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Am Morgen ging Martin Eden nicht auf die Arbeitssuche. Erst spät am Nachmittag erwachte er aus seinen Fieberträumen und sah sich mit schmerzenden Augen in der Stube um. Mary, einer der Silvaschen Sprößlinge im Alter von acht Jahren, wachte an seinem Bett und stimmte ein Geheul an, als sie sah, daß er zum Bewußtsein zurückkehrte. Maria schoß aus der Küche herein. Sie legte ihre harte Hand auf seine fieberheiße Stirn und fühlte ihm den Puls.

»Sie möchten essen?« fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. Essen war das, wozu er im Augenblick die allerwenigste Lust hatte, und er wunderte sich, daß er je hungrig gewesen sein sollte. »Ich bin krank, Maria«, sagte er mit schwacher Stimme. »Wissen Sie, was es ist?«

»Grippe«, antwortete sie. »Zwei oder drei Tage, Sie ganz gesund wieder. Besser, Sie essen nicht jetzt. Hinterher Sie können viel essen, morgen Sie können viel essen, morgen Sie können essen vielleicht.«

Krankheit war für Martin etwas ganz Ungewohntes, und als Maria und ihr Mädelchen ihn verließen, versuchte er, aufzustehen und sich anzukleiden. Durch eine gewaltige Willensanspannung, mit schwindelndem Hirn und Augen, die so heftig schmerzten, daß er sie nicht offen halten konnte, glückte es ihm, aus dem Bett zu kommen, aber nur, um über dem Tisch ohnmächtig zusammenzubrechen. Eine halbe Stunde später gelang es ihm, wieder ins Bett zu kommen, wo er mit geschlossenen Augen still lag und seine verschiedenen Schmerz- und Schwächegefühle zu analysieren suchte. Maria kam mehrmals im Laufe des Abends herein und wechselte die kalten Umschläge um seine Stirn, sonst aber ließ sie ihn in Ruhe, denn sie war zu klug, um ihn durch Reden zu quälen. Das rührte ihn, und dankbar murmelte er vor sich hin: »Maria, du kriegst die Meierei, sicher, sicher.«

Dann fiel ihm die längst begrabene Vergangenheit des gestrigen Tages ein. Ihm war, als wäre ein ganzes Menschenalter vergangen, seit er den Brief vom »Transcontinental-Magazin« erhalten hatte – ein Menschenalter, seitdem alles vorbei war und der neue Lebensabschnitt für ihn begonnen hatte. Er hatte seine Pfeile verschossen, und zwar mit aller Kraft, und jetzt war alles vorbei. Wäre er nicht ausgehungert gewesen, so würde die Grippe ihn nicht gepackt haben. Er war erschöpft und hatte nicht Kraft genug gehabt, sich von dem Krankheitskeim zu befreien, der ihm Körper und Geist gelähmt hatte. Und das war nun das Ergebnis.

»Was hat man davon, wenn man eine ganze Bibliothek schreibt und das Leben dabei zusetzt?« fragte er laut. »Das ist nicht das Rechte für mich. Ich will nichts mehr mit Literatur zu tun haben. Von jetzt an gibt es für mich nur noch Kontor und Hauptbuch, festes Gehalt und ein kleines Heim mit Ruth.«

Als er zwei Tage später ein Ei mit zwei Scheiben gerösteten Brotes gegessen und eine Tasse Tee getrunken hatte, fragte er nach seiner Post, merkte aber, daß seine Augen immer noch zu sehr schmerzten, als daß er hätte lesen können.

»Sie müssen mir vorlesen, Maria«, sagte er. »Nicht die langen dicken. Die werfen Sie unter den Tisch. Lesen Sie mir die kleinen Briefe vor.«

»Kann nicht«, lautete die Antwort. »Teresa, sie gehen zur Schule, sie können.«

So öffnete denn die neunjährige Teresa Silva seine Briefe und las sie ihm vor. Er hörte geistesabwesend zu, wie sie einen langen Mahnbrief des Schreibmaschinengeschäftes las, und unterdessen beschäftigten sich seine Gedanken nur mit dem einen: wie er Arbeit finden sollte. Plötzlich aber wurde er aus diesen Gedanken gerissen.

»Wir bieten Ihnen vierzig Dollar für das Vorabdrucksrecht Ihrer Erzählung,« buchstabierte Teresa mühsam, »aber unter der Bedingung, daß Sie uns erlauben, folgende Änderungen vorzunehmen.«

»Welche Zeitschrift ist das?« rief Martin. »Gib her!« Jetzt konnte er lesen und fühlte nicht die Schmerzen, die es ihm verursachte. Es war »Die Weiße Maus«, die ihm vierzig Dollar bot, und die Erzählung war »Der Strudel« – auch eine seiner ersten Arbeiten. Er las den Brief immer und immer wieder durch. Der Redakteur sagte ihm offen, daß er die Idee nicht richtig angefaßt hätte, daß er aber die Idee an sich kaufe, weil sie originell sei. Wenn er die Geschichte um ein Drittel kürzen dürfte, wollten sie sie nehmen und ihm, sobald sie seine Antwort hätten, vierzig Dollar schicken.

Er rief nach Tinte und Feder und teilte dem Redakteur mit, daß er die Geschichte um drei Drittel kürzen könnte, wenn es ihm gefiele, und daß er die vierzig Dollar umgehend schicken sollte.

Als der Brief von Teresa in den Kasten geworfen war, legte Martin sich zurück und dachte nach. Es war also doch keine Lüge. »Die Weiße Maus« bezahlte bei Annahme. »Der Strudel« war dreihundert Zeilen lang. Wenn er um ein Drittel verkürzt wurde, machte das zwanzig Cent die Zeile. Bezahlung bei Annahme und zwanzig Cent die Zeile – dann hatten die Zeitungen ja doch die Wahrheit gesprochen. Und er hatte »Die Weiße Maus« für ein Blatt dritten Ranges gehalten! Offenbar kannte er die Zeitschriften nicht. Das »Transcontinental-Magazin« hatte er für erstklassig angesehen, und es bezahlte einen Cent für die Zeile. »Die Weiße Maus« hatte in seinen Augen gar keine Bedeutung gehabt, und sie bezahlte zwanzigmal soviel wie das »Transcontinental-Magazin« und noch dazu bei Annahme.

Nun, eines war jedenfalls sicher: wenn er wieder gesund war, wollte er nicht auf die Arbeitssuche gehen. Er hatte mehrere Geschichten im Kopfe, die genau so gut wie »Der Strudel« waren, und mit vierzig Dollar das Stück konnte er bedeutend mehr verdienen als in irgendeiner festen Stellung. Gerade, als er die Schlacht verloren gab, war sie gewonnen. Seine Berufswahl hatte die Probe bestanden. Der Weg lag ihm offen. Jetzt, da mit der »Weißen Maus« der Anfang gemacht war, wollte er Zeitschrift zu Zeitschrift fügen, daß es eine ständig wechselnde Liste von Gönnern wurde. Die Gelegenheitsarbeit konnte er beiseitelegen. Sie war die reine Zeitverschwendung gewesen, denn sie hatte ihm nicht einen Dollar eingebracht. Er konnte sich seiner Arbeit widmen – seiner guten Arbeit –, und er durfte dem Besten in sich Ausdruck verleihen. Er wünschte nur, daß Ruth dagewesen wäre, um seine Freude zu teilen, und als er die Briefe, die neben seinem Bett lagen, überflog, fand er auch einen von ihr. Sie machte ihm sanfte Vorwürfe, wunderte sich, daß er sich so schrecklich lange nicht hatte sehen lassen. Immer wieder las er verliebt den Brief, freute sich über ihre Handschrift, von der er jeden Federstrich liebte, und küßte zuletzt ihre Unterschrift. In seiner Antwort erzählte er ihr ohne Umschweife, daß er sie nicht besuchen konnte, weil er sein bestes Zeug versetzt hatte. Er erzählte ihr, daß er krank gewesen, jetzt aber fast wieder gesund sei, und daß er nach zehn oder vierzehn Tagen (so lange, wie ein Brief nach New York und die Antwort darauf brauchte) seinen Anzug einlösen und bei ihr sein würde.

Aber Ruth hatte keine Lust, zehn oder vierzehn Tage zu warten. Zudem war ihr Bräutigam krank. Am nächsten Nachmittag erschien sie, von Arthur begleitet, im Morseschen Wagen zur ungeteilten Freude der Silvaschen Jugend und aller Kinder der Straße und zu Marias Bestürzung. Maria teilte unter ihren Sprößlingen, die sich in den winzigen Vorraum drängten, einige Ohrfeigen aus und versuchte sich in ungewöhnlich schlechtem Englisch wegen ihrer Kleidung zu entschuldigen. Die Ärmel, die aufgekrempelt waren, so daß die seifenschaumbedeckten Arme zu sehen waren, und der nasse Sack, den sie sich um den Leib gebunden hatte, zeigten deutlich, bei welcher Arbeit sie überrascht worden war. Sie war so verblüfft über die zwei feinen jungen Leute, die nach ihrem Zimmerherrn fragten, daß sie ganz vergaß, ihnen in dem kleinen Wohnstübchen Platz anzubieten. Um in Martins Zimmer zu gelangen, mußten sie durch die Küche gehen, die warm und voller Dampf von der großen Wäsche war. In ihrer Aufregung stieß Maria Schlafzimmertür und Schranktür zusammen, und fünf Minuten lang drangen Dampfwolken, mit dem Geruch von Seifenwasser und Schmutz vermischt, ins Krankenzimmer.

Es glückte Ruth, nach rechts und nach links und dann wieder nach rechts zu lavieren und so durch den engen Gang zwischen Tisch und Stuhl zu Martin zu gelangen. Arthur aber geriet in Kollision mit Pfannen und Töpfen in der Ecke, wo Martin seine Küche hatte. Arthur blieb nicht lange. Ruth hatte sich den einzigen Stuhl der Stube genommen, und als er seine Pflicht getan hatte, ging er hinaus und blieb neben dem Vorbau stehen, wo er den Mittelpunkt einer Gruppe von sieben kleinen bewundernden Silvas bildete, die ihn anstarrten, als ob er eine Figur im Panoptikum wäre. Und um den Wagen hatte sich die ganze Jugend des Viertels gesammelt und wartete gespannt auf irgendeine tragische, fürchterliche Lösung des Rätsels. Wagen sah man hier sonst nur zu Hochzeiten und Begräbnissen; hier gab es weder Hochzeit noch Begräbnis, es mußte also etwas ganz Unerhörtes vorgehen, auf das zu warten sich lohnte.

Martin war ganz außer sich vor Sehnsucht nach Ruth gewesen. Er war eine ausgesprochen liebevolle Natur und brauchte Mitgefühl, das für ihn gleichbedeutend mit geistigem Verständnis war; wie er aber später erfahren sollte, beruhte Ruths Mitgefühl in der Hauptsache auf Sentimentalität und Takt und war eher ihrer Sanftmut als wirklichem Verständnis für die Dinge zuzuschreiben, denen sie ihre Sympathien schenkte. Und so kam es, daß, als Martin ihre Hand in der seinen hielt und begeistert von seiner Liebe sprach, ihre Liebe sie auch seine Hand drücken ließ, daß ihre Augen leuchteten und voller Tränen standen beim Anblick seiner Hilflosigkeit und der Spuren, die die Leiden in seinem Gesicht hinterlassen hatten. Als er aber von den beiden angenommenen Erzählungen, von seiner Verzweiflung über den Brief des »Transcontinental-Magazin« und der Freude über den Brief von der »Weißen Maus« berichtete, konnte sie ihm nicht mehr folgen. Sie hörte wohl die Worte, die er sprach, und verstand auch, was er in ihnen ausdrücken wollte, aber seine Verzweiflung und seine Freude konnte sie nicht teilen. Sie konnte ihr eigenes Wesen nicht überwinden. Sie interessierte sich nicht dafür, daß er Erzählungen an Zeitschriften verkaufte. Für sie war die Hauptsache, heiraten zu können. Sie selbst wußte das natürlich nicht, ebensowenig, wie sie wußte, daß ihr Wunsch, Martin möchte eine Stellung annehmen, auf der rein instinktiven Sehnsucht danach beruhte, Mutterfreuden kennenzulernen. Sie wäre errötet, hätte jemand ihr das mit nackten Worten gesagt, und sie würde zornig behauptet haben, daß ihr Interesse allein dem Manne, den sie liebte, und ihrem Wunsche galt, daß er das Beste in sich zur Entwicklung bringen möchte. Und während Martin ihr begeistert über die erste Anerkennung des von ihm gewählten Lebensberufes sein Herz ausschüttete, achtete sie nur auf die Worte an sich und ließ ihre Blicke, entsetzt über alles, was sie sah, durch die Stube schweifen.

Zum erstenmal sah Ruth Armut in all ihrem Schmutz aus der Nähe. Sie hatte immer gedacht, es sei etwas Romantisches an einem hungernden Liebenden, aber sie hatte keine Ahnung, wie ein hungernder Liebender lebte. Die Wirklichkeit hatte sie sich nie träumen lassen. Ihr Blick schweifte immer wieder von der Stube zu ihm und zurück. Der Dampf und der Geruch der schmutzigen Wäsche, der ihr aus der Küche gefolgt war, machten sie ganz krank. Martin mußte ja ganz aufgeweicht davon sein, jedenfalls, wenn die schreckliche Frau oft wusch. Die entwürdigende Umgebung mußte anstecken. Während Ruth in Martins Gesicht blickte, meinte sie, ihm die Spuren schon ansehen zu können. Sie hatte ihn nie unrasiert gesehen, und der dreitägige Bart, mit dem sie ihn jetzt sah, wirkte äußerst abstoßend. Er verlieh ihm nicht nur dasselbe düstere Gepräge, das über dem ganzen Silvaschen Hause, außen wie innen, lag, er betonte gleichsam noch die reine tierische Kraft, die sie bei ihm haßte. Und nun war er noch dazu durch die Annahme der zwei Erzählungen, von der er ihr mit solchem Stolz berichtete, in seinem Wahnsinn bestärkt worden. Noch kurze Zeit, und er hätte sich ergeben und hätte angefangen zu arbeiten, jetzt aber würde er weiter in diesem schrecklichen Hause wohnen, schreiben und hungern, jedenfalls noch einige Monate.

»Was ist das für ein Geruch?« fragte sie plötzlich.

»Vermutlich Marias Wäsche«, lautete die Antwort.

»Nein, nein, das nicht. Es ist etwas anderes – ein schaler, widerlicher Geruch.«

Martin sog die Luft ein, ehe er antwortete.

»Ich kann sonst nichts riechen, außer altem Tabaksrauch«, meinte er.

»Das ist es eben. Es ist gräßlich. Warum rauchst du so viel, Martin?«

»Ich weiß nicht, es sei denn, daß ich mehr als gewöhnlich rauche, wenn ich mich einsam fühle. Außerdem ist es eine alte Gewohnheit. Ich habe es als ganz junger Bursche gelernt.«

»Das ist keine gute Angewohnheit, weißt du«, sagte sie vorwurfsvoll. »Es riecht furchtbar.«

»Daran ist der Tabak schuld. Ich kann mir nur den allerbilligsten leisten. Aber warte, bis ich die vierzig Dollar bekommen habe. Dann rauche ich eine Sorte, die nicht einmal einen Engel stören kann. Aber das ist doch nicht übel, nicht wahr – zwei Annahmen in drei Tagen? Mit den fünfundvierzig Dollar kann ich meine ganzen Schulden bezahlen.«

»Und das ist der Lohn für eine Arbeit von zwei Jahren?« fragte sie.

»Nein, für die Arbeit von weniger als einer Woche. Bitte, gib mir das Buch, das drüben auf dem Tisch liegt – das Kontobuch im grauen Umschlag.« Er öffnete es und begann hastig darin zu blättern. »Ja, ich habe recht. Vier Tage habe ich zu »Glockenläuten« gebraucht und zwei zum »Strudel«. Das macht fünfundvierzig Dollar für eine Woche Arbeit – hundertachtzig Dollar im Monat. Das ist viel mehr, als ich in einer festen Stellung verdienen könnte. Und dazu bin ich ja erst Anfänger. Tausend Dollar monatlich ist nicht zu viel, um dir alles zu kaufen, was ich will, das du haben sollst. Ein Gehalt von fünfhundert monatlich würde nicht reichen. Diese fünfundvierzig Dollar sind nur der Anfang. Warte, bis ich erst richtig in Gang gekommen bin. Dann sollst du sehen, wie ich ›rauche‹.«

Ruth mißverstand seinen Slang und kam wieder auf die Zigaretten zurück.

»Du rauchst jetzt schon mehr, als dir gut ist, und die Marke wird nichts daran ändern. Das Rauchen ist überhaupt nicht schön, ganz abgesehen vom Tabak. Du bist ja ein Schornstein, ein lebender Vulkan, eine lebende Rauchwolke, ja, und eine Schande für die Menschheit – Martin, Liebster – und das weißt du auch.«

Mit einem flehenden Ausdruck in den Augen lehnte sie sich an ihn, und als er ihr feines Antlitz und die reinen klaren Augen sah, hatte er das alte peinliche Gefühl seiner eigenen Unwürdigkeit.

»Ich wünschte nur, du rauchtest nicht mehr«, flüsterte sie. »Bitte ... um meinetwillen.«

»Schön, dann lasse ich es!« rief er. »Ich will alles tun, um was du mich bittest, Liebling – alles, das weißt du ja.«

Sie spürte eine starke Versuchung. Hin und wieder hatte sie einen Funken von dem Großartigen, Gleichgültigen in seinem Wesen aufgefangen, und jetzt war sie überzeugt, daß er ihren Wunsch erfüllen würde, wenn sie ihn bäte, nicht mehr zu schreiben. Einen Augenblick lang brannten ihr auch die Worte auf der Zunge. Aber sie sprach sie nicht aus. Sie hatte nicht den Mut dazu; sie wagte es nicht. Statt dessen lehnte sie sich an ihn und flüsterte in seinen Armen; »Du weißt wohl, daß es nicht meinetwegen ist, Martin – sondern deinetwegen. Es ist sicher schädlich für dich, daß du soviel rauchst, und außerdem ist es nicht gut, sich zum Sklaven zu machen – am wenigsten zum Sklaven eines Reizmittels.«

»Ich werde stets dein Sklave sein«, lächelte er.

»Dann werde ich jetzt anfangen, dir meine Befehle zu erteilen.«

Sie sah ihn mutwillig an, obwohl sie im Innern schon bedauerte, daß sie ihr großes Anliegen nicht vorgebracht hatte.

»Ich lebe nur, um zu gehorchen, Eure Majestät.«

»Nun, dann ist mein erster Befehl, daß du dich täglich rasieren sollst. Sieh nur, wie du mir die Backe zerkratzt hast.«

Und so endete alles in Scherz und Kosen. Aber sie hatte einen Erfolg erzielt und konnte nicht erwarten, noch mehr auf einmal zu erreichen. Ihr weiblicher Stolz fühlte sich geschmeichelt, weil sie ihn dazu gebracht hatte, das Rauchen aufzugeben. Ein andermal wollte sie ihn überreden, eine Stellung anzunehmen, denn hatte er nicht gesagt, er wolle alles tun, um was sie ihn bat?

Sie erhob sich von dem Stuhl neben dem Bett, begann die Wäscheleinen, die mit seinen Notizen unter der Decke hingen, zu untersuchen und wurde ganz traurig, als sie den großen Manuskripthaufen unter dem Tische sah, weil er für sie nur Zeitvergeudung bedeutete. Der Petroleumkocher gewann ihre Billigung, als sie aber die Borde, auf denen die Nahrungsmittel stehen sollten, untersuchte, entdeckte sie, daß sie leer waren.

»Aber du hast ja gar nichts zu essen, du Ärmster!« sagte sie mit innigem Mitleid. »Du mußt ja verhungern.«

»Ich verwahre meine Lebensmittel in Marias Speisekammer,« log er, »da halten sie sich besser. Es ist keine Gefahr, daß ich verhungere. Sieh nur!«

Sie stand wieder neben dem Bett und sah, wie er den Arm beugte, bis der große Oberarmmuskel sich als ein harter, schwerer Knoten unter dem Hemdärmel abzeichnete. Der Anblick wirkte abstoßend auf sie. Ihre Sentimentalität gebot ihr, das zu verabscheuen. Aber das Blut in ihren Adern, jede Fiber ihres Körpers liebte es und fühlte sich davon angezogen, und auf die alte, unerklärliche Weise lehnte sie sich an ihn. Und als er sie im nächsten Augenblick in seine Arme zog und an sich preßte, empörte sich ihr Hirn, für das nur die Oberfläche des Lebens existierte, während ihr Herz, das Weib in ihr, das sich nur um das Leben selbst kümmerte, triumphierte und sich freute. In solchen Augenblicken fühlte sie vollauf, wie heiß sie Martin liebte, denn es war eine Wonne, die ihr fast das Bewußtsein nahm, sich von seinen starken Armen an ihn gepreßt zu fühlen, so daß es fast schmerzte. Dann fand sie, daß alles gerechtfertigt war: ihr Verrat gegen das, was sie für richtig hielt, die Verletzung ihrer eigenen hohen Ideale und, vor allem, ihr stillschweigender Ungehorsam gegen Vater und Mutter. Die wollten nicht, daß sie diesen Mann heiratete. Sie waren empört, daß sie ihn liebte. Das empörte sie zeitweilig auch selbst, wenn sie ihn nicht sah und ein kaltblütiges, vernünftiges Geschöpf war. Wenn sie mit ihm zusammen war, so liebte sie ihn – allerdings war es zuweilen eine peinigende, qualvolle Liebe; aber Liebe war es – eine Liebe, die stärker war als sie selbst.

»Diese Grippe ist nichts,« sagte er, »sie tut ein bißchen weh, und man hat ekelhafte Kopfschmerzen davon, aber es ist nichts gegen Wundfieber.«

»Hast du das auch gehabt?« fragte sie geistesabwesend, immer noch mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

Und so verleitete sie ihn, weiter zu erzählen, hörte aber nicht zu, bis plötzlich etwas ihre Aufmerksamkeit fesselte.

Er hatte mit Fieber in einer geheimen Kolonie von dreißig Leprakranken auf Hawai gelegen.

»Aber wie bist du denn dahin gekommen?« fragte sie. Daß man eine solche Gleichgültigkeit seiner eigenen Gesundheit gegenüber besitzen konnte, erschien ihr geradezu verbrecherisch.

»Weil ich es nicht wußte,« antwortete er. »Ich ahnte nichts von Leprakranken. Als ich von dem Schoner desertierte und die Küste erreichte, stürzte ich ins Land, um mich zu verstecken. Drei Tage lang lebte ich von Guavas, Ohiaäpfeln und Bananen, die alle wild im Urwald wuchsen. Am vierten Tage aber stieß ich auf einen schmalen Pfad. Er führte hügelauf und hügelab durchs Land. Es war die Richtung, die ich einschlagen mußte, und es sah aus, als wären kürzlich Menschen dagewesen. An einer Stelle lief er an dem Rande eines Gebirgskammes entlang, der so schmal wie eine Messerklinge war. Auf dem Gipfel war der Pfad keine drei Fuß breit, und zu beiden Seiten stürzte die Felswand viele hundert Fuß tief steil ab. Ein einziger Mann hätte mit genügender Munition einem Heer von hunderttausend standhalten können.

Es war der einzige Weg zu dem Versteck. Als ich den Pfad gefunden hatte, befand ich mich schon nach drei Stunden in der Kolonie, in einem kleinen Tal inmitten von Lavagipfeln. Es war eine terrassenförmige Anlage, stellenweise mit Tarofeldern; auch verschiedene Obstbäume wuchsen da, und es waren acht bis zehn Grashütten. Sobald ich aber die Einwohner sah, wußte ich, wo ich war. Ein einziger Blick auf sie genügte.«

»Und was tatest du da?« fragte Ruth atemlos.

»Ich konnte nichts machen. Ihr Anführer war ein freundlicher alter Mann, bei dem die Krankheit schon weit vorgeschritten war, der aber wie ein König herrschte. Er hatte das Tal entdeckt und die Kolonie gegründet – was alles gegen das Gesetz verstieß. Aber er hatte Gewehre, eine Menge Munition, und die Kanaken, die geübt waren, wilde Ziegen und Schweine zu schießen, waren unfehlbare Schützen. Nein, Martin Eden konnte nicht weglaufen. Er mußte drei Monate bleiben, wo er war.«

»Aber wie entkamst du dann?«

»Ich wäre nie entkommen, wäre nicht in der Kolonie ein junges Mädchen gewesen – halb Chinesin, ein Viertel Weiße und ein Viertel Eingeborene. Die Ärmste war eine Schönheit und hatte eine gute Erziehung genossen. Ihre Mutter, die in Honolulu wohnte, war wohl eine Million schwer. Nun, das junge Mädchen half mir schließlich fort. Ihre Mutter unterstützte die Kolonie mit Geld, so daß sie nicht zu befürchten brauchte, bestraft zu werden, weil sie mir half. Aber zuerst ließ sie mich schwören, daß ich nie ihr Versteck verriete, und das habe ich auch nicht getan. Es ist das erstemal, daß ich je mit einem Menschen darüber spreche. Das junge Mädchen hatte gerade die ersten Lepra-Symptome. Die Finger ihrer rechten Hand waren ein klein wenig verdreht, und sie hatte einen kleinen Fleck auf dem Arm. Das war alles. Jetzt ist sie wohl tot.«

»Aber fürchtetest du dich nicht? Und warst du nicht froh, daß du entkamst, ohne von der schrecklichen Krankheit angesteckt zu werden?«

»Nun ja,« gestand er, »anfangs zitterte ich schon ein bißchen, aber allmählich gewöhnte ich mich daran. Das arme Mädchen tat mir jedoch schrecklich leid, und deshalb vergaß ich auch ganz meine Furcht. Sie war so schön an Leib und Seele, und die Krankheit war kaum zu bemerken, und doch war sie dazu verdammt, dortzubleiben, primitiv wie eine Wilde zu leben und langsam zu verfaulen. Lepra ist viel schrecklicher, als du dir vorstellen kannst.«

»Armes Ding«, flüsterte Ruth sanft. »Es ist aber doch ein Wunder, daß sie dich fortließ.«

»Wie meinst du das?« fragte Martin unschuldig.

»Sie muß dich ja geliebt haben«, sagte Ruth, noch ebenso sanft. »Sag einmal ehrlich, liebte sie dich nicht?«

Martins sonnenverbrannte Haut war bei der Arbeit in der Wäscherei und seiner Stubenhockerei bleich geworden, der Hunger der letzten Zeit und die Krankheit hatten das ihre dazu getan, und jetzt ergoß sich über seine blassen Wangen eine tiefe Röte. Er wollte etwas sagen, aber Ruth schnitt ihm das Wort ab.

»Einerlei; antworte mir nicht. Es ist nicht nötig«, lachte sie.

Aber es kam ihm vor, als wäre ein metallischer Klang in ihrem Lachen und ein kalter Ausdruck in ihren Augen – er mußte unwillkürlich an einen Sturm denken, den er einmal im nördlichen Pazifik erlebt hatte. Und sofort stand das Bild des Sturmes vor seinen Augen – eine Sturmnacht mit klarem Himmel, Vollmond und riesigen Seen, die kalt im Mondschein funkelten. Dann sah er die junge Leprakranke und dachte daran, daß sie ihn aus Liebe hatte ziehen lassen.

»Sie war edel«, sagte er einfach. »Sie schenkte mir das Leben.«

Das war alles, aber er hörte, wie Ruth ein Schluchzen unterdrückte, und bemerkte, daß sie sich abwandte, um aus dem Fenster zu sehen. Als sie sich wieder umdrehte, war sie ruhig, und der kalte Schimmer in ihren Augen war verschwunden.

»Ich bin töricht«, klagte sie. »Aber ich kann nichts dafür. Ich liebe dich so, Martin – das tue ich, das tue ich. Mit den Jahren werde ich schon vernünftiger werden, aber jetzt kann ich nicht anders, ich muß eifersüchtig sein auf diese Gespenster der Vergangenheit, und du weißt, daß deine Vergangenheit voll von Gespenstern ist. Es ist ja selbstverständlich,« sagte sie, als er etwas erwidern wollte, »es kann ja nicht anders sein. Aber der arme Arthur winkt, daß ich kommen soll. Er ist müde vom Warten. Auf Wiedersehen, Lieber.«

»Es gibt in der Apotheke eine Medizin, die gegen das Rauchen hilft,« sagte sie in der Tür, »ich werde sie dir schicken.«

Die Tür schloß sich, wurde aber gleich noch einmal geöffnet.

»Das tue ich, das tue ich«, flüsterte sie, und dann war sie wirklich gegangen.

Maria, die trotz aller Ehrfurcht doch nicht die Gelegenheit versäumt hatte, auf Stoff und Schnitt von Ruths Kleid zu achten (es war ein unbekannter Schnitt, der eine geheimnisvolle Schönheitswirkung hervorbrachte), begleitete sie an den Wagen. Die Schar enttäuschter Straßenkinder starrte dem Wagen nach, bis er verschwunden war, und wandte dann die Augen auf Maria, die plötzlich die wichtigste Persönlichkeit der Straße geworden war. Aber Marias eigene Kinder zerstörten ihren Ruhm, indem sie erzählten, daß der vornehme Besuch ihrem Zimmerherrn gegolten hatte. Hierauf versank Maria wieder in ihr altes Unbeachtetsein, aber Martin bemerkte, daß alle Kinder der Nachbarschaft ihn jetzt mit Ehrfurcht anstarrten. In Marias Achtung stieg Martin um reichlich hundert Prozent, und wenn der portugiesische Krämer Zeuge dieses Nachmittagsbesuches gewesen wäre, so würde er Martin einen weiteren Kredit von drei Dollar fünfundachtzig Cent eingeräumt haben.

 

* * *


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