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Die Sonne des Glücks war für Martin aufgegangen. Am Tage nach Ruths Besuch empfing er einen Scheck auf drei Dollar von einem New Yorker Wochenblatt für drei Anekdoten. Zwei Tage später nahm eine Chikagoer Zeitung seine »Schatzgräber« an und versprach, bei Erscheinen zehn Dollar zu bezahlen. Das war allerdings ein niedriger Preis, aber es war der erste Aufsatz, den er geschrieben hatte – sein allererster Versuch, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Und zu alledem wurde sein zweiter Versuch, die abenteuerliche Erzählung für Knaben, von einer Jugendzeitschrift angenommen. Zwar boten sie ihm für die zweitausendeinhundert Zeilen lange Erzählung nur zehn Dollar bei Erscheinen, was ungefähr fünfundsiebzig Cent für hundert Zeilen entsprach; andererseits war es ja aber sein zweiter Versuch, und er wußte gut, daß es eine unbeholfene, wertlose Arbeit war.

Aber selbst seine frühesten Arbeiten wurden nicht von der Unbeholfenheit gekennzeichnet, die der Mittelmäßigkeit eigen ist. Was sie charakterisierte, war die Unbeholfenheit zu großer Kraft; aber deshalb war Martin doch froh, daß er seine ersten Versuche für ein Butterbrot verkaufte. Er wußte, was sie wert waren, und die Erwerbung dieses Wissens hatte eben ein tüchtiges Stück Zeit gekostet. Das größte Vertrauen setzte er auf seine späteren Arbeiten. Er hatte dafür gekämpft, etwas Besseres als ein Durchschnittsschriftsteller zu werden. Er hatte sich bemüht, sich für den von ihm gewählten Beruf auszurüsten. Andererseits hatte er seine Kraft nicht preisgegeben. Er strebte bewußt danach, diese Kraft durch Vermeidung jeder Übertreibung zu vermehren. Er hatte auch seine Liebe zum Realistischen nicht aufgegeben. Er schrieb realistisch. Gleichzeitig aber versuchte er, die Realistik mit Phantasie und Schönheit zu vereinigen. Was er suchte, war leidenschaftlicher Realismus, mit menschlichem Streben und Glauben gepaart. Er wollte das Leben wiedergeben, wie es war, mit allem Tasten und Trachten der menschlichen Seele.

Bei seinem Lesen hatte er zwei Literaturrichtungen entdeckt. Die eine behandelte die Menschen als Götter, ohne daran zu denken, daß sie der Erde entsprossen waren, die andere behandelte sie als Lehm, ohne auf die schlummernden Träume und göttlichen Eingebungen in ihnen zu achten. Nach Martins Meinung hatten beide Richtungen unrecht, weil sie zu einseitig in ihren Zielen und Ansichten waren. Ein Kompromiß zwischen beiden kam der Wahrheit am nächsten, obwohl es der Gottrichtung nicht schmeichelte und die Lehmrichtung direkt herausforderte und sie brutal und tierisch schalt. Mit seiner Erzählung »Abenteuer«, die Ruth nicht so recht zusagte, hatte Martin geglaubt, sein Ideal wahrer Unterhaltungsliteratur erreicht zu haben; und in einem Essay »Gott und Lehm« hatte er seine Ansichten über diese Frage entwickelt.

Aber »Abenteuer« und alles, was er selbst für die besten seiner Arbeiten hielt, reisten immer noch von Redaktion zu Redaktion. Seine früheren Arbeiten schätzte er nur insofern, als sie ihm eine gewisse Geldsumme einbrachten, und seine Schreckensgeschichten, von denen er schon zwei verkauft hatte, hielt er weder für hohe Kunst noch für das Beste, was er geschaffen hatte. Für ihn waren sie nichts als phantastisch, obwohl über ihnen der ganze Zauber ruhte, den wahres Wirklichkeitsgepräge schenkt und das eben war es, was ihre Stärke ausmachte. Er betrachtete diesen Versuch, dem Grotesken und Unmöglichen ein gewisses Wirklichkeitsgepräge zu verleihen, als einen Trick – bestenfalls als einen gewandten Trick. Aber mit hoher Literatur hatten diese Dinge nichts zu tun. In rein artistischer Beziehung standen sie vielleicht hoch, aber er leugnete den Wert der Artistik, wenn sie nicht mit dem rein Menschlichen verbunden war. Der von ihm angewandte Trick hatte darin bestanden, daß er eine Maske von Menschlichkeit vor das Antlitz seiner Technik legte, und das hatte er in dem Dutzend Schreckensgeschichten versucht, die er schrieb, ehe er die größeren Höhen der Erzählungen »Abenteuer«, »Freunde«, »Der Topf« und »Der Wein des Lebens« erreichte.

Dank den drei Dollar, die er für die Anekdoten erhalten hatte, konnte er sich eben durchschlagen, bis er den Scheck von der »Weißen Maus« erhielt. Mit dem ersten Scheck ging er zu dem mißtrauischen portugiesischen Krämer, dem er einen Dollar a conto bezahlte, und die beiden Dollar, die ihm blieben, teilte er zwischen Bäcker und Gemüsehändler. Fleisch konnte Martin sich noch nicht leisten, und er schränkte sich sehr ein, bis er den Scheck von der »Weißen Maus« erhielt. Er wußte nicht recht, wie er es mit dem Scheck machen sollte. Er war noch nie im Leben in einer Bank gewesen und hegte den völlig kindlichen Wunsch, in eine der großen Banken in Oakland zu spazieren und den endossierten Scheck auf vierzig Dollar auf den Tisch zu werfen. Andererseits sagte ihm seine Vernunft, daß es klug wäre, ihn beim Krämer einzuwechseln und ihm dadurch zu imponieren, was später einen erhöhten Kredit zur Folge haben konnte. Er entschloß sich zögernd für den Krämer, bezahlte seine ganze Rechnung bei ihm, und verließ ihn, die Tasche voll von klingenden Münzen. Auch den andern Händlern bezahlte er alles, was er ihnen schuldete, löste sein Zeug und sein Fahrrad ein, erlegte einen Monat Miete für die Schreibmaschine, bezahlte Maria die Monatsmiete, die er ihr schuldig war, und dazu einen Monat voraus. Und dann blieb ihm noch ein Überschuß von fast drei Dollar für unvorhergesehene Ausgaben.

Die kleine Summe schien ihm ein ganzes Vermögen zu sein. Sobald er sein Zeug eingelöst hatte, begab er sich zu Ruth, und unterwegs konnte er es nicht lassen, mit der kleinen Handvoll Silbermünzen, die er in der Tasche hatte, zu rasseln. Es ging ihm wie einem Manne, der vom Hungertode errettet ist, und er konnte die Finger nicht vom Gelde lassen. Er war weder geldgierig noch kleinlich, aber diese Münzen bedeuteten ihm mehr als soundso viele Dollar und Cent. Sie bedeuteten, daß das Glück gekommen war, und der auf den Münzen geprägte Adler war für ihn eine geflügelte Siegesgöttin.

Ohne sich dessen recht bewußt zu sein, hatte er ein Gefühl, daß die Welt herrlich sei. Sicher war sie jetzt schöner in seinen Augen. Viele Wochen lang war sie traurig und finster gewesen, jetzt aber, da er fast alle Schulden bezahlt, drei Dollar in der Tasche hatte und von seinem eigenen Erfolg erfüllt war, schien die Sonne klar und warm, und selbst ein Regenschauer, der die Fußgänger unversehens durchnäßte, bedeutete ihm fast eine amüsante Zerstreuung. Als er hungerte, hatten seine Gedanken oft bei den Tausenden geweilt, die, wie er wußte, in der ganzen Welt hungerten, jetzt aber, da er selbst satt war, herrschte der Gedanke an die Tausende von Hungernden nicht mehr in seinem Kopfe vor. Er vergaß sie. Und, weil er selbst verliebt war, dachte er statt dessen an die zahllosen Verliebten in der ganzen Welt. Ohne sich bewußt damit zu beschäftigen, fühlte er, wie Motive zu Liebesgedichten in seinem Hirn entstanden, und der Schöpferdrang überwältigte ihn so, daß er zwei Haltestellen zu weit fuhr und sich nicht einmal darüber ärgerte.

Er fand das Haus der Familie Morse voll von Gästen. Zwei Kusinen Ruths waren aus San Rafael zu Besuch gekommen, und unter dem Vorwand, sie zu unterhalten, verfolgte Frau Morse ihren Plan, Ruth mit Jugend zu umgeben. Der Feldzug hatte während der zwangsweisen Abwesenheit Martins begonnen und war jetzt in vollem Gange. Sie machte es sich besonders zur Aufgabe, Männer ins Haus zu ziehen, die wirklich etwas leisteten. So traf Martin denn außer den Kusinen Dorothy und Florence zwei Universitätsprofessoren, einen jungen Offizier, einen Schulkameraden Ruths, der soeben von den Philippinen heimgekehrt, ferner einen jungen Mann namens Melville, der Privatsekretär von Joseph Perkins, dem Präsident der San-Franziskoer Trust-Company war, und endlich einen leibhaftigen Bankkassierer, Charles Hapgood, einen jugendlichen Mann von fünfunddreißig, der an der Stanford Universität studiert hatte, Mitglied zweier angesehener Klubs und einer der Redner der republikanischen Partei bei den Wahlkämpfen, kurz, ein junger Mann mit einer Zukunft war. Unter den jungen Mädchen befand sich eine, die Porträts malte, eine andere, die Berufsmusikerin war, und eine dritte, die ihren Doktor der Nationalökonomie gemacht und sich eine gewisse lokale Berühmtheit durch ihre Studien im Arbeiterviertel von San Franzisko erworben hatte. Aber diese jungen Mädchen nahmen in Frau Morses Plänen keinen größeren Raum ein. Bestenfalls waren sie notwendiges Zubehör. Es sollten eben Männer ins Haus gezogen werden.

»Reg' dich nicht auf, wenn du sprichst«, warnte Ruth ihn, ehe die Feuerprobe der Vorstellung begann. Er benahm sich anfangs etwas steif, weil ihn ein Gefühl seiner eignen Ungeschicklichkeit bedrückte, namentlich wegen seiner Schultern, die, wie gewöhnlich, Möbel und Nippesgegenstände bedrohten. Die Gesellschaft trug auch dazu bei, ihn nervös zu machen, denn noch nie war er mit so erhabenen Geschöpfen und noch dazu mit so vielen auf einmal in enge Berührung gekommen.

Charles Hapgood, der Bankkassierer, übte eine starke Wirkung auf ihn aus, und er beschloß im stillen, ihn bei der ersten Gelegenheit näher zu untersuchen. Denn hinter Martins Bewunderung lauerte sein eigenes kräftiges Ich, und er fühlte den Sporn, sich mit diesen Männern und Frauen zu messen und zu versuchen, herauszubekommen, was sie mehr als er aus Büchern und Leben gelernt hatten.

Ruths Augen schweiften immer wieder zu ihm hin, um zu sehen, wie er fertig wurde, und sie war froh überrascht über die Leichtigkeit, mit der er die Bekanntschaft ihrer Kusinen machte. Er war durchaus nicht aufgeregt, und als er sich jetzt setzte, war er auch von der Qual befreit, die seine Schultern ihm verursachten. Ruth wußte, daß sie begabte, geistreiche, aber oberflächliche Mädchen waren, und als sie abends in ihren Schlafzimmern saßen und schwatzten, konnte sie ihre Lobreden über Martin nicht verstehen. Andererseits hatte er – der in seinen eigenen Kreisen als ein witziger, schlagfertiger Bursche und als der Ausgelassenste bei Bällen und Sonntagsausflügen galt – gefunden, daß es ein leichtes war, mit diesen vornehmen jungen Mädchen zu scherzen und in aller Gutmütigkeit eine Lanze zu brechen. Und heute stand das Glück an seiner Seite, klopfte ihm auf die Schulter und sagte, er hätte es gut gemacht, er dürfte lachen und andere lachen machen, ohne sich bedrückt zu fühlen.

Später zeigte es sich, daß Ruths Besorgnis nicht ganz unbegründet war. Martin und Professor Caldwell hatten sich, allen sichtbar, in einer Ecke gefunden, und wenn Martin auch nicht mehr mit seinen Händen in der Luft herumfocht, so sagte Ruths scharf entwickelter kritischer Blick ihr, daß er seine Augen zu oft blitzen und funkeln ließ, daß er zu schnell und begeistert redete, und daß er sich zu sehr hinreißen und in der Hitze des Gefechts das rote Blut seine Wangen zu tief färben ließ. Es fehlte ihm an Schicklichkeitssinn und Selbstbeherrschung, und er bildete einen ausgesprochenen Gegensatz zu dem jungen Literaturprofessor, mit dem er sprach.

Aber Martin dachte nicht an die Wirkung, die er ausübte. Er hatte sofort das Training und den großen Fonds von Kenntnissen bei dem andern bemerkt. Professor Caldwell hatte seinerseits keine Ahnung, daß Martin die Literaturprofessoren im allgemeinen verachtete. Martin wollte ihn zum Fachsimpeln verleiten, und obwohl Caldwell anfangs anscheinend keine Lust dazu hatte, glückte es Martin schließlich doch, seine Unlust zu besiegen, denn Martin konnte nicht einsehen, warum er nicht über sein Fach sprechen sollte.

»Es ist ebenso sinnlos wie unrecht,« hatte er vor einigen Wochen zu Ruth gesagt, »daß man nicht ›fachsimpeln‹ darf. Warum in aller Welt kommen Männer und Frauen denn zusammen, wenn sie nicht das Beste in sich auswechseln sollen? Und das Beste, das sie in sich haben, ist eben das, mit dem sie sich ihr Brot verdienen, in dem sie Spezialisten sind, in dem sie Tag und Nacht gearbeitet, von dem sie sogar geträumt haben. Denk dir, wenn Charles Butler sich der Etikette beugen und anfangen wollte, über Paul Verlaine, das deutsche Drama oder die Romane von d'Annunzio zu reden! Wir würden uns ja zu Tode langweilen. Wenn ich Charles Butler schon anhören muß, dann ziehe ich es doch vor, ihn über Jura reden zu hören. Das ist das Beste, was er an sich hat, und das Leben ist so kurz, daß ich aus allen Männern und Frauen, denen ich auf meinem Wege begegne, das Beste heraushaben will.«

»Aber«, hatte Ruth eingewandt, »es gibt doch auch Gegenstände, die alle interessieren.«

»Da irrst du dich«, war er fortgefahren. »Alle Menschen, die der guten Gesellschaft angehören, alle Cliquen in der guten Gesellschaft – oder richtiger, fast alle Menschen und Cliquen – ahmen Leute nach, die über ihnen stehen. Nun, und wer steht über ihnen? Die Tagediebe – die reichen Tagediebe. Die wissen in der Regel nichts von dem, was die Menschen wissen, die etwas tun. Eine Unterhaltung über derartige Dinge anzuhören, hieße sich langweilen, und deshalb bestimmen die Tagediebe, daß derlei »Fach« sei, und daß man nicht darüber reden dürfe. Ferner bestimmen sie, was nicht Fach ist, und worüber man reden darf, und das sind die letzten Opern, die letzten Romane, Karten, Billard, Cocktails, Automobile, Pferdeausstellungen, Forellenfischerei, Thunfischerei, Jagd, Segelsport usw. Und – beachte es wohl – das sind eben die Dinge, die die Tagediebe kennen. Sie sind in Wirklichkeit die Fachsimpeleien der Tagediebe, und das allerkomischste ist, daß viele begabte Menschen, und solche, die sich dafür halten, sich von den Tagedieben imponieren lassen. Ich für mein Teil will von den Menschen das Beste, was in ihnen steckt, und dann kannst du es meinetwegen Fachsimpelei nennen, oder wie du willst.«

Und Ruth hatte ihn nicht verstanden. Dieser Angriff auf das Bestehende, den er sich hier erlaubte, war in ihren Augen der reine Eigensinn.

Die Folge war, daß Martin Professor Caldwell mit seinem eigenen Eifer ansteckte und ihn reizte, sich auszusprechen. Als Ruth zu ihnen trat, hörte sie Martin sagen:

»Aber Sie können doch ganz unmöglich derartige ketzerische Anschauungen an der Universität vorbringen?«

Professor Caldwell zuckte die Achseln.

»Der brave Steuerzahler und Politiker, Sie wissen ja. Sacramento stellt uns an, und daher müssen wir uns vor Sacramento und seinen Regierenden, vor der Parteipresse oder vor der Presse beider Parteien beugen.«

»Ja, das ist klar; aber wie stellen Sie sich persönlich dazu?« beharrte Martin. »Sie müssen sich ja wie ein Fisch auf dem Trockenen fühlen.«

»Ja, ich bin auch wohl eine Art Hecht im Universitätsteich. Zuweilen habe ich auch das Gefühl, ein Fisch auf dem Trockenen zu sein und nach Paris in eine Einsiedlerhöhle im Viertel der armen Dichter oder in die traurige Bohème zu gehören, die in den billigen Restaurants im Quartier Latin Rotwein trinkt und Mittag ißt, und mit lauter, deutlicher Stimme ihre radikalen Anschauungen über alles unter der Sonne ausspricht. Andererseits gibt es so viele Fragen, in denen ich unsicher bin. Ich fürchte mich davor, Angesicht zu Angesicht mit meiner eigenen menschlichen Schwäche zu stehen, die mich ständig hindert, alle Faktoren in irgendeinem Problem – durchgreifende menschliche Probleme, wissen Sie – zu berücksichtigen.«

Und während er sprach, ertappte sich Martin dabei, wie »Das Lied des Passats« ihm auf die Lippen kam:

»Morgens und mittags und mitternachts
blas ich die Segel ihm rund.«

Die Worte berauschten ihn, und er hatte das unklare Gefühl, daß der andere ihn an den Passat gemahnte, an den stetigen, kühlen, starken Nordostpassat. Er war ruhig, er war zuverlässig, und doch lag eine gewisse Veränderlichkeit über ihm. Martin hatte das Gefühl, daß er nie seine volle Meinung aussprach, gerade wie er oft das Gefühl gehabt hatte, daß der Passat nie alle seine Kräfte verausgabte, sondern immer noch einen Teil davon in Reserve behielt. Die Visionen arbeiteten in Martin wie nur je. Sein Hirn war eine von allen Seiten zugängliche, aus Erinnerungen und Phantasien erbaute Riesenhalle, deren Inhalt stets geordnet und ausgestellt war. Was immer sich im Augenblick ereignete – vor Martins Geist zeigten sich sofort – zumeist in Bildern – Gegensätze und Ähnlichkeiten. Das geschah rein automatisch, und diese Bilder waren eine nie fehlende Begleitung seines täglichen Lebens. Gerade wie Ruths Gesicht in einem Augenblick der Eifersucht vor seinen Augen einen vergessenen Mondscheinsturm erstehen ließ, und wie Professor Caldwell ihn an den Nordostpassat, der die weißschäumenden Seen über das purpurne Meer trieb, erinnerte, so entstanden von Augenblick zu Augenblick nicht wirre, eher übersichtliche, erkennende Erinnerungsbilder vor ihm. Diese Visionen kamen aus den Taten und Eindrücken der Vergangenheit, aus Ereignissen und aus Büchern, die er gestern gelesen – ein zahlloser Schwarm von Erscheinungen, die seinem Geist wachend und schlafend zuströmten.

So kam es, daß Martin, als er Professor Caldwells leichter Rede – der Unterhaltung eines begabten, gebildeten Mannes – lauschte, sich selbst in seiner Vergangenheit sah. Er sah sich in den Tagen, als er ein richtiger Strolch, mit steifem Hut, Wolljacke und weitausladenden Schulterbewegungen und als es sein Ideal gewesen war, ein Benehmen zur Schau zu tragen, das die Polizei gerade noch erlaubte. Er verbarg es sich nicht und versuchte es auch nicht zu beschönigen. Zu einer Zeit seines Lebens war er ein richtiger Strolch gewesen, der Anführer einer Bande, die der Polizei ein Dorn im Auge und braven Arbeitern ein Schrecken gewesen war. Aber seine Ideale hatten sich geändert. Er blickte sich nach den wohlerzogenen, gutgekleideten Männern und Frauen um, die ihn umgaben, und atmete die Atmosphäre von Kultur und Bildung ein, während er gleichzeitig sich selbst als ganz jungen Menschen mit seinem steifen Hut, seiner Wolljacke und seinen zähen, schwingenden Bewegungen durch die Stube schlendern sah. Und dieses Bild des jungen Stromers von den Straßenecken verschmolz mit dem jungen Manne, der hier saß und mit einem richtigen Universitätsprofessor sprach.

Denn, trotz allem, hatte er nie eine bleibende Stätte gefunden. Er hatte überall hingepaßt, war immer und überall beliebt gewesen, weil er sowohl bei der Arbeit wie beim Vergnügen der erste, und weil er bereit und imstande war, sich für sein Recht zu schlagen und die Achtung seiner Umgebung zu erringen. Aber er hatte nie Wurzeln geschlagen. Er hatte insofern zu seiner Umgebung gepaßt, als er seine Genossen befriedigt hatte, aber sich selbst hatte er nie befriedigt. Er war stets von einem Gefühl der Rastlosigkeit gepeinigt worden; stets hatte er einen Ruf aus einer Welt gehört, die nicht die seine war, und sein ganzes Leben hatte er gesucht, bis er Bücher, Kunst und Liebe fand. Und nun stand er mitten darin – von all seinen Genossen, die diese Abenteuer mit erlebt hatten, der einzige, der sich Zutritt zum Morseschen Kreis hatte verschaffen können.

Aber diese Gedanken und Bilder hinderten ihn nicht, den Darlegungen Professor Caldwells zu folgen. Und während er ihm mit Verständnis und Kritik zuhörte, bemerkte er die ungebrochene Kette von Kenntnissen bei dem andern. Bei sich fand er hin und wieder im Laufe des Gesprächs kleinere und größere Lücken, ganze Gebiete, die ihm unbekannt waren. Dennoch wußte er, daß er im großen und ganzen eine richtige Auffassung hatte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann er die Lücken ausgefüllt hatte. Und dann – ja dann sollten sie nur sehen! Er hatte das Gefühl, als säße er ehrfürchtig lauschend zu Füßen des Professors. Dann aber begann er eine gewisse Schwäche in der Urteilskraft des andern zu spüren – eine Schwäche, die so flüchtig war und so schwer zu fassen, daß er sie vielleicht gar nicht bemerkt hätte, wäre sie nicht die ganze Zeit dagewesen. Und als er sie faßte, spürte er, daß er dem andern mit einem Schlage ebenbürtig geworden war.

Ruth trat zum zweiten Male zu ihnen in dem Augenblick, als Martin das Wort ergriff.

»Ich will Ihnen sagen, wo Sie unrecht haben, oder vielmehr, was die Schwäche Ihrer Argumente ausmacht. Sie wissen nichts von Biologie – rechnen nicht mit ihr als notwendigem Faktor. Ja, ich meine die richtige, darstellende Biologie, von Grund auf, von Laboratorien und Reagenzröhrchen und so weiter, bis zu den umfassendsten ästhetischen und soziologischen Generalisierungen.«

Ruth war ganz entsetzt. Sie hatte zwei Vorlesungszyklen bei Professor Caldwell gehört, und sie betrachtete ihn als eine lebende Vorratskammer allen Wissens.

»Ich verstehe nicht recht, was Sie meinen«, sagte Caldwell unsicher.

Martin war nicht ganz sicher, ob er nicht doch verstanden hätte.

»Dann will ich versuchen, es Ihnen zu erklären«, sagte er. »Ich erinnere mich, einmal in einem ägyptischen Geschichtswerk gelesen zu haben, daß man die ägyptische Kunst nicht verstehen könne, ohne zuvor die Bodenfrage studiert zu haben.«

»Sehr richtig«, nickte der Professor.

»Und mir scheint,« fuhr Martin fort, »daß man über die Bodenfrage und übrigens über alle Fragen nichts erfahren kann, ohne im voraus zu wissen, was das Leben ist. Wie können wir Gesetze und Einrichtungen, religiöse und andere Gebräuche verstehen, ohne nicht nur zu verstehen, wie die Menschen sind, die sie geschaffen haben, sondern auch wie der Stoff ist, aus dem die Geschöpfe gemacht sind? Ist unsere Literatur weniger menschlich als die Literatur und Bildhauerkunst Ägyptens? Gibt es etwa ein Universum, das wir kennen, und das nicht der Entwicklungslehre unterworfen ist? Oh, ich weiß sehr gut, daß man ein sehr umfangreiches Entwicklungsgesetz für die verschiedenen Kunstarten aufgestellt hat, aber das scheint mir zu mechanisch. Das menschliche Wesen ist dabei ganz außer acht gelassen. Die Entwicklung des Werkzeugs, der Harfe, von Musik, Gesang und Tanz, das ist alles sehr schön und sehr ausführlich behandelt, aber wie steht es mit der Entwicklung des Menschen selbst, mit der Vervollkommnung dessen, was sein innerstes Wesen ausmachte, ehe er sein erstes Werkzeug machte und sein erstes Lied stammelte? Das ist es, woran Sie nicht denken, und was ich Biologie nenne. Das ist Biologie in weitestem Sinne.

»Ich weiß sehr wohl, daß ich mich nicht zusammenhängend ausdrücke, aber ich habe versucht, die Idee darzulegen. Es fiel mir erst ein, als Sie sprachen, so daß ich sie nicht ganz in der richtigen Form abliefern konnte. Sie sprachen selbst von der menschlichen Schwäche, die einen hinderte, alle Faktoren in Betracht zu ziehen. Und nun lassen Sie selbst – so sehe ich es jedenfalls an – den biologischen Faktor außer acht, den Stoff, aus dem alles gemacht ist, der allen Künsten zugrunde liegt, und der Kette und Einschlag aller menschlichen Handlungen und Vollkommenheiten ist.«

Zu Ruths Erstaunen wurde Martin nicht sofort zu Boden geschmettert, aber sie dachte sich, daß die Antwort des Professors wohl von Nachsicht mit Martins Jugend diktiert wäre. Er schwieg eine ganze Minute und spielte mit seiner Uhrkette.

»Wissen Sie,« sagte er schließlich, »ich habe schon einmal dieselbe Kritik über meine Arbeit gehört – und zwar von einem sehr großen Mann, von einem Wissenschaftler und Anhänger der Entwicklungslehre, Joseph le Conte. Aber er ist tot, und ich glaubte, daß ich in Zukunft unentdeckt bleiben könnte – und nun kommen Sie und entschleiern mich. Nun, ernst gesprochen – und dies ist ein Geständnis –, ich glaube, es ist etwas an Ihrer Behauptung und sogar ein ganz Teil. Ich bin zu klassisch, nicht genügend vertraut mit dem darlegenden Teil der Wissenschaft und kann als Entschuldigung nur die Erziehung anführen, die ich erhalten, und eine gewisse angeborene Faulheit, die mich hindert, mich mit dieser Arbeit abzugeben. Sie werden mir wohl kaum glauben, daß ich nie in einem chemischen oder physikalischen Laboratorium gewesen bin? Aber wahr ist es doch. Le Conte hat recht und Sie auch, Herr Eden. Jedenfalls zu einem gewissen Grade – wie weit, weiß ich nicht.«

Ruth zog Martin beiseite und flüsterte:

»Du solltest Professor Caldwell nicht so mit Beschlag belegen. Vielleicht möchte auch ein anderer mit ihm reden.«

»Du hast recht, entschuldige«, gab Martin reuig zu. »Aber ich habe ihn tüchtig aufgerüttelt, und er war so interessant, daß ich an nichts anderes dachte. Weißt du, er ist fabelhaft, er ist der begabteste Mensch, mit dem ich je gesprochen habe. Und ich will dir etwas sagen. Ich dachte einmal, daß alle, die akademische Bildung genossen haben oder eine hervorragende Stellung einnehmen, ebenso begabt und intelligent seien wie er.«

»Er ist eine Ausnahme«, antwortete sie.

»Das sollte ich meinen. Also mit wem soll ich jetzt reden? Ach, hör', bring' mich mit dem Bankkassierer zusammen.«

Martin sprach eine Viertelstunde lang mit ihm, und die ganze Zeit ließ sein Benehmen, selbst in Ruths Augen, nichts zu wünschen übrig. Nicht ein einziges Mal blitzten seine Augen, nicht ein einziges Mal stieg ihm das Blut in die Wangen, und die Ruhe und das Gleichgewicht, womit er sprach, erstaunten sie. In Martins Augen aber fiel der ganze Stand der Bankkassierer im Laufe dieser Viertelstunde um hundert Prozent, und den ganzen Abend über hatte er den Eindruck, daß Bankkassierer und Leute, die nichts als Plattheiten redeten, synonyme Begriffe waren.

Den jungen Offizier fand er gutmütig und offen: es war ein gesunder Bursche, zufrieden mit der Stellung, die Geburt und Zufall ihm gegeben hatten. Als Martin hörte, daß er zwei Jahre die Universität besucht hatte, mußte er unwillkürlich denken, wo er seine Kenntnisse versteckt hätte. Aber er gefiel ihm immer noch besser als der Bankkassierer mit seinen Plattheiten.

»Ich habe eigentlich gar nichts gegen Plattheiten«, sagte er später zu Ruth. »Was mich aber reizt und ganz nervös macht, ist die pompöse Sicherheit, diese unsagbare Selbstzufriedenheit und Überlegenheit, mit der sie vorgebracht werden, und die Zeit, die darauf verschwendet wird. In der Zeit, die der Mann brauchte, um mir zu erzählen, daß die Arbeiterpartei mit den Demokraten zusammengegangen sei, hätte ich ihm die ganze Reformationsgeschichte erzählen können.«

»Es tut mir leid, daß er dir nicht gefällt«, antwortete sie. »Er ist einer von Charles Butlers besonderen Günstlingen. Butler sagt, daß er zuverlässig und ehrlich ist – er nennt ihn den Felsen und sagt, daß jede Bank sicher auf ihn bauen könnte.«

»Daran zweifle ich nicht nach dem wenigen, was ich von ihm sah, und nach dem noch wenigeren, was ich von ihm hörte; aber ich denke nicht mehr so groß von den Banken wie früher. Du bist mir doch nicht böse, daß ich meine Meinung sage, Liebling?«

»Nein, nein, es ist sehr interessant.«

»Ja,« fuhr Martin eifrig fort, »ich bin ja wie ein Barbar, der die ersten Eindrücke von einer zivilisierten Welt empfängt. Es muß sehr interessant für den zivilisierten Menschen sein, über solche Eindrücke zu hören.«

»Wie gefallen dir meine Kusinen?« fragte Ruth.

»Sie gefallen mir besser als die andern. Sie haben sehr viel Humor und geben sich nicht anders, als sie sind.«

»Die andern Frauen gefallen dir also nicht?«

Er schüttelte den Kopf.

»Die sozial arbeitende Frau ist ja nichts als ein soziologischer Papagei, und ich bin sicher, daß sie nicht einen einzigen originellen Gedanken in ihrem Hirn hat. Und die Porträtmalerin ist furchtbar langweilig. Sie würde eine glänzende Frau für den Bankkassierer abgeben. Und die Musikdame! Wenn ihre Finger auch noch so gewandt, ihre Technik und ihr Ausdruck noch so bewundernswert sind – so hat sie doch nicht die geringste Ahnung von Musik.«

»Sie spielt herrlich«, protestierte Ruth.

»Ja, sie ist zweifellos eine große Virtuosin, was die rein äußere Technik betrifft, aber vom innersten Wesen der Musik hat sie keine Ahnung. Ich fragte sie, was die Musik für sie bedeutete – du weißt, daß ich immer neugierig bin, dieses eine zu erfahren –, und sie wußte es nicht, außer, daß sie die Musik eben liebte, daß sie die größte aller Künste wäre, und daß sie für sie mehr als das Leben selbst sei.«

»Du hast sie alle zum Fachsimpeln gezwungen«, fiel Ruth ihm ins Wort.

»Das räume ich ein. Aber wenn sie schon beim Fachsimpeln versagten, dann denk' dir nur, was ich gelitten haben würde, wenn sie von andern Dingen geredet hätten. Ich glaubte einmal, daß man hier, wo alle Bedingungen für Kultur und Bildung gegeben wären ...«, er hielt einen Augenblick inne und sah wieder sein jugendliches Ebenbild in steifem Hut und Wolljacke zur Tür hereinkommen und durchs Zimmer schlendern. »Wie gesagt, ich glaubte, alle Männer und Frauen hier wären begabt und geistvoll. Jetzt aber, nach dem bißchen, was ich von ihnen gesehen habe, erscheinen sie mir wie eine Schar von Nullen, und fünfundneunzig Prozent von ihnen sind sterbenslangweilig. Aber dieser Professor Caldwell – der ist anders. Er ist ein Mann, durch und durch und bis zum letzten Atem seiner Hirnmasse.«

Ruths Gesicht klärte sich auf.

»Erzähle mir etwas von ihm«, bat sie. »Nicht, wie groß und begabt er ist – das weiß ich selbst gut –, sondern was du an ihm auszusetzen hast. Darauf bin ich sehr gespannt.«

»Vielleicht setze ich mich dabei in die Nesseln«, scherzte Martin, nachdem er sich einen Augenblick bedacht hatte. »Aber wie wäre es, wenn du mir zuerst deine Meinung sagtest. Oder findest du ihn vielleicht vollkommen?«

»Ich habe zwei von seinen Vorlesungzyklen gehört, und ich kenne ihn seit zwei Jahren. Daher möchte ich so gern etwas über deinen ersten Eindruck hören.«

»Meinen schlechten Eindruck, meinst du. Nun ja, also: Er hat sicher all die guten Eigenschaften, die du in ihm suchst, und auf alle Fälle ist er das schönste Exemplar eines Intellektuellen, dem ich je begegnet bin. Aber er ist ein Mann, der eine geheime Schande mit sich herumträgt.«

»Nein, nein«, fuhr er eifrig fort. »Keine armselige, gemeine Schande. Was ich meine, ist, daß er versucht hat, den Dingen auf den Grund zu gehen, daß er sich nun vor dem, was er gesehen hat, fürchtet und sich einzureden versucht, daß er es nie gesehen hätte. Vielleicht habe ich mich nicht richtig ausgedrückt, und ich will versuchen, es dir auf eine andere Weise klarzumachen: ein Mann, der den Weg zum verborgenen Tempel gefunden, aber nicht beschritten hat; der vielleicht einen Schimmer des Tempels gesehen, sich nachher aber selbst zu überzeugen versucht hat, daß es nur eine Fata Morgana war. Oder, sagen wir so: ein Mann, der Großes hätte verrichten können, aber nicht genügend Wert darauf gelegt hat, es zu tun, und der jetzt im Innersten bedauert, daß er es nicht getan hat; der im geheimen den Lohn verlacht hat, der ihm zugefallen wäre, wenn er es getan hätte, und der sich im geheimen noch mehr nach dem Lohn und nach der Freude an der Arbeit gesehnt hat.«

»Ich fasse ihn nicht so auf«, sagte sie. »Und übrigens verstehe ich auch nicht ganz, was du meinst.«

»Es ist nur ein unbestimmtes Gefühl bei mir«, sagte Martin mit einem Versuch, um den Kern der Sache herumzukommen. »Ich habe eigentlich keine Beweise dafür. Es ist nur ein Gefühl und sicher ein falsches. Du mußt es natürlich besser wissen als ich.«

Aber Martin brachte von dem Abend bei Ruth das Gefühl mit heim, daß er etwas nicht verstanden hätte und sich darüber nicht klar werden könnte. Er war enttäuscht über sein Ziel, über die Menschen, deren Verkehr er so mühsam erstrebt hatte. Andererseits lag etwas Ermutigendes in seinem eigenen Erfolg. Es war leichter gewesen, zu ihnen emporzuklimmen, als er gedacht hatte. Er war der Mann, das zu tun, und (das versuchte er sich nicht in falscher Scham zu verbergen) all den Menschen, zu denen er emporgeklommen, war er überlegen – natürlich mit Ausnahme von Professor Caldwell. Über Leben und Bücher wußte er mehr als sie, und er wunderte sich, in welchen Ecken und Ritzen sie ihre Erziehung verstecken mochten. Er wußte nicht, daß er selbst ungewöhnliche geistige Fähigkeiten besaß, und wußte auch nicht, daß die Menschen, welche die Tiefe auszuloten versuchten und die großen Gedanken dachten, nicht in den Stuben der Familie Morse zu finden waren; und ebensowenig ließ er sich träumen, daß diese Menschen einsamen Adlern glichen, die allein, hoch über der Erde und dem wimmelnden Leben der geselligen Menschen im azurblauen Himmel flogen.

 

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