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Beim Kaffee in seinem Stübchen las Martin am nächsten Tage die Morgenzeitung. Es war etwas Neues für ihn, seinen Namen in großen Überschriften auf der ersten Seite zu finden, und zu seiner Überraschung erfuhr er, daß er einer der berüchtigtsten Führer der Oaklander Sozialisten war. Er überflog die heftige Rede, die der junge Redakteur ihm in den Mund gelegt hatte, und obwohl er sich anfangs über die Geschichte sehr ärgerte, warf er doch zuletzt lachend die Zeitung beiseite.

»Entweder muß der Mann betrunken oder verbrecherisch boshaft gewesen sein«, sagte er am Nachmittag von seinem Hochsitz auf dem Bett aus. Brissenden war gekommen und hatte sich müde und erschöpft auf den einzigen Stuhl geworfen.

»Aber was machen Sie sich daraus?« fragte Brissenden. »Sie haben doch sicher nicht den Wunsch, gut mit den Bourgeois-Schweinen zu stehen, die die Zeitungen lesen?«

Martin bedachte sich einen Augenblick.

»Nein, ich mache mir wirklich nichts daraus, gut mit ihnen zu stehen. Nicht das geringste. Andererseits kann es meine Beziehungen zu Ruths Familie ein bißchen erschweren. Ihr Vater hat stets behauptet, daß ich Sozialist sei, und dies blöde Geschwätz wird ihn sicher in seinem Glauben bestärken. Nicht, daß ich mir auch nur das geringste aus seiner Meinung machte – aber was soll man sagen? Ich möchte Ihnen vorlesen, was ich heute geschrieben habe. Es sind ein paar Kleinigkeiten, und ich habe sie ungefähr halb fertig.«

Als er noch beim Vorlesen war, riß Maria die Tür auf und ließ einen geckenhaft gekleideten jungen Mann ein. Er notierte sich schnell den Petroleumkocher und die Küche in der Ecke, ehe sein Blick Martin suchte.

»Setzen Sie sich«, sagte Brissenden.

Martin machte dem jungen Mann auf dem Bett Platz und wartete, daß er sein Anliegen vorbrächte.

»Ich hörte Sie gestern abend reden, Herr Eden, und ich komme, um Sie zu interviewen«, begann er.

Brissenden brach in ein herzliches Lachen aus.

»Ein Bruder Sozialist?« fragte der Reporter und warf Brissenden einen schnellen Blick zu, der den ausgezehrten, sterbenden Mann gleichsam maß.

»Und der hat den Bericht geschrieben«, sagte Martin sanft. »Das ist ja ein reines Kind, was?«

»Warum verprügeln Sie ihn nicht?« fragte Brissenden. »Ich gäbe tausend Dollar dafür, wenn ich nur fünf Minuten meine Lunge in Ordnung hätte.«

Der junge Reporter war etwas verdutzt darüber, daß man so einfach über ihn hinweg redete. Er war wegen seiner vorzüglichen Schilderung der Sozialistenversammlung gelobt worden und hatte jetzt den Auftrag erhalten, Martin Eden, den Führer der organisierten Drohung gegen die Gesellschaft, persönlich zu interviewen.

»Haben Sie etwas dagegen, daß ich Sie photographieren lasse, Herr Eden?« sagte er. »Ich habe einen Pressephotographen draußen stehen, und er sagt, es wäre wohl am besten, Sie gleich aufzunehmen, ehe die Sonne tiefer sinkt. Ich interviewe Sie dann hinterher.«

»Ein Photograph«, sagte Brissenden nachdenklich. »Prügeln Sie ihn, Martin – prügeln Sie ihn.«

»Ich glaube, ich werde alt«, lautete die Antwort. »Ich weiß, daß ich es tun sollte, aber ich kann es wirklich nicht übers Herz bringen. Denn es ist die Mühe nicht wert.«

»Um seiner Mutter willen«, beharrte Brissenden.

»Das ist natürlich ein Standpunkt«, antwortete Martin. »Aber es scheint doch nicht wichtig genug zu sein, um die hinreichende Energie in mir zu wecken. Sehen Sie, es gehört eine gewisse Energie dazu, einen Mann zu verprügeln, und zudem – was liegt daran?«

»Das ist recht – so muß man es auffassen«, meinte der junge Mann leichthin, obwohl er bereits nach der Tür zu schielen begann.

»Aber kein Wort von dem, was er geschrieben hat, ist wahr«, fuhr Martin fort, indem er sich beständig lediglich an Brissenden wandte.

»Es war nur eine ganz allgemeine Beschreibung«, fühlte der junge Mann sich vor. »Und außerdem ist es eine gute Reklame. Darauf kommt es an. Vielleicht habe ich Ihnen wirklich einen Gefallen getan.«

»Es ist eine gute Reklame, Martin«, wiederholte Brissenden feierlich.

»Und einen Gefallen hat er mir getan«, fügte Martin hinzu.

»Also – wo sind Sie geboren, Herr Eden?« fragte der junge Mann mit einer Miene erwartungsvoller Aufmerksamkeit.

»Er macht keine Notizen,« sagte Brissenden, »er behält alles im Kopfe.«

»Das genügt mir.« Der junge Mann bemühte sich, unbesorgt auszusehen. »Kein tüchtiger Reporter braucht sich Notizen zu machen.«

»Ja, das genügte ... gestern abend.« Aber Brissenden war nicht gerade ein Muster an Geduld, und er schlug plötzlich in einen andern Ton um. »Martin, wenn Sie ihn nicht verprügeln, dann tue ich es selber, und wenn ich im nächsten Augenblick tot hinfalle.«

»Was meinen Sie, wenn ich ihm den Hintern versohle?« fragte Martin.

Brissenden überlegte mit der Miene eines Richters und nickte dann.

Im nächsten Augenblick saß Martin auf dem Bettrand, während der junge Mann, das Gesicht nach unten, quer über seinen Knien lag.

»So, nicht beißen«, warnte Martin ihn. »Wenn Sie das tun, kriegen Sie ein paar ins Gesicht, und das wäre schade um so ein hübsches Gesicht.«

Seine erhobene Hand senkte sich und dann hob und senkte sie sich immer wieder in gleichmäßiger, schneller rhythmischer Bewegung. Der junge Mann wehrte und wand sich und fluchte, versuchte aber nicht zu beißen.

Brissenden sah ernsthaft zu, einmal aber wurde er ganz aufgeregt, griff nach der Whiskyflasche und bat: »Lassen Sie mich ihm auch eins versetzen.«

»Dumm, daß meine Hand nicht mehr wollte«, sagte Martin, als er schließlich aufhörte. »Sie ist ganz gefühllos.«

Er hob den jungen Mann auf und setzte ihn auf das Bett.

»Dafür lasse ich Sie einsperren«, fauchte der wie ein wütender Schulknabe, während ihm die Tränen über die brennenden Wangen liefen. »Das sollen Sie mir bezahlen. Warten Sie nur!«

»Das nette Kerlchen«, bemerkte Martin. »Er hat keine Ahnung, daß er sich auf der schiefen Ebene befindet. Es ist nicht ehrlich, es ist nicht anständig, es ist nicht männlich, Lügen über seine Mitmenschen zu erzählen, wie er getan hat, und er weiß es gar nicht.«

»Er ist ja zu uns gekommen, damit wir es ihm erzählen«, warf Brissenden ein.

»Ja, zu mir, den er verleumdet und ruiniert hat. Mein Krämer wird mir zweifellos keinen Kredit mehr geben, und das schlimmste ist, daß der arme Junge aller Wahrscheinlichkeit nach auf seinem Wege weitergeht, bis er zu einem erstklassigen Journalisten und zu einem erstklassigen Schurken herabsinkt.«

»Aber es ist noch Zeit«, meinte Brissenden. »Wer weiß, vielleicht können Sie das demütige Werkzeug zu seiner Rettung werden? Warum haben Sie mir nicht erlaubt, ihm eins zu versetzen, so daß ich sagen konnte, daß ich meine Hand mit im Spiele gehabt hätte.«

»Ich lasse euch beide einsperren, ihr beiden g–g–gemeinen Bestien!« schluchzte die verirrte Seele.

»Nein, sein Mund ist zu hübsch und zu schwach.« Martin schüttelte traurig den Kopf. »Ich fürchte, mich vergebens angestrengt zu haben. Der junge Mann ist nicht zu bessern. Er wird ein großer Journalist werden und Ehre und Ansehen ernten. Er hat kein Gewissen. Das allein wird ihn zu einem großen Manne machen.«

Damit verschwand der junge Mann aus der Tür, bis zum letzten Augenblick in Todesangst, daß Brissenden ihm die Flasche, die er noch in der Hand hielt, in den Rücken puffen würde.

Im Morgenblatt erfuhr Martin eine Menge Neuigkeiten über sich. »Wir sind die geschworenen Feinde der Gesellschaft«, hatte er in einem spaltenlangen Interview gesagt. »Nein, wir sind nicht Anarchisten, sondern Kommunisten.« Als der Reporter ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, daß der Unterschied zwischen diesen beiden Schulen anscheinend sehr gering wäre, hatte Martin dies schweigend mit einem Achselzucken zugegeben. Sein Gesicht war als unsymmetrisch, je nachdem man es von einer oder der andern Seite sah, geschildert, und es waren noch verschiedene Anzeichen von Degeneration erwähnt. Besonders bemerkenswert waren seine Mörderhände und das wilde Funkeln seiner blutunterlaufenen Augen.

Er erfuhr, daß er jeden Abend vor den Arbeitern im Stadtpark redete, und daß er von den Anarchisten und Agitatoren, die dort das Volk entflammten, derjenige war, der die meisten Zuhörer anlockte und die revolutionärsten Reden hielt. Der junge Mann schilderte in kräftigen Farben das armselige Stübchen mit dem Petroleumkocher, dem einzigen Stuhl und dem totenköpfigen Banditen, der ihm Gesellschaft leistete und aussah, als hätte er soeben erst eine zwanzigjährige Einzelhaft in einer Festung abgebüßt.

Der junge Mann hatte keine Zeit verloren. Er hatte Martins Familienverhältnisse aufgespürt und sich eine Photographie von Higginbothams Bar- und Kassageschäft mit Bernard Higginbotham selbst im Vordergrund verschafft. Dieser Herr wurde als ein intelligenter, ruhiger Geschäftsmann geschildert, der nicht die geringste Sympathie mit den Anschauungen seines Schwagers oder mit seinem Schwager überhaupt hatte, den er, nach Darstellung des Reporters, als einen faulen Tagedieb schilderte, der jede ihm angebotene Arbeit ablehnte und sicher noch im Zuchthaus enden würde. Ferner hatte der Reporter Hermann von Schmidt, den Mann Marians, interviewt. Der hatte Martin das schwarze Schaf der Familie genannt und gesagt, daß er nichts von ihm wissen wollte. »Er hat einmal versucht, mich zu betrügen, aber dem habe ich schnell einen Riegel vorgeschoben«, hatte von Schmidt zu dem Reporter gesagt. »Er ist zu klug, um sich hier in der Nähe zu zeigen. Ein Mann, der nicht arbeiten will, taugt nichts, das können Sie ihm von mir bestellen.«

Diesmal war Martin wirklich wütend. Brissenden betrachtete die Geschichte als einen guten Witz, konnte Martin aber nicht trösten, welcher wußte, daß es ihm nicht leicht werden würde, Ruth die Sache zu erklären. Er wußte, daß ihr Vater entzückt sein, und daß er alles tun würde, um die Aufhebung der Verlobung durchzusetzen. Und was er dabei erreichte, sollte Martin bald erfahren. Mit der Nachmittagspost kam ein Brief von Ruth. Martin öffnete ihn in dem Vorgefühl, daß er ihm Unglück brächte, und las ihn in der offenen Tür, wo der Briefträger ihn ihm gegeben hatte. Während des Lesens fuhr seine Hand mechanisch in die Tasche nach dem Tabak und dem Papier, das er, als er noch Zigaretten rauchte, stets dort gehabt hatte. Er machte sich ebensowenig daraus, daß die Tasche leer war, wie er sich überhaupt bewußt war, daß er sich eine Zigarette hatte drehen wollen.

Es war kein leidenschaftlicher Brief. Und es war auch keine Andeutung von Zorn darin. Aber vom ersten bis zum letzten Satz konnte er in dem ganzen Briefe deutlich ihre Kränkung und Enttäuschung spüren. Sie hätte mehr von ihm erwartet, hätte geglaubt, daß er seine jugendliche Wildheit überwinden würde, daß ihre Liebe ihm so viel wert gewesen wäre, daß sie ihn dazu gebracht hätte, ein ernsthaftes, ordentliches Leben zu führen. Jetzt hätten ihre Eltern sehr bestimmt verlangt, daß sie die Verlobung löse. Der Berechtigung dieser Forderung könne sie sich nicht verschließen. Ihre Verbindung könne nie glücklich werden; sie habe vom ersten Augenblick an nur Unglück gebracht. Auf eines aber kam sie immer wieder zurück, und das quälte Martin unsagbar. »Wenn Du nur eine Stellung angenommen oder versucht hättest, Deine Fähigkeiten zu etwas Ordentlichem zu gebrauchen!« schrieb sie. »Aber es sollte nicht sein. Das Leben, das Du in Deiner Jugend geführt hast, ist zu wild und zu zügellos gewesen, und ich verstehe, daß es eigentlich nicht Deine Schuld ist. Du konntest nur Deiner Natur und Deiner Entwicklung gemäß handeln. Und daher tadle ich Dich nicht, Martin, vergiß das nicht! Es war eben ein Irrtum. Wie Vater und Mutter stets behauptet haben, waren wir nicht füreinander geschaffen, und wir sollten beide froh sein, daß wir es entdeckt haben, ehe es zu spät war ... Es hat keinen Zweck, daß Du versuchst, mich zu sprechen«, schrieb sie am Schluß. »Es würde nur eine peinliche Begegnung für uns, wie für meine Mutter sein. Ich habe ihr schon Sorge und Kummer genug gemacht, und ich werde lange Zeit brauchen, um es wieder gutzumachen.«

Er las den Brief sorgsam von Anfang bis zu Ende durch und las ihn dann noch einmal, ehe er sich niedersetzte, um ihn zu beantworten. Er berichtete in kurzen Zügen, was er auf der Sozialistenversammlung gesagt hatte, und zeigte, daß es in jeder Beziehung gerade das Gegenteil von dem war, was die Zeitung ihm in den Mund gelegt hatte. Zum Schluß des Briefes schrieb er, daß er immer noch Gottes erkorener Liebender sei, der um ihre Liebe bettle. »Bitte, antworte mir,« schrieb er, »und in Deiner Antwort brauchst Du mir nur eines zu sagen. Liebst Du mich? Das ist alles – antworte mir nur auf diese eine Frage.« Aber weder am nächsten noch an dem darauffolgenden Tage kam eine Antwort. »Überfällig« lag unberührt auf dem Tische, und der Haufen zurückgesandter Manuskripte unterm Tische wuchs beständig. Zum erstenmal litt Martin an Schlaflosigkeit und warf sich lange, ruhelose Nächte hindurch hin und her. Dreimal ging er zu Morses, wurde aber jedesmal von dem Diener, der ihm öffnete, abgewiesen. Brissenden lag krank in seinem Hotel, zu schwach, um sich rühren zu können, und wenn Martin auch oft bei ihm war, belästigte er ihn doch nie mit seinen Sorgen.

Denn Martin hatte viele Sorgen. Die Wirkungen der Tat des jungen Reporters waren noch größer, als Martin sich gedacht hatte. Der portugiesische Krämer verweigerte ihm weiteren Kredit, und der Gemüsehändler, der Amerikaner und darauf stolz war, nannte ihn einen Landesverräter und wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben – ja, er trieb seinen Patriotismus so weit, daß er Martins Konto strich und ihm verbot, es je zu begleichen. Das Gerede in der Nachbarschaft spiegelte dieselben Gefühle wider, und die Erbitterung gegen ihn war groß. Niemand wollte etwas mit einem Sozialistenverräter zu tun haben. Die arme Maria war voll Zweifel und ängstlich, blieb ihm aber treu. Die Kinder in der Nachbarschaft überwanden die Ehrfurcht, die der feine Wagen, der Martin einmal besucht hatte, ihnen eingeflößt hatte, und riefen ihm, wenn sie sich außer Reichweite befanden, Schimpfworte nach. Die Silvasche Jugend jedoch verteidigte ihn kräftig, lieferte mehr als eine blutige Schlacht, um seine Ehre zu schützen, und blaue Augen und blutige Nasen gehörten bald zur Tagesordnung, was Marias Kummer und Sorge noch vermehrte.

Einmal traf Martin auf der Straße Gertrude und erfuhr, daß – was für ihn übrigens selbstverständlich war – Bernard Higginbotham wütete, weil Martin öffentlich Schimpf und Schande über die Familie gebracht hatte, und daß er ihm verböte, je seinen Fuß wieder über seine Schwelle zu setzen.

»Warum gehst du nicht fort, Martin?« sagte Gertrude. »Geh fort, verschaff' dir irgendwo Arbeit und bleib dort. Wenn alles vergessen ist, kannst du ja wiederkommen.«

Martin schüttelte den Kopf, gab ihr aber keine Erklärung. Wie sollte er es ihr auch erklären? Er erschrak über den furchtbaren Schlund, der zwischen ihm und den Seinen klaffte. Nie konnte er ihn überbrücken und ihnen seine Stellung, die Stellung Nietzsches dem Sozialismus gegenüber erklären. Die englische Sprache, oder überhaupt jede Sprache, hatte nicht Worte genug, um ihnen seine Haltung und sein Benehmen verständlich zu machen. Für sie war und blieb es das Höchste, daß er sich Arbeit verschaffen mußte. Das war ihr erstes und letztes Wort. Das war der ganze Inhalt ihres Gedankenlexikons. Schaff' dir Arbeit! Arbeite! – Arme dumme Sklaven! dachte er, während er mit seiner Schwester sprach. Kein Wunder, daß die Welt den Starken gehörte. Die Sklaven waren von ihrer eigenen Sklaverei besessen. Feste Arbeit war für sie der goldene Fetisch, vor dem sie sich anbetend auf die Knie warfen.

Als Gertrude ihm Geld anbot, schüttelte er den Kopf, obwohl er wußte, daß er, ehe der Tag zu Ende ging, zum Pfandleiher wandern mußte.

»Komm Bernard jetzt nicht in die Quere«, warnte sie ihn. »Wenn ein paar Monate vergangen sind, und er sich etwas beruhigt hat, dann kannst du, wenn du willst, eine Anstellung bei ihm bekommen und die Karre für ihn fahren. Wenn du mich brauchst, so schicke nach mir, und ich komme.«

Sie ging weinend und schnaufend, und beim Anblick ihrer plumpen Gestalt und ihres schweren Ganges fühlte er einen Stich im Herzen. Als er ihr nachsah, war es ihm, als ob das ganze Gebäude, das er mit Hilfe Nietzsches errichtet hatte, zu wanken und in Schutt zu stürzen begann. Theoretisch und von einem objektiven Standpunkt aus gesehen, war die Sklavenklasse gut und schön, aber nicht ganz so befriedigend war es, wenn es die eigene Familie galt. Und doch – hatte je ein Sklave gelebt, der von den Starken zu Boden getreten war, dann war es seine Schwester Gertrude. Er lachte zornig über dieses Paradox. Ja, er war ein netter Anhänger Nietzsches, daß er seine intellektuelle Auffassung von dem ersten Gefühl, dem er begegnete, ja, von der Sklavenmoral selbst erschüttern ließ, denn das eben war sein Mitleid mit der Schwester. Die wahren edlen Männer waren über Mitleid und Erbarmen erhaben. Mitleid und Erbarmen waren in den Katakomben der Sklaven entstanden und nichts als die Seelenqual und der Schweiß der Elenden und Schwächlinge.

 

* * *


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