Hermann Löns
Das zweite Gesicht
Hermann Löns

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Der weiße Garten

Als Swaantje in Stillenliebe anlangte, war Helmold bereits aus aller Gefahr, aber noch so angegriffen, daß der Arzt jede Aufregung verbot. Er gestattete ihr nur, daß sie ihn sah, während er schlief.

Das Mädchen mußte sich am Türrahmen festhalten, als sie ihren Vetter erblickte. Welk fiel ihm das fast völlig ergraute Haar in die Stirne, der Bart hing schlaff über die blutleeren Lippen, die Nase trat scharf hervor, unter den Augen waren tiefe Löcher, die in allen Farben spielten, die Ohren sahen wächsern aus, und die Hände waren leichenfarbig.

Als sie das Zimmer verlassen hatte, fiel sie Grete um den Hals und schluchzte tränenlos, und die Frau sagte, als sie mit ihr in dem besten Zimmer saß: »Wir wollen Gott danken, daß wir ihn behalten haben, Swaantje; und sobald er kräftig genug ist, fährst du mit ihm in irgend eine stille Ecke und pflegst ihn mir ganz gesund. Nicht wahr, Liebste?« Das Mädchen nickte, denn sie fühlte, daß die andere das im vollen Ernste sagte.

Es wurde aber nicht so; denn je mehr sich Helmold körperlich erholte, um so mehr schien seine Liebe für Swaantje zu erkalten. Als ihm seine Frau einmal von dem Mädchen sprechen wollte, wehrte er ab. »Ich genese, Grete,« sagte er, »und auch davon.« Er sah sie voll an und fuhr fort: »Möglich, daß ich ihr später wieder kameradschaftlich näher komme; vorläufig wäre mir ein Zusammentreffen peinlich, und schädlich. Hennecke und Benjamin sind derselben Ansicht.«

Wenn er, warm zugedeckt, auf dem Ruhestuhle im Garten lag, dem Schlage der Finken zuhörte und die knospenden Zweige betrachtete, dachte er noch oft an das Mädchen, aber nicht in Liebe. Etwas wie Unmut war in ihm; denn er fühlte sich beleidigt. Er hatte sich vor ihr erniedrigt, hatte um einen Kuß gebettelt, war fast irrsinnig vor Liebe geworden, und es hätte nicht viel gefehlt, daß er an seinem Verlangen zu Grunde ging.

Er wußte aber auch, daß dieses der letzte Rückfall war. »Was hat sie nicht alles aus mir gemacht,« dachte er; »einen Trinker, einen Wüstling, einen Salonaffen, einen Streber!« Er las in dem Buche, das Hennig ihm mitgebracht hatte, und lächelte belustigt, denn er war vorhin auf einen Ausspruch Montanabbis gestoßen, der vortrefflich zu seinen eigenen Gedanken paßte, und der folgendermaßen hieß: »Viele Menschen waren gleich mir Opfer eines weißen Halses, eines rosigen Angesichtes und zweier Augen, die sanft blickten, wie die der Gazelle.« Er nickte und dachte: »Hast recht, beturbanter Philosoph; wir wollen den Fall zu den Akten in das Fach Erledigt legen.«

Die Magd wusch in der Küche Gläser auf und sang. Er nickte lächelnd, pfiff leise die Singweise durch die Zähne und summte den Schlußreim: »Scher dich weg von mir, scher dich weg von mir, scher dich weg von meiner Tür.« So waren seine Gedanken, wenn er an Swaantje dachte. Mochte sie sich jetzt ebenso um ihn quälen, wie er es ihrethalben getan hatte; sie hatte es verdient durch ihre Feigheit.

Mit Schadenfreude stellte er fest, daß er sie nicht mehr liebte. Das war nur natürlich; es entsprach seiner Veranlagung. Sein Vater hatte den Grundsatz gehabt, ihm niemals einen Wunsch sofort zu gewähren. So hatte er ihm, als Helmold zwölf Jahre alt war, verboten, sich eine Armbrust zu kaufen. Nach einem halben Jahr bekam er sie zum Geburtstage, rührte sie aber nicht an, denn er war schon darüber hinaus.

Allmählich dachte er milder. Zu Hennig, der sich seinetwegen frei gemacht hatte, sprach er sich einmal, als er mit ihm vor das Dorf ging, darüber aus: »Weißt du, mein Lieber, ich zürne ihr auch nicht mehr, denn sie konnte schließlich nicht anders handeln, schon ihres Verhältnisses zu Grete wegen nicht. Ich weiß, das Ganze war Einbildung; aber daß ich das weiß, das ist eben das Schlimme. Ich bin doch jetzt körperlich schon wieder ganz rüstig; aber ich bleibe innerlich kalt und tot. Ich lebe in einem weißen Garten; wo ich hinsehe, verlieren die Blumen die Farbe und die Blätter das Grün. Mein Herz ist gefeit gegen jegliches Gefühl; es hat kein Teil mehr am lebendigen Leben.«

Er schwieg und dachte an alle die Frauen und Mädchen, die er geliebt hatte. Aus Gewohnheit fühlte er ihnen gegenüber Dank, in Wirklichkeit waren sie ihm alle gleichgültig. »Ja, Hennig,« murmelte er und nickte, auf das Dorf hinabsehend, wo alle Obstbäume blühten, »das ist nun so: Helmold Hagenrieder ist tot. Was da lebt, ist bloß noch der Professor gleichen Namens. Zwischen mir und der Welt ist eine Glasscheibe. Ich habe noch Sinne, noch Sinnlichkeit; aber ich habe die alte kindliche Anteilnahme an den Menschen und den Dingen verloren. Ich sehe sie nur noch in ihren kalten Lokaltönen, nicht mehr in der warmen persönlichen Beleuchtung, die ich ihnen früher gab.«

Er seufzte, aber dann lächelte er: »Ist übrigens das einzig Wahre. Der Künstler muß außerhalb der Welt stehen, wie Gott. Wer im Leben steht, bringt es nie zur Meisterschaft. War schon das beste für mich, diese dämliche Entgleisung. Wäre ich irgend ein Soundsomensch, Beamter oder so was, Philister, so wäre ich daran eingegangen; so aber hat mich diese Geschichte gereinigt. Denn ich bin da, um zu wirken, nicht um zu leben, wie Hans X und Kunz Y.«

Leise sprach er vor sich hin: »Künstler sollten nicht heiraten; sie können nicht treu sein, dürfen es nicht, sollen sie sich nicht selber untreu werden. Aber heiratet man nicht, so hat man keinen Zusammenhang mit dem Leben, lernt dessen tiefste Nöte nicht kennen. Wie man es auch macht, es ist immer verkehrt, und so wird das Allerverkehrteste wohl das einzig Richtige sein.«

Er zündete sich die erste der zwei Zigaretten an, die Benjamin ihm gestattet hatte, sah den Freund an, legte ihm die Hand auf das Knie und sprach weiter: »Ich habe früher von der Philosophie niemals viel gehalten; sie ist noch ein viel lorbeernerer Ersatz für das Leben, als die Kunst. Jetzt aber, wo ich mit dem Leben innerlich nichts mehr zu tun habe, philosophiere ich. Höre zu: Nach Kant gibt es kein Ding an und für sich; ich aber sehe die Dinge an und für sich. Also gibt es kein Ding an und für mich, sondern nur Dinge an und für sich. Also geht mich als Menschen nichts mehr etwas an. Also bin ich kein Mensch mehr; also bin ich tot!«

Ein Goldammerhähnchen kam angeschnurrt, ließ sich auf einem Zaunpfahle nieder, sah die Männer zutraulich an, glättete seine gelbe Holle und begann zu singen. Helmold pfiff leise durch die Zähne das Lied des Vogels nach, nickte und murmelte: »Manche sagen, der Goldammer singt: ›Wie wie hab ich dich lieb, lieb.‹ Andere meinen, er sänge: ›Mein Nest ist weit weit, weit.‹ Alles auf der Welt hat ein zweites Gesicht, die Natur, die Kultur, die Religion, die Kunst, die Politik, die Liebe, alles, alles. Wer das nicht weiß, ist glücklich; ich weiß es. Ich habe es wohl immer gewußt, bloß manchmal vergaß ich es, und dann glaubte ich, glücklich zu sein. Im Sichselbstvergessen allein liegt das einzige Glück, also in der Narkose, durch Liebe, oder Haß, oder Arbeit. Der Mensch ist die Krone der Schöpfung, sagt man. Er ist und bleibt aber, wie alles Leben, eine dilettantische Leistung. In einem Buche über die Kultur der alten Assyrer steht folgender Vers eines Dichters jener Zeit: »Gewandert ist in Hast mein müder Fuß so viel; ich gönnt' ihm keine Rast, doch fern bleibt stets das Ziel.«

Ein braunes Ding kam über den Zaun geschwenkt, streckte gelbe Krallen nach dem singenden Vogel aus und verschwand damit hinter der Hecke. Helmold sah Hennig an und lachte lustig: »Eine Gemeinheit sondergleichen; der gelbe Vogel singt von Liebe, und die Natur oder die Vorsehung schickt ihm den braunen Tod! Ich hatte einen Mitschüler, er hieß zwar Julius und noch dazu Müller, aber nie hat es ein so goldenes Herz gegeben, nie so viel Güte in einem Menschen. Er starb an Wundstarre, starb sieben Tage lang, lag da bei vollem Bewußtsein, konnte kein Glied rühren und mußte durch künstliche Atmung hingehalten werden, bis auch das nichts mehr half. Seine Mutter, eine Witwe, war eine gläubige Katholikin. Sie hat, nachdem ihr Julius tot war, keine Kirche mehr betreten und nie wieder gebetet. Ich war jeden Tag, solange mein Freund im Sterben lag, bei ihr, und mit jedem Tag bröckelte mein Gottesglauben mehr ab, bis nichts mehr davon übrig war, besonders seitdem ich vergleichende Religionsgeschichte gelesen hatte. Und dann kam ich an die Philosophie.« Er schüttelte den Kopf: »Na, das ist erst der größte Blödsinn; Narkose im Quadrat; vierte Dimension des Stumpfsinnes.«

Ein fast voll entwickeltes Mädchen von vierzehn Jahren mit hellblonden Flechten kam losen Ganges den Fußweg entlang, warf sich in die Brust, als sie die beiden Männer sah, machte ihnen einen Knix und sah den Maler so heiß an, daß Hennig die Augenbrauen hochzog. Helmold bemerkte es und meinte: »Ein reizendes Geschöpf, und so sehr verliebt. Die am Herzen liegen zu haben, das brächte mir am Ende noch ein bißchen Glück. Aber das wäre unmoralisch. Früher lebte ich unmoralisch, und hielt darum von der Moral sehr viel. Jetzt werde ich wohl moralisch leben, denn ich weiß, daß die Moral Schwindel ist, besonders die Geschlechtsmoral; ihre Wurzel ist der Neid, und weiter nichts. Wenn ich mit den Augen winkte, flöge mir dieses Bild von Mädchen an die Brust, und gäbe mir alles, was sie zu verschenken hat. Und nähme ich es, so gäbe das ein schönes Geschrei; denn alle Männer sehen ihr mit den selben hungrigen Augen nach, wie ich, und wie du, lieber Hennig. Infolgedessen, darum und so weiter!«

Er sah den Rauchringeln nach, blickte mit leeren Augen über das lachende Land und auf die kleinen Mädchen, die in der Wiese Blumen pflückten, und sprach vor sich hin: »Ich will hier fort. Mir ist es peinlich, die Anteilnahme in Frau Pohlmanns Augen zu sehen. Und dann ist Annemieken da. Allen bin ich Dank schuldig; aber wie kann ein toter Mann Dank abstatten? Höchstens durch kalte Worte. Laß uns irgendwohin fahren, wo kein Mensch mich kennt, und wo kein Mensch ist, den ich lieben muß.«

Das taten sie denn auch; doch zuvor fuhr Helmold nach Hause, um einige Tage mit den Kindern zu verleben. Als er eines Morgens, während seine Frau ausgegangen war, in der Werkstatt seine Bilder betrachtete, um zu prüfen, ob nicht dort oder da Spuren einer krankhaft verzerrten Anschauung zu finden seien, klopfte es an der Tür und auf seinen Zuruf trat Luise herein. Sie war ganz blaß und hatte die Augen unter sich. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihr allein zu sein, und er war sehr froh darüber gewesen; aber als er sie so dastehen sah mit auf den Estrich gerichteten Augen, wurde sein Herz doch ein wenig warm, denn sie sah so schön und dabei so magdlich demütig aus. »Nun, liebe Luise,« fragte er, und strich ihr mit der Hand über die Backe, »wo fehlt es? Denn du hast etwas auf dem Herzen, das sehe ich dir an.«

Das Mädchen sah auf, schlug aber die Augen sofort wieder nieder, und ihre Brüste gingen auf und ab, als sie endlich herausstotterte: »Herr Hagenrieder, ich, ich, mein Schwager, Sie wissen doch, meine Schwester ist gestorben, und nun sitzt er da mit den beiden kleinen Kindern. Und er ist da und fragt mich, ob ich ihn nicht heiraten will.« Sie strich an ihrer Schürze entlang und schwieg. »Hast du ihn gern?« fragte er. Sie nickte: »Er ist ein guter Mann und fleißig, und er sagt, er hat mich von jeher gut leiden mögen, und denn sind die Kinder da, und die mögen mich gut leiden. Und so wie es ist, kann es doch nicht bleiben.« Sie stockte, fuhr aber gleich fort: »Aber ich meine, solche Eile hat das just nicht, und wenn Sie wollen, Herr Hagenrieder, so bleibe ich noch.«

Eine warme Welle lief ihm über die Brust. Er faßte das Mädchen bei der Hand und sagte: »Nein, das will ich nicht; denn auf die Dauer durften wir nicht so weiter leben. Wenn Sie Ihren Schwager wirklich gern haben, ist es so das Beste.« Sie nickte und sah ihn dankbar an, Tränen in den Augen. Er gab ihr die Hand und sagte: »Ich wünsche dir viel Glück, mein liebes Kind. Und noch eins: jeder Mensch kann einmal Sorgen haben. Vergiß nie, daß ich dir sehr viel Dank schuldig bin.«

Er sah ihr nach, als sie gerade und aufrecht durch den Garten ging, und als sie in der Haustür verschwand, dachte er: »Meine Jugend hat mich verlassen; wohl mir!«

Am anderen Tage fuhr er mit Hennecke fort. Als er nach einem Monde wieder kam, hatte er ein volles, braunes Gesicht, klare Augen, eine feste Stimme und einen straffen Gang. Das Weiche, Zarte war ganz bei ihm verschwunden, doch auch das Harte und Eckige.

Er sah seinen Kleiderschrank durch, tat alles beiseite, was nach gesuchter Eigenart schmeckte, hielt eine fürchterliche Musterung unter seinen Halsbinden und Handschuhen ab und gab dann der neuen Magd den Auftrag, das Moos, das er früher so sehr geliebt hatte, von den Wegen im Garten zu entfernen. Dann stellte er alle Bilder von Swaantje wieder an ihre Plätze und desgleichen die Geschenke, die er und seine Frau von ihr erhalten hatten, und schließlich schrieb er ihr einen netten Vetternbrief, in dem er ihr in leichter Weise erzählte, wie sein äußeres Leben in der letzten Zeit gewesen war. »Denn,« sagte er sich, »sie ist nun doch einmal unser Bäschen.«

Als Grete ihm erzählte, daß Swaantje Krankenschwester werden wolle, erwiderte er: »Na, dann wird sie hoffentlich über kurz oder lang Frau Doktor Soundso heißen. Das wäre auch das beste für sie.« Seine Frau stand auf, legte ihren Kopf an seine Schulter und flüsterte: »Ist das dein voller Ernst, lieber Helmold?« Er sah sie mit aufrichtigen Augen an, nickte und antwortete: »Jawohl, das ist es; ich werde nicht wieder rückfällig.« Er schwieg einen Augenblick; dann fuhr er fort: »Sie war mir ein leiser Oktavton; er ist in mir aufgegangen und klingt nicht mehr. Ich war C, sie eine Oktav tiefer. Es gab keine Dissonanz, aber auch keinen Akkord, denn sie war ein zu unselbständiger Ton neben mir. Ich liebte sie aus Angst vor dem Altwerden; jetzt habe ich vor dieser Angst keine Bange mehr.«

Er sprach die Wahrheit; er wußte, daß er bereits alt war. In dem Luftkurorte, in den er sich mit Hennecke geflüchtet hatte, war er bald der Mittelpunkt der Geselligkeit gewesen, und wenn er gewollt hätte, so konnte er viel süße Küsse pflücken. Er hatte aber nur mit Worten getändelt und zumeist harmlos, bis sich aus dem Wortgetändel zwischen ihm und einer hübschen, sehr schlagfertigen Frau, die unter den Folgen eines Scheidungsprozesses litt, etwas entwickelte, das wie Liebe aussah, aber im Grunde nur der Niederschlag der gepfefferten Wortgefechte war, die ihm neue Spannkraft gaben und ihr das zerdrückte Herz aufrichteten.

Er war oft sehr weit in seinen Bemerkungen gegangen. Die Frau trug eines Tages seidene Strümpfe mit einem spiralig verlaufenden Muster. Als er mit lustigen Augen darauf hinsah, fragte sie ihn: »Interessieren Sie meine Strümpfe so sehr?« Er lachte: »Ja freilich; das Muster eröffnet dem denkenden Leser die interessantesten Perspektiven?« Sie fuhr auf: »Aber, Herr Hagenrieder?« Er lachte wieder: »Na was denn? Denkt man sich die Spirale fortgesetzt, so landet man schließlich bei,« er sah sie harmlos an, »dem klugen und schönen Gesichtchen!« Sie drohte ihm mit dem Finger.

Drei Tage, bevor sie abreiste, sagte sie ihm: »Sie haben mein Herz wieder lachen gelehrt, Sie ganz frecher Mensch Sie; aber ich glaube, ich habe Ihnen auch etwas geholfen. Es ist übrigens gut, daß jetzt wieder jeder seinen eigenen Weg geht.« Sie sagte das mit lachendem Munde, aber dabei liefen ihr Tränen in die Augen, und sie drehte sich schnell um.

Er hatte sich sehr an sie gewöhnt, und ihm war so, als müßte er ihr in den Laubengang nachgehen und sie in den Arm nehmen; aber er riß sich zurück. Als sie abgereist war, sagte er sich: »Herr Hagenrieder, Sie werden alt, oder vielmehr, Sie sind es schon.«

Er war es; er wurde kühlverbindlich in seinem Benehmen, zurückhaltend im Reden und vorsichtig im Handeln. Er, der früher Gefahren und Verwicklungen suchte, schlug jetzt Richtwege ein, konnte er dadurch eine Unannehmlichkeit vermeiden. »Passé!« dachte die Gräfin Tschelinski, als sie ihn wiedersah, und wich ihm aus, was ihm sehr lieb war, denn ihr übermodernes Wesen hatte ihm schon längst den Appetit verdorben. Noch froher war er, als der Prinz ihm erzählte, daß Frau Pohlmann ihr Anwesen verkauft und sich anderswohin verheiratet habe.

Mit viel mehr Freude konnte er nun zur Pürsch auf den roten Bock fahren. Aber auch mit der Jagd war er auseinandergekommen; er schoß nach dem Bock, wie nach der Scheibe, und während er sich früher gänzlich der Stimmung der Landschaft hingegeben hatte, betrachtete er sie jetzt mit den selben Augen, mit der er seine entthronten Herzensköniginnen ansah. Er bemerkte ihre Schwächen, ohne daß er dadurch abgestoßen wurde; er hing nicht mehr an ihnen, und so beleidigte ihn das Fehlerhafte nicht.

Seine Frau freute sich über ihn; er war jetzt immer gleichen Mutes, hatte nie üble Laune, vergaß kein einziges Mal den Morgen- und Abendkuß, gab sich viel mit den Kindern ab, war der rücksichtsvollste und verbindlichste Kavalier in allen Gesellschaften, zu denen sie mit ihm ging, sah nie mehr mit langenden Augen nach anderen Frauen hin, aß stets mit Appetit, ging rechtzeitig schlafen und teilte sich Arbeit und Erholung gewissenhaft ein.

Ab und zu wurde ihr die Abgeklärtheit und Durchsichtigkeit seines Wesens etwas unheimlich; aber bei ihrer frohherzigen Natur kam sie bald darüber hinweg, und sie sagte sich schließlich auch: »Ach was, es ist auch besser so!«

Ganz das selbe dachte er dann und wann auch. Wenn er beim Malen war, und er alle die Formen und Farben, die sein Herz ihm nicht mehr bot, aus seinem Verstand hervorholte und kühl und überlegen zu kraftvollen Werken zusammenklingen ließ, dachte er: »Ist das langweilig! Ich weiß ja, es gelingt: also lohnt es sich nicht mehr!«

Er wünschte sich in solchen Augenblicken, er wäre tot, und seine Witwe fände einen netten, guten und klugen Mann; denn in Wirklichkeit stand auch sie samt den Kindern fern von ihm.

Mit Hennecke ging es ihm nicht anders; er liebte ihn nur noch in der Erinnerung und hatte ihm das einst gesagt. »Ist mir ganz schnuppe,« hatte Hennig geantwortet, und er setzte hinzu: »es freut mich aber, daß du es mir sagst; das ist eine Liebeserklärung in bester Form. Ich habe dir viel, du mir einiges zu danken; daran wollen wir uns genügen lassen. Schließlich bleibt doch jeder Mensch allein.«

Auch er war ein kalter Mann geworden, seitdem ihm seine Line drei Tage, bevor er sich mit ihr trauen lassen wollte, von einem Kraftwagen totgefahren war. Nicht viel anders ging es Beni Benjamin. Er hatte die Stelle als Nervenspezialist am städtischen Krankenhause angenommen, den Professortitel bekommen, spielte eine Rolle in der Gesellschaft, und noch mehr seine schöne, lebhafte Frau, und er hatte auch die leise Frau, die er sich geträumt hatte, in einer Patientin gefunden, die er von jahrelangem Leiden gerettet hatte. Da starb ihm sein Sohn, und nach einem Vierteljahr war er ein stiller Mann mit toten Augen und lippenlosem Munde.

»Tja«, scherzte Helmold Hagenrieder, als er mit ihm und Hennecke hinter einer guten Flasche saß, »hier sitzen wir drei Weisen aus dem Morgen- und Abendlande, hocherhaben über der blöden Menge und können singen: ›Guter Mond, du gehst so stille!‹ Ja, lieber Hennig, du hattest recht, als du mit zwanzig Jahren dichtetest: ›Nichts hoffen, aber auch nichts fürchten, nie traurig, doch auch niemals froh; Ich möchte sein, was ich gewesen; ach was, es ist auch besser so!‹ Stoßt an, Brüder von der kalten Lamain; das Leben ist einer Hühnerleiter nicht unähnlich: ziemlich dreckig, oder noch mehr einem Kinderhemde: kurz und bescheiden. Na, wir haben es bald zur Strecke gebracht. Ha la lit!«

Das meinte er aber durchaus nicht im trübseligen Sinne, und gleich darauf erzählte er die tollsten Schnurren, ließ sich den Wein und die Zigarre schmecken und ging um halb elf Uhr heim; denn der Alkohol war ihm jetzt nur noch ein guter Freund, von dem er sagte: »Man darf die Freundschaft nicht zum Verkehr ausarten lassen.« Einmal in der Woche traf er sich mit Hennig und Beni beim Wein und einen anderen Abend ging er in den Künstlerverein, um Billard zu spielen und zwei Gläser Bier dabei zu trinken.

Nur wenn Vollmond war, kam ab und zu die alte Unruhe über ihn; aber dann sah er sich vor und fuhr nach Stillenliebe, tobte sich mit Klaus Ruter, der inzwischen den väterlichen Hof übernommen hatte, hinter den Karten aus und ließ sich von Annemieken die Brummfliegen wegjagen.

Bei diesem Mädchen, das gar keine Bildung, aber ein Herz und einen scharfen, wenn auch nicht weiten Verstand und viel Takt hatte, wich alle seine Unruhe sehr bald. Zudem fesselte sie ihn, wenn auch wenig mehr als Weib und auch kaum als Einzelmensch, sondern als Typus; das Erdgebürtige, das Urwüchsige, Unverbildete ihrer Erscheinung und ihres Wesens sagte seinem Urmenschenempfinden zu, und mit stets neuem Erstaunen lauschte er den unwillkürlichen Offenbarungen, die ihrem Unterbewußtsein entsprangen.

Sie konnte eben noch lustig lachen, aber dann begannen ihre Augen zu verschwimmen, und wenn sie sprach, hörte er nicht ein hübsches Landmädchen reden, sondern sein Volk sprach zu ihm. Stundenlang konnte er, die Pfeife im Munde, im Backenstuhle sitzen und in das offene Feuer sehen, während Gift und Galle sich zu seinen Füßen räkelten und die Katze auf seinem Schoße saß und schnurrte; ihm gegenüber saß dann Annemieken, spann und sang mit nur halb entfalteter Stimme ein altes Lied.

»So kann man tausend Jahre sitzen,« sagte er, den Funken zusehend, die um den Dreifuß sprangen. »Ja, Feuer ist Gesellschaft,« antwortete das Mädchen und ließ das Rad weiter schnurren.

Er sah sie groß an; dieses eine Wort, das einzig mögliche, um die Bedeutung des offenen Feuers für das Seelenleben eines ganzen Volkes wiederzugeben, eröffnete ihm einen Ausblick auf die Entstehung der gesamten Volksdichtung.

»Weißt du, Mieken, daß du eine Dichterin bist?« fragte er sie. Sie nickte gleichmütig: »Ja, ich habe erst heute noch das Fenster im Ziegenstall gedichtet«, und dann lachte sie, weil er ein ganz verblüfftes Gesicht machte, denn das war der erste Kalauer, den er von ihr hörte.

Doch so ging es ihm oft mit ihr; sie hatte tausend Schubladen und Geheimfächer in ihrer Seele, und manche davon waren so versteckt angebracht, daß sie sie nur ganz zufällig fand und selber erstaunt war über die alten Erbstücke, die darin herumlagen, einige noch gut erhaltene, andere vergilbt und stockfleckig, mottenfräßig oder schimmelig.

Das Spinnrad schnurrte, der Tranküsel flackerte, rote Funken sprangen hin und her, und die gewaltigen Pferdeköpfe des Herdrahmens warfen unheimliche Schatten auf die Wände des Fletts. Mieken rührte die Arme fleißig, und Helmold betrachtete mit zufriedenen Augen ihr reiches blondes Haar, ihr frisches Gesicht, das bei jedem Lächeln drei Grübchen vorwies, die vollen Brüste, die sich ungesucht unter dem weißen Hemde und dem roten Leibchen abzeichneten, und die prallen Lenden, die der blaue Rock umspannte, während die weiße Schürze sich im Schoße verführerisch knickte, und er ließ sich von der alten Weise streicheln, die der Kessel brummte und Annemieken summte, bis sie, mit verträumten Augen vor sich hinstarrend, zu erzählen begann und ihn in die Zeiten führte, da noch die Bäume rote Herzen hatten und jedes Tier eine Sprache besaß, die von Menschenohren verstanden wurde.

Sein Volk, das einzige, das er auf der Welt noch liebte, saß vor ihm in Weibesgestalt, durchsichtig, wie ein tiefes Wasser, und ebenso unergründlich, schön anzusehen und doch schrecklicher Geheimnisse voll, und es blickte ihn mit hellen warmen Augen an, die einen Pulsschlag später kalt und dunkel aussehen konnten.

Er zerfaserte sein Verhältnis zu dem jungen Weibe, das vor ihm saß und in völliger Selbstvergessenheit spann. Zu Bildern waren ihm die Frauen im allgemeinen nun geworden; er konnte sie nur noch flächig sehen. Bei Annemieken war das anders, die lebte um ihn; weniger sie selber, als das, dessen Sinnbild sie war, als sein Volk, mit dem er sich eins fühlte.

Er dachte an die Stadt und lächelte in sich; Plunder, Volants, außen und innen, ein Staffeleileben, zwecklose Ornamentik, Künstelei, das Ganze ohne viel Sinn und Zweck.

Er sah sich im Flett um; da war nur Zweck und gar kein Ornament. Selbst die Mährenhäupter des Rahmens waren nur Zweck, eine Verbeugung vor Wode, dem entthronten Gotte. Aber wie schön war nicht der Kesselhaken in seiner ganz auf den Zweck gearbeiteten Form, wie schön jedes Stück Geschirr an der Feuerwand, wie sinngemäß die kunstvolle Pflasterung des Estrichs mit den geschwungenen Schmuckstreifen aus weißen Kieseln. Das war Kunst, Kunst im Leben, nicht neben dem Leben, keine Staffelei- und Atelierkunst.

Überall lachte sie ihn an, die Seele seines Volkes, die ein Kunstwerk aus jedem Geräte gemacht hatte, und nur deshalb, weil sie an Kunst nicht dachte. Ob es nun der Kugelfußtisch war oder der Stuhl mit dem Sitze aus Schilf, die Tranlampe oder der Tellerkranz, jedes Stück erzählte oder sang in seiner leisen Art; desgleichen der Rosmarinstock vor dem Fenster der Dönze und der grüne Topf, in dem das Allwundheil wuchs. Das war die Welt, in die er hineinpaßte, in der er hätte leben müssen, wenn auch nur als kleiner Handwerker.

Hier tönte ihm noch ein Echo des wirklichen Lebens. Es war ihm ein Bedürfnis, Annemieken die schweren Arbeiten abzunehmen; er fühlte sich ganz hineingestimmt in diese Welt, er, der Mann, der dem übrigen Leben gegenüber sich zum Außerhalbsbewußtsein hingefunden oder verirrt hatte. Da war Ruhe und Frieden und langsames, bedächtiges Schaffen; da war nicht jeder Augenaufschlag mit einem Lächeln gewürzt, wurden Zärtlichkeiten nicht feilgeboten. Alles mußte erarbeitet oder erobert werden.

Unglaublich tief war das Verständnis dieses einfachen Weibes für seine Art; denn es beruhte auf der uralten Überlieferung, auf nach Jahrtausenden zählenden Gewohnheiten, aus einer unermeßlichen Erfahrung.

›Hier ich, da du!‹ das war die Losung, und das Feldgeschrei hieß: ›Jedem das Seine!‹ Da gab es keine Seelenvermanschung, Persönlichkeitsverquirlung, nur ein Zusammengehörigkeitsgefühl wie zwischen dem Birnbaum im Grasgarten und dem Efeu, der ihn umwuchs. Vor allem! man sprach nicht über Dinge, die mit Worten nicht zu ändern sind, wie man seit Jahrzehntausenden wußte; man war zu klug und zu gebildet und zu keusch. Man zog sich nie nackt vor einander aus, und man quälte sich nicht mit Unmöglichkeiten. Man gab sich keine Mühe, den anderen zu durchdringen; man wußte, jeder blieb doch für sich. So gab es keine Enttäuschung und kein Entfremden, keinen kalten Blick nach dem Nacken des anderen.

Er trank den Rest Warmbier aus der zinnernen Kanne, die er neben dem Feuer stehen hatte, klopfte seine Pfeife aus, hängte sie an den Nagel, sah das Mädchen an und sprach: »Annemie!« Sie lächelte und ihre Augen leuchteten, denn wenn er sie so anredete, das wußte sie, mußte sie ihm irgendwie helfen. Sie sah ihn fragend an. Er fing an: »Annemieken, du hast sie doch gesehen, damals, als ich so krank war?« Sie nickte. »Wie gefiel sie dir?« Sie wiegte den Kopf hin und her: »Ich weiß nicht; das war nicht Fisch noch Fleisch!«

Er sah Swaantje vor sich. Ihre Augen hatten keine goldenen Blumen mehr, sondern gelbe Flecke; ihre Stimme war nicht mehr weich, sondern schwach; ihr Gesicht war zu sehr nach Mannesart geschnitten, und ihr Haar roch nicht wie Mädchenhaar; was sollte er also mit ihr?

Aber er hatte ein Anrecht auf sie, er wollte seine Satisfaktion von ihr haben; wollte damit alles das, was er durch sie eingebüßt hatte, wieder in sich hineinzwingen. »Aber das wird doch nicht gehen,« überlegte er, nahm Annemieken in den Arm und küßte in ihr sein Volk, ließ sein Bewußtsein in ihr untergehen, wärmte sein altes Herz an dessen ewig jungem Leben.

Als dann der Schlummer sein Denken schon zudecken wollte, war es ihm, als ob seine Ehefrau neben ihm atmete, und sehnsüchtig gedachte er ihrer. Er sah sie als Bäuerin im Hause walten, ruhig und bedächtig, nur ihm und den Kindern lebend, unbekümmert um das, was außerhalb ihres Hofes in der Welt vor sich ging, ganz und gar weiter nichts als Frau Hagenrieder, von seiner selbstverständlichen Achtung umgeben, und seiner vollen Liebe um so sicherer, als davon niemals die Rede war.

Als er nach drei Tagen in der zweiten Wagenklasse heimfuhr, hatte er ein Mädchen aus der ersten Gesellschaft zur Fahrtgenossin. Sie war einst seine Tischnachbarin gewesen, hatte ihm in allen möglichen Dingen widersprochen, bis ihm die Geduld riß und er freundlich antwortete: »Ja, über bildende Kunst kann ich nicht urteilen, gnädiges Fräulein; ich bin man bloß Maler.« Sie hatte erst einen roten Kopf bekommen und glühende Augen, war aber dann ganz weich geworden und hatte ihn in aller Form um Entschuldigung gebeten.

Nun war sie wie Knetwachs in seinen Händen. Sie war sehr schön und von reizendem Wesen, und er wußte es: »Ein Wort, ein Griff und du hast sie.« Aber er hatte eingesehen, warum er noch vor kurzem jedes Frauenherz annahm, das ihm hingehalten wurde; Seelen hatte er sich vermählen wollen. Nun er einsah, daß das eine Unmöglichkeit war, riß er sich zurück, unterhielt das hübsche Mädchen auf das beste, vermied jene innere Annäherung und schied von ihr mit einem höflichen Lächeln.

Am nächsten Tage mußte er abermals ein Herzchen dankend ablehnen. Er war allein im Hause und Minna, das Kindermädchen, das mit einem Male einen prallen Schürzenlatz und verlangende Augen bekommen hatte, umgab ihn, als er zu Abend aß, mit so durchsichtiger Hingebung, daß die Absicht mit Händen zu greifen war. Als er dann allein in der Werkstatt war, erschien sie zweimal dort, reizend anzusehen in dem Waschkleide, dem weißen Tändelschürzchen und dem Spitzenhäubchen in dem welligen hellen Haar.

Sie tat ihm leid, denn allzu deutlich bot sie sich ihm an, von der Natur getrieben und aus dem Gefühle der Dankbarkeit heraus gegen den allzeit gütigen Herrn; auch war er sich ganz klar darüber, daß er sie begehrte, einfach deshalb, weil die Natur den reifen Mann zu dem eben aufblühenden Weibe hinzwingt; aber er nickte ihr nur freundlich zu und sagte: »Danke, liebes Kind, nun habe ich alles; wenn du noch etwas ausgehen willst, so ist mir das recht. Es ist ein so schöner Abend.«

Rüstig arbeitete er an seinem Bilde weiter, denkend: »Ich bin nicht mehr jung genug für solche Dinge und habe also das Recht darauf eingebüßt. Und sie ist zu schade dafür, mir weiter nichts zu sein, als ein Spielzeug. Und sie wird nicht mehr an mich denken, sobald sie einen findet, der ihrer Art ist.«

Die nächste Zeit hatte er sehr viel zu tun, einmal mit seinen großen Aufträgen und dann mit dem Doppelbildnis des Oberpräsidenten und seiner Frau. Als es fertig war, schickte er es ihnen hin, und als er am folgenden Tage dort eingeladen war und die Oberpräsidentin ihm sagte: »Sie haben uns hoch erfreut, lieber Freund; wie sollen wir das gut machen?« lachte er und sagte: »Dadurch, daß Eure Exzellenz mir gestatten, noch oft kommen zu dürfen.«

Im Verlaufe des Abends fragte der Hausherr: »Sagen Sie mal, Ihre Familie war doch einst von Adel?« Der Maler nickte: »Jawohl, von altem Bauernadel. Wir verarmten in Kriegszeiten völlig und legten die Standesbezeichnung ab, denn sie war zum störenden Ornament geworden, womit man überall anhakte. Ich besitze übrigens alle Papiere über mein Geschlecht; der Stammbaum weist keine Lücke auf über sechshundert Jahre.« »Ei, ei,« meinte der Gastgeber und sprach von etwas anderem.

Einige Zeit darauf wurde Hagenrieder zum geheimen Hofrate ernannt. Um den Glückwünschen aus dem Wege zu gehen, und um sich von den gesellschaftlichen Anstrengungen zu erholen, fuhr er nach Stillenliebe. Er hatte sich in Annemiekens Hause eine Dönze eingerichtet und wohnte nicht mehr in der Wirtschaft. Die Bauern vermieden jede Anspielung auf seine Stellung zu dem Mädchen; er gehörte so sehr zu ihnen, daß sie sein Eigenleben ebenso achteten, wie sie ihr eigenes schützten.

Alle, die ihn näher kannten, fühlten heraus, daß er nicht mehr der lustige Mann war, als den sie ihn kennen lernten; aber da jeder von ihnen selber einen Packen auf dem Nacken hatte, erbot sich keiner, ihm den seinen tragen zu helfen, selbst der Vorsteher Klaus Ruter nicht, sein bester Freund im Dorfe. Als der Pfarrer vom Kirchdorfe einmal bei Ruter vorsprach, angeblich kirchlicher Angelegenheiten halber, und anscheinend beiläufig auf das Verhältnis Hagenrieders zu Annemieken zu sprechen kam, fragte ihn der Vorsteher: »Was trinken Sie lieber, Herr Pastor, Bier oder Wein?« Da sprach der Geistliche schnell von etwas anderem.

So hatte Helmold Hagenrieder zwei Gesichter, das des Jägers und Bauern, und das des Stadtmenschen und Künstlers. Er konnte die halbe Nacht mit den Bauern trinken und Karten spielen, und er brachte es fertig, vier Stunden lang im Frack der Glanzpunkt einer Tischgesellschaft zu sein. Die Bauern ahnten nicht, daß der Mann, der mit jedem von ihnen auf du und du stand, der bedeutendste bildende Künstler seiner Zeit war. Als ein Reisender eine Zeitschrift im Kruge liegen ließ, in dem der Geheime Hofrat Professor Hagenrieder beschrieben und abgebildet war, machten sie zwar den verlegenen Versuch, ihm seine Titel zu geben, aber da lachte er und sagte zu dem Wiebkenbauern: »Alter Döllmer! Soll ich zu dir vielleicht Herr Vollmeier oder Herr Jagdvorsteher oder Herr Gemeinderatsmitglied sagen? Professor und Geheimrat und das andere bin ich, wenn ich die Kellneruniform anhabe; hier heiße ich Hagenrieder und damit basta. Prost, Korl! auf daß deine Kinder einen klugen Vater kriegen!« In der Stadt hinwiederum hatte man keine Ahnung davon, daß der Herr Geheimtat, der fesselnde Plauderer, da hinten in der Halde wie ein Halbindianer lebte und mit einem Mädchen, das mir und mich verwechselte, selbst wintertags keine Hosen trug und mit dem Messer aß, auf du und du und so weiter stand und ihr beim Holzhacken und Stallausmisten half. Die einzigen Stadtleute, die darum wußten, Hennig Hennecke und der Prinz, sprachen darüber nicht.

Mehr als einmal hatte Helmold es vorgehabt, sich seiner Frau zu entdecken; doch stand er davon ab, indem er sich sagte: »Wozu soll ich sie ärgern?« Und dann wußte er auch, daß er ihr eigentlich gar nichts verheimlichte, denn was war ihm Annemieken schließlich mehr als ein Teil des Dorfes, ein Stück der Landschaft? Die Zeit der Liebe war vorbei für ihn, also auch die Zeit der heimlichen Sünde.

Er hatte sich jetzt völlig in der Hand; sein Herz lief Schritt und Trab, wie er es haben wollte. Nur ein einziges Mal schlug es noch etwas über die Stränge. Das war auf dem großen Maienfeste, das die Künstlerschaft im Hirschgarten veranstaltete. Es fiel gerade in die Zeit, in der sich Swaantje bei Benjamin einer Behandlung unterzog. Sie wohnte bei Hagenrieders. »Ist es dir auch nicht unangenehm?« hatte Grete gefragt. »Durchaus nicht,« antwortete ihr Mann.

Mit einer gewissen Feindseligkeit im Herzen trat er ihr anfangs gegenüber, doch fand er bald, daß er sich unnütz in Paukwichs geworfen hatte. Ihre Stimme klang nicht mehr bis zu seiner Seele, und seine Augen streichelten sie weder, noch drohten sie ihr. Er vermied aus Nützlichkeitsgründen das Alleinsein mit ihr; ließ es sich aber nicht umgehen, so zwang er sich zu einem leichten freundlichen Plaudertone. Sobald sie aber eine ernste Frage anbrach oder an sein Innenleben heranging, machte er kehrt.

Ganz kalt beobachtete er sie. Sie war noch ebenso schön, wie einst; aber er hatte zu lange hinter ihr hergeweint, als daß seine Augen für sie nicht erblindet wären. Er liebte sie nicht mehr, und fühlte auch keinen Haß gegen sie; sie war ihm nichts, als das Bild eines Menschen, den er einst heiß geliebt hatte.

»Schade,« dachte er, »daß es so ist; aber nichts ist überzeugender, als die Wucht der Tatsache!«

Er sah sie im Garten neben Grete stehen. Er zog sie mit den Augen aus, betrachtete ihren Akt, gab ihr alle Stellungen und setzte sie jeglicher Beleuchtung aus, schüttelte den Kopf und dachte: »Es war einmal! Ein Segen, daß sie nicht meine Frau geworden ist.« Und mit einem Male mußte er auflachen. Er hatte Professor Groenewald kennen gelernt, einen Mann, der nach Eitelkeit und Kölnischem Wasser roch, Weiberhände hatte und einen Brillantring trug. »Schmalzlerche!« hatte Helmold gedacht, als er ihn sah. Nun aber dachte er: »Solche Männer, die keine sind, gefallen so'nen Weibern, die keine sind.«

Bei der Tafel hatte er Swaantje halb rechts gegenüber sitzen; ein großer Strauß trennte zumeist ihre Blicke, so daß er sich völlig seiner Tischdame widmen konnte, eben jenem schönen Mädchen, das ihm einst in der Eisenbahn ihr Herz umsonst hingehalten hatte, und das den rosenroten Namen Meinholde Marten trug. Sie war glücklich, neben ihm sitzen zu können; ihre Augen funkelten noch mehr, als die Demanten in ihrem goldenen Haar und auf ihrem herrlichen Halse. Seine Blicke streichelten ihre Schultern und stahlen sich dahin, wo ihre Brüste im Schatten der Spitzen auf- und abhüpften, ab und zu freudig errötend, wenn eine zarte Schmeichelei oder ein kecker Vergleich sie in Erregung versetzte.

Niemals war Helmold bezaubernder gewesen, als an diesem Abend: er focht Dessin mit seinen Worten, schlug ganz leichte Terzen an, gebrauchte listige Finten und setzte dann eine Tiefquart dahinter, daß Lappen und Knochensplitter flogen und die Abfuhr völlig war. Aber das war nichts als Schlägermensur; mit dem krummen Säbel trat er erst an, als er sich zum Trinkspruche erhob, denn da sah man den Renommierfechter. »Ich habe den peinlichen Auftrag erhalten, den Trinkspruch auf die Damen auszubringen,« begann er und sah kalt von rechts nach links in die vierhundert verblüfften Augen. »Ich denke gar nicht daran, den Auftrag zu erfüllen; denn,« er sprach es mit einem bösen Blicke, »den Frauen und Jungfrauen will ich ein Lobredner sein, so gut ich es kann.« Alle Augen wurden hell. »Dame, was ist das?« fuhr er fort; »ein wälsch Wort, ein farblos Wort, ein Unwort. In der galanten Zeit kam es auf, und bedeutete nichts Sauberes, schmeckte nach Liebelei, aber nicht nach treuer Liebe, sagt doch der alte gute Friedrich von Logau: »Was Dame sei und dann, was Dama wird verspürt, daß jene Hörner macht und dieses Hörner führt.«

Er lachte lustig und rief: »Fort mit dem dämlichen Wort!« Und dann wand er den Frauen und Jungfrauen einen Kranz aus roten und weißen Blüten; er huldigte ihnen als Mann, nicht als Knecht; er gab ihnen die Hand, küßte ihre aber nicht, die Kniee beugend; vergaß keine, weder die vornehme Frau noch die einfache Magd, und dann schwenkte er ab, näherte sich gefährlichen Punkten, daß die Männer unruhige Augen bekamen und den Frauen das Herz stille stand, weil sie ihn schon abstürzen sahen; doch mit einem harmlosen Lächeln gab er seinen Worten eine Wendung, die ihn rettete. So führte er seine Zuhörer ein dutzend Male an gefährlichen Abgründen vorbei, um sie schließlich zu einem Gipfel zu leiten, von dem aus sich ihnen eine Aussicht bot auf lauter Sonne und Wonne.

Alle Augen an der Tafel waren erfüllt von dem Abglanze seiner Worte, als er endete und hinter einem Gitter weißer Arme verschwand, die ihm die Sektkelche entgegenstreckten, deren helles Klirren sich von dem neidischen Beifallsgemurmel der Männer abhob, wie weiße Blumen von abendlich dunklem Gebüsche. Doch am meisten leuchteten die Augen seiner Tischnachbarin; als er mit ihr anstieß, hauchte sie: »Du!«

Swaantjes Augen aber standen schwarz in ihrem weißen Gesichte; ihr Mund war wie ein Strich, und ihre Hand lag geballt auf dem Tische. Sie hatte das selbe Gesicht, wie an jenem Tage, als er in der Werkstatt um einen Kuß flehend vor ihr stand, Tränen in den Augen. Nun stieß er, sie unbefangen anblickend, mit ihr an und setzte sich nieder, seiner Tischnachbarin ein Wort zuflüsternd, das Abendröte auf ihrem Gesichte hervorrief.

Keinen Augenblick ließ Swaantje das Paar mit den Blicken los, solange die Tafel währte. Ihr Vetter merkte es wohl; als er sah, wie blaß sie war, stieg ein unbehagliches Gefühl in ihm auf. Aber da er rundumher nur zärtliche Augen erblickte, und der Sekt sein Blut erhitzte, und das Mädchen, das neben ihm saß, ihn ganz in Anspruch nahm, und zudem der Fliederstrauß Swaantje halb verbarg, so vergaß sein Herz sie.

Und dann kam der Fackelreigen durch den dunkelen Wald, an dessen Rändern die Nachtigallen schlugen, und er hatte das wunderschöne Mädchen erst am Arm, und bald darauf, als der Zug sich auflöste, im Arm, und der Kauz rief und der Waldmeister und das junge Buchenlaub dufteten, und Helmold küßte Meinholde und sie küßte ihn wieder, bis sie aufseufzte und flüsterte: »Nun geh! sonst reden sie über uns.«

Dann aber fand er sich mitten im Trubel, stand vor Swaantje und bat sie um den Walzer. Sie tanzte schlechter als sonst, und sah so bleich aus, daß er sie zu einer Bank führte, sich zu ihr setzte und einen leichten Ton anschlug. Sie antwortete matt und lächelte kaum, wenn er etwas Lustiges sagte, und mit einem Male sah sie starr nach seiner Hemdenbrust, stand jäh auf und sagte: »Ich muß einen Augenblick allein sein; mir ist so sonderbar.«

Als sie ihn verlassen hatte, nahm er das goldblonde lange Haar fort, das an der Perle hing, die sein Hemd zusammenhielt, und er wußte nicht, sollte er die Stirn runzeln oder lächeln. Aber dann erinnerte er sich an das, was er sich an dem Tage vorgenommen hatte, als er den Mordhirsch im Schandenholze geschossen hatte. »Blut um Blut!« dachte er.

Am folgenden Tage fuhr er zur Jagd; absichtlich fuhr er in aller Frühe fort, ohne Abschied zu nehmen. Als er nach einer halben Woche wieder kam, nach jungem Birkenlaube und Post duftend, drei Birkhähne in der Hand, traf er Swaantje ganz allein zu Hause, denn seine Frau hatte einen Besuch zu machen und die Mädchen waren mit den Kindern aus.

»Du siehst nicht besonders aus, Kleine,« sagte er und tätschelte ihr die Backen wie einem Kinde. Sie bediente ihn beim Kaffee; er freute sich der kraftlosen Anmut ihrer Bewegungen und nahm den Klang ihrer weichen Stimme dankbar hin, suchte aber vergebens nach den goldenen Blumen in ihren Augen und lauschte umsonst auf den Widerhall seiner Liebe in seiner Brust.

Wenn er sie ansah, war ihm zu Mute, als käme er in eine Stadt, in der er einst viele lieben Freunde hatte, und nun waren sie alle tot.

Doch als er dann in der Werkstätte war, dachte er: »Ich will sie an ihre Schuld mahnen, jetzt gleich. Donnerwetter, sie ist und bleibt doch immer eine Lücke in meinem Leben, über die ich in Gedanken alle naselang noch stolpere!« Er gedachte der Nacht, in der sie in dem Büchersaale von Swaanhof vor ihm stand in dem weißen Nachtkleide, den hellen Schein der Kerze über ihrer Brust, auf die der Schatten des Palmenwedels mit kecken Fingern deutete, und des Maientages, an dem sie mit dem Rade fiel und ihre Röcke so schüttelte, daß ihre Hosen bis über die Hüfte sichtbar wurden, und er sagte sich: »Ich will mir holen, was mir zukommt; denn ich habe es mit meinem Leben erkauft. Also!«

In diesem Augenblicke kam Swaantje aus dem Wohnhause und ging in den Garten, ein Buch in der Hand. »Aha!« sagte er sich; »läuft der Hase so?« Denn sie hatte ein weißes loses Kleid an, fast ganz so wie jenes, das einst seine Hände hungrig gemacht hatte.

Er ging ihr entgegen: »Du hast mein neuestes Bild noch nicht gesehen, Swaantien,« sagte er. Sie wurde rot und folgte ihm. »Ach, wie schön,« flüsterte sie und sah ihn mit hingebungsvollen Augen an.

»Bleibe ein bißchen hier und erzähle mir was, Maus,« bat er und deutete auf das Ruhebett. Sie gehorchte und sah ihm zu, wie er an dem Bilde einige Stellen vollendete.

»Ach was, malen!« rief er und stellte den Pinsel in das Glas; »ich habe keine rechte Lust dazu!« Er schob einen Sessel heran und setzte sich zu ihr. »Hast du nichts Neues geschrieben?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf: »Ich habe es aufgesteckt; ich habe gar kein Talent.« Er lächelte in sich. »Ist auch besser so. Talentvolle Frauen sind keine.« Und dann fragte er weiter: »Hat dir Benjamin geholfen?« Sie nickte: »Etwas!« antwortete sie. Er strich über ihre Schläfe. »Immer noch die alte Stelle?« Sie nickte und sah ihn dankbar an, denn seine Hand war ihr eine Erquickung. Er legte den Arm um ihren Nacken, küßte sie auf den Mund und flüsterte: »Meine Swaantje!« Ihre Arme erhoben sich, als wenn sie seinen Hals umfassen wollten, aber dann stieß sie ihn zurück und rief: »Aber Helmold, schäme dich!« Er ließ sofort von ihr ab und lächelte: »Entschuldige, liebe Swaantje; das verflixte Kleid!«

Als er zu Bette ging, fragte ihn seine Frau: »Hast du Swaantje etwas Böses gesagt? Sie war so sonderbar und will morgen abreisen.« Er errötete etwas, erwiderte jedoch ganz ruhig: »Ich! wie sollte ich dazu kommen?« Doch ehe er einschlief, schämte er sich, einmal, weil er seine Hände nach einem Weibe ausgestreckt hatte, an dem ihm nichts gelegen war, und dann, weil er fühlte, daß er sie doch noch liebte, wenn auch nicht als Weib. »Ich habe in ihrer Seele, die ich immer und ewig liebe und begehre, mein Bild zerschnitten,« dachte er und nahm sich vor, sie um Verzeihung zu bitten.

Dazu kam er aber nicht, denn als er sie am Frühstückstische traf, sah sie nicht bleich und elend aus, wie er gefürchtet hatte, sondern eher froh und glücklicher, als in den letzten Wochen, und als sie abreiste, nickte sie ihm aus der Wagentür freundlich zu.

»Der Teufel soll aus dem Frauenzimmer klug werden,« dachte er und kam sich wie ein dummer Junge vor, der eine kokette Abwehr ernst genommen hatte. Späterhin aber freute er sich des Mißerfolges. Was früher seine höchste Wonne gewesen wäre, nun wäre es besten Falles weiter nichts gewesen, als ein Vergnügen.

»Ich hätte nicht mehr davon gehabt, als wenn ich die Zunge zum Fenster hinausgehalten hätte,« dachte er, suchte einen bespannten Keilrahmen heraus und entwarf ein Bild von ihr.

 


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