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Anklagen

Als die Gäste gegangen waren, warf mein Vater sich auf einen Sessel und brach in ein schallendes Gelächter aus. Seit dem Tode meiner Mutter hatte ich ihn noch nie so lachen hören.

»Ich wette, Doktor Hammerfield ist noch nie in seinem Leben so aufgebracht gewesen«, lachte er. »›Die Höflichkeit geistlicher Unterhaltung‹! Hast du es bemerkt, wie er sanft wie ein Lamm anfing – Everhard, meine ich –, und wie schnell er zum brüllenden Löwen wurde? Er hat einen glänzend geschulten Geist. Er hätte einen vorzüglichen Wissenschaftler abgegeben, wenn seine Energie in die Richtung gelenkt worden wäre.«

Ich brauche kaum zu sagen, daß Ernst Everhard mich ungeheuer interessierte. Es war nicht allein das, was er gesagt, und wie er es gesagt hatte, sondern der Mann an sich. Nie war ich einem solchen Manne begegnet. Ich glaube, es kam daher, daß ich trotz meiner vierundzwanzig Jahre noch nicht verheiratet war. Er gefiel mir, das gestand ich mir selber. Und mein Gefallen an ihm beruhte auf Dingen, die jenseits von Intellekt und Argument lagen. Ungeachtet seiner schwellenden Muskeln und seines Preisboxer-Halses machte er auf mich den Eindruck eines geistreichen jungen Mannes. Ich hatte das Gefühl, daß unter der Maske eines intelligenten Eisenfressers ein zarter, empfindsamer Geist lebte. Woher dies Gefühl kam, weiß ich nicht, aber es muß wohl meine weibliche Intuition gewesen sein.

In dieser tönenden Stimme lag etwas, das mir zu Herzen ging. Sie klang mir noch in den Ohren und ich fühlte, daß ich sie gern wiederhören – und ebensogern das Lachen in seinen Augen wiedersehen würde – dieses Lachen, das den leidenschaftlichen Ernst seines Antlitzes Lügen strafte.

Und eine ganze Reihe wirrer, unbestimmter Gefühle regten sich in mir. Schon damals liebte ich ihn, wenn ich auch überzeugt bin, daß, hätte ich ihn nie wiedergesehen, diese unklaren Gefühle vergangen wären, und ich ihn mit Leichtigkeit vergessen hätte.

Aber ich sollte ihn wiedersehen. Das neu erwachte Interesse meines Vaters für Soziologie, die Gesellschaften, die er gab, waren die Ursache. Mein Vater war nicht Soziologe. Seine Ehe mit meiner Mutter war sehr glücklich gewesen, und in den Forschungen, die er in seiner eigentlichen Wissenschaft, der Physik, anstellte, hatte er ebenfalls Glück gehabt. Als aber meine Mutter starb, konnte seine Arbeit nicht die entstandene Leere ausfüllen. Zuerst befaßte er sich ein wenig mit Philosophie, dann ließ er sich, als das Interesse wach wurde, in das Studium der Nationalökonomie und der Soziologie hineintreiben. Er hatte einen starken Gerechtigkeitssinn und faßte bald eine wahre Leidenschaft, geschehenes Unrecht wieder gutzumachen. Diese Zeichen neuerwachten Lebensmutes nahm ich dankbar wahr, wenn ich mir auch nicht träumen ließ, was dabei herauskommen sollte. Mit der Leidenschaft eines Jünglings stürzte er sich in diese neuen Studien, unbekümmert, wohin sie ihn führten.

Er war stets gewohnt gewesen, im Laboratorium zu arbeiten, und so wurde unser Eßzimmer bald zu einem soziologischen Laboratorium. Hierher kamen zum Essen Männer aller Art und Klassen – Gelehrte, Politiker, Bankleute, Kaufleute, Professoren, Arbeiterführer, Sozialisten und Anarchisten. Er reizte sie zur Diskussion und analysierte ihre Gedanken über Leben und Gesellschaft.

Ernst hatte er kurz vor dem »Pastoren-Abend« kennengelernt. Und als die Gäste gegangen waren, erfuhr ich, wie er seine Bekanntschaft gemacht hatte. Beim Passieren einer Straße war er eines Abends stehengeblieben, um einem Manne zuzuhören, der auf einer Seifenkiste stand und zu einer Schar von Arbeitern redete. Der Mann auf der Kiste war Ernst. Aber er war kein gewöhnlicher Seifenkistenredner. Er stand in hohem Ansehen bei der sozialistischen Parteileitung, war einer der Führer, und zwar der anerkannte Führer in der sozialistischen Philosophie. Aber er hatte eine klare bestimmte Art, Schwerverständliches in einfachen Worten auszudrücken, er war der geborene Erklärer und Lehrer und verschmähte die Seifenkiste nicht als ein Mittel, den Arbeitern seine Parteilehren darzulegen.

Mein Vater war stehengeblieben, um zuzuhören, hatte Interesse gefaßt, ihn angeredet und ihn, nachdem die Bekanntschaft gemacht war, zum »Pastoren-Abend« eingeladen. Nach der Gesellschaft erzählte mir mein Vater das wenige, was er von ihm wußte. Er stammte aus der Arbeiterklasse, wenn er auch zu den Everhards gehörte, die schon vor mehr als zweihundert Jahren in Amerika ansässig gewesen waren In jenen Tagen machte man einen scharfen Unterschied zwischen Eingeborenen und Eingewanderten.. Im Alter von zehn Jahren mußte er schon in der Mühle arbeiten, und später kam er in die Lehre und wurde Hufschmied. Er war Autodidakt, hatte sich selbst Deutsch und Französisch beigebracht, und fristete nun sein Leben durch das Übersetzen wissenschaftlicher und philosophischer Werke für einen schwer kämpfenden sozialistischen Verlag in Chicago. Seine Einnahmen wurden vermehrt durch das geringe Honorar, das seine eigenen volkswirtschaftlichen und philosophischen Schriften ihm eintrugen.

Soviel erfuhr ich, ehe ich zu Bett ging, und lange lag ich wach und hörte im Geist noch den Klang seiner Stimme. Ich erschrak vor meinen eigenen Gedanken. Er war so anders als die Männer meiner Klasse, so fremdartig und so stark. Seine Überlegenheit entzückte und erschreckte mich zugleich, denn meine phantastischen Gedanken trieben ihr mutwilliges Spiel soweit, bis ich mich dabei ertappte, daß ich ihn mir als meinen Geliebten, als meinen Gatten vorstellte. Ich hatte stets gehört, daß die Stärke eines Mannes eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Frauen ausübte; aber er war zu stark. »Nein! Nein!« rief ich. »Es ist unmöglich, unsinnig!« Und am Morgen erwachte ich mit der Sehnsucht, ihn wiederzusehen. Ich wollte ihn sehen, wie er andere Männer mit dem kriegerischen Klang seiner Stimme in der Diskussion abtat; ihn sehen, in all seiner Sicherheit und Kraft, wie er sie aus ihrer Behaglichkeit herausriß und aus ihren ausgetretenen Gedankenbahnen rüttelte. Warum er seine Klopffechterei betrieb? Um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, weil es »zog«, Effekt machte. Und zudem war seine Klopffechterei ein prachtvolles Schauspiel. Sie erregte einen wie der Angriff zur Schlacht.

Mehrere Tage vergingen, in denen ich Ernsts Bücher las, die mein Vater mir lieh. Er schrieb, wie er sprach, knapp, klar und überzeugend. Eben diese klare Schlichtheit war es, die selbst dann überzeugte, wenn man noch zweifelte. Er hatte die Gabe, Klarheit um sich zu verbreiten. Er war der vollendete Erklärer. Und doch war ich trotz seinem Stil in vielem nicht mit ihm einverstanden. Er legte zuviel Gewicht auf das, was er Klassenkampf nannte – den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, den Streit der Interessen. Vater erzählte mir mit großem Vergnügen das Urteil, das Doktor Hammerfield über Ernst gefällt hatte, und das in der Behauptung gipfelte, Ernst sei »ein frecher junger Laffe, den sein bißchen sehr unzureichendes Wissen aufgeblasen hätte«. Doktor Hammerfield wünschte auch nicht wieder mit ihm zusammenzutreffen.

Dagegen erklärte Bischof Morehouse, daß Ernst ihn interessiere, und daß er ihn gern wiedersehen wolle. »Ein starker junger Mann«, sagte er. »Und lebhaft, sehr lebhaft. Aber er ist zu sicher, zu sicher.«

Eines Nachmittags kam Ernst mit Vater. Der Bischof war bereits anwesend, und wir tranken Tee auf der Veranda. Daß Ernst so oft in Berkeley war, erklärte sich aus der Tatsache, daß er an der Universität Vorlesungen über Biologie hörte, und daß er ferner stark an seinem neuen Buche »Philosophie und Revolution Dieses Buch wurde in den dreihundert Jahren der Herrschaft der Eisernen Ferse immer wieder heimlich gedruckt. In der Nationalbibliothek von Ardis befinden sich eine ganze Reihe von Ausgaben verschiedener Verleger.« arbeitete.

Die Veranda schien plötzlich zu eng geworden, als Ernst kam. Nicht, daß er außergewöhnlich groß gewesen wäre – er maß nur ein Meter fünfundsiebzig –, aber er schien eine Atmosphäre von Größe auszustrahlen. Als er mich begrüßte, verriet er eine leichte Verlegenheit, die befremdend wirkte und nicht im Einklang stand mit seinem kühnen Blick und seiner festen, sicheren Hand, die die meine im Augenblick der Begrüßung drückte. Und eben in diesem Augenblick waren seine Augen ruhig und sicher. Er betrachtete mich lange, und eine Frage schien in seinem Blick zu liegen.

»Ich habe gerade in Ihrer ›Philosophie der arbeitenden Klasse‹ gelesen«, sagte ich und sah seine Augen zufrieden aufleuchten.

»Sie haben doch natürlich das Publikum in Betracht gezogen, an das das Buch sich richtet«, antwortete er.

»Ja, und eben deshalb muß ich ein Wörtchen mit Ihnen reden«, sagte ich herausfordernd.

»Ich habe auch einen Strauß mit Ihnen auszufechten, Herr Everhard«, sagte Bischof Morehouse.

Ernst hob die Schultern und nahm eine Tasse Tee, die ich ihm reichte.

Der Bischof ließ mir mit einer Verbeugung den Vortritt.

»Sie schüren den Klassenhaß«, sagte ich. »Ich halte es für unrecht und sträflich, all die niedrigen und rohen Instinkte der arbeitenden Klasse wachzurufen. Klassenhaß ist unsozial, und, wie mir scheint, antisozialistisch.«

»Falsch«, erwiderte er. »Weder im Wortlaut noch im Geist irgendeiner meiner Schriften ist Klassenhaß.«

»Oho!« rief ich vorwurfsvoll, nahm sein Buch und schlug es auf.

Er nippte lächelnd an seinem Tee, während ich die Seiten überflog.

»Seite hundertzweiunddreißig«, las ich laut. »›Daher gibt es im jetzigen Stadium der sozialen Entwicklung als einziges Mittel den Klassenkampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.‹«

Ich blickte ihn triumphierend an.

»Keine Spur von Klassenhaß«, gab er lachend zurück.

»Aber Sie sprechen doch von Klassenkampf«, sagte ich.

»Etwas ganz anderes als Klassenhaß«, erwiderte er.

»Und glauben Sie mir, wir schüren den Haß nicht. Wir sagen, daß der Klassenkampf eine Folge der sozialen Entwicklung ist. Wir sind nicht dafür verantwortlich. Wir schaffen den Klassenkampf nicht. Wir erklären ihn nur, wie Newton das Gesetz der Gravitation erklärt hat. Wir erklären lediglich das Wesen des Interessenkonflikts, der den Klassenkampf hervorruft.«

»Aber es sollte keinen Interessenkonflikt geben!« rief ich.

»Da bin ich völlig mit Ihnen einig«, antwortete er. »Das ist es ja, was wir Sozialisten erstreben – die Beendigung des Interessenkonflikts. Entschuldigen Sie bitte einen Augenblick; lassen Sie mich vorlesen.« Er nahm das Buch und blätterte darin. »Seite hundertsechsundzwanzig: ›Die Periode der Klassenkämpfe, die mit der Zersetzung der ursprünglichen Gütergemeinschaft und der Entstehung des Privateigentums begann, wird mit dem Aufhören des Privateigentums im Sinne des Sozialismus endigen.‹«

»Aber da stimme ich nicht mit Ihnen überein«, fiel der Bischof ein, dessen blasses, asketisches Gesicht durch schwaches Erröten seine Erregung verriet. »Ihre Voraussetzung ist falsch. Es gibt nichts derartiges wie einen Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital – oder, vielmehr, es sollte ihn nicht geben.«

»Danke«, sagte Ernst mit Nachdruck. »Durch diese Behauptung haben Sie mir meine Voraussetzung wiedergegeben.«

»Aber warum muß es einen Konflikt geben?« fragte der Bischof eifrig.

Ernst zuckte die Achsel. »Weil wir einmal so geschaffen sind, denke ich.«

»Aber das sind wir ja gar nicht!« rief der andere.

»Sprechen Sie vom Idealmenschen?« fragte Ernst, »– von dem selbstlosen, gottähnlichen Idealmenschen, der so selten ist, daß er praktisch gar nicht in Frage kommt, oder sprechen Sie vom gewöhnlichen Durchschnittsmenschen?«

»Vom gewöhnlichen Durchschnittsmenschen«, lautete die Antwort.

»Der schwach und fehlbar und Irrtümern verfallen ist?«

Bischof Morehouse nickte.

»Und kleinlich und selbstsüchtig?«

Er nickte wieder.

»Beachten Sie wohl,« sagte Ernst, »ich sagte ›selbstsüchtig.‹«

»Der Durchschnittsmensch ist selbstsüchtig«, gab der Bischof tapfer zu.

»Begehrt alles, was er bekommen kann.«

»Begehrt alles, was er bekommen kann – leider wahr.«

»Dann habe ich Sie.« Ernst ließ seine Kiefer wie eine Falle zuklappen. »Ich werde es Ihnen zeigen. Nehmen Sie einen Mann, der an der Straßenbahn arbeitet.«

»Er hätte diese Arbeit nicht, wenn das Kapital nicht wäre«, unterbrach ihn der Bischof.

»Stimmt, aber Sie werden mir zugeben, daß das Kapital zugrundegehen würde, wenn die Arbeiter nicht die Dividenden verdienten.«

Der Bischof schwieg.

»Geben Sie das zu?« beharrte Ernst.

Der Bischof nickte.

»Dann heben unsere Behauptungen sich gegenseitig auf«, sagte Ernst geschäftsmäßig, »und wir sind wieder, wo wir waren. Also lassen Sie uns wieder von vorne anfangen. Die Arbeiter bei der Straßenbahn liefern die Arbeit. Die Aktionäre liefern das Kapital. Durch die vereinigte Wirkung von Arbeit und Kapital wird das Geld verdient In jenen Tagen übten räuberische Individuen die Kontrolle über alle Transportmittel aus und erhoben vom Publikum eine Abgabe für deren Benutzung.. Das verdiente Geld wird zwischen ihnen geteilt. Der Verdienstanteil des Kapitals heißt ›Dividende‹, der der Arbeit ›Lohn‹«.

»Sehr richtig«, bemerkte der Bischof. »Und es ist kein Grund vorhanden, daß die Teilung nicht auf friedlichem Wege erfolgen sollte.«

»Sie haben schon vergessen, worüber wir uns einig waren«, erwiderte Ernst. »Wir waren uns darüber einig, daß der Durchschnittsmensch selbstsüchtig ist. Er ist der Mensch der Tatsache. Sie sind ins Blaue geflogen und haben einen Unterschied zwischen den Menschen aufgestellt, wie sie sein sollten, aber nicht sind. Kehren Sie wieder auf die Erde zurück. Der Arbeiter, der selbstsüchtig ist, will bei der Teilung haben, was er bekommen kann. Der Kapitalist, der auch selbstsüchtig ist, will ebenfalls bei der Teilung haben, was er bekommen kann. Wenn es aber nur so und so viel zum Teilen gibt, und wenn zwei alles haben wollen, dann ist der Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital ein unversöhnlicher. Solange es Arbeiter und Kapitalisten gibt, werden sie sich über die Teilung streiten. Wenn Sie heute abend in San Franzisko wären, müßten Sie zu Fuß gehen. Dort fährt nicht eine Straßenbahn.«

»Wieder Streik Diese Streitigkeiten waren in jenen irrationellen und anarchistischen Zeiten sehr häufig. Zuweilen weigerten die Arbeiter sich, zu arbeiten. Zuweilen weigerten die Kapitalisten sich, die Arbeiter arbeiten zu lassen. Bei der Heftigkeit und Verwirrung solcher Unstimmigkeiten wurde viel Eigentum zerstört und manches Leben vernichtet. Alles dies ist uns heute unverständlich – ebenso unverständlich wie eine andere Gewohnheit jener Zeit, nämlich die Gepflogenheit von Männern der niederen Klasse, die Einrichtung zu zertrümmern, wenn sie sich mit ihren Frauen zankten.?« fragte der Bischof erschrocken.

»Ja, sie streiten sich über die Verteilung des Gewinns der Straßenbahn.«

Bischof Morehouse wurde erregt.

»Es ist unrecht«, rief er. »Es ist so kurzsichtig von den Arbeitern. Wie können sie Sympathie von uns erwarten –«

»Wenn wir gezwungen werden, zu Fuß zu gehen«, schmunzelte Ernst.

Aber Bischof Morehouse beachtete ihn nicht und fuhr fort: »Ihr Horizont ist zu eng. Menschen sollten Menschen sein und keine wilden Tiere. Jetzt wird es wieder Gewalt und Mord, trauernde Witwen und Waisen geben. Kapital und Arbeit sollten Freunde sein. Sie sollten Hand in Hand zu gegenseitigem Nutzen arbeiten.«

»Ach, jetzt schweben Sie wieder im Blauen«, bemerkte Ernst trocken. »Kommen Sie auf die Erde zurück. Vergessen Sie nicht: Wir waren uns einig, daß der Durchschnittsmensch selbstsüchtig ist.«

»Aber er sollte es nicht sein«, rief der Bischof.

»Da stimme ich mit Ihnen überein«, lautete Ernsts Erwiderung. »Er sollte nicht selbstsüchtig sein. Aber er wird es sein, solange er unter einem sozialen System lebt, das auf einer Schweine-Ethik beruht.«

Der Bischof war entsetzt, und mein Vater schmunzelte.

»Ja, Schweine-Ethik«, fuhr Ernst unbarmherzig fort, »das ist das kapitalistische System. Und dafür tritt Ihre Kirche ein, die predigen Sie, so oft Sie die Kanzel besteigen. Schweine-Ethik! Es gibt keine andere Bezeichnung dafür.«

Bischof Morehouse wandte sich flehend zu meinem Vater, aber der nickte lachend.

»Ich fürchte, Herr Everhard hat recht«, sagte er. »Laissez-faire, die Unterlassungspolitik, jeder für sich, und den Rest soll der Teufel holen. Wie Herr Everhard neulich sagte, ist es die Aufgabe von euch Männern der Kirche, die bestehende Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten, und auf dieser Grundlage steht die Gesellschaft eben.«

»Aber das ist nicht die Lehre Christi!« rief der Bischof.

»Die heutige Kirche lehrt nicht Christus«, warf Ernst schnell ein. »Deshalb will der Arbeiter nichts mit der Kirche zu tun haben. Die Kirche sanktioniert die furchtbare Brutalität und Grausamkeit der Kapitalisten gegen die arbeitende Klasse.«

»Die sanktioniert die Kirche nicht«, wandte der Bischof ein.

»Jedenfalls protestiert die Kirche nicht dagegen«, erwiderte er. »Und wenn die Kirche nicht protestiert, sanktioniert sie; denn vergessen Sie nicht, daß die Kirche von der kapitalistischen Klasse unterhalten wird.«

»In diesem Licht habe ich es noch nicht gesehen«, sagte der Bischof naiv. »Sie müssen unrecht haben. Ich weiß wohl, daß manches in dieser Welt häßlich und schlecht ist. Ich weiß, daß die Kirche das – das Proletariat Proletariat: stammt ursprünglich von dem lateinischen proletarii, ein Name, der zur Zeit des Servius Tullius denen gegeben wurde, die für den Staat nur als Erzeuger von Nachkommenschaft (proles) Wert hatten; mit andern Worten, sie kamen weder für Besitz und Stellung, noch für außergewöhnliche Befähigung in Betracht., wie Sie es nennen, verloren hat.«

»Sie haben das Proletariat nie gehabt«, rief Ernst. »Das Proletariat ist abseits von der Kirche und ohne sie entstanden.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte der Bischof verzagt.

»Dann lassen Sie es mich Ihnen erklären. Mit der Einführung der Maschine und des Fabriksystems gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde die große Masse der arbeitenden Bevölkerung heimatlos gemacht. Das alte Arbeitssystem war zusammengebrochen. Das arbeitende Volk wurde von seinen Dörfern vertrieben und in Fabrikstädten zusammengepfercht. Mütter und Kinder mußten an den neuen Maschinen arbeiten. Alles Familienleben hörte auf. Die Bedingungen waren furchtbar. Es ist eine blutige Geschichte.«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Bischof Morehouse ihn mit schmerzlicher Miene. »Es war schrecklich. Aber das ist anderthalb Jahrhunderte her.«

»Und damals, vor anderthalb Jahrhunderten entstand eben das moderne Proletariat«, fuhr Ernst fort. »Und die Kirche kümmerte sich nicht darum. Während die Kapitalisten aus der Nation ein Schlachthaus machten, blieb die Kirche stumm. Sie protestierte damals so wenig, wie sie es heute tut. Wie Austin Lewis Von den Sozialisten bei der Wahl im Jahre 1906 der christlichen Zeitrechnung aufgestellter Kandidat für den Gouverneurposten von Kalifornien. Er war Engländer von Geburt, Verfasser vieler nationalökonomischer und philosophischer Bücher und einer der bedeutendsten Sozialistenführer seiner Zeit., wenn er von jener Zeit spricht, sagt, haben die, an welche das Gebot »weidet meine Lämmer« ergangen ist, ruhig zugesehen, wie diese Lämmer in die Sklaverei verkauft wurden und sich zu Tode arbeiten mußten Es gibt kein schrecklicheres Blatt in der Geschichte als die Behandlung von Kindern und Frauen in den englischen Fabriken in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung. Aber manche der stolzesten Schicksale jener Tage erwuchsen aus diesen Industriehöllen.. Damals war die Kirche stumm, und ehe ich fortfahre, bitte ich Sie, mir zu sagen, ob Sie mir recht geben oder nicht. War die Kirche damals stumm?«

Bischof Morehouse zögerte. Wie Dr. Hammerfield war er einen solchen »Zusammenprall«, wie Ernst es nannte, nicht gewohnt.

»Die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts ist geschrieben«, sagte Ernst schnell. »Wäre die Kirche nicht stumm, würde sie in den Büchern nicht schweigen.«

»Ich fürchte, die Kirche war stumm«, gestand der Bischof.

»Und die Kirche ist heute noch stumm.«

»Da muß ich widersprechen«, sagte der Bischof.

Ernst machte eine Pause, sah ihn forschend an und nahm dann die Herausforderung an.

»Also schön«, sagte er. »Lassen Sie uns sehen. In Chikago gibt es Frauen, die die ganze Woche für nur neunzig Cents arbeiten. Hat die Kirche dagegen protestiert?«

»Das ist mir ganz neu«, lautete die Antwort. »Neunzig Cents die Woche! Das ist ja schrecklich.«

»Hat die Kirche dagegen protestiert?« beharrte Ernst.

»Die Kirche weiß das nicht.« Der Bischof war offenbar in schwerer Bedrängnis.

»Aber der Kirche ist doch befohlen: ›Weidet meine Lämmer‹«, höhnte Ernst. Und im nächsten Augenblick sagte er: »Verzeihen Sie meinen Hohn, Herr Bischof. Aber können Sie sich wundern, wenn wir die Geduld mit Ihnen verlieren? Wann haben Sie je bei Ihren kapitalistischen Verbänden gegen die Verwendung von Kindern zur Arbeit in den Baumwollspinnereien des Südens protestiert Ein noch besseres Beispiel hätte Everhard vorbringen können, wenn er daran gedacht hätte, wie die Kirche vor ihrer Zeit für die Sklaverei eingetreten war. Im Jahre 1835 stellte die Versammlung der presbyterianisdien Kirche fest: »Sklaverei ist sowohl im Alten wie im Neuen Testament anerkannt und von Gott nicht verboten.« Die Charlestoner Baptisten-Gesellschaft veröffentlichte im Jahre 1835 folgendes: »Das Recht des Herrn, über die Zeit seiner Sklaven zu verfügen, ist klar vom Schöpfer aller Dinge anerkannt, der unbedingt das Besitzrecht über jeden Gegenstand zuerteilen kann, wem ihm beliebt.« Referend E. D. Simon, Doktor der Religionsgeschichte und Professor am Randolph-Macon-Methodist-College in Virginia schrieb: »Die Heilige Schrift bestätigt an vielen Stellen unwiderruflich das Recht auf Sklavenhaltung in Gemäßheit des allgemeinen Besitzrechtes. Das Recht, zu kaufen und zu verkaufen, ist klar bestätigt, ob wir nun die von Gott selbst vorgeschriebene Politik des jüdischen Staates oder die gleichartige Behandlung dieser Angelegenheit durch die Gesetze in allen Jahrhunderten, die Vorschriften des Neuen Testamentes oder unsere Moralgesetze befragen. Immer kommen wir zu dem Schlusse, daß Sklaverei nicht unmoralisch ist. Wenn einmal feststeht, daß die ersten afrikanischen Sklaven gesetzmäßig in die Sklaverei gebracht worden sind, so folgt daraus unerbittlich das Recht, auch ihre Kinder in der Sklaverei zu behalten. Wir sehen also, daß die Sklaverei in Amerika zu Recht besteht.

Es ist durchaus nicht merkwürdig, daß wir dieselben Anschauungen etwa eine Generation später wieder von der Kirche vertreten sehen, und zwar zur Verteidigung des kapitalistischen Eigentums. Im Museum zu Asgard befindet sich ein Buch Henry van Dykes, »Angewandte Essays«. Das Buch erschien im Jahre 1905 der christlichen Zeitrechnung, und wir können daraus ersehen, daß van Dyke Geistlicher gewesen sein muß. Es ist ein gutes Beispiel für das, was Everhard bourgeoises Denken genannt haben würde. Man beachte die Ähnlichkeit zwischen den oben zitierten Äußerungen der Charlestoner Baptistengesellschaft und dem folgenden, siebzig Jahre später von van Dyke geprägten Satze: »Die Bibel lehrt, daß die Welt Gott gehört. Er teilt jedermann nach Gutdünken in Übereinstimmung mit den allgemeinen Gesetzen aus.«
? Sechs- und siebenjährige Kinder arbeiten jede Nacht in Zwölfstundenschichten. Sie sehen nie die Sonne. Sie sterben wie die Fliegen. Die Dividenden werden mit ihrem Blute bezahlt. Und aus den Dividenden werden in Neuengland prachtvolle Kirchen gebaut, in denen Ihresgleichen den schlauen, dickbäuchigen Beziehern dieser Dividenden Plattheiten predigen.«

»Das wußte ich nicht«, murmelte der Bischof leise. Sein Gesicht war bleich, und ihm schien übel zu werden.

»Dann haben Sie also nicht dagegen protestiert.«

Der Bischof schüttelte den Kopf.

»Dann ist die Kirche heute noch so stumm, wie sie es im achtzehnten Jahrhundert war?«

Der Bischof schwieg und Ernst gab dem Gespräch unvermittelt eine andere Wendung.

»Sie wissen, daß ein Geistlicher, der protestieren wollte, entlassen würde.«

»Ich glaube kaum, daß das leicht ist«, lautete die Erwiderung.

»Wollen Sie protestieren?« fragte Ernst.

»Zeigen Sie mir solche Schäden, wie Sie sie anführen, in unserer eignen Gemeinde, und ich werde protestieren.«

»Ich werde sie Ihnen zeigen«, sagte Ernst ruhig. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung. Ich will mit Ihnen eine Wanderung durch die Hölle machen.«

»Und ich werde protestieren.« Die Glieder des Bischofs strafften sich, und seine feinen Züge nahmen die Härte eines Kriegers an. »Die Kirche soll nicht stumm sein.«

»Man wird Sie entlassen«, warnte Ernst.

»Ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen«, lautete die Antwort. »Ich werde beweisen, daß die Kirche nur aus Unwissenheit geirrt hat. Und mehr noch, ich bin überzeugt, daß, was auch immer Schreckliches in der Industrie vorkommt, nur durch die Unwissenheit der kapitalistischen Klasse ermöglicht wird. Sobald sie es erfährt, wird sie alles Unrecht gut machen. Und daß sie es erfährt, soll Sache der Kirche sein.«

Ernst lachte. Er lachte brutal, und mich trieb es, dem Bischof beizustehen.

»Vergessen Sie nicht,« sagte ich, »daß Sie nur die eine Seite der Sache sehen. Es ist viel Gutes in uns, wenn Sie es auch nicht sehen wollen. Bischof Morehouse hat Recht. Das Unrecht der Industrie ist schrecklich, aber er sagt, es rührt nur von der Unwissenheit her. Der Schlund, der zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft klafft, ist zu breit geworden.«

»Der wilde Indianer ist nicht so roh und grausam wie die kapitalistische Klasse«, erwiderte er, und in diesem Augenblick haßte ich ihn.

»Sie kennen uns nicht«, antwortete ich. »Wir sind nicht roh und grausam.«

»Beweisen Sie das«, forderte er mich auf.

»Wie kann ich es Ihnen beweisen?« Ich wurde zornig.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich verlange ja nicht, daß Sie es mir beweisen sollen. Beweisen Sie es sich selber.«

»Ich weiß Bescheid«, sagte ich.

»Sie wissen nichts«, erwiderte er grob.

»Aber Kinder«, sagte Vater besänftigend.

»Es ist mir ganz einerlei« – begann ich unwillig, aber Ernst unterbrach mich.

»Ich glaube, Sie – oder Ihr Vater, was dasselbe ist – haben Geld in den Sierra-Spinnereien angelegt.«

»Was hat das damit zu tun?« rief ich.

»Nicht viel«, begann er langsam. »Nur, daß das Gewand, das Sie tragen, mit Blut befleckt ist. Daß die Nahrung, die Sie essen, blutig ist. Daß das Blut kleiner Kinder und starker Männer von Ihren Dachbalken herabtropft. Wenn ich jetzt die Augen schließe, kann ich es immerfort über mir tropfen hören: Tripp, tropp, tripp, tropp.«

Und indem er die Tat den Worten folgen ließ, schloß er die Augen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Vor Zorn und verletzter Eitelkeit brach ich in Tränen aus. Nie in meinem Leben war man mir so brutal begegnet. Sowohl der Bischof wie mein Vater waren verlegen und bestürzt. Sie versuchten die Unterhaltung in ruhigere Bahnen zu lenken, aber Ernst öffnete die Augen, ließ sie einen Augenblick auf mir ruhen und wandte sich dann ab. Sein Mund war starr und seine Augen auch, und sie lächelten nicht. Was er mir sagen, welche furchtbare Züchtigung er mir angedeihen lassen wollte, habe ich nie erfahren, denn in diesem Augenblick blieb ein Mann, der auf dem Bürgersteig vorbeiging, stehen und sah zu uns herein. Er war groß, ärmlich gekleidet und trug auf dem Rücken eine schwere Last von Rohr- und Bambusständern, Stühlen und Ofenschirmen. Er sah zum Hause herauf, als sei er unschlüssig, ob er eintreten und versuchen sollte, etwas von seiner Ware zu verkaufen.

»Der Mann heißt Jackson«, sagte Ernst.

»Mit dem kräftigen Körper sollte er arbeiten und nicht hausieren«, antwortete ich kurz.

»Sehen Sie seinen linken Ärmel«, sagte Ernst höflich.

Ich blickte hin und sah, daß der Ärmel leer war.

»Blut von diesem Arm war es, das ich von Ihren Dachbalken tropfen hörte«, sagte Ernst mit immer gleichbleibender Höflichkeit. »Er verlor seinen Arm in den Sierra-Spinnereien, und wie ein niedergebrochenes Pferd warfen sie ihn zum Sterben auf die Landstraße. Unter »sie« verstehe ich den Generaldirektor und die Beamten, die von Ihnen und den andern Aktionären für die Leitung der Spinnerei bezahlt werden. Es war ein Unfall. Er erlitt ihn bei dem Versuch, der Gesellschaft ein paar Dollar zu retten. Er geriet mit dem Arm zwischen die Zahnräder. Er hätte das Steinchen ruhig lassen können, das er zwischen den Zähnen sah. Es wäre nur eine Reihe von Stiften verbogen worden. Aber er griff nach dem Stein, und dabei wurde sein Arm gepackt und von den Fingerspitzen bis zur Schulter zerfleischt. Es war Nacht. Die Spinnerei machte Überstunden. Sie schütteten damals eine fette Dividende aus. Jackson hatte viele Stunden gearbeitet, seine Muskeln waren erlahmt, und so führten sie die Bewegung ein wenig langsam aus. Deshalb packte ihn die Maschine. Er hat eine Frau und drei Kinder.«

»Und was tat die Gesellschaft für ihn?« fragte ich darauf.

»Nichts. Ach ja, doch, etwas tat sie. Sie führte den Prozeß, den Jackson nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus auf Schadenersatz anstrengte, erfolgreich durch. Die Gesellschaft beschäftigt sehr tüchtige Rechtsanwälte, wissen Sie.«

»Sie haben nicht alles erzählt«, sagte ich mit Überzeugung. »Oder Sie wissen nicht alles. Vielleicht war der Mann unverschämt.«

»Unverschämt! Ha! Ha!« Sein Lachen war teuflisch. »Du lieber Gott, unverschämt! Mit seinem verstümmelten Arm! Trotz allem war er demütig und bescheiden und dachte gar nicht daran, unverschämt zu sein.«

»Aber das Gericht«, drängte ich. »Der Prozeß wäre doch nicht zu seinen Ungunsten entschieden worden, wenn nicht noch etwas gewesen wäre, das Sie nicht erwähnt haben.«

»Der erste Anwalt der Gesellschaft ist Ingram, ein scharfsinniger Jurist.« Ernst sah mich einen Augenblick gespannt an, dann fuhr er fort: »Ich will Ihnen etwas sagen, Fräulein Cunningham. Untersuchen Sie den Fall Jackson.«

»Das hatte ich mir sowieso vorgenommen«, sagte ich kühl.

»Schön«, meinte er freundlich. »Und ich will Ihnen sagen, wo Sie den Mann finden können. Aber ich zittere für Sie, wenn ich daran denke, was Sie durch Jacksons Arm erfahren werden.«

Und so kam es, daß sowohl der Bischof wie ich auf den Vorschlag Ernsts eingingen. Die beiden entfernten sich und ließen mich allein mit dem schmerzlichen Gefühl eines Unrechts, das mir und meiner Klasse angetan war. Dieser Mann war ein wildes Tier. Ich haßte ihn und tröstete mich nur mit dem Gedanken, daß man eben von einem Angehörigen der arbeitenden Klasse kein anderes Benehmen erwarten konnte.


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