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Es war ein schwerer Sommer für Martin. Die Lektoren und Redakteure machten Ferien, und die Blätter, die ihre Entscheidung sonst im Laufe von drei Wochen fällten, behielten seine Manuskripte jetzt drei Monate oder länger. Sein einziger Trost war, daß dieser völlige Stillstand gleichbedeutend mit einer Ersparnis an Briefmarken war. Nur die Räuber waren so tätig wie je, und bei ihnen brachte Martin jetzt alle seine früheren Arbeiten wie »Die Perlenfischer«, »Die See als Beruf«, »Schildkrötenfang« und »Der Nordostpassat« an. Für diese Manuskripte erhielt er keinen Pfennig. Allerdings erzielte er nach einer Korrespondenz von sechs Monaten eine Art Kompromiß, durch das er für »Schildkrötenfang« eine Rasiermaschine erhielt; ebenso war die »Acropolis« darauf eingegangen, ihm für den »Nordostpassat« fünf Dollar zu bezahlen und ihm außerdem das Blatt fünf Jahre lang frei zu schicken; der zweite Teil der Verpflichtung wurde wenigstens erfüllt.
Für ein Sonett auf Stevenson glückte es ihm, einem Redakteur in Boston, der eine Zeitschrift im feinsten literarischen Geschmack und mit dem schmälsten Budget leitete, zwei Dollar zu entreißen. »Die Peri und die Perle«, ein hübsches Gedicht von zweihundert Zeilen, das er soeben in weißglühender Begeisterung geschrieben hatte, gewann ihm das Herz eines San-Franziskoer Redakteurs. Da die betreffende Zeitschrift indessen von einer großen Eisenbahngesellschaft herausgegeben wurde, bot ihm der Redakteur das Honorar in Form einer Dauerfahrkarte an. Martin fragte an, ob die Fahrkarte übertragbar sei, das war sie jedoch nicht, und da ihm somit die Möglichkeit genommen war, etwas damit zu verdienen, forderte er sein Gedicht zurück. Er bekam es auch, und zwar mit einem bedauernden Schreiben des Redakteurs. Und Martin schickte es wieder nach San Franzisko, diesmal an »The Hornet«, eine Zeitschrift, die mit den strahlendsten Aussichten von einem hochbegabten Journalisten gegründet worden war, dessen Licht aber lange vor Martins Geburt sich zu verdunkeln begann. Der Redakteur versprach Martin fünfzehn Dollar, vergaß aber nach dem Erscheinen offenbar sein Versprechen. Als Martin mehrere Briefe geschrieben hatte, die nicht berücksichtigt wurden, verfaßte er schließlich ein erbittertes Schreiben, das denn auch eine Antwort zur Folge hatte. Es war von einem neuen Redakteur geschrieben, der Martin kühl mitteilte, daß er für die Fehler seines Vorgängers nicht verantwortlich wäre und selbst nicht sehr hoch von der Erzählung dächte.
Aber die schlimmste Erfahrung machte Martin doch mit »The Globe«, einem Chikagoer Magazin. Er hatte seine »Seelyrik« nicht angeboten, ehe die harte Not ihn dazu zwang. Nachdem die Sammlung von einem Dutzend Zeitschriften abgelehnt war, landete sie schließlich bei »The Globe«. Die Sammlung bestand aus dreißig Gedichten; und er sollte einen Dollar für jedes haben. Im ersten Monat erschienen vier, und er empfing auch umgehend einen Scheck auf vier Dollar. Als er aber das Blatt durchsah, erschrak er über die Art und Weise, wie seine Arbeit mißhandelt war. In einigen Fällen war der Titel durch einen andern ersetzt, der meistens ganz mißweisend war, am meisten ging es aber doch über die Gedichte selbst her. Ganze Verse waren ausgelassen, vertauscht oder durch Verse ersetzt, die nicht die seinen waren. Martin stöhnte und schwitzte und raufte sich die Haare. Er konnte es nicht fassen, daß ein Redakteur, der bei vollem Verstande war, einen solchen Vandalismus begehen konnte. Und er stellte sich vor, daß seine Gedichte vom Laufburschen oder der Stenotypistin »verbessert« waren. Martin schrieb sofort an den Redakteur und bat ihn, den Abdruck der Gedichte einzustellen und sie ihm zurückzuschicken. Er schrieb immer wieder, bat und drohte, erhielt jedoch keine Antwort. Monat auf Monat wurden seine Gedichte weiter mißhandelt, bis alle dreißig erschienen waren, und Monat auf Monat erhielt er einen Scheck für die Gedichte, die in der letzten Nummer gestanden hatten.
Aber trotz all diesem Mißgeschick hielt der Gedanke an den Scheck der »Weißen Maus« seinen Mut immer noch aufrecht, und das, obgleich er in immer steigendem Maße von der Gelegenheitsarbeit in Anspruch genommen wurde. Er fand heraus, daß er mit Leichtigkeit etwas in Agrarzeitungen und Handelsblättern anbringen konnte, während die religiösen Wochenschriften nur elend bezahlten. Er dachte lange darüber nach, wie er es am besten machen könnte, Ruth zu treffen, und kam schließlich zu dem Ergebnis, daß die langen Wege von Oakland bis zu ihrem Heim zuviel Zeit in Anspruch nahmen, so daß er es vorzog, statt seines Fahrrades zunächst seinen schwarzen Anzug zu versetzen. Dadurch machte er sich etwas Bewegung und sparte Zeit, so daß er mehr arbeiten und doch Ruth treffen konnte. Mit Hilfe eines Paares leinener Kniehosen und eines alten Sweaters stellte er sich ein sehr anständiges Radfahrkostüm zusammen, so daß er Nachmittagsfahrten mit Ruth machen konnte.
Er hatte nicht viel Gelegenheit, sie in ihrem Heim zu sehen, wo die Mutter immer noch unerbittlich ihren Plan, Gäste ins Haus zu ziehen, verfolgte. Die erhabenen Wesen, die er dort traf, und zu denen er noch vor so kurzer Zeit aufgesehen hatte, langweilten ihn jetzt. Sie waren nicht mehr erhaben. Er war nervös und reizbar – teils wegen seiner pekuniären Schwierigkeiten und Enttäuschungen und teils aus Überanstrengung – und die Unterhaltung der Leute brachte ihn fast von Sinnen. Er war nicht übertrieben selbstsüchtig, aber er maß ihre Beschränktheit in Gedanken nach den Gesichtspunkten der großen Denker in den Büchern, die er las. In Ruths Heim traf er nie einen großen Geist außer Professor Caldwell, und ihn hatte er auch nur das eine Mal getroffen. Die anderen waren Dummköpfe, sie waren oberflächlich, dogmatisch und unwissend. Ihre Unwissenheit verblüffte ihn. Was war das nur mit ihnen? Wo hatten sie ihre Erziehung gelassen? Ihnen hatten dieselben Bücher zur Verfügung gestanden wie ihm. Woher kam es, daß sie keine Ausbeute von ihnen hatten?
Er wußte, daß die großen Geister, die tiefsinnigen, rationellen Denker existierten. Er hatte seine Beweise aus den Büchern – den Büchern, dank denen er sich über das Niveau der Familie Morse erhoben hatte. Und er wußte, daß es größere Geister in der Welt gab als die, die er im Morseschen Kreise traf. Er las englische Romane, die in der feinen Welt spielten, und in denen von Männern und Frauen die Rede war, die über Politik und Philosophie sprachen. Und er las von den Salons in den Großstädten, ja, sogar in den Vereinigten Staaten, wo die Männer der Kunst und der Intelligenz sich versammelten. Früher war er so naiv gewesen zu glauben, daß alle gutgekleideten Menschen, die über der arbeitenden Klasse standen, im Besitz von Intelligenz und wirklichem Schönheitssinn wären. Für ihn hatte ein gewisser Zusammenhang zwischen Kultur und steifen Kragen bestanden, und er war dem Glauben verfallen gewesen, daß akademische Bildung und wirkliche Kenntnisse ein und dasselbe waren.
Nun, er wollte kämpfen und immer höher steigen. Und er wollte Ruth mitnehmen. Er liebte sie heiß und war überzeugt, daß sie leuchten würde, wohin auch immer sie käme. Wie er wußte, daß er von der Umgebung, in der er seine Jugend verlebt hatte, gehemmt worden war, so dachte er jetzt, daß auch sie in ähnlicher Weise gehemmt würde. Sie hatte keine Möglichkeit, sich zu entwickeln. Die Bücher auf den Regalen ihres Vaters, die Gemälde an den Wänden, die Noten auf dem Klavier – das alles war nur Vorspieglung falscher Tatsachen. Für wirkliche Literatur, wirkliche Malerei, wirkliche Musik existierten die Morses und ihresgleichen nicht. Und mehr als all das war das Leben, in bezug auf das sie sich der größten, hoffnungslosesten Unwissenheit hingaben. Trotz ihren unitarischen Neigungen und den freien konservativen Anschauungen, hinter denen sie sich verschanzten, waren sie doch zwei Generationen hinter der fortschreitenden Wissenschaft zurückgeblieben; ihr ganzes Denken war mittelalterlich, und ihre Auffassung von den geheimsten Rätseln des Daseins und des Universums war in seinen Augen dieselbe Methode, die so jung wie das jüngste Geschlecht und so alt wie der Höhlenbewohner, ja, älter als er war – dieselbe Methode, die die ersten Affenmenschen sich vor der Dunkelheit fürchten, die den ersten Hebräer sich Eva als aus Adams Rippe entstanden vorstellen ließ, die Descartes veranlaßte, aus dem Schatten, den sein eigenes unwissendes Ich warf, eine idealistische Weltanschauung aufzubauen, und die den berühmten britischen Geistlichen dazu brachte, die Entwicklungslehre in einer so scharfen, beißenden Satire anzugreifen, daß sie unmittelbar den Beifall seiner Zeitgenossen gewann und seinen Namen mit Schande in das Buch der Geschichte einschrieb.
So dachte Martin, und er dachte weiter, bis er erkannte, daß all diese Rechtsanwälte, Offiziere, Geschäftsleute und Bankkassierer, die er getroffen, und die Angehörigen der arbeitenden Klasse, die er gekannt hatte, auf gleichem Fuße standen, außer den Unterschieden in ihrer Nahrung, Kleidung und Wohnung. Sicher war, daß ihnen allen das gewisse Mehr fehlte, das er in sich selber und in den Büchern fand. Die Morses hatten ihm das Beste gezeigt, was ihre soziale Stellung bieten konnte, und es begeisterte ihn nicht. Selbst ein Armer, Sklave der Pfandleiher, wußte er sich doch den Menschen, die er bei Morses traf, überlegen; und wenn sich sein einziger anständiger Anzug nicht im Leihamt befand, bewegte er sich unter ihnen, als sei er Herr des Lebens, bebend in einem Gefühl der Schmach, verwandt der, die ein Fürst fühlen mochte, wenn er dazu verurteilt war, sein Leben unter Schweinehirten zu verbringen.
»Sie hassen und fürchten die Sozialisten«, bemerkte er eines Tages beim Mittagessen zu Herrn Morse. »Aber warum tun Sie das eigentlich? Sie kennen doch weder sie noch ihre Grundsätze.«
In diese Richtung war das Gespräch durch Frau Morse gebracht worden, die nicht ohne Hintergedanken das Loblied des Herrn Hapgood gesungen hatte. Der Kassierer war Martins schwarzes Schaf, und wenn die Rede auf diesen Mann der Plattheiten kam, geriet er leicht aus dem Häuschen.
»Ja,« hatte er gesagt, »Charlie Hapgood ist ein junger Mann mit einer Zukunft – das hat man mir gesagt. Und es ist auch wahr. Er wird sicher, ehe er stirbt, einen Gouverneursposten bekleiden und – wer weiß – vielleicht Senatsmitglied werden.«
»Wieso glauben Sie das?« hatte sie gefragt.
»Ich habe ihn bei dem letzten Wahlkampf reden hören. Seine Rede war so dummschlau und unoriginell und dabei so überzeugend, daß die Parteiführer ihn unbedingt für einen vollkommen sicheren Mann ansehen müssen, während seine Plattheiten denen des Durchschnittwählers in dem Maße gleichen, daß – nun, Sie wissen ja, das man allen Menschen schmeichelt, wenn man ihren Gedanken Ausdruck verleiht und sie ihnen präsentiert.«
»Ich glaube wirklich, du bist eifersüchtig auf Charlie Hapgood«, war Ruth eingefallen.
»Gott behüte!«
Der entsetzte Ausdruck in Martins Gesicht hatte Frau Morse aufgebracht.
»Sie wollen doch nicht sagen, daß Charlie Hapgood dumm ist?« fragte sie eisig.
»Nicht mehr als der Republikaner im allgemeinen«, lautete die Antwort. »Oder der Demokrat im allgemeinen. Sie sind alle dumm, wenn sie nicht schlau sind, und es gibt nur wenige, die schlau sind. Die einzigen klugen Republikaner sind die Millionäre und ihre bewußten Mitläufer. Die wissen, wo ihr Vorteil liegt, sie wissen, warum.«
»Ich bin Republikaner«, warf Herr Morse leicht hin. »Bitte, wie klassifizieren Sie mich?«
»Sie sind ein unbewußter Mitläufer.«
»Mitläufer?«
»Ja, gewiß, Sie arbeiten für die Korporation. Ihre Klienten sind nicht in der arbeitenden Klasse oder unter den Verbrechern zu finden. Sie leben nicht von Männern, die ihre Frauen mißhandeln, oder von Taschendieben. Sie verdienen sich Ihr Brot bei den Gebietern der oberen Schichten, und wer einem Manne Brot gibt, ist sein Herr. Ja, Sie sind ein Mitläufer. Sie haben das Interesse, die Kapitalsaufhäufungen, denen sie dienen, zu stützen.«
Herr Morse hatte einen roten Kopf bekommen.
»Ich muß sagen,« sagte er, »daß Sie wie ein schurkischer Sozialist reden.«
Und da hatte Martin seine Bemerkung gemacht:
»Sie hassen und fürchten die Sozialisten, aber warum? Sie kennen ja weder sie noch ihre Grundsätze.«
»Die Grundsätze, die Sie haben, klingen jedenfalls sehr nach Sozialismus«, erwiderte Herr Morse, während Ruth ängstlich von einem zum andern blickte und Frau Morse vor Freude strahlte, weil sich eine Gelegenheit geboten hatte, ihren Mann zum Zorn zu reizen.
»Wenn ich sage, daß die Republikaner dumm sind, und meine, daß Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geplatzte Seifenblasen seien, so macht mich das noch nicht zum Sozialisten«, sagte Martin lächelnd. »Glauben Sie mir, Herr Morse. Sie sind eigentlich mehr Sozialist als ich, der ich ein Feind des Sozialismus bin.«
»Jetzt belieben Sie zu scherzen«, war alles, was dem andern einfiel.
»Durchaus nicht. Es ist mein voller Ernst, Sie glauben noch an Gleichheit, und doch arbeiten Sie für die Korporation, die sich mit nichts anderm beschäftigt, als die Gleichheit zu begraben. Und Sie nennen mich einen Sozialisten, weil ich die Gleichheit leugne, weil ich eben Ihr eigenes Lebensprinzip bestätige. Die Republikaner sind Feinde des Gleichheitsprinzips, obwohl die meisten von ihnen dieses Wort gerade als Kampfruf benutzen. Im Namen der Gleichheit vernichten sie die Gleichheit. Darum nenne ich sie dumm. Ich selbst bin Individualist. Ich glaube, daß der Schnellste den Wettlauf, der Stärkste die Schlacht gewinnt. Das ist die Lehre, die mir die Biologie erteilt hat – das glaube ich jedenfalls. Wie gesagt, ich bin Individualist, und der Individualismus ist der ewige Erbfeind des Sozialismus.«
»Aber Sie machen doch sozialistische Versammlungen mit«, sagte Herr Morse herausfordernd.
»Gewiß, gerade so, wie ein Späher ins feindliche Lager zu dringen versucht. Wie kann man sonst etwas über den Feind erfahren? Außerdem amüsiere ich mich immer bei ihren Versammlungen. Sie sind gute Kämpfer, und ob sie nun recht oder unrecht haben, so haben sie doch jedenfalls ihre Bücher gelesen. Jeder von ihnen weiß mehr von Soziologie und dergleichen als der durchschnittliche Großindustrielle. Ja, ich habe ein Dutzend von ihren Versammlungen mitgemacht, aber das macht mich ebensowenig zum Sozialisten, wie Charlie Hapgoods oratorische Leistungen mich zum Republikaner machen.«
»Alles schön und gut«, sagte Herr Morse freundlich. »Aber ich glaube doch, daß Sie zu den Sozialisten neigen.«
»Du lieber Gott«, dachte Martin. »Er versteht ja gar nicht, was ich sage. Er hat nicht ein Wort von der ganzen Geschichte verstanden. Was hat er doch nur mit seiner Erziehung angestellt?«
So kam es, daß Martin während seiner Entwicklung Angesicht zu Angesicht mit der ökonomischen Moral oder Klassenmoral stand, die bald ein unheimliches Ungeheuer in seinen Augen wurde. Persönlich war er Verstandesmoralist, und nichts ärgerte ihn mehr als die Moral, die er in seiner Umgebung antraf, und die eine merkwürdige Mischung von Ökonomie, Metaphysik, Sentimentalität und Nachahmungstrieb war.
Ein Beispiel dieser lächerlichen und unangenehmen Mischung sah er bald ganz aus der Nähe. Seine Schwester Marian war lange mit einem fleißigen jungen Mechaniker deutscher Herkunft »gegangen«, der sich, nachdem er das Fach vollkommen erlernt hatte, als selbständiger Fahrradschmied niederließ. Gleichzeitig hatte er die Vertretung für eine billige Marke übernommen und war auf dem Wege, ein wohlhabender Mann zu werden. Marian war vor kurzem bei Martin gewesen, um ihm von ihrer Verlobung zu berichten, und bei diesem Besuch hatte sie im Scherz seine Handlinien gelesen und ihm seine Zukunft erzählt. Bei ihrem nächsten Besuch brachte sie Hermann von Schmidt mit. Martin begrüßte seine Gäste und beglückwünschte sie beide in so scherzhaften und gewandten Wendungen, daß es auf den jungen Mann mit seiner ausgeprägten Bauernnatur einen unangenehmen Eindruck machte. Dieser schlechte Eindruck wurde noch dadurch vermehrt, daß Martin ein paar Verse vorlas, die er aus Anlaß von Marians letztem Besuch geschrieben hatte. Es war ein leichtes, schwungvolles kleines Gedicht, das er »Die Wahrsagerin« genannt hatte. Als Martin es vorgelesen hatte, sah er zu seinem Erstaunen, wie die Augen der Schwester besorgt auf dem Gesicht Hermann von Schmidts ruhten, und als Martin der Richtung ihres Blickes folgte, las er in den unregelmäßigen Zügen dieses würdigen jungen Mannes nichts als düstere verdrießliche Mißbilligung. Kurz darauf verabschiedeten sich die Verlobten, und Martin vergaß die ganze Episode, obwohl er einen Augenblick erstaunt darüber gewesen war, daß ein junges Mädchen – selbst wenn es der arbeitenden Klasse angehörte – sich nicht freuen und geschmeichelt fühlen sollte, wenn jemand ein Gedicht auf sie geschrieben hatte.
Einige Abende später kam Marian wieder, diesmal allein. Sie verlor denn auch keine Zeit, sondern ging gerade auf den Kern der Sache los und warf ihm mit äußerst tragischer Miene vor, was er getan hatte.
»Aber Marian«, schalt er. »Du redest ja, als schämtest du dich deiner Familie oder jedenfalls deines einzigen Bruders.«
»Das tue ich auch«, platzte sie heraus.
Martin war ganz verblüfft, als er sah, daß sie Tränen in den Augen hatte. Sie war also wirklich gekränkt. »Aber Marian, wie kann dein Hermann denn eifersüchtig sein, wenn ich meine eigene Schwester andichte?«
»Er ist nicht eifersüchtig«, schluchzte sie. »Er sagt, es ist unpassend, ob–obszön.«
Martin stieß einen leisen ungläubigen Pfiff aus, dann aber suchte er einen Durchschlag der »Wahrsagerin« heraus und las das Gedicht durch.
»Ich kann das nicht sehen«, sagte er zuletzt und reichte ihr das Manuskript. »Lies es einmal selbst und zeig' mir, was du obszön findest – das war ja das Wort, das du gebrauchtest, nicht wahr?«
»Er sagt es, und er muß es doch wissen«, lautete die Antwort, während sie das Manuskript beiseiteschob und mit tiefstem Ekel daraufblickte. »Und er sagt, du müßtest es zerreißen. Er sagt, er wolle keine Frau haben, von der so etwas geschrieben wäre, das alle Menschen lesen könnten. Er sagt, es sei ein Skandal, und er wolle es nicht haben.«
»Weißt du, Marian, es ist ja der reine Unsinn«, begann Martin. Dann aber fiel ihm plötzlich etwas anderes ein.
Er sah, daß das junge Mädchen, das hier vor ihm saß, unglücklich war, und er wußte, wie völlig hoffnungslos es gewesen wäre, sie und ihren Bräutigam überzeugen zu wollen, und obwohl die ganze Situation so unsagbar dumm und sinnlos war, beschloß er doch, nachzugeben.
»Na ja, wie du willst«, sagte er und riß das Manuskript in kleine Fetzen, die er in den Papierkorb warf. Er hatte das befriedigende Bewußtsein, daß das maschinengeschriebene Original in diesem Augenblick bei einem Redakteur in New York lag. Marian und ihr Bräutigam würden das nie erfahren, und weder er noch sie oder die Welt konnte etwas dabei verlieren, wenn sein hübsches, harmloses kleines Gedicht je gedruckt werden sollte.
Marian, die die Hand nach dem Papierkorb ausgestreckt hatte, zog sie wieder zurück.
»Darf ich?« fragte sie bittend.
Er nickte und sah nachdenklich zu, wie sie die Fetzen des Manuskripts zusammensuchte und in die Jackentasche steckte – als sichtbares Zeugnis, daß ihre Mission geglückt war. Sie erinnerte ihn an Lizzie Connolly, obwohl weniger Glut und strahlendes Leben und Selbstsicherheit über ihr lag als über dem andern jungen Mädchen aus der arbeitenden Klasse, das er zweimal gesehen hatte. Sonst aber glichen sie sich ganz, sowohl in der Kleidung wie im Benehmen, und er lächelte über den Einfall, der plötzlich in seinem Kopfe auftauchte – nämlich, wie eine von ihnen sich wohl in dem Morseschen Wohnzimmer ausnehmen würde. Dann schwand das Lächeln, und er spürte, wie ein Gefühl von Einsamkeit ihn überwältigte. Diese kleine Schwester und die Morsesche Wohnstube waren Meilensteine auf dem Wege, den er gewandert war, und beide waren sie ein Stadium, das hinter ihm lag. Dann sah er liebevoll auf die Bücher, die ihm gehörten. Sie waren die einzigen Kameraden, die ihm geblieben waren.
»Na, was ist los?« fragte er plötzlich überrascht.
Marian wiederholte ihre Frage.
»Warum ich mir keine Arbeit suche?« Er brach in Lachen aus, aber es klang nicht frei. »Dein Hermann scheint dir ja eine ordentliche Predigt gehalten zu haben.« Sie schüttelte den Kopf.
»Lüge nicht«, sagte er, und ihr Kopfnicken bestätigte seine Vermutung.
»Na, dann sag deinem Hermann nur, er soll sich um seine eigenen Sachen kümmern. Wenn ich das junge Mädchen, mit dem er verlobt ist, andichte, so ist das seine Sache, sonst aber hat er mir nichts zu sagen, verstehst du?«
»Du glaubst also nicht, daß ich als Schriftsteller Erfolg haben werde«, fuhr er fort. »Du findest vielleicht, daß ich zu nichts tauge – daß ich verkomme und eine Schande für die Familie bin?«
»Ich finde, es wäre viel besser, wenn du etwas zu tun bekämst«, sagte sie fest. Und er sah, daß es ihr Ernst war. »Hermann sagt –«
»Dieser verfluchte Hermann«, scherzte er gutmütig. »Aber ich möchte gern wissen, wann ihr heiraten wollt. Und dann mußt du herausbekommen, ob dein Hermann mich für würdig befindet, euch ein Verlobungsgeschenk zu machen.«
Als sie gegangen war, dachte er lange über den Auftritt nach und brach ein paarmal in ein bitteres Lachen aus bei dem Gedanken, daß seine Schwester und ihr Bräutigam, daß alle Angehörigen seiner eigenen Klasse und der Ruths ihr kleines, enges Dasein nach kleinen engen Formen einrichteten – daß sie harte Geschöpfe waren, die sich zusammenrotteten und ihr Leben nach ihren Anschauungen formten, Geschöpfe, die nie so weit kamen, daß sie Individuen wurden und wirklich lebten, weil sie Sklaven gewisser kindischer Formen waren. Er ließ sie vor seinem inneren Blick vorbeipassieren, Bernard Higginbotham Arm in Arm mit Charles Butler, Hermann von Schmidt dicht neben Charlie Hapgood, und einzeln und zu zweit verabschiedete er sie – richtete sie nach dem Maßstab der Intelligenz und Moral, den seine Bücher ihn gelehrt hatten. Vergeblich fragte er: Wo sind die großen Seelen, die großen Männer und Frauen? Er fand sie nicht unter den gleichgültigen, erdgebundenen, dummen Geschöpfen, die seine seherische Begabung hier in den engen Raum rief. Er fühlte vor ihnen den gleichen Abscheu, den Circe vor ihren Schweinen gehegt haben mag. Als er den letzten verjagt hatte und allein zu sein glaubte, war noch eine Vision, unerwartet und ungerufen, in der Stube geblieben. Martin betrachtete das Bild forschend und sah den steifen Hut, die Wolljacke, die schwingenden Schulterbewegungen des jungen Banditen, der er selbst früher gewesen war.
»Du warst genau wie alle andern, mein Junge«, spottete Martin. »Deine Moral und dein Wissen waren ganz wie die ihren. Du dachtest und handeltest nicht selbständig. Deine Ansichten waren fertig gekauft wie deine Anzüge, und dein Handeln war vom Beifall der Menge bestimmt. Du warst der Anführer der Bande, weil die andern sagten, daß du der rechte Mann dazu wärst; du schlugst dich und regiertest die Bande, nicht weil es dir Freude machte – du weißt ja gut, daß du es in Wirklichkeit verachtetest –, sondern weil die andern dich auf die Schulter klopften. Du verprügeltest Käsgesicht, weil du nicht nachgeben wolltest, und du wolltest nicht nachgeben, weil du eine Bestie warst, und weil du im übrigen, wie alle um dich, glaubtest, der Maßstab für einen Mann wäre die kannibalische Wildheit, die man an den Tag legte, wenn man seine Mitmenschen zuschanden schlüge. Ja, du Lümmel, du nahmst andern jungen Leuten ihre Mädchen, nicht weil du die Mädchen haben wolltest, sondern weil die Menschen, die dich umgaben, und die Menschen, mit denen du verkehrtest, und die dein moralisches Tempo angaben, Instinkte hatten wie ein wilder Hengst und ein Robbenbulle. Nun, die Jahre sind vergangen, und wie denkst du jetzt wohl darüber?«
Und wie zur Antwort veränderte sich die Erscheinung plötzlich. Der steife Hut und die Wolljacke verschwanden und wurden durch freundlichere Kleidungsstücke ersetzt; die Gestalt verlor ihr zähes Gepräge, die Augen verloren ihre Härte, und über das ganze Gesicht, das streng und rein wurde, breitete sich der Glanz einer Seele, die Schönheit und Kenntnisse besaß. Die Erscheinung glich ihm selbst, wie er jetzt aussah, und als er sie betrachtete, bemerkte er die Leselampe, die die Gestalt beleuchtete, und das Buch, über das sie sich beugte. Er sah nach dem Titel und las »Die Wissenschaft der Ästhetik«. Dann ging er in der Erscheinung auf, schraubte die Leselampe höher und las weiter in dem Buche.
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