen Faustschlag getötet. Er hatte den Kopf des Mannes nicht gerade wie eine Eierschale zertrümmert, aber der Schlag war schwer genug gewesen, um zu vernichten, was darin war, und nach einwöchiger Krankheit war der Mann gestorben. Aber die Chinesen hatten sich nicht bei den französischen Teufeln beklagt, die über Tahiti herrschten. Es war ihre eigene Sache. Schemmer war ihr Problem. Sie mußten versuchen, seinem Zorn zu entgehen, wie sie die giftigen Tausendfüße mieden, die im Grase lauerten oder, wenn es regnete, nachts in ihre Schlafräume krochen. Die Chinagos – so wurden sie von den braunen, braunhäutigen Bewohnern der Insel genannt – sorgten schon dafür, das Mißfallen Schemmers nicht in allzu hohem Maße zu erregen, und das hieß mit anderen Worten Arbeit im vollsten Maße. Der Faustschlag war für die Gesellschaft Tausende von Dollars wert gewesen, und Schemmer hatte nie Unannehmlichkeiten dadurch gehabt.
Die Franzosen, die keine Ahnung vom Kolonisieren hatten und völlig hoffnungslos in ihren kindlichen Versuchen waren, die Hilfsquellen der Insel zu erschließen, waren begeistert, als sie die englische Gesellschaft vorwärtskommen sahen. Was kümmerten sie Schemmer und seine fürchterliche Faust? Der tote Chinago? Nun ja, es war ja nur ein Chinago. Außerdem war er an Sonnenstich gestorben – das ging ganz klar aus dem ärztlichen Befund hervor. Allerdings war in der ganzen Geschichte Tahitis noch nie jemand an Sonnenstich gestorben. Aber das war eben der Grund, daß der Tod dieses Chinagos ganz einzig dastand. Das sagte der Arzt in seiner Erklärung. Er war sehr ehrlich. Dividenden brauchte man – sonst gab es nur ein neues Fiasko nach der langen Reihe von Fiaskos, die es in der Geschichte Tahitis schon gegeben hatte.
Diese weißen Teufel waren nicht zu begreifen. Ah Cho dachte über ihre Unergründlichkeit nach, während er im Gerichtssaal auf das Urteil wartete. Man konnte nie wissen, was sich in ihren Köpfen regte. Er hatte allerlei von den weißen Teufeln gesehen. Die glichen einander alle – Offiziere und Matrosen auf den Schiffen, die französischen Behörden und die weißen Männer auf der Plantage – darunter auch Schemmer. Ihre Gedanken folgten alle geheimnisvollen Bahnen, die man unmöglich berechnen konnte. Sie wurden scheinbar ohne Anlaß zornig, und ihr Zorn war immer gefährlich. Bei solchen Gelegenheiten waren sie wie wilde Tiere. Sie quälten sich selber mit Kleinigkeiten, und zeitweise konnten sie sich ärger abschinden als jeder Chinago. Sie waren nicht mäßig wie die Chinagos; sie waren gierig, aßen gewaltsam und tranken noch gewaltsamer. Es war unmöglich zu wissen, wann etwas ihnen gefiel oder ihre höchste Erbitterung erregte. Was ihnen den einen Tag gefiel, konnte am nächsten Tage ihren heftigsten Zorn hervorrufen. Hinter den Augen der weißen Männer hing eine Gardine, so daß die Chinagos nicht sehen konnten, was sich in ihrem Kopfe regte. Und zu allem anderen kam die unheimliche Tüchtigkeit der weißen Teufel – ihre Fähigkeit, etwas auszurichten, die Dinge in Gang zu bringen, Ergebnisse zu erzielen, alles, was es auf Erden gab, ihrem Willen gefügig zu machen, selbst die Elemente zu beherrschen. Ja, die weißen Männer waren seltsame, wunderbare Wesen, und sie waren die reinen Teufel. Man brauchte nur Schemmer anzusehen.
Ah Cho konnte nicht verstehen, warum es so lange dauerte, bis das Urteil gesprochen wurde. Nicht einer der Angeklagten hatte Hand an Chung Ga gelegt. Ah San allein hatte ihn totgeschlagen. Ah San hatte es getan, er hatte ihm den Kopf zurückgezwungen, indem er ihn beim Zopf packte, und dann hatte er sich vorgebeugt und ihm das Messer mit der andern Hand von hinten in den Körper gestoßen. Zweimal hatte er es hineingestoßen. Wie Ah Cho jetzt mit geschlossenen Augen im Gerichtssaal saß, sah er immer wieder den Mord vor sich – den Wortstreit, die Schimpfworte, die hin- und herflogen, häßliche Hohnworte auf ehrwürdige Vorfahren, Flüche, die gegen ungeborene Generationen ausgestoßen wurden, Ah San's Sprung, den Griff in Chung Ga's Zopf, das Messer, das sich zweimal in sein Fleisch bohrte, die Tür, die gesprengt wurde, Schemmers Erscheinen, den verzweifelten Versuch, die Tür zu erreichen, Ah Sans Flucht, Schemmers blitzschnellen Riemen, der alle andern in eine Ecke trieb, und den Revolverschuß, den Schemmer abfeuerte, um Hilfe herbeizurufen. Ah Cho schauderte, als er alles das wieder erlebte. Der Riemen hatte seine Backe sehr hart getroffen und etwas von der Haut abgerissen. Schemmer hatte auf die Schrammen gezeigt, als er beim Zeugenverhör Ah Cho identifizierte. Jetzt war die Narbe nicht mehr sichtbar. Es war ein tüchtiger Schlag gewesen. Ein halber Zoll näher, und das Auge wäre ihm ausgeschlagen worden. Plötzlich aber vergaß Ah Cho die ganze Begebenheit, und er sah in Gedanken den Garten, den er zu Nachdenken und Ruhe haben wollte, wenn er in sein eigenes Land heimkehrte.
Mit völlig unbeweglichem Gesicht saß er da, während die Obrigkeit das Urteil sprach. Die Gesichter seiner vier Kameraden waren ebenfalls völlig unbeweglich, und sie blieben ebenso unbeweglich, als der Dolmetscher erklärte, daß alle fünf der Ermordung Chung Ga's schuldig befunden wären, und daß Ah Chow der Kopf abgehauen werden, Ah Cho zwanzig Jahre Gefängnis in Neu-Caledonien, Wong Li zwölf Jahre und Ah Tong zehn Jahre haben sollte. Es hatte keinen Zweck, sich darüber aufzuregen. Selbst Ah Chow blieb unbeweglich wie eine Mumie sitzen, obwohl es sein Kopf war, der abgehauen werden sollte. Der Richter sagte noch ein paar Worte, und der Dolmetscher erklärte, daß Ah Chow am besten zu identifizieren gewesen, da sein Gesicht von dem Riemen Schemmers am meisten mitgenommen war, und da einer von ihnen den Tod erleiden sollte, so könnte ebensogut er es sein. Da Ah Cho's Gesicht ebenfalls arg mitgenommen war, so war dies ein entscheidender Beweis dafür, daß er bei Verübung des Mordes zugegen gewesen, unzweifelhaft hatte er seinen Anteil daran gehabt, und das hatte ihm die zwanzig Jahre Zwangsarbeit eingebracht. Und so wurde jedem eine besondere Erklärung seiner Strafe gegeben – bis zu Ah Tong's zehn Jahren. Zum Schluß erklärten die Richter, daß die Chinagos gut täten, sich dies Urteil zu merken, denn sie müßten verstehen, daß dem Gesetz in Tahiti Genüge geschehe, und wenn der Himmel über ihnen einstürzen sollte.
Die fünf Chinagos wurden ins Gefängnis zurückgeführt. Sie waren weder besonders erstaunt, noch betrübt. Daß die Urteile unerwartet kamen, das waren sie ja durch ihren Umgang mit den weißen Teufeln gewöhnt. Von ihnen erwartete ein Chinago selten etwas anderes als das Unerwartete. Die schwere Strafe für ein Verbrechen, das sie nicht begangen hatten, war nicht merkwürdiger als die zahllosen anderen merkwürdigen Dinge, die die weißen Teufel taten. In den folgenden Wochen betrachtete Ah Cho oft mit milder Neugier Ah Chow. Sein Kopf sollte abgehauen werden auf der Guillotine, die jetzt auf der Plantage errichtet wurde. Er sollte nie das Greisenalter erreichen, nie in den Gärten des Friedens leben. Ah Cho philosophierte und grübelte über Leben und Tod. Was ihn selbst betraf, so war er nicht unruhig. Zwanzig Jahre waren nur zwanzig Jahre. Sein Garten war eben so lange hinausgeschoben – das war alles. Er war jung und hatte die Geduld Asiens in sich. Er konnte die zwanzig Jahre warten, und wenn die Zeit verstrichen war, hatte sich sein heißes Blut abgekühlt, und er eignete sich desto besser für den Garten und seine stillen Freuden. Er überlegte sich, wie er ihn nennen sollte – er sollte Garten des Morgenfriedens heißen. Dieser Einfall machte ihn einen ganzen Tag lang glücklich und inspirierte ihn zu einem moralischen Lehrsatz über die Größe der Geduld als Tugend – einem Lehrsatz, der namentlich Wong Li und Ah Tong ein großer Trost war. Ah Chow aber machte sich nichts aus dem Lehrsatz. Sein Kopf sollte im Laufe so kurzer Zeit vom Körper getrennt werden, daß er keine Geduld brauchte, um auf dies Ereignis zu warten. Er rauchte viel, aß viel und schlief viel, und der langsame Flug seiner Tage quälte ihn nicht.
Cruchot war Gendarm. Er hatte zwanzig Jahre in den Kolonien, von Nigeria und Senegal bis zur Südsee, Dienst getan, und zwanzig Jahre hatten seinen trägen Verstand nicht spürbar belebt. Er war ebenso schwerfällig, schlaff und dumm, wie er es gewesen, als er noch als Bauer in Südfrankreich lebte. Aber Disziplin und Furcht vor seinen Vorgesetzten kannte er, von Gott bis zum Gendarmeriesergeanten bestand der einzige Unterschied zwischen ihnen nur in dem Maß sklavischen Gehorsams, das er ihnen bezeigte. Tatsächlich nahm der Sergeant in seinem Bewußtsein einen hervorragenderen Platz ein als Gott – außer Sonntags, wenn Gottes Sprachrohr Gelegenheit hatte, sich auszusprechen. Gott war in der Regel sehr fern, während der Sergeant im allgemeinen in hohem Maße gegenwärtig war.
Cruchot war es, durch den der Oberrichter dem Gefängniswächter den Befehl übersandte, demgemäß besagter Beamter Ah Chow Cruchot ausliefern sollte. Nun hatte gerade der Oberrichter am Abend zuvor dem Kapitän und den Offizieren des französischen Kriegsschiffes ein Essen gegeben. Seine Hand zitterte, als er den Befehl ausschrieb, und seine Augen schmerzten ihn so schrecklich, daß er den Befehl nicht wieder durchlas, und im übrigen war es ja auch nur das Todesurteil eines Chinagos, das er ausfertigte. Deshalb merkte er nicht, daß er den letzten Buchstaben von Ah Chow's Namen ausgelassen hatte. Der Befehl lautete auf Ah Cho, und als Cruchot die Order dem Gefängniswächter zeigte, wurde ihm denn auch Ah Cho ausgeliefert. Cruchot setzte ihn neben sich auf den Kutschbock und fuhr los.
Ah Cho war entzückt, daß er wieder im Sonnenschein war. Er saß neben dem Gendarmen und strahlte. Er strahlte noch mehr, als er entdeckte, daß die Maulesel südwärts in der Richtung von Atimaono liefen. Schemmer hatte zweifellos nach ihm geschickt, um ihn wiederzubekommen. Schemmer wollte ihn arbeiten lassen. Schön, er wollte arbeiten. Schemmer sollte nie Grund zur Klage über ihn haben. Es war ein heißer Tag. Der Passat wehte nicht mehr. Die Maulesel schwitzten, Cruchot schwitzte, und Ah Cho schwitzte. Aber Ah Cho störte die Hitze am wenigsten. Er hatte in dieser Sonne drei Jahre lang auf der Plantage gearbeitet. Er strahlte und strahlte mit einer so unendlichen Gutmütigkeit, daß selbst Cruchot mit seinem trägen Verstand sich zu wundern begann.
»Du bist sehr komisch«, sagte er schließlich.
Ah Cho nickte und strahlte noch mehr. Im Gegensatz zum Richter sprach Cruchot kanakisch mit ihm, und das verstand Ah Cho wie alle Chinagos und wie alle ausländischen Teufel.
»Du lachst viel zu viel«, schalt Cruchot. »An einem solchen Tage sollte dein Herz voller Tränen sein.«
»Ich bin froh, daß ich aus dem Gefängnis heraus bin.«
»Ist das alles?« Der Gendarm zuckte die Achseln.
»Ist das nicht genug?« lautete die Antwort.
»Dann freust du dich nicht, daß dir der Kopf abgehauen werden soll?«
»Aber ich soll doch zurück nach Atimaono, um auf der Plantage für Schemmer zu arbeiten. Fährst du mich vielleicht nicht nach Atimaono?«
Cruchot strich sich nachdenklich seinen langen Schnurrbart. »Ach so«, sagte er schließlich und gab dem handigen Maultier einen kleinen Hieb mit der Peitsche, »da weißt du also nichts?«
»Was soll ich wissen?« Ein unbestimmtes Gefühl von Unruhe begann sich Ah Cho's zu bemächtigen. »Will Schemmer mich denn nicht mehr für sich arbeiten lassen?«
»Nein, von heute an nicht mehr.« Cruchot lachte herzlich. Das war ein guter Witz. »Sieh mal, du kannst ja von heute gar nicht mehr für ihn arbeiten. Ein Mann, dem der Kopf abgehauen ist, kann nicht arbeiten – nicht wahr?« Er stieß dem Chinago in die Seite und lachte.
Ah Cho blieb eine Weile ganz still sitzen, während die Maulesel in der Wärme weitertrabten. Dann sagte er: »Will Schemmer mir denn den Kopf abhauen?«
Cruchot nickte lachend.
»Das ist ein Irrtum«, sagte Ah Cho ernst. »Ich bin nicht der Chinago, dem der Kopf abgehauen werden soll. Ich bin Ah Cho. Der hochwürdige Richter hat bestimmt, daß ich zwanzig Jahre nach Neu-Caledonien kommen soll.«
Der Gendarm lachte. Das war wirklich ein ausgezeichneter Witz; dieser komische Chinago wollte die Guillotine narren. Die Maulesel trabten durch einen Kokospalmenhain und ein gutes Stück einen funkelnden See entlang, ehe Ah Cho wieder das Wort ergriff.
»Ich sage dir doch, daß ich nicht Ah Chow bin. Der hochwürdige Richter sagte nicht, daß mir der Kopf abgehauen werden sollte.«
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Cruchot mit der menschenfreundlichen Absicht, es seinem Gefangenen zu erleichtern. »Es ist nicht schwer, auf die Weise zu sterben.« Er knipste mit den Fingern. »Das geht ganz schnell – so! Es ist nicht so, wie wenn man an einem Strick hängt, fünf Minuten lang zappelt und Gesichter schneidet. Es ist, wie wenn man ein Huhn mit einer Axt erschlägt. Man haut ihm den Kopf ab – das ist alles. Und ebenso geht es mit einem Menschen. Puff – dann ist es vorbei. Es tut nicht weh. Man denkt nicht einmal daran, daß es weh tut. Man denkt nicht – der Kopf ist weg, ehe man denken kann. So möchte ich am liebsten sterben – schnell, ach, so schnell! Du hast Glück, daß du auf diese Weise stirbst. Du könntest ja aussätzig werden und langsam verfaulen, ein Finger auf einmal, heut ein Daumen und morgen der andere, ja, und dann die Zehen. Ich kannte einen Mann, der in heißem Wasser verbrüht wurde. Es dauerte zwei Tage, ehe er starb. Man konnte ihn einen ganzen Kilometer weit heulen hören. Aber du? Ach, es ist so leicht – chck – das Messer schneidet dir den Hals durch – so, und dann ist es vorbei. Vielleicht kitzelt das Messer ein bißchen. Wer weiß? Keiner, der auf die Art gestorben ist, ist je wiedergekommen und hat davon erzählen können.«
Er hielt das für einen glänzenden Witz, und eine halbe Minute lachte er krampfhaft. Seine Heiterkeit war teilweise vorgeschützt, aber er hielt es für seine Christenpflicht, den Chinago zu ermutigen.
»Aber ich sage dir doch, daß ich Ah Cho bin«, beharrte der andere. »Ich will nicht, daß mir der Kopf abgehauen wird.«
Cruchot blickte finster drein. Dieser Chinago war zu dumm.
»Ich bin nicht Ah Chow –«, begann Ah Cho.
»Jetzt ist es genug«, fiel der Gendarm ihm ins Wort. Er blies sich auf und versuchte recht grimmig auszusehen.
»Ich sage dir, daß ich nicht –«, begann Ah Cho wieder.
»Halt's Maul!« brüllte Cruchot.
Dann fuhren sie eine Zeitlang schweigend weiter. Es waren zwanzig Meilen von Papeete nach Atimaono, und mehr als die Hälfte der Strecke wurde zurückgelegt, ehe der Chinago von neuem etwas zu sagen versuchte.
»Ich sah dich bei Gericht; als der hochwürdige Richter herauszufinden versuchte, wer von uns schuldig war«, begann er. »Gut! Und kannst du dich Ah Chow's erinnern, dem der Kopf abgehauen werden sollte – kannst du dich erinnern, daß er – Ah Chow – ein großer Mann war? Sieh mich an!
Er stand plötzlich auf und Cruchot sah, daß er ein kleiner Mann war. Und ebenso plötzlich tauchte in der Erinnerung Cruchots das Bild Ah Chows auf, und in diesem Bilde war Ah Chow ein großer Mann. Für den Gendarmen sahen alle Chinagos gleich aus. Ein Gesicht war wie das andere. Aber er konnte einen großen Mann von einem kleinen unterscheiden, und er wußte, daß es der falsche Mann war, der neben ihm auf dem Wagen saß. Er zog hastig die Zügel an, daß die Deichsel vorschoß und das Geschirr hochschob.
»Du kannst selbst sehen, daß es ein Irrtum ist«, sagte Ah Cho mit freundlichem Lächeln.
Aber Cruchot dachte nach. Er bedauerte schon, daß er angehalten hatte. Er wußte nichts von dem Fehler, den der Oberrichter begangen hatte, und nichts erleichterte ihm das Verständnis, er wußte nur, daß ihm dieser Chinago ausgeliefert war mit dem Bescheid, ihn nach Atimaono zu fahren, und daß es seine Pflicht war, ihn nach Atimaono zu fahren. Und was schon, wenn es der falsche Mann war und sie ihm den Kopf abhauten. Alles in allem war es ja nur ein Chinago, was war der wert? Und im übrigen war es ja vielleicht gar kein Irrtum. Er wußte nicht, was sich in den Köpfen seiner hohen Vorgesetzten regte. Sie wußten selbst am besten, was sie taten. Wer war er, daß er versuchen sollte, für sie zu denken? Einmal, vor langer Zeit, hatte er versucht, für sie zu denken, und der Sergeant hatte gesagt: »Cruchot, du bist ein Ochse! Je eher du dir das klar machst, desto leichter wirst du es zu etwas bringen. Du sollst nicht denken; du sollst gehorchen und das Denken deinen Vorgesetzten überlassen.« Er wurde ganz klein, wenn er hieran dachte. Und wenn er jetzt nach Papeete zurückkehrte, verzögerte er die Hinrichtung in Atimaono, und wenn er zu Unrecht umkehrte, bekam er einen Rüffel von dem Sergeanten, der auf den Gefangenen wartete. Und schließlich bekam er auch noch einen Rüffel in Papeete.
Er gab den Mauleseln einen Peitschenhieb und fuhr weiter. Er sah auf die Uhr. Er kam schon eine halbe Stunde zu spät, und der Sergeant war sicher zornig. Er fuhr schneller zu. Je mehr Ah Cho sich bemühte, ihm den Irrtum zu erklären, desto eigensinniger wurde Cruchot. Das Bewußtsein, daß er den falschen Mann im Wagen hatte, verbesserte seine Laune nicht. Das Bewußtsein, daß es nicht seine Schuld war, bestärkte ihn nur in dem Glauben, daß das Falsche, das er tat, richtig war. Und lieber, als sich den Zorn des Sergeanten zuziehen, hätte er ruhig ein Dutzend falsche Chinagos zum Schafott geführt.
Ah Cho konnte nichts tun als den Mund halten, nachdem der Gendarm ihn mit der Peitsche an den Kopf geschlagen und ihm mit lauter Stimme Schweigen geboten hatte. Die lange Fahrt wurde schweigend fortgesetzt. Ah Cho grübelte über die Eigenheiten der fremden Völker. Es war unmöglich, ihnen etwas zu erklären. Was sie jetzt mit ihm taten, entsprach ja nur allem andern, was sie taten. Zuerst erklärten sie fünf unschuldige Männer für schuldig, und dann schlugen sie dem Manne den Kopf ab, den sie selbst in ihrer dicken Unwissenheit nur zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt hatten. Und er konnte nichts tun. Er mußte stillsitzen und hinnehmen, was diese Herren der Schöpfung ihm zuteilten. Einmal wurde er von panischem Schrecken gepackt, und der Schweiß auf seinem Leibe wurde kalt, aber er überwand diesen Schrecken wieder. Er versuchte sich mit seinem Schicksal auszusöhnen, indem er sich an Bruchstücke aus »Yin Chih Wen« (»Der stille Weg«) erinnerte und sie sich wiederholte, aber statt dessen sah er immer wieder seinen zu Ruhe und Nachsinnen eingerichteten Traumgarten vor sich. Das störte ihn, bis er sich dem Traume ganz überließ, in seinem Garten saß und auf die Glocken in den Bäumen lauschte. Und lachte! Wie er so träumend dasaß, war er imstande, sich der Verse aus dem »Stillen Weg« zu erinnern und sie zu wiederholen.
Und so verging die Zeit sehr angenehm, bis sie Atimaono erreichten und die Maulesel an den Fuß des Schafotts trabten, wo der ungeduldige Sergeant Schutz vor der Sonne gesucht hatte. Ah Cho wurde schleunigst die Leiter hinaufgeführt. Auf der einen Seite des Schafotts sah er alle Kulis der Plantage versammelt. Schemmer war zu dem Ergebnis gelangt, daß die Begebenheit eine nützliche Lehre sein würde, und deshalb ließ er die Kulis vom Felde holen und zwang sie, zugegen zu sein. Als sie Ah Cho erblickten, begannen sie leise zu schwatzen. Sie waren sich ganz klar über den Irrtum, behielten aber ihr Wissen für sich. Die unerklärlichen weißen Teufel hatten zweifellos den Sinn gewechselt. Statt den einen unschuldigen Mann totzuschlagen, schlugen sie jetzt einen andern tot. Ah Chow oder Ah Cho – was bedeutete es, ob es der eine oder der andere war? Die weißen Hunde konnten sie ebensowenig verstehen, wie sie die weißen Hunde. Ah Cho sollte der Kopf abgehauen werden, sie aber sollten, wenn die zwei Jahre, die an ihrer Sklavenzeit noch fehlten, um waren, nach China zurückkehren.
Schemmer hatte selbst die Guillotine gebaut. Er war ein geschickter Mann, und wenn er auch nie eine Guillotine gesehen hatte, so hatten die französischen Beamten ihm doch das Prinzip erklärt. Auf seinen Rat ließen sie die Hinrichtung in Atimaono statt in Papeete stattfinden. Der Schauplatz des Verbrechens, hatte Schemmer behauptet, sei der beste Ort, um den Verbrecher zu strafen, und außerdem würde es eine nützliche Wirkung auf die fünfhundert Chinagos ausüben, die sich auf der Plantage befanden. Schemmer hatte sich auch erboten, Henkerdienste zu verrichten, und in dieser Eigenschaft befand er sich jetzt auf dem Schafott, wo er gerade mit dem von ihm verfertigten Gerät experimentierte. Ein Bananenstamm von Dicke und Festigkeit eines Menschenhalses lag unter der Guillotine. Ah Cho starrte ihn beklommen an. Schemmer drehte eine kleine Kurbel und wand die Klinge hoch bis zu dem kleinen Ladebaum, den er oben angebracht hatte. Ein Ruck an einem festen Strick, und die Klinge fiel blitzschnell herab und schnitt den Bananenstamm hübsch sauber durch.
»Wie wird es?« fragte der Sergeant, der jetzt auf das Schafott gekommen war.
»Großartig«, lautete die triumphierende Antwort Schemmers. »Passen Sie auf.«
Er drehte wieder die Kurbel, die die Klinge hochwand, zog an dem Strick, und die Klinge fiel krachend auf das weiche Holz herab. Diesmal wurde der Stamm aber nur zu zwei Dritteln durchgeschnitten.
Der Sergeant sah sehr gekränkt aus. »Das geht nicht«, sagte er.
Schemmer wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es ist nicht schwer genug«, triumphierte er. Dann trat er an den Rand des Schafotts und rief dem Schmied zu, daß er ihm ein Stück Eisen von fünfundzwanzig Pfund beschaffen sollte. Während er sich über die breite Oberkante der Klinge beugte, um das Eisen zu befestigen, sah Ah Cho den Sergeanten an. Jetzt hatte er eine Chance.
»Der hochwürdige Richter sagte, daß Ah Chow der Kopf abgehauen werden sollte.«
Der Sergeant nickte ungeduldig. Er dachte an den fünfzehn Meilen langen Ritt, den er noch am selben Nachmittag nach der Windseite der Insel vor sich hatte, und er dachte an Berthe, die hübsche halbblütige Tochter des Perlenhändlers Lafière, die nach dem Ritt auf ihn wartete.
»Nun ja, ich bin nicht Ah Chow, ich bin Ah Cho. Der hochwürdige Gefängniswächter hat sich geirrt. Ah Chow ist ein großer Mann, und du siehst selbst, daß ich ein kleiner Mann bin.«
Der Sergeant sah ihn hastig an und wurde sich über den Irrtum klar.
»Schemmer!« rief er gebieterisch. »Kommen Sie mal her!«
Schemmer brummte, blieb aber bei seiner Arbeit, bis das Eisenstück gut festsaß. »Ist Ihr Chinago parat?« fragte er.
»Sehen Sie ihn sich an«, lautete die Antwort. »Ist das der Chinago?«
Schemmer war überrascht. Er fluchte ein paar Sekunden lang mächtig und besah dann das Ding, das er mit eigenen Händen verfertigt hatte, und das er so gern in Gebrauch nehmen wollte. »Hören Sie«, sagte er schließlich, »wir können die Vorstellung nicht aufschieben. Ich habe schon drei Arbeitsstunden von jedem der fünfhundert Chinagos verloren. Ich kann es mir nicht noch einmal leisten. Lassen wir uns mit der Geschichte fertig werden – wie dem auch sei. Es ist ja nur ein Chinago.«
Der Sergeant dachte an den langen Ritt, der seiner wartete, und an die Tochter des Perlenhändlers, und er konnte nicht mit sich einig werden.
»Die Schuld kriegt Cruchot – wenn es überhaupt entdeckt wird«, fuhr Schemmer fort. »Aber es ist nicht viel Aussicht, daß es entdeckt wird. Ah Chow wird schon nicht aus der Schule plaudern.«
»Cruchots Schuld kann es jedenfalls nicht sein«, sagte der Sergeant. »Der Gefängniswächter muß sich geirrt haben.«
»Also los. Man kann uns nichts vorwerfen. Wer kann einen Chinago vom andern unterscheiden? Wir können sagen, daß wir einfach unsere Instruktionen mit dem Chinago befolgt haben, der uns ausgehändigt wurde. Außerdem kann ich wirklich nicht all die Kulis ihre Arbeit noch einmal deswegen versäumen lassen.«
Sie sprachen Französisch, und obwohl Ah Cho nicht ein Wort von dem verstand, was sie sagten, wußte er doch, daß es sein Schicksal war, das hier entschieden wurde. Er wußte auch, daß die Entscheidung bei dem Sergeanten lag, und seine Augen wichen nicht von den Lippen dieses Beamten.
»Es ist gut!« erklärte der Sergeant. »Also los. Es ist ja nur ein Chinago.«
»Ich will es noch einmal versuchen, um ganz sicher zu gehen.« Schemmer schob den Bananenstamm unter das Messer, das er wieder hochzog.
Ah Cho versuchte sich verschiedene Lehrsätze aus »Der stille Weg« ins Gedächtnis zu rufen. »Leben in Frieden und Verständnis« war eines der Dinge, die ihm einfielen; aber das paßte nicht für die Gelegenheit. Er sollte ja nicht leben. Er sollte sterben. Nein, das ging nicht. »Verzeihe Bosheit« – aber hier war ja keine Bosheit zu verzeihen. Schemmer und die andern taten es ohne Bosheit. Für sie war es nur ein Stück Arbeit, das verrichtet werden sollte, wie wenn sie die Dschungel rodeten, Wasser abdämmten und Baumwolle pflanzten. Schemmer zog am Strick, und »Der stille Weg« entglitt den Gedanken Ah Cho's. Das Messer fiel mit einem dumpfen Geräusch und schnitt den Holzstamm glatt durch.
»Herrlich!« rief der Sergeant. Er zündete sich gerade eine Zigarette an, hielt aber mitten darin inne. »Herrlich, lieber Freund!«
Schemmer freute sich sehr über dieses Lob.
»Also komm, Ah Chow«, sagte er auf Tahitianisch.
»Aber ich bin nicht Ah Chow –«, begann Ah Cho.
»Halt den Mund!« lautete die Antwort. »Wenn du noch ein einziges Wort sagst, so zerschlage ich dir den Kopf.«
Der Verwalter drohte ihm mit der gewaltigen Faust, und er schwieg. Was half das Protestieren? Die fremden Teufel setzten doch immer ihren Willen durch. Er ließ sich an die senkrechte Planke binden, die von derselben Länge wie sein Körper war. Schemmer straffte die Riemen, daß sie ihm ins Fleisch schnitten, und das schmerzte. Aber er beklagte sich nicht. Es sollte ja nicht lange weh tun. Er fühlte, wie das Brett vornüberwippte, und schloß die Augen. In diesem Augenblick sah er den letzten Schimmer seines Gartens, der ihm zu Sinnieren und Ruhe hätte sein sollen. Es kam ihm vor, als säße er in dem Garten. Ein kühler Wind wehte, und aus den Bäumen erklang leises Glockengeläute. Die Vögel stießen auch schläfrige Laute aus, und von jenseits der hohen Mauer hörte er den leisen Lärm von dem Leben im Dorfe.
Dann fühlte er, daß die Planke in die richtige Lage gerückt war, und aus Muskeldruck und Muskelspannung erkannte er, daß er auf dem Rücken lag. Er öffnete die Augen. Gerade über sich sah er das Messer, das im Sonnenlicht funkelte. Er sah das Stück Eisen, das ihm Gewicht verlieh, und er bemerkte, daß einer von Schemmers Knoten sich gelöst hatte. Dann hörte er einen scharfen Kommandoruf vom Sergeanten. Ah Cho schloß schnell die Augen. Er wollte das Messer nicht fallen sehen. Aber er fühlte es – in einem einzigen, großen, blitzschnellen Augenblick. Und in diesem Augenblick erinnerte er sich an Cruchot und an das, was Cruchot gesagt hatte. Aber Cruchot hatte nicht recht gehabt. Das Messer kitzelte nicht. So viel wußte er, ehe er aufhörte, etwas zu wissen.