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Als es für Ernst und mich Zeit wurde, nach Washington zu gehen, begleitete Vater uns nicht. Er hatte das Leben des Proletariers liebgewonnen. Er betrachtete unsere schmutzige Nachbarschaft als ein großes, soziologisches Laboratorium und war in einer anscheinend endlosen Schwelgerei von Forschungen gelandet. Er hielt gute Kameradschaft mit den Arbeitern und war in vielen Familien der Vertraute. Er übernahm auch allerlei Gelegenheitsarbeit, die für ihn ebensowohl Zeitvertreib wie Studium bedeutete; sie machte ihm Freude, und er pflegte sprudelnd von unzähligen Berichten über seine neuesten Abenteuer nach Hause zu kommen. Er war der vollendete Gelehrte.
Seine Arbeit war durchaus keine Notwendigkeit, denn Ernst verdiente mit seinen Übersetzungen soviel, daß wir alle drei zu leben hatten. Aber Vater bestand darauf, seinem Lieblingsphantom nachzugehen, und nach den Arbeiten, die er verrichtete, zu urteilen, war es ein sehr abwechslungsreiches Phantom. Nie werde ich den Abend vergessen, an dem er seine Hausiererwaren, die aus Schuhbändern und Hosenträgern bestanden, heimbrachte, und ebensowenig die Zeit, wenn ich zum Einkaufen in den kleinen Krämerladen an der Ecke ging und er auf mich wartete. Hiernach war ich nicht überrascht, als er eine Woche lang in der Wirtschaft gegenüber als Kellner fungierte. Er arbeitete als Nachtwächter, bot auf der Straße Kartoffeln aus, klebte in einer Konservenfabrik Etiketten, war Bote in einer Pappschachtelfabrik, Wasserträger für eine Bauabteilung der Straßenbahn und hatte sich gerade der Aufwäschergewerkschaft angeschlossen, als sie sich gleich darauf auflöste.
In bezug auf seine Kleidung schien ihn das Beispiel des Bischofs angesteckt zu haben, denn er trug ein billiges baumwollenes Arbeiterhemd und Überziehhosen mit einem schmalen Riemen um die Hüften. Eine Gewohnheit aus seinem früheren Leben aber behielt er bei: er erschien stets gut gekleidet zum Abendessen.
Ich hätte überall mit Ernst glücklich sein können; daß aber Vater sich in unseren jetzigen Verhältnissen glücklich fühlte, mußte mein eigenes Glück vollkommen machen.
»Als Knabe war ich sehr wißbegierig«, sagte Vater. »Ich wollte den Ursprung der Dinge kennen, deshalb wurde ich Physiker. Heute noch bin ich ebenso wißbegierig wie in meiner Jugend, und dieser Wissensdrang ist es, der mir das Leben lebenswert macht.«
Zuweilen versuchte er sein Glück nördlich der Market- Street, in der Geschäfts- und Theatergegend, wo er Zeitungen verkaufte, Botengänge verrichtete und Droschkenschläge öffnete. Dort traf er eines Tages, als er einen Wagenschlag schloß, Wickson. Ausgelassen schilderte Vater das Ereignis dieses Abends.
»Als ich die Tür hinter ihm zuschlug, sah Wickson mich scharf an und murmelte: ›Ich will gehängt werden.‹ Das waren seine Worte. Sein Gesicht wurde rot, und er war so verwirrt, daß er vergaß, mir ein Trinkgeld zu geben. Aber er muß sich schnell beherrscht haben, denn die Droschke war noch keine zwanzig Meter fort, als sie kehrtmachte und wiederkam. Wickson lehnte sich aus der Tür. ›Hören Sie, Professor,‹ sagte er, ›das ist zuviel. Was kann ich für Sie tun?‹ ›Ich habe die Tür für Sie zugemacht,‹ antwortete ich, ›dafür gibt man gewöhnlich einen Zehner.‹ ›Donnerwetter!‹ schnaubte er. ›Ich meine etwas Wirkliches.‹ Es war ihm sicherlich Ernst, und etwas wie Gewissensbisse mochte sich in ihm regen; und so überlegte ich einen Augenblick. ›Geben Sie mir mein Haus wieder,‹ sagte ich, ›und meine Spinnereiaktien.‹«
Vater hielt inne.
»Und was sagte er?« fragte ich eifrig.
»Was konnte er sagen? Nichts. Aber ich sagte: ›Ich hoffe, daß Sie glücklich sind.‹ Er sah mich mit einem seltsamen Blick an. ›Sagen Sie mir, ob Sie glücklich sind?‹ fragte ich.
»Er befahl dem Kutscher, fortzufahren, und verschwand mit einem schrecklichen Fluch. Aber er gab mir keinen Zehner und noch weniger mein Haus und mein Vermögen. Du siehst also, mein Kind, daß dein Vater auch in seiner Laufbahn als Gelegenheitsarbeiter manche Enttäuschung erlebt.«
Und so blieb Vater denn in der Pell-Street, während Ernst und ich nach Washington fuhren. Die Vernichtung des Bestehenden stand vor dem Abschluß, und dieser Abschluß war näher, als ich mir träumen ließ. Wider alle Erwartung machte man keine Anstalten, die sozialistischen Abgeordneten zu verhindern, ihre Sitze einzunehmen. Alles verlief glatt, und ich lachte über Ernst, der das als eine schlechte Vorbedeutung ansah.
Unsere sozialistischen Freunde waren vertrauensselig und optimistisch bezüglich ihrer Stärke und ihres Vorhabens. Einige in den Kongreß gewählte Bauernbündler verstärkten unsere Macht, und gemeinsam wurde ein sorgfältig durchdachter Arbeitsplan aufgestellt. Ernst stimmte allem treulich und nachdrücklich bei, konnte es aber nicht unterlassen, hin und wieder, ohne es näher zu bezeichnen, zu sagen: »Wenn es zum Klappen kommt, denkt an mich: Chemische Mixturen sind besser als bloße Fäuste.«
Die Unruhe begann in den Staaten, die die Bauernbündler bei der letzten Wahl erobert hatten. Es waren ein Dutzend Staaten, aber die Gewählten durften ihre Sitze nicht einnehmen. Die alten Inhaber weigerten sich, zu gehen. Es war ganz einfach. Sie behaupteten nur, es wäre bei den Wahlen ungesetzlich zugegangen, und verschanzten sich hinter undurchdringlichem Bureaukratismus. Die Bauern waren machtlos. Ihre letzte Zuflucht waren die Gerichte, und die befanden sich in den Händen ihrer Gegner. Das war das Gefährliche. Wenn die betrogenen Bauern gewalttätig wurden, war alles verloren. Wie wir Sozialisten arbeiteten, um sie zurückzuhalten! Tage und Nächte schloß Ernst kein Auge. Die großen Bauernführer sahen die Gefahr und standen fest zu uns. Aber das nützte alles nichts. Die Oligarchie wünschte Gewalttätigkeiten und ließ darum ihre Agents provocateur los. Es ist kein Wort darüber zu verlieren, daß nur sie es waren, die die Bauernrevolte verursachten.
In einem Dutzend Staaten flackerte die Revolte auf. Die enteigneten Bauern bemächtigten sich gewaltsam der Regierung. Es war allerdings verfassungswidrig, und natürlich schickten die Vereinigten Staaten ihre Soldaten ins Feld. Überall hetzten die Agents provocateurs die Bevölkerung auf. Diese Spitzel der Eisernen Ferse maskierten sich als Handwerker, Bauern und Landarbeiter. In Sacramento, der Hauptstadt von Kalifornien, war es den Bauernführern gelungen, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Da wurden eilig Tausende von Geheimagenten in die ruhige Stadt geschickt. Pöbelhaufen, die sie selbst bildeten, verbrannten und plünderten Häuser und Fabriken. Sie hetzten das Volk auf, bis es schließlich an den Plünderungen teilnahm. Um die Masse noch mehr zu erregen, wurde Schnaps in großen Mengen unter dem Pöbel verteilt. Und als alles bereit war, erschienen die Soldaten der Vereinigten Staaten, die in Wahrheit die Soldaten der Eisernen Ferse waren. Elftausend Männer, Frauen und Kinder wurden in den Straßen von Sacramento niedergeschossen oder in ihren Häusern ermordet. Washington hatte über Sacramento gesiegt, und für Kalifornien war alles vorbei. Und wie in Kalifornien, so auch anderswo. Jeder Bauernstaat wurde verwüstet und in Blut gebadet. Zuerst wurde durch Geheimagenten und die Schwarzen Hundertschaften die Ordnung über den Haufen geworfen, und dann kamen die Soldaten. Aufruhr und Pöbelherrschaft tobten in den ländlichen Distrikten. Tag und Nacht stieg der Rauch von brennenden Bauernhöfen, Warenhäusern, Dörfern und Städten empor. Dynamit wirkte. Eisenbahnbrücken und Tunnels wurden gesprengt und Eisenbahnzüge zerstört. Die armen Bauern wurden massenhaft erschossen und aufgehängt. Die Rache war bitter, und mancher Offizier der Plutokratie und der Armee wurde ermordet. Die Männer hatten Blut und Rache im Herzen. Die regulären Truppen kämpften so wild mit den Bauern, als wären sie Indianer gewesen. Und sie hatten Grund dazu: zweitausendachthundert waren in einer Reihe furchtbarer Dynamitexplosionen in Oregon getötet worden, und ebenso hatte man eine Anzahl Eisenbahnladungen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten vernichtet. So kam es, daß sowohl die regulären Truppen wie die Bauern um ihr Leben kämpften.
Das Milizgesetz vom Jahre 1903 trat in Kraft, und die Arbeiter eines Staates wurden unter Androhung von Todesstrafe gezwungen, ihre Arbeitskameraden in anderen Staaten niederzuschießen. Natürlich ging das nicht so ohne weiteres. Viele Milizsoldaten wurden ermordet, und viele Soldaten wurden standrechtlich erschossen.
Die Prophezeiung, die Ernst Kowalt und Asmunsen gegenüber ausgesprochen hatte, ging überraschend in Erfüllung. Beide waren milizpflichtig und wurden für die Strafexpedition ausgehoben, die von Kalifornien gegen die Bauern in Missouri ausgesandt wurde. Kowalt und Asmunsen verweigerten den Dienst. Man machte kurzen Prozeß mit ihnen. Sie wurden vor das Kriegsgericht gestellt und hingerichtet. Den Rücken gegen die feuernde Abteilung, fielen sie.
Viele junge Leute flohen in die Berge, um dem Milizdienst zu entgehen. Dort wurden sie Banditen, und noch ehe die Zeiten ruhiger geworden, war ihr Schicksal besiegelt. Es war drastisch. Die Regierung erließ eine Aufforderung an alle gesetzestreuen Bürger, binnen drei Monaten die Berge zu verlassen und heimzukehren. Nach Ablauf dieser Frist wurde eine halbe Million Soldaten in die Berge geschickt; es gab weder Untersuchung noch Gericht: wo immer ein Mann sich sehen ließ, wurde er auf der Stelle niedergeknallt. Die Truppen operierten so, daß kein Mann, kein Bandit in den Bergen bleiben konnte. Einige Banden, die feste Stellungen hatten, kämpften tapfer, zuletzt aber fand jeder Deserteur der Miliz den Tod.
Noch kräftiger war die Lehre, die der Bevölkerung durch die Bestrafung der Miliz von Kansas erteilt wurde. Die großen Meutereien in Kansas erfolgten zu Beginn der militärischen Operationen gegen die Bauern. Sechstausend Milizleute meuterten. Sie waren schon wochenlang unruhig und trotzig gewesen und daher im Lager festgehalten worden. Ihre offene Meuterei jedoch wurde zweifellos von den Agents provocateurs hervorgerufen.
In der Nacht des 22. April erhoben sie sich und ermordeten ihre Offiziere, von denen nur wenige entkamen. Das ging über den Plan der Eisernen Ferse hinaus; die Agents provocateurs hatten zu gute Arbeit getan. Aber alles schlug für die Eiserne Ferse zum Vorteil aus. Sie hatte den Aufstand vorbereitet, und jetzt gab ihr die Ermordung so vieler Offiziere die Berechtigung zu dem, was folgte. Wie herbeigezaubert erschienen vierzigtausend Soldaten der regulären Armee und umzingelten die Widerspenstigen. Es war eine Falle. Die unglückliche Miliz merkte, daß ihre Maschinengewehre unbrauchbar gemacht waren, und daß die Patronen aus den erbeuteten Magazinen nicht in ihre Gewehre paßten. Sie hißten die weiße Flagge, aber das wurde nicht beachtet. Keiner blieb am Leben. Granaten und Schrapnells wurden von weitem auf sie gefeuert, und als sie in ihrer Verzweiflung gegen die Umzinglungslinien anstürmten, wurden sie von den Maschinengewehren niedergemäht. Ich sprach mit einem Augenzeugen darüber, und er sagte, daß kein Milizmann näher als hundertfünfzig Meter an die Maschinengewehre herangekommen sei. Die Erde war mit Toten bedeckt, und zum Schluß stampfte ein Kavallerieangriff mit dem Trampeln der Pferdehufe, mit Revolver und Säbel die Verwundeten zu Boden. Um dieselbe Zeit wie die Vernichtung der Bauern erfolgte der Aufstand der Kohlenbergleute. Das war der Todeskampf der organisierten Arbeiter. Dreiviertel Million Bergleute traten in den Streik. Aber sie waren zu weit über das Land verstreut, um ihre Stärke ausnutzen zu können. Sie wurden distriktweise abgesondert und zur Unterwerfung gebracht. Das war das erste große Sklaventreiben. Pocock Albert Pocock, ein anderer berüchtigter Streikbrecher jener Zeit, der bis zu seinem Todestage dafür sorgte, daß die Leute in den Kohlengruben an ihrer Arbeit blieben. Ihm folgte sein Sohn Lewis Pocock, und fünf Generationen hindurch beherrschte dieses bemerkenswerte Geschlecht von Sklaventreibern die Kohlengruben. Der älteste Pocock, Pocock I. genannt, wird folgendermaßen beschrieben: »Ein langer, magerer Kopf, von graumeliertem braunen Haar umkränzt, mit starken Backenknochen, glanzlose graue Augen, eine metallische Stimme und nachlässiges Benehmen.« Er war das Kind einfacher Eltern und begann seine Laufbahn als Kellner. Dann wurde er Privatdetektiv bei einer Straßenbahngesellschaft und entwickelte sich allmählich zum professionellen Streikbrecher. Pocock V., der letzte der Dynastie, wurde bei einer geringfügigen Revolte von Minenarbeitern im Indianer-Territorium mit einer Bombe in die Luft gesprengt. Das geschah im Jahre 2073. verdiente sich dabei seine Sporen als Sklaventreiber und den tödlichen Haß des Proletariats. Zahllose Mordversuche auf ihn wurden gemacht, aber er schien gefeit. Er war es, der für die Einführung des russischen Passierscheinsystems unter den Bergleuten verantwortlich war und ferner dafür, daß ihnen das Recht der Freizügigkeit genommen war.
Die Sozialisten blieben fest. Während die Bauern in Flammen und Blut untergingen und die organisierten Arbeiter getrennt wurden, hielten die Sozialisten Frieden und festigten ihre geheime Organisation.
Die Eiserne Ferse, die anfangs gezögert hatte, mit dem ganzen Proletariat auf einmal abzurechnen, fand die Arbeit leichter als erwartet und hätte nichts lieber gesehen als einen Aufstand unsererseits. Wir wichen aber aus, trotz der Tatsache, daß es von Agents provocateurs unter uns wimmelte. Damals waren die Agenten der Eisernen Ferse noch ein wenig schwerfällig. Sie mußten noch viel lernen, unterdessen aber wurden sie von unserer Kampfgruppe ausgerottet. Es war eine bittere, blutige Arbeit, aber wir kämpften für das Leben und die Revolution, und wir mußten den Gegner mit seinen eigenen Waffen schlagen. Aber wir kämpften anständig. Kein Agent der Eisernen Ferse wurde ohne Verhör hingerichtet. Wir mögen Fehler begangen haben in dieser Beziehung, aber sehr wenige. Die mutigsten, kampflustigsten und opferwilligsten Genossen traten in die Kampftruppen ein. Zehn Jahre später hat Ernst einmal an Hand der Zahlen, die ihm die Führer der Kampftruppen gaben, eine Berechnung aufgestellt und ist zu dem Schluß gekommen, daß die durchschnittliche Lebensdauer eines Mannes oder einer Frau nach ihrem Eintritt in die Gruppe noch fünf Jahre betrug. Die Kameraden der Kampftruppe waren alle Helden, und das eigentümliche ist, daß sie Gegner des Tötens waren. Sie handelten gegen ihre Natur, aber sie liebten die Freiheit und kannten kein Opfer, das zu groß für sie war
Diese Kampforganisationen waren ein wenig denen der russischen Revolution nachgebildet, und sie konnten sich trotz unaufhörlicher Anstrengung der Eisernen Ferse drei Jahrhunderte halten. Aus Männern und Frauen bestehend, die durch erhabene Vorsätze angespornt wurden und keine Todesfurcht kannten, übten die Kampftruppen einen starken Einfluß aus und milderten die wilde Brutalität der Herrschenden. Die Geheimagenten der Oligarchie zwangen sie zu unsichtbarer Kriegführung, aber die Oligarchie selbst war gezwungen, die Anweisungen der Gruppen zu befolgen, und oft, wenn sie es nicht tat, wurden ihre Mitglieder mit dem Tode bestraft – ebenso wie die Untergebenen der Oligarchie, die Offiziere der Armee und die Führer der Arbeiterklasse.
Strenge Justiz wurde von diesen organisierten Rächern geübt, am bemerkenswertesten aber waren ihre leidenschaftslosen gerichtlichen Prozeduren. Es gab keine übereilten Urteile. Sobald jemand festgenommen war, wurde ihm unparteiische Untersuchung und jede Gelegenheit zu seiner Verteidigung zugebilligt. Die Notwendigkeit ergab, daß viele Menschen in absentia abgeurteilt wurden, wie z. B. General Lampton. Das geschah im Jahre 2138. Vielleicht der blutdürstigste und bösartigste aller Söldner, die je der Eisernen Ferse dienten, wurde er von den Kampfgruppen benachrichtigt, daß sie Gericht über ihn gehalten, ihn für schuldig befunden und zum Tode verurteilt hätten – und das, nachdem er dreimal gewarnt worden war, seine rohe Behandlung des Proletariats einzustellen. Nach seiner Verurteilung sicherte er sich durch unzählige Schutzmaßnahmen. Jahre vergingen, ohne daß die Kampfgruppe ihr Urteil vollstrecken konnte. Genosse auf Genosse, Männer und Frauen waren erfolglos bei ihren Attentatsversuchen und wurden grausam von der Oligarchie hingerichtet. Der Fall des Generals Lampton gab die Veranlassung zur Wiedereinführung der Kreuzigung als gesetzliches Hinrichtungsmittel. Schließlich aber fand der Verurteilte doch seinen Henker in Gestalt eines siebzehnjährigen Mädchens, Madeline Provence, die, um ihren Plan auszuführen, zwei Jahre lang als Näherin in seinem Palast diente. Sie starb nach langer, furchtbarer Folter im Kerker, heute aber steht sie in Bronze im Pantheon der Brüderschaft in der Wunderstadt Serles. Wir, die wir aus persönlicher Erfahrung kein Blutvergießen kennen, dürfen die Helden der Kampfgruppen nicht zu hart verurteilen. Sie gaben ihr Leben für die Menschheit, kein Opfer war ihnen zu groß, und die unerbittliche Notwendigkeit des blutigen Zeitalters zwang sie zu blutigem Vorgehen. Die Kampfgruppe bildete den einzigen Stachel, den die Eiserne Ferse nie zu entfernen vermochte. Everhard war der Schöpfer dieser merkwürdigen Armee, und ihre Vervollkommnung wie ihr erfolgreiches Fortbestehen während dreier Jahrhunderte legt Zeugnis ab für seine organisatorischen Fähigkeiten und für die feste Grundlage, die er schuf, und auf der die folgende Generation weiter baute. In gewisser Beziehung muß, trotz seiner großen ökonomischen und soziologischen Taten und seiner Leistungen als Führer der Revolution, die Organisation der Kampfgruppen als sein größtes Verdienst angesehen werden.
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Die Aufgabe, die wir uns stellten, war eine dreifache: erstens die Ausrottung der Spitzel der Oligarchie, zweitens die Organisation der Kampftruppen und daneben die allgemeine geheime Organisation der Revolution, drittens die Anstellung unseres eigenen Geheimagenten in jedem Zweig der Oligarchie – in den Arbeiterverbänden und besonders unter den Telegraphisten, Sekretären und Schreibern, im Heer, unter den Agents provocateurs und den Sklaventreibern. Es war eine langsame, gefährliche Arbeit, und oft wurden unsere Anstrengungen durch kostspielige Fehlschläge zunichte gemacht.
Im offenen Kampfe hatte die Eiserne Ferse triumphiert, aber in dem neuen Kampfe, den wir begannen, hielt unsere Organisation stand, und dieser unsichtbare Krieg wurde seltsam und schrecklich. Nichts war sichtbar, vieles nicht einmal zu erraten; der Blinde kämpfte mit dem Blinden, und doch waren alle Pläne zielbewußt und durchdacht. Wir durchdrangen die ganze Organisation der Eisernen Ferse mit unseren Spitzeln, während unsere eigene Organisation von den Spitzeln der Eisernen Ferse durchdrungen wurde. Es war ein finsterer und labyrinthischer Krieg, voller Intrige und Verschwörung, Komplott und Gegenkomplott. Und hinter alledem lauerte stets drohend der gewaltsame, schreckliche Tod. Männer und Frauen, unsere nächsten und besten Genossen, verschwanden. Heute sahen wir sie noch, morgen waren sie verschwunden. Wir sahen sie nie wieder und wußten, daß sie tot waren.
Es gab weder Zuversicht noch Vertrauen mehr. Der Mann, der neben uns kämpfte, war vielleicht, obgleich wir ihn alle kannten, ein Spitzel der Eisernen Ferse. Und trotzdem Vertrauen und Zuversicht fehlten, waren wir genötigt, unsere ganze Arbeit darauf aufzubauen. Oft sahen wir uns betrogen. Es gab schwache Menschen. Die Eiserne Ferse bot Geld, Bequemlichkeit und die Freuden und Herrlichkeiten, die in der Ruhe der Wunderstädte winkten. Uns blieb nur die Genugtuung, einem edlen Ideal treu zu sein. Und schließlich war der Lohn für die, die treu blieben, doch nichts als Gefahr, Folter und Tod.
Es gab schwache Menschen, sagte ich, und diese Schwachen zwangen uns, die einzig mögliche Vergeltung zu üben, die in unserer Macht lag. Und das war die Vergeltung mit dem Tode. Die Notwendigkeit zwang uns, die Verräter zu bestrafen. Jedem, der uns verriet, wurden bis zu einem Dutzend zuverlässiger Rächer auf die Fersen geschickt. Wir mögen bei der Vollstreckung der Urteile an unseren Feinden, wie zum Beispiel den Pococks, versagt haben; in einem aber gab es kein Versagen, und das war die Bestrafung unserer eigenen Verräter. Genossen wurden unter der Vorspiegelung, Verräter zu sein, in die Wunderstädte geschickt, um dort unser Urteil an den wirklichen Verrätern zu vollstrecken. Wir wurden ein solcher Schrecken, daß es gefährlicher war, uns zu verraten, als uns treu zu bleiben.
Die Revolution nahm fast den Charakter von Religion an. Wir beteten sie an als das Heiligtum der Freiheit. In uns ruhte das göttliche Feuer, Männer und Frauen weihten ihr Leben der Sache, und neugeborene Kinder wurden ihr geweiht, wie sie früher dem Dienst Gottes geweiht worden waren. Wir liebten die Menschheit.