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Er schlenderte zur Ecke und guckte die Seitenstraße auf und nieder, konnte aber nichts sehen als Lichtoasen, die die Straßenlaternen über die Kreuzungen ergossen. Dann schlenderte er den Weg, den er gekommen, wieder zurück. Er war wie der Schatten eines Menschen, der lautlos und mit so wenig Bewegungen wie möglich durch das Halbdunkel glitt. Dazu war er wachsam wie ein wildes Tier in der Dschungel, dessen Sinne bis zum äußersten angespannt sind, um alle Eindrücke aufzunehmen. Die Bewegung eines andern im Dunkel um ihn her hätten notgedrungen noch schattenhafter sein müssen, um seiner Aufmerksamkeit zu entgehen.
Während aber seine Sinne ihn jederzeit über die Situation aufklärten, gab ihm auch sein Unterbewußtsein ein Gefühl von der Atmosphäre um ihn her. Er wußte, daß Kinder in dem Hause waren, vor dem er stehengeblieben war. Aber dieses Wissen war kraft einer ungewollten Sinnenanspannung zu ihm gekommen. Er war sich dieses Wissens gar nicht einmal bewußt, so unbestimmbar war der Eindruck. Und doch würde er, wäre etwas eingetroffen, das ihn Stellung zu dem Hause hätte nehmen lassen, von der Voraussetzung aus gehandelt haben, daß Kinder darin waren. Er war sich selber nicht klar über alles, was er von dieser Nachbarschaft wußte. Ebenso wußte er, daß von den Schritten, die aus der Seitenstraße erklangen, keine Gefahr drohte. Ehe er noch den Gehenden sah, wußte er, daß es ein verspäteter Fußgänger war, der heimeilte. Dann kam an der Straßenkreuzung ein Mann zum Vorschein und verschwand die Straße hinauf. Der andere, der auf der Wacht stand, sah, daß es für einen Augenblick in einem der Fenster eines Eckhauses hell wurde, und als das Licht verschwand, wußte er, daß ein Streichholz ausgegangen war. Es war ein bewußtes Erkennen alltäglicher Phänomene, und durch sein Hirn flog der Gedanke: »Er wollte sehen, wie spät es war.« In einem andern Hause war noch ein einzelnes Fenster erleuchtet. Es war ein stetiges, schwachbrennendes Licht, und er hatte das Gefühl, daß es ein Krankenzimmer sein müßte.
Aber ihn interessierte namentlich ein Haus auf der andern Seite der Straße, mitten zwischen zwei Kreuzungen, und dieses Haus war es, dem er vor allem seine Aufmerksamkeit widmete. Einerlei, wohin er sah, oder wohin er ging, immer wieder kehrte sein Blick darauf zurück. Außer, daß ein Fenster über dem Portal offen stand, war nichts Ungewöhnliches an dem Hause. Niemand ging heraus oder hinein. Es geschah nichts. Es gab weder ein erleuchtetes Fenster, noch erschien und verschwand ein Licht in den Fenstern. Und doch war es dieses Haus, dem die ganze Zeit seine Aufmerksamkeit galt, so oft er auch zu erraten versucht hatte, wie es sich mit der übrigen Nachbarschaft verhielt.
Trotz seinem Gefühl für die Umgebung war er nicht sicher. Er war sich höchstens der Gefahren bewußt, die seine Situation bot. Hatten auch die Schritte des zufälligen Fußgängers keine Wirkung auf ihn ausgeübt, so war er doch so angespannt, empfindsam und schreckhaft wie ein furchtsamer Hirsch. Er war sich bewußt, daß es andere denkende Wesen geben konnte, die im Dunkel umherschlichen – denkende Wesen, die ihm in Bewegungen, in Auffassung und Ahnungsvermögen glichen. Weit unten auf der Straße sah er den Schimmer von etwas sich Bewegendem und wußte, daß dies kein verspäteter Bürger auf dem Wege nach seinem Heim war, sondern eine drohende Gefahr. Er pfiff zweimal nach dem Haus auf der anderen Seite hinüber und zog sich dann um die Ecke zurück. Hier machte er halt und sah sich vorsichtig um. Beruhigt guckte er um die Ecke und studierte das sich bewegende Wesen, das immer näher kam. Er hatte es erraten. Es war ein Schutzmann.
Der Mann ging die Querstraße bis zur nächsten Ecke hinab, und in ihrem Schutz beobachtete er die Ecke, die er soeben verlassen hatte. Er sah den Schutzmann vorbeigehen die Straße hinauf. Der Mann folgte dem Schutzmann, und als er ihn weitergehen sah, kehrte er wieder dorthin zurück, wo er hergekommen war. Er pfiff noch einmal nach dem Haus auf der anderen Seite der Straße, und nach einer Weile noch einmal. Jetzt klang das Pfeifen beruhigend, wie vorher der Doppelpfiff etwas Warnendes an sich gehabt hatte. Er sah den Umriß einer dunklen Gestalt über dem Portal auftauchen und langsam an einem Pfeiler heruntergleiten. Dann kam sie die Treppe herab und ging durch die kleine eiserne Pforte auf den Bürgersteig, wo sie die Form einer Männergestalt annahm. Der Mann, der Wache hielt, bewegte sich in derselben Richtung, aber auf der andern Straßenseite, bis beide die Ecke erreichten; dann ging er zu dem andern hinüber. Er sah ganz klein aus neben dem Mann, den er ansprach.
»Na, wie ging es, Matt?« fragte er.
Der andere antwortete mit einem unartikulierten Brummen und ging schweigend ein paar Schritte weiter.
»Ja, ich glaube, ich kriegte, was ich wollte«, sagte er dann.
Jim lachte laut in der Dunkelheit und wartete auf weitere Erklärungen. Sie passierten eine Straßenkreuzung nach der andern, und er wurde ungeduldig.
»Na, wie ist die Sore?« fragte er. »Du kannst mir doch sagen, was dabei herauskam.«
»Ich hatte zu viel zu denken, um richtig nachzusehen, aber es ist ein fetter Fang. Das will ich dir nur sagen. Es ist ein fetter Fang. Ich wage gar nicht zu denken, wieviel. Warte, bis wir heimkommen.«
Jim musterte ihn scharf im Schein der Straßenlaterne an der nächsten Kreuzung und sah, daß sein Gesichtsausdruck etwas barscher als gewöhnlich war, und daß er seinen linken Arm unnatürlich hielt.
»Was ist mit deinem Arm los?« fragte er.
»Das kleine Biest hat mich gebissen. Ich will nur hoffen, daß ich keine Hundetollheit kriege. Man kann manchmal Hundetollheit von Menschenbissen kriegen – nicht wahr?«
»So, wehrte er sich?« fragte Jim heiter.
Der andere brummte.
»Es ist eine verfluchte Arbeit, etwas aus dir herauszukriegen«, rief Jim gereizt. »Nun erzähl endlich, wie es ging. Es kostet doch nichts, wenn du ordentlich Bescheid gibst.«
»Ja, ich hab ein bißchen hart zugepackt«, lautete die Antwort. Und dann fügte er erklärend hinzu:
»Er wachte nämlich auf, will ich dir sagen.«
»Das hast du gut gemacht. Ich habe nicht einen Laut gehört.«
»Jim«, sagte der andere ernst. »Es gilt meinen Hals. Er ist fertig, verstehst du. Ich mußte ihn kalt machen – er wachte auf. Wir beide müssen für eine Weile verduften.«
Jim pfiff leise und verständnisvoll.
»Hast du mich pfeifen hören?« fragte er plötzlich.
»Ja, gewiß! Ich war gerade fertig – und wollte
gehen.«
»Ein Greifer kam. Aber er ahnte nichts. Er trottete in der Dunkelheit weiter. Da kam ich wieder und pfiff. Warum dauerte es da noch so lange, bis du kamst?«
»Ich wartete, bis ich sicher war«, erklärte Matt. »Und ich war mächtig froh, als ich dich wieder pfeifen hörte. Das Warten wurde mir sauer genug. Ich dachte und dachte nur – oh, an alle möglichen Dinge. Es ist merkwürdig, was einem alles so einfallen kann. Und dann lief eine verdammte Katze immer herum und machte einen Höllenlärm.«
»Und die Sore ist grannig, sagst du«, eiferte Jim plötzlich mit Begeisterung in der Stimme. »Ich hab es dir gesagt, Jim, die Sore ist grannig. Ich bin mächtig gespannt, sie mir ein bißchen näher anzusehen.«
Die beiden Männer gingen unwillkürlich schneller, ohne deshalb aber geringere Vorsicht zu zeigen. Sie wechselten ein paarmal die Richtung, um einem Schutzmann auszuweichen, und überzeugten sich sorgfältig, daß niemand sie sah, als sie in dem finsteren Korridor eines billigen Miethauses verschwanden.
Erst in ihrem eigenen Zimmer in der obersten Etage fanden sie den Mut, ein Streichholz anzureißen. Während Jim eine Lampe anzündete, verschloß Matt die Tür und riegelte ab. Als er sich umwandte, sah er, daß sein Kamerad mit sichtlicher Ungeduld auf ihn wartete. Matt lächelte über den Eifer des andern.
»Das ist eine sehr gute Blende«, sagte er, indem er eine kleine elektrische Taschenlaterne herauszog und sie untersuchte. »Aber wir müssen eine neue Batterie einsetzen. Die wird schon sehr schwach. Ein paarmal glaubte ich schon, ich müßte im Dunkeln dastehen. Merkwürdig eingerichtet war das Haus. Ich hätte mich fast geirrt. Sein Zimmer lag links, und das verwirrte mich etwas.«
»Ich sagte dir doch, daß es links läge«, fiel Jim ihm ins Wort.
»Du sagtest, es läge rechts«, fuhr Matt fort. »Ich muß wohl noch wissen, was du mir erzähltest, und hier ist die Karte, die du zeichnetest.«
Er suchte in seiner Westentasche und zog ein Stück zusammengefaltetes Papier heraus. Er breitete es aus, und Jim beugte sich darüber.
»Ja, da hab ich einen Fehler gemacht«, gab er zu.
»Gewiß! Und das machte mir gleich Kopfzerbrechen.«
»Aber jetzt ist es ja einerlei«, rief Jim. »Laß sehen, was du hast.«
»Das ist nicht einerlei«, antwortete Matt. »Das ist nicht einerlei ... für mich wenigstens. Ich laufe das ganze Risiko. Ich stecke meinen Kopf in die Falle, während du auf der Straße bleibst. Du mußt dich zusammennehmen und sorgfältiger arbeiten. Also schön. Ich werd's dir zeigen.«
Er griff in die Hosentasche und zog eine Handvoll kleiner Diamanten heraus. Wie einen funkelnden Strom ließ er sie über den fettigen Tisch gleiten. Jim stieß einen derben Fluch aus.
»Das ist noch gar nichts«, sagte Matt froh und triumphierend. »Ich hab noch gar nicht angefangen.« Und er leerte eine Tasche nach der anderen. Da waren viele, in weißes Leder gewickelte Diamanten, größer als die ersten. Aus einer Tasche holte er eine Handvoll sehr kleiner geschliffener Steine.
»Sonnenstaub«, bemerkte er, indem er sie in einem Haufen für sich auf den Tisch schüttete.
Jim untersuchte sie.
»Aber deshalb kann man sie doch einzeln für ein paar Dollar das Stück verkaufen«, sagte er. »Ist das alles?«
»Ist das vielleicht nicht genug?« fragte der andere gekränkt.
»Ja, das ist, weiß Gott, genug!« antwortete Jim mit unverkennbarer Zufriedenheit. »Mehr, als ich erwartet hatte. Ich würde den ganzen Haufen nicht unter zehntausend verkaufen – nein, nicht einen Cent billiger.«
»Zehntausend?« sagte Matt höhnisch. »Sie sind das Doppelte wert, soviel ich mich auf Edelsteine verstehe. Guck den an, Junge!«
Er nahm einen Stein aus dem funkelnden Haufen, hielt ihn dicht an die Lampe und wog und untersuchte ihn mit Kennermiene.
»Der ist allein seine tausend Dollar wert«, kam Jim ihm mit seinem Urteil zuvor.
»Tausend – geh zu deiner Großmutter«, lautete Matts höhnische Antwort. »Nicht für drei könntest du ihn kaufen.«
»Weck mich! Ich träume!« Die funkelnden Edelsteine schnitten Jim in die Augen, und er begann die größten Diamanten zu sortieren und zu untersuchen. »Wir sind reiche Leute, alle beide, Matt – wir können uns sehen lassen.«
»Es wird mehrere Jahre dauern, bis wir sie verschärft haben«, wandte der praktischere Matt ein.
»Aber denk, wie wir leben können! Wir brauchen nichts zu tun, als Geld auszugeben und sie zu verschärfen!«
Matts Augen begannen zu funkeln, aber mit desto tieferer Glut, je mehr sein phlegmatisches Wesen hochgepeitscht wurde.
»Ich sagte dir ja, daß ich gar nicht auszudenken wagte, wieviel es war«, murmelte er leise.
»Was für ein Fang! Was für ein Fang!« rief der andere in überströmender Freude.
»Und das hätte ich beinah vergessen«, sagte Matt und steckte die Hand in die Brusttasche des Mantels.
Eine Reihe großer, in Seidenpapier und Waschleder eingepackter Perlen kam zum Vorschein. Jim sah sie kaum an.
»Sie sind viel Geld wert«, sagte er und beschäftigte sich wieder mit den Diamanten.
Beide schwiegen. Jim spielte mit den Diamanten, ließ sie durch seine Finger gleiten, ordnete sie in Haufen und streute sie über den Tisch aus. Er war ein bleichsüchtiger, zarter, dürrer Mann, nervös, reizbar, aufgeregt – ein typisches Kind der Straße, mit unschön verzerrten Zügen, kleinen Augen, einem Gesicht und einem Mund, die immer einen fieberhaft gierigen Ausdruck hatten, tierisch, seltsam katzenartig – ein in Grund und Boden degeneriertes Individuum.
Matt rührte die Diamanten nicht an. Er stützte das Kinn in die Hände und die Ellbogen auf den Tisch und betrachtete mit schwer blinzelnden Lidern die ganze flammende Pracht. Er war in jeder Beziehung der ausgesprochene Gegensatz zu dem andern. Er war kein Stadtgewächs – dieser schwer gebaute Mann, ein wahrer Gorilla sowohl an Kräften wie in seinem ganzen Auftreten. Für ihn gab es keine unsichtbare Welt. Seine Augen waren groß und standen weit auseinander mit einem gewissen freimütigen, kameradschaftlichen Ausdruck, der im ersten Augenblick Vertrauen einflößte. Sah man aber näher zu, so entdeckte man, daß die Augen ein klein wenig zu freimütig waren und eine Spur zu weit auseinander standen. Alles an ihm war übertrieben, jenseits normaler Grenzen, und seine Züge gaben einen ganz falschen Eindruck von seinem inneren Menschen.
»Der Kram ist fünfzigtausend wert«, erklärte Jim plötzlich.
Dann war es eine Weile still in der Stube, bis Jim das Schweigen von neuem brach.
»Was, zum Donnerwetter, wollte er mit all dem Zeugs in seiner Wohnung – das möchte ich wissen. Ich hätte eher geglaubt, daß er es im Geldschrank in seinem Laden liegen hätte.«
Matt hatte gerade daran gedacht, wie der erwürgte Mann zuletzt in dem schwachen Schimmer der elektrischen Taschenlampe ausgesehen hatte, aber er fuhr nicht zusammen, als der andere von ihm sprach.
»Ja, das ist nicht gut zu sagen«, antwortete er. »Vielleicht wollte er seinem Kompagnon einen Streich spielen. Wenn wir nicht zufällig vorbeigekommen wären, würde er vielleicht gerade durchgebrannt sein. Ich glaube, daß es unter ehrlichen Leuten genau so viele Diebe gibt wie in der Kille. Das mußt du doch auch schon in der Zeitung gelesen haben, Jim. Kompagnons schneiden sich immer gegenseitig den Hals ab.«
Ein nervöser Schimmer trat in die Augen des andern. Matt ließ sich nicht merken, daß er es gesehen hatte, sondern fuhr fort:
»Woran dachtest du eben, Jim?«
Jim wurde ein wenig verlegen.
»An nichts«, antwortete er nach einem Augenblick. »Ich dachte nur, wie merkwürdig das war – all die Edelsteine im Hause. Warum fragst du?«
»Nur so. Ich hätte es gern gewußt.«
Dann herrschte wieder Stille in der Stube, nur hin und wieder von einem leisen nervösen Kichern Jims unterbrochen. Er war von diesem Reichtum an Diamanten überwältigt. Nicht, daß er ihre Schönheit gefühlt hätte – er war sich nicht einmal klar darüber, daß sie schön an sich waren. Aber mit seiner schnellen Einbildungskraft sah er in ihnen all die Güter des Lebens, die er sich für sie kaufen konnte, und jedes Verlangen und jeder Drang in seiner verderbten Seele und seinem ungesunden Körper erhielt neues Leben durch die Verheißung, die in ihnen lag. Aus ihrer strahlenden Flammenglut baute er wunderbare Paläste, wo ewige Orgien gefeiert wurden, und er erschrak vor seinen eigenen Luftschlössern. Und da begann er zu kichern. Das alles war zu unmöglich, um Wirklichkeit zu sein. Und doch lagen sie dort flammend auf dem Tische vor ihm, fachten seine Gier zu hellen Flammen an, und er begann wieder zu kichern.
»Na ja, aber wir wollen sie lieber zählen«, sagte Matt plötzlich, sich von seinen Visionen losreißend. »Du mußt aufpassen und sehen, daß es ehrlich zugeht, denn zwischen uns muß alles in Ordnung sein, Jim. Verstanden?«
Jim gefiel diese Bemerkung ebensowenig, wie Matt das, was er jetzt in den Augen seines Kameraden las.
»Verstanden?« wiederholte Matt, beinahe drohend. »Sind wir nicht immer ehrlich gegeneinander gewesen?« fragte der andere, sich sofort zur Wehr setzend, weil der Gedanke an Verrat sich bereits in ihm zu regen begann.
»Es kostet nichts, ehrlich zu sein, wenn man nichts hat«, sagte Matt. »Ehrlich sein zählt erst, wenn man im Überfluß sitzt. Wenn wir nichts haben, können wir gar nicht anders als ehrlich sein. Jetzt aber sind wir reiche Leute und müssen uns wie Geschäftsleute einrichten – wie ehrliche Geschäftsleute, verstanden?«
»Ich bin nicht taub!« sagte Jim beifällig, aber tief in seiner schäbigen Seele regten sich – und das gegen seinen Willen – losgerissene, unbotmäßige Gedanken wie gefesselte Bestien.
Matt trat an das Regal, wo sie ihre Vorräte hinter dem Petroleumofen mit den zwei Brennern aufbewahrten. Er nahm Tee aus einer Tüte und spanischen Pfeffer aus einer anderen. Dann trat er mit den Tüten an den Tisch zurück und schüttete die kleinen Diamanten hinein. Hierauf zählte er die großen Diamanten und verpackte sie wieder in ihr Seidenpapier und Waschleder.
»Hundertundsiebenundvierzig mittelgroße Steine«, lautete sein Verzeichnis; »zwanzig große, zwei mächtige Dinger und ein gewaltiger Kerl, und dann ein paar Fäuste voll winziger Diamanten und Staub.«
Er sah Jim an.
»Stimmt«, lautete die Antwort.
Matt schrieb die Rechnung auf ein Stück Papier, nahm eine Abschrift und gab den einen Zettel seinem Kameraden, während er den andern selbst behielt.
»Nur der Ordnung wegen«, sagte er.
Dann trat er wieder an das Regal und schüttete eine große Tüte mit Zucker aus. Statt dessen tat er die Diamanten, große und kleine durcheinander, hinein, wickelte alles in ein Taschentuch und steckte es unter sein Kopfkissen. Hierauf setzte er sich auf den Bettrand und zog sich die Schuhe aus.
»Und du glaubst wirklich, daß sie hunderttausend wert sind?« fragte Jim, von seinem Schuh aufblickend, den er sich gerade aufschnürte.
»Gewiß!« lautete die Antwort. »Ich habe mal eine Tänzerin in Arizona gesehen, die mit so ein paar mächtigen funkelnden Dingern ging. Die waren nicht echt. Aber sie sagte, wenn sie es wären, würde sie nicht mehr tanzen. Sie sagte, dann wären sie wenigstens fünfzigtausend wert, und sie hatte nicht mehr als höchstens ein Dutzend.«
»Da soll der Teufel sich schinden, um was zu essen zu kriegen«, sagte Jim triumphierend. »Grobe Arbeit mit Schaufel und Hacke!« spottete er weiter. »Wenn ich mich mein ganzes Leben wie ein Hund abrackerte und alles, was ich verdiente, sparte, würde ich noch nicht halb so viel haben, wie wir heute abend erwischt haben.«
»Du taugst kaum zum Tellerwaschen und könntest nicht mehr als zwanzig Dollar den Monat verdienen – außer Kost und Logis. Deine Zahlen sind ganz falsch, aber sonst hast du recht. Laß arbeiten, wer Lust hat. Ich arbeitete auf einer Farm für dreißig Dollar den Monat, als ich jung war und es nicht besser wußte. Na, heute bin ich älter und arbeite nicht mehr auf einer Farm.«
Er kroch von der einen Seite ins Bett. Jim verlöschte das Licht und kroch von der anderen Seite zu ihm.
»Wie geht es mit deinem Arm?« fragte Jim liebenswürdig.
Solches Interesse war ungewöhnlich, und Matt wurde gleich mißtrauisch und antwortete: »Es ist wohl keine Gefahr, daß es Hundetollheit ist. Warum fragst du?«
Jim fühlte, daß sich das schlechte Gewissen wieder in ihm regte, und er fluchte leise über die Art des andern, ihm unangenehme Fragen zu stellen, laut aber antwortete er:
»Nichts – du schienst nur zuerst Angst zu haben. Was willst du mit deinem Anteil machen, Matt?«
»Mir eine Viehranch in Arizona kaufen und andere für mich arbeiten lassen. Es gibt ein paar Kerle, die ich schon bei mir um Arbeit betteln sehen möchte – die verfluchten Lumpen! Aber jetzt halt's Maul, Jim. Es dauert noch etwas, ehe ich mir eine Viehranch kaufen kann. Jetzt will ich schlafen!«
Aber Jim lag noch lange unter nervösen Zuckungen wach. Er warf sich ruhelos hin und her, und sobald er ein wenig einschlummerte, bewegte er sich wieder, bis er aufwachte. Immer noch flammten die Diamanten unter seinen Lidern, und ihre Glut schmerzte. Matt hingegen schlief trotz seiner schweren Natur wie ein wildes Tier, das selbst im Schlaf immer auf dem Sprunge liegt, und jedesmal, wenn Jim sich bewegte, bemerkte er, daß sein Kamerad es auch tat, so daß sein Körper den Eindruck empfangen haben mußte und am Rande des Erwachens zitterte. Oft wußte Jim nicht, ob der andere wachte oder nicht. Einmal war Matt jedenfalls vollkommen bei Bewußtsein und sagte zu ihm: »Schlaf du nur. Jim! Zerbrich dir nicht den Kopf über die Diamanten. Sie laufen dir nicht weg.« Ja, und in diesem Augenblick hatte Jim doch ganz bestimmt gewußt, daß Matt schlief.
Gegen Morgen erwachte Matt, sobald Jim sich regte, und dann wachten und schliefen sie zusammen bis gegen Mittag. Dann standen beide auf und begannen sich anzukleiden.
»Ich will sehen, daß ich eine Zeitung und ein bißchen Brot kriegen kann«, sagte Matt. »Du kannst unterdessen Kaffee machen.«
Jim hörte zu, aber sein Blick bewegte sich unwillkürlich in der Richtung des Kopfkissens, unter dem die Diamanten, in Matts Taschentuch eingepackt, lagen. In demselben Augenblick trat in Matts Gesicht der Ausdruck eines wilden Tieres.
»Ich will dir was sagen, Jim!« knurrte er. »Du hast ehrliches Spiel zu spielen. Wenn du mich anführst, dann sollst du mich kennenlernen, verstanden? Ich könnte dich fressen, Jim – das weißt du auch gut. Ich könnte dir die Zähne in die Kehle hauen und dich wie ein Stück Ochsenfleisch fressen.«
Seine sonnenverbrannte Haut wurde schwarz von dem Blut, das unter ihr hochströmte, und seine Zähne, die braun von Tabak waren, kamen hinter den fauchenden Lippen zum Vorschein. Jim schauerte zusammen und duckte sich unwillkürlich. Der Mann, den er vor sich hatte, war zu einem Mord fähig. Erst am vorigen Abend hatte derselbe dunkelhäutige Mann einen andern mit seinen Händen getötet, und das hatte seinen Schlaf nicht gestört. In seinem Herzen fühlte Jim ein dämmerndes Schuldbewußtsein, weil er mit Gedanken gespielt hatte, die die Drohungen des andern nur allzu gerechtfertigt erscheinen ließen.
Matt ging, und Jim blieb, am ganzen Leibe zitternd, zurück. Dann verzerrte sich sein Gesicht im Haß, und mit leiser Stimme rief er dem andern wütende Flüche nach. Hierauf fielen ihm die Juwelen ein, und er trat schnell zum Bett und fühlte unter dem Kissen nach dem in das Taschentuch gewickelten Packen. Er preßte ihn zwischen seinen Fingern, um sicher zu sein, daß die Diamanten noch da waren. Als er sich überzeugt hatte, daß Matt sie nicht mitgenommen hatte, warf er einen erschrockenen und schuldbewußten Blick auf den Petroleumofen. Dann zündete er ihn schnell an, füllte die Kaffeekanne mit Wasser und stellte sie auf die Flamme.
Als Matt wiederkam, kochte der Kaffee, und während er Brot schnitt und Butter auf den Tisch stellte, goß Jim ein. Erst als Matt sich gesetzt und einige Schluck von seinem Kaffee getrunken hatte, zog er die Morgenzeitung aus der Tasche.
»Wir sind schön dumm gewesen«, meinte er. »Ich sagte dir doch, es sei gar nicht auszudenken, wieviel wir erwischt haben. Sieh hier.«
Er zeigte auf die Überschrift auf der ersten Seite: »Nemesis schnell auf Bujanoffs Spuren«, lasen sie. »Nach Beraubung seines Kompagnons im Bett ermordet.«
»Da hast du's!« rief Matt. »Hat seinen Kompagnon beraubt – ihn beraubt wie ein dreckiger Dieb.«
»Eine halbe Million in Juwelen vermißt«, las Jim laut. Dann legte er die Zeitung fort und lachte seinen Kameraden an.
»Ich hab es dir ja gesagt«, meinte der andere. »Was zum Kuckuck wissen wir von Juwelen? Eine halbe Million – und ich hab nicht mehr als hunderttausend ausgerechnet. Aber lies weiter!«
Sie lasen schweigend weiter, die Köpfe dicht zusammengesteckt, und vergaßen ganz ihren Kaffee, der kalt wurde. Jeden Augenblick kam ein Ausruf, bald von dem einen, bald von dem andern, wenn irgend etwas in der Zeitung stand, das ihre Aufmerksamkeit besonders erregte.
»Ich hätte Metzners Gesicht heute morgen sehen mögen, als er den Geldschrank im Laden aufmachte«, sagte Jim triumphierend.
»Er lief gleich zu Bujanoff«, erklärte Matt. »Lies weiter!«
»Hatte gestern abend um zehn Uhr mit der ›Sajoda‹ nach der Südsee fahren wollen – Dampfer verspätet infolge Extrafracht –«
»Deshalb fanden wir ihn im Bett«, unterbrach Matt ihn. »Es war wirklich Schwein – wie wenn man auf ein Pferd hält, das mit fünfzig zu eins herauskommt –«
»Die ›Sajoda‹ fuhr heute morgen um sechs –«
»Ja, aber ohne ihn«, sagte Matt. »Ich sah, daß sein Wecker auf fünf gestellt war. Er hätte massenhaft Zeit gehabt ..., wenn ich ihm nicht dazwischen gekommen wäre. Aber weiter!«
»Adolph Metzner ist verzweifelt – das berühmte Haythorner Perlenkollier – prachtvolle Perlen – von Sachverständigen auf fünfzig- bis siebzigtausend Dollar geschätzt.«
Jim unterbrach sich und stieß einen schweren Fluch aus, der damit endete: »Die verfluchten Ostereier – daß sie soviel wert sind!«
Er befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge: »Sie sind nun aber auch prachtvoll, daran ist nicht zu zweifeln.«
»Der große brasilianische Diamant«, las er weiter. »Achtzigtausend Dollar – viele wertvolle Brillanten von reinstem Wasser – mehrere tausend kleine Diamanten, die reichlich ihre vierzigtausend wert sind.«
»Du scheinst viel von Juwelen zu verstehen«, meinte Matt mit gutmütigem Lächeln.
»Die Ansicht der Polizei«, las Jim, »ist, daß die Diebe Bescheid gewußt haben müssen – sie sind sehr gerissen gewesen und haben Bujanoff beobachtet, müssen von seinen Plänen erfahren und ihn nach dem Hause verfolgt haben, als er mit der Beute kam.«
»Gerissen – gerissen – verflucht nochmal!« rief Matt. »Auf die Art wird man also in den Zeitungen berühmt. Wie konnten wir wissen, daß er seinen Kompagnon berauben wollte?«
»Nun ja, jedenfalls haben wir die ganze Herrlichkeit«, grinste Jim. »Laß sie uns noch einmal ansehen.«
Er vergewisserte sich, daß die Tür abgeschlossen und verriegelt war, während Matt das Taschentuchbündel hervorholte und den Inhalt auf den Tisch schüttete.
»Sind sie nicht schön, was!« rief Jim beim Anblick der Perlen, und eine Weile hatte er nur Augen für sie. »Nach Ansicht Sachverständiger sind sie fünfzig- bis siebzigtausend Dollar wert.«
»Und Weiber legen großen Wert auf sowas«, bemerkte Matt. »Ja, und sie würden alles tun, um sie zu kriegen – sich verkaufen, morden – einerlei, was!
»Genau wie du und ich.«
»Ich denke nicht dran!« antwortete Matt. »Wenn ich morde, tue ich es nicht für sie, sondern für das, was ich für sie kriegen kann. Das ist der Unterschied. Weiber wollen Juwelen um ihrer selbst willen, und ich will die Juwelen, um Weiber und alles andere dafür zu kriegen.«
»Dann ist es ja gut, daß Männer und Frauen nicht nach demselben aus sind«, bemerkte Jim.
»Daß die Leute nach Verschiedenem aus sind, ist schuld an etwas, das Handel heißt«, stimmte Matt zu.
Am Nachmittag ging Jim aus, um einzukaufen. Während er fort war, packte Matt die Juwelen wieder ein und legte sie wie zuvor unter das Kissen. Dann zündete er den Petroleumofen an und machte sich daran, Kaffeewasser zu kochen. Einige Minuten später kam Jim wieder.
»Merkwürdig!« meinte er. »Straßen und Läden und Leute sind genau wie immer. Ganz unverändert. Und da ging ich mitten dazwischen und war Millionär. Das konnte mir keiner ansehen.«
Matt grunzte mürrisch. Er hatte nur geringes Verständnis für die phantastischen Einfälle seines Kameraden.
»Hast du Beefsteak gekriegt?« fragte er.
»Jawohl! Ein tüchtiges Stück – einen ganzen Zoll dick. Sieh nur.«
Er packte das Beefsteak aus und hielt es hoch, daß der andere es sehen konnte. Dann machte er Kaffee und deckte den Tisch, während Matt das Fleisch briet.
»Tu aber nicht zu viel von dem roten Pfeffer drauf«, warnte Jim. »Ich bin das mexikanische Fressen nicht gewöhnt. Du nimmst immer zu viel Gewürz.«
Matt brummte etwas, achtete aber weiter auf seine Pfanne. Jim schenkte den Kaffee ein, nahm aber zuerst ein in Reispapier gewickeltes Pulver aus der Westentasche. Mit dem Rücken gegen seinen Kameraden, schüttete er es in die angeschlagene Porzellantasse, und selbst, als er fertig war, wagte er sich noch nicht nach dem andern umzusehen. Matt breitete eine Zeitung auf dem Tisch aus, und auf die Zeitung stellte er die warme Bratpfanne. Er schnitt das Beefsteak mitten durch und legte das eine Stück Jim, das andere sich auf den Teller.
»Iß, so lange es warm ist«, rief er und machte sich mit Messer und Gabel ans Essen.
»Nicht übel«, erklärte Jim, nachdem er den ersten Bissen geschmeckt hatte. »Aber ich will dir was sagen. Auf deiner Arizonaranch besuche ich dich nicht, du brauchst dir nicht erst die Mühe zu geben, mich einzuladen.«
»Was ist denn nun los?« fragte Matt.
»Es ist ja wie der Teufel!« lautete die Antwort. »Das mexikanische Kochen auf deiner Farm würde mir das Leben nehmen. Wenn ich doch schon nach diesem Leben in die Hölle soll, dann brauche ich doch wenigstens hier auf Erden keine Höllenqualen zu erdulden. Der verfluchte Pfeffer!«
Er lächelte, blies stark, um seinen brennenden Mund abzukühlen und machte sich wieder an das Fleisch. »Wie denkst du übrigens über ein Leben nach diesem, Matt?« fragte er kurz darauf, während er sich heimlich darüber wunderte, daß der andere seinen Kaffee noch nicht angerührt hatte.
»Es gibt kein Leben nach diesem«, antwortete Matt und trank gleichzeitig seinen ersten Schluck Kaffee. »Weder Himmelreich, noch Hölle – keins von beiden. Was man haben soll, kriegt man in diesem Leben – sicher.«
»Und hinterher?« fragte Jim, von krankhafter Neugier gepackt, denn er wußte, daß er Angesicht zu Angesicht mit einem Manne saß, der bald sterben sollte. »Und hinterher?« wiederholte er.
»Hast du je einen Mann gesehen, der zwei Wochen tot war?« fragte der andere.
Jim schüttelte den Kopf.
»Na ja, ich aber. Er war wie das Beefsteak, daß wir beide jetzt hier essen. Das war mal ein Bulle, der auf den Feldern herumtobte. Und jetzt ist es nur Fleisch. Ja, eben – nur Fleisch. Und das ist es eben, was du und ich und alle Menschen in Wirklichkeit sind – nur Fleisch.«
Matt leerte hastig seine Tasse und goß sich wieder ein.
»Fürchtest du dich vor dem Tode?« fragte er.
Jim schüttelte den Kopf. »Nein, warum? Ich sterbe ja nicht – ich soll nur ein neues Leben leben –«
»Ja, ein neues Leben lang lügen und heulen und klagen und so weiter, in alle Ewigkeit«, spottete Matt.
»Ich kann mich vielleicht bessern«, meinte Jim zuversichtlich. »Im nächsten Leben hab' ich es vielleicht nicht nötig, zu stehlen.«
Er hielt plötzlich inne und starrte erschrocken vor sich hin.
»Was ist los?« fragte Matt.
»Nichts – ich dachte nur –« Jim nahm sich zusammen und war gleich wieder der alte, »an das mit dem Tod – das war alles!«
Aber er konnte sich nicht von der Angst befreien, die ihn plötzlich gepackt hatte. Es war, als sei ein unsichtbares Wesen der Finsternis dicht an ihm vorbeigeschritten und hätte unmerkbar seinen Schatten auf seinen Weg geworfen. Eine bange Ahnung von bevorstehenden unheilvollen Begebenheiten überkam ihn. Es lag Unheil in der Luft. Er sah den andern, der ihm gegenüber am Tische saß, starr an. Er konnte es nicht verstehen. Sollte er sich geirrt und sich selbst vergiftet haben? Nein, Matt hatte die angeschlagene Tasse, und er war sicher, das Gift in eben diese Tasse getan zu haben.
Es ist nur Einbildung, war sein nächster Gedanke. Seine Phantasie hatte ihm einen Streich gespielt. Dummkopf! Selbstverständlich! Selbstverständlich sollte etwas geschehen, aber nicht ihm, sondern Matt. Hatte Matt nicht die ganze Tasse ausgetrunken?
Jim kam gleich in bessere Laune und aß den Rest des Fleisches, und als er fertig war, stippte er das Brot in die Soße.
»Als ich ein kleiner Bengel war –«, begann er, hielt aber plötzlich inne.
Wieder war dieses unsichtbare Wesen der Finsternis an ihm vorbeigeschritten, und sein ganzes Ich zitterte unter dem Vorgefühl eines drohenden Unheils. Er fühlte, daß irgend etwas in seinem Körper riß und zerrte, und er hatte ein Gefühl von beginnenden Krämpfen in allen seinen Muskeln. Er lehnte sich plötzlich zurück, beugte sich dann ebenso plötzlich vor und legte die Ellbogen auf den Tisch. Es war wie das erste Rascheln der Blätter, ehe der Wind richtig zugreift. Er biß die Zähne zusammen. Es kam wieder – eine unwillkürliche, heftige Spannung in den Muskeln. Ein panischer Schrecken packte ihn, weil sein Körper sich so gegen ihn empörte. Seine Muskeln erkannten nicht mehr seine Herrschaft über sie an. Immer wieder zogen sie sich krampfhaft zusammen, und das trotz seinem Willen, denn er hatte gewollt, daß sie sich nicht mehr zusammenzögen. Das war Revolution in seinem eigenen Körper, das war Anarchie, und der Schrecken der Machtlosigkeit schoß plötzlich in ihm hoch, als sein Fleisch ihn in den Krallen packte und ihn wie in einem Schraubstock hielt, während es ihm kalt den Rücken herunterlief und der Schweiß in großen Tropfen auf seiner Stirn stand. Er sah sich in der Stube um, und ein merkwürdiges Gefühl, wie vertraut alle Einzelheiten ihm waren, überkam ihn. Es war, als sei er soeben von einer weiten Reise heimgekehrt. Sein Blick schweifte über den Tisch zu seinem Kameraden hinüber. Matt sah ihn unabgewandt an und lächelte. Ein Ausdruck von Entsetzen trat in Jims Gesicht.
»Mein Gott, Matt!« heulte er. »Du hast mich doch nicht vergiftet?«
Matt lächelte und sah ihn weiter unabgewandt an. In dem folgenden Krampf verlor Jim nicht ganz das Bewußtsein. Seine Muskeln spannten sich und zogen sich zusammen, und sie peinigten und preßten ihn mit ihrem unbarmherzigen Griff. Und mitten in alledem fiel ihm auf, daß Matt sich so seltsam benahm. Er erlebte genau dasselbe. Das Lächeln war aus seinem Gesicht gewichen, und es lag ein angespannter Ausdruck darin, als lauschte er auf eine Geschichte, die sein innerstes Wesen ihm erzählte, und versuchte, den Sinn darin zu finden. Matt stand auf, ging einmal im Zimmer auf und ab und setzte sich wieder.
»Das hast du gemacht, Jim«, sagte er ruhig.
»Ja, aber ich glaubte nicht, daß du mich ermorden würdest«, antwortete Jim vorwurfsvoll.
»O ja, du bist fertig – das ist sicher«, sagte Matt mit zusammengebissenen Zähnen und am ganzen Körper zitternd. »Was hast du mir übrigens gegeben?«
»Strychnin.«
»Dasselbe, was ich dir gegeben habe«, sagte Matt. Übrigens eine hübsche Geschichte – nicht wahr?«
»Es ist doch Lüge, Matt«, flehte Jim. »Du hast mich nicht vergiftet – nicht wahr?«
»Gewiß habe ich es, Jim, und ich habe dir genau die richtige Dosis gegeben. Ich habe es hübsch in die Hälfte vom Beafsteak eingebraten. – Halt! Wo willst du hin?«
Jim war zur Tür geschossen und wollte den Riegel zurückschieben. Mit einem Sprung war Matt neben ihm und stieß ihn weg.
»Apotheke«, stöhnte Jim, »Apotheke!«
»Nein, nicht zu machen. Du bleibst hier – verstanden! Das gibt es nicht, hinauszulaufen und ein Giftdrama auf offener Straße aufzuführen – nein, nicht mit all den Diamanten unter dem Kopfkissen. Verstanden? Selbst wenn du nicht stürbest, würdest du der Polizei in die Hände fallen, und dann gäbe es alle möglichen Erklärungen. Brechmittel braucht man, wenn man vergiftet ist. Mir geht es genau so schlecht wie dir, und ich will es mit einem Brechmittel versuchen. Was anderes könnten sie dir in der Apotheke übrigens auch nicht geben.«
Er schob Jim in die Mitte der Stube zurück und verriegelte wieder die Tür. Als er nach dem Regal ging, wo sie ihre Nahrungsmittel aufbewahrten, faßte er sich mit der einen Hand an die Stirn, um sich die heißen Tropfen wegzuwischen, und man hörte sie deutlich auf den Fußboden klatschen. Jim sah zerquält zu, wie Matt den Senftopf herausnahm und nach dem Ausguß lief. Er verrührte etwas Senf mit Wasser in einer Tasse und trank es. Jim war ihm gefolgt und streckte die zitternden Hände nach der leeren Tasse aus, aber Matt schob ihn wieder weg. Sich eine neue Tasse anrührend, fragte er:
»Glaubst du, ich hab' mit einer Tasse genug? Du kannst wohl warten, bis ich fertig bin.«
Jim taumelte wieder nach der Tür, aber Matt hielt ihn zurück.
»Wenn du Geschichten mit der Tür machst, drehe ich dir den Hals um. Verstanden? Du kannst was kriegen, wenn ich fertig bin. Aber wenn du dich rettest, drehe ich dir unter allen Umständen den Hals um. Du hast keine Chance, was du auch anstellst. Ich hab' dir oft genug erzählt, wie es dir gehen würde, wenn du versuchtest, mich zu betrügen.«
»Aber du hast mich doch auch betrogen«, stammelte Jim mit Anstrengung.
Matt, der gerade seine zweite Tasse hinuntergoß, antwortete nicht. Der Schweiß rann Jim in die Augen, und er konnte kaum den Weg zum Tische finden, um sich selbst eine Tasse zu holen. Aber Matt rührte sich eine dritte Tasse an und schob ihn wie zuvor weg.
»Ich sagte dir doch, daß du warten könntest, bis ich fertig bin«, knurrte Matt. »Weg mit dir!«
Und Jim stützte seinen krampfgeschüttelten Körper gegen den Ausguß, während er sehnsüchtig auf die gelbe Mischung sah, die für ihn das Leben selbst bedeutete. Nur durch äußerste Willensanspannung blieb er, an den Ausguß geklammert, stehen. Sein Fleisch wollte sich zusammenkrümmen und ihn in die Knie zwingen. Matt trank seine dritte Tasse aus, und es glückte ihm, sich mühselig zu seinem Stuhl zu schleppen und zu setzen. Der erste heftige Anfall wollte sich verziehen. Die Krämpfe, die ihn quälten, hatten aufgehört. Diese Wirkung schrieb er Senf und Wasser zu. Er war doch jedenfalls außer Gefahr. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, und jetzt, da er selbst Ruhe hatte, erwachte seine Neugier, und er sah seinen Kameraden an. In einem Krampfanfall war der Senftopf Jim aus den Händen geglitten, und der Inhalt floß auf den Boden. Er beugte sich nieder, um etwas von dem Senf wieder in den Topf zu schrapen, aber der nächste Krampf ließ ihn sich auf dem Boden krümmen. Matt lächelte.
»Nur immer weiter«, sagte er ermunternd. »Es ist ein ausgezeichnetes Mittel. Es hat mich gerettet.«
Jim hörte ihn und wandte ihm sein von Leiden und wehmütigem Flehen verzerrtes Gesicht zu. Ein Anfall folgte dem andern, bis er sich in Krämpfen auf dem Fußboden wälzte, Haar und Gesicht ganz gelb von dem Senf.
Matt lachte heiser bei dem Anblick, hielt aber plötzlich inne. Ein Zittern ging durch seinen ganzen Körper. Ein neuer Anfall war im Anmarsch. Er erhob sich und taumelte zum Ausguß, wo er den Finger in den Hals steckte und vergebens das Brechmittel zum Wirken zu bringen versuchte. Zuletzt klammerte er sich an den Ausguß, wie Jim sich daran geklammert hatte, von Angst gepackt, daß er zu Boden fallen sollte.
Der Anfall des andern war jetzt überstanden, und er setzte sich auf, zu schwach und kraftlos, um sich zu erheben, mit schweißtriefender Stirn und Schaum auf den Lippen, die ganz gelb von dem Senf waren, in dem er sich gewälzt hatte. Er rieb sich die Augen mit den Knöcheln, und ein Stöhnen, fast ein Kreischen, drängte sich über seine Lippen.
»Was heulst du?« fragte Matt mitten in seiner Qual. »Du hast nichts zu tun, als zu sterben. Und wenn man stirbt, dann ist man tot.«
»Ich ... ich ... heule nicht ..., es ist nur der Senf ... der mir in den ... Augen brennt«, stöhnte Jim mit verzweifelnder Langsamkeit.
Es war der letzte Versuch zu reden, der ihm glückte. Von diesem Augenblick an brachte er nur ein unzusammenhängendes Stammeln hervor, und mit zitternden Armen fuchtelte er durch die Luft, bis er in neuen Krämpfen umsank.
Matt schleppte sich zum Stuhl zurück, und zusammengekrümmt, die Arme fest um die Knie gepreßt, kämpfte er mit seinem widerspenstigen Fleisch. Als die Krämpfe vorüber waren, war er sehr ruhig und schwach. Er warf einen Blick auf den andern, um zu sehen, wie es mit ihm stände, und sah ihn ganz unbeweglich daliegen.
Er versuchte, einen kleinen Monolog zu halten, zu spaßen, zum letztenmal derb über das Dasein zu grinsen, aber seine Lippen konnten nur unzusammenhängende Laute hervorbringen. Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf, daß das Brechmittel fehlgeschlagen hatte, und daß es keine Rettung für ihn gab als die Apotheke. Er sah nach der Tür und kam mit großer Mühe auf die Füße. Dann mußte er einen Stuhl packen, um nicht zu fallen. Ein neuer Anfall hatte begonnen. Und mitten in dem Anfall, während jeder Teil seines Körpers sich wieder zusammenkrampfte, klammerte er sich an den Stuhl und schob ihn vor sich durch das Zimmer. Der letzte Rest von Willen wollte ihn verlassen, als er die Tür erreichte. Er drehte den Schlüssel um und schob den einen Riegel zurück. Er tastete nach dem anderen, aber es mißglückte. Da lehnte er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür und sank still zu Boden.