Hermann Löns
Das zweite Gesicht
Hermann Löns

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Der Platzhirsch

Am anderen Morgen fuhr er nach Stillenliebe; neben ihm auf der Bank lagen Gift und Galle, seine Hunde, und Gift und Galle waren auch in ihm.

Er hatte, unterdes Grete und Swaantje zur Bahn fuhren und er in der Werkstatt mit Sweenechien Bilder besah, die Ereignisse der letzten Zeit überdacht und einen dicken Strich unter sich und Swaantje gezogen. »Das muß ein Ende haben,« sagte er sich und nahm sich vor, recht nett zu seiner Frau zu sein.

So nahm er sie in den Arm, als sie zurückkam, küßte sie und sagte: »Ich will morgen nach Stillenliebe; sonst wird der Prinz öde. Hör' mal, er schreibt: Die Hirsche schreien, wenn auch nicht, wie es fälschlich in der Bibel heißt, nach frischem Wasser, sondern nach passender Damenbekanntschaft, aber auch nach dir, vorzüglich der Schadhirsch vom Schandenholz, der schon letzten Herbst sterben sollte. Jetzt ist er aber reif; er hat einen braven Zwölfender zu Tode geforkelt. Also!«

Helmold hatte gelacht, als er seiner Frau den Brief vorlas. »Dem will ich es besorgen, Grete! Er steht in der unzugänglichsten Ecke, und deswegen hat ihn mir der Prinz so lange eingemottet, denn er weiß, bei mir heißt es: je leichter, desto langweiliger! Das ist ein Hirsch, den man nur auf den Ruf schießen kann, denn er tritt niemals bei Büchsenlicht aus der Dickung. Na, dann machen wir es eben, wie Mohammed mit dem Berge! Es ist ein ganz alter Bursche, der aber nur ein Gabelgeweih trägt und deswegen jahrelang als Schneider durchgegangen ist, und keiner ahnte, daß er der Mordhirsch war. Und wir sind gute Bekannte; vor zwei Jahren schrie ich ihn mir bis vor die Stiefelspitzen; aber ehe ich den Finger krumm machen konnte, bekam er Wind. Dieses Mal aber soll er daran glauben, oder ich will die Kunst nicht verstehen.«

Er legte die Hände vor den Mund und machte eine Brunft im vollen Gange nach, vom Mahnen des Kälbertiers bis zum Orgeln des Platzhirsches, so daß Luise, die frisches Trinkwasser brachte, entsetzt aufschrie und die Flasche fallen ließ. »Ich kann's noch,« lachte Helmold; »Demonstratio ad Luisam! Morgen früh ziehe ich zu Holze; ich habe nun doch ein bißchen zu viel Farben verblutet seit vorigem Herbste, und mein Vorrat von Arbeitslust ist alle. Und das ist ein Zeichen, daß die roten Blutkörperchen bei mir sparsam werden.«

Als er so prahlte, bekam Grete ihre lichte Laune wieder. Sie holte den kornblumenblauen Samtkasten hervor und kramte die Mohnblumenkarten aus. »Bekomme ich dieses Mal wieder welche?« fragte sie, indem sie sich auf die Sessellehne setzte und ihm das Haar kraulte. Sein Herz beschattete sich; er dachte an die Mohnblumenkränze, die sie ihm über das Bett gehängt hatte. Aus Seidenpapier waren sie gewesen. Er machte seinen Kopf los und sagte kühl: »Gewiß, wenn dir an papiernen Blumen so viel gelegen ist.« Sie stand auf, und als er ihr Gesicht im Spiegel sah, bemerkte er, daß ihre Augen hart und ihre Lippen unbarmherzig aussahen; alle die guten Vorsätze, die er am Nachmittage gefaßt hatte, fielen zu Boden und zerbrachen.

»Bitte, sage dem Mädchen, sie solle mir einen Wagen zum Siebenuhrzuge bestellen und dieses Telegramm besorgen, und jetzt will ich packen. Zwei Wochen bleibe ich mindestens fort,« sagte er trocken und ging in die Werkstatt. Dort blieb er bis Mitternacht und ging schlafen, ohne seiner Frau den Gutenachtkuß zu bringen. Über Nacht knabberten viele graue Gedanken an seiner Seele; drei Uhr wurde es, ehe er einschlief, und als er am anderen Morgen in das Zimmer seiner Frau ging, stand das harte Gesicht, das ihm am Abend der Spiegel gezeigt hatte, zwischen ihm und ihr, so daß er mit einem losen Händedruck Abschied nahm.

Es war ein frischer, sonniger Herbsttag, und die Landschaft sah lustig aus. Sonst hatte er sie während der Fahrt immer liebkost; nun behandelte er sie schlecht; sie langweilte ihn. »Schwindel!« dachte er, als er sah, daß hier und da einzelne Büsche sich in schreiende Farben gehüllt hatten; »Plunder, nicht echt!« Selbst seine guten Freunde die Kiefernwälder und Haidberge zerfetzte er mit höhnischen Blicken, und als er die gewaltigen Schirmkiefern neben der alten Hammerschmiede sah, sonst sein Entzücken, lächelte er verächtlich.

Auf einer Haltestelle stieg ein hübsches Bauermädchen ein, das ihn mit unverschleiertem Verlangen ansah, denn keine Kleidung stand ihm so gut wie der verschossene Lodenanzug. Erst achtete er wenig auf sie, dann aber dachte er: »Und kann es nicht die Lilie sein, so pflück' ich mir das Röselein,« und da das Mädchen gegen die Sonne sehen mußte, machte er ihr neben sich Platz und sagte: »Komm hier sitzen, Mädchen, denn so hast du die Sonne nicht im Gesicht.« Sie wurde vor Verlegenheit ganz rot, setzte sich aber sofort zu ihm. Er dachte daran, daß er sich über Nacht gelobt halte, sich fortan so viel Zucker in den Kaffee zu werfen, wie er kriegen konnte, denn ihm war eine der blödsinnig klingenden Weisheiten Henneckes eingefallen. Als sie eines Abends durch den Wald gingen, hatte Heunig ärgerlich brummend den Kopf geschüttelt, und als er ihn fragte, was ihm fehle, geantwortet: »Ich habe verdammt vergessen, mir heute morgen Zucker in den Kaffee zu schmeißen, und das kann ich mein Leben lang nicht wieder einholen.«

Er sah das Mädchen genau an; sie strotzte vor Kraft und Frische und wurde jedesmal rot, wenn er sie anblickte. Er schlug sie auf die Lende: »Wo soll die Reise hin, Lüttje?« Sie wurde rot: »Nach Ohlenwohle!« Er sagte ganz trocken: »Hast du aber Dusel! Dann fährst du ja anderthalb Stunden mit mir zusammen!« Nun mußte sie lachen, und sie litt es, daß er den Arm hinter ihren Rücken schob und als er fragte: »Hast du auch keine Bange vor mir?« schüttelte sie lustig den Kopf. »Ich bin aber ein ganz gefährlicher Kerl,« flüsterte er und zog sie an sich; »glatte Mädchen mag ich zum Fressen gern. Paß mal auf, jetzt geht's los!« Er drückte sie und küßte sie.

Die Hunde hoben erstaunt die Köpfe; er warf den Jagdmantel über sie: »Das ist nichts für kleine Kinder,« sagte er, und zog das Mädchen auf den Schoß. »Magst mich leiden?« Sie nickte und sah ihn verliebt an. Sie blieben anderthalb Stunden allein, denn auf der nächsten Haltestelle steckte Helmold dem Schaffner einen Taler in die Hand. Als der Zug dicht vor Ohlenwohle war, sagte das Mädchen: »H'ach Junge! Na, wenn das unsere Mutter wüßte! Und nicht wahr, du besuchst mich mal?« Er küßte sie und sagte: »Ich wäre schön dumm, wenn ich das nicht täte. Auf Wiedersehn, und schönen Dank auch, Mariee!«

Als er in Stillenliebe ausstieg, hatte er wieder einen frischen Mund und fröhliche Augen. Der Prinz erwartete ihn mit dem Jagdwagen. Er gab ihm die Hand und meinte: »Du wohnst am besten im Blauen Himmel, von da hast du eine knappe Stunde bis zum Schandenholz; vom Jagdhause sind es anderthalb. Die Zimmer habe ich schon belegt, das heißt von morgen ab, denn heute mußt du mit zum Jagdhause. Der Wind ist für das Schandenholz nicht gut, und außerdem will ich dich einmal wieder für mich haben. Ist dir doch recht?«

Frau Sophiee Pohlmann, die Wirtin des Blauen Himmels, stand in der Türe des Kruges, als der Wagen vorfuhr; die junge Witwe sah in dem blauen Waschkleide mit der weißen Latzschürze zum Anbeißen aus. Sie lachte über das ganze Gesicht, als sie den Maler sah. »Das ist aber schön, daß Sie sich einmal wieder sehen lassen, Herr Hagenrieder!« rief sie, vor Freude errötend, als er ihr die Hand schüttelte; »ein ganzes Jahr sind Sie nicht hier gewesen. Ich dachte schon, Sie wollten uns untreu werden.« Sie machte ein enttäuschtes Gesicht, als er sagte, er bliebe den Tag im Jagdhause.

Als er am anderen Mittag mit dem Prinzen in der Wirtschaft vorfuhr, lachte sie aber schon wieder. Sie ging ihm nachher in sein Zimmer nach und fragte: »Ist auch alles so richtig?« Er machte die Türe zu und sagte: »Jetzt ja!« und damit faßte er die Frau um und küßte sie. Sie stemmte ihre Hände gegen seine Schultern: »H'ach, Herr Hagenrieder« stöhnte sie, »wenn aber jemand kommt!« Er lachte übermütig, ohne sie loszulassen: »Möchte das keinem raten, dem seine heilen Knochen lieb sind.« Er ließ sie los, stellte sich vor sie hin und befahl: »Kuß!« Mit niedergeschlagenen Augen, feuerrot im Gesichte, kam die hübsche Frau näher, legte ihm die Hände auf die Schultern, hob sich auf den Zehenspitzen und küßte ihn. »So recht, mein Mädchen, so schön, mein Kind, so brav, mein Zuckerchen!« lobte er, faßte sie um die Mitte und küßte sie, bis sie keinen Willen mehr hatte.

»Mensch, du hast wohl seit acht Tagen nichts zu essen gekriegt!« sagte der Prinz, denn sein Freund kniete sich ganz gefährlich hinter die Mahlzeit. Der lachte und antwortete, indem er der Wirtin, die den Nachtisch hereinbrachte, einen kurzen Blick zuwarf, den sie mit einem langen zurückgab: »So hat es mir lange nicht geschmeckt, wie heute, und wenn ich nun den Hirsch nicht kriege, will ich Karl der Große geheißen werden,« In der Türe drehte die Wirtin sich um und warf ihm einen heißen Blick zu. Brüne bekam ihn durch den Spiegel zu fassen, lächelte aber kaum.

Die Wirtin brachte dann den Kaffee und viererlei Backwerk. »Frau Pohlmann,« meinte der Maler, »wenn ich vier Wochen bei Ihnen in Kost bin, passe ich in keinen Sarg mehr!« Die Wirtin lächelte ihn an: »Wie lange bleiben Sie denn, Herr Hagenrieder? Sonntag haben wir Danzefest!« Er schlug auf den Tisch: »Hipp hipp hurrjeh! Nun ist das Geschäft richtig!«

Als der Prinz fortgefahren war, sagte der Maler zu der Frau: »Ich will jetzt eine Stunde schlafen; weck' mich um halbig dreie, Sophiee! Aber erst will ich einen Schlafschönkuß haben; das ist bekömmlicher, als der Kürassao, den der Prinz nach dem Kaffee nimmt. Also!« Er ließ den Kopf auf die Sofalehne fallen und klopfte auf seine Kniee; die Wirtin setzte sich auf seinen Schoß. »Ach, ich habe so viel gegessen, daß ich nicht küssen kann,« sagte er lachend; »das mußt du besorgen. Und ich bin so müde und so faul, daß ich nicht allein ins Bett finde. Denn so wirst du mich wohl hinbringen müssen; hm?« Die Frau kuschelte sich an seine Brust: »Geh vor,« flüsterte sie heiser, »ich komme gleich nach; ich habe sowieso oben Wäsche fortzupacken. Jetzt muß ich erst eben in die Küche.«

Laut flötend ging er nach zwei Stunden durch das Dorf, die Büchse über den Rücken geschlagen. Für alle Menschen, die ihm begegneten, hatte er ein lustiges Wort, und für jedes Kind einen Apfel. Gift und Galle jagten kläffend die Spatzen von der Straße und trieben die Katzen über die Zäune, und Helmold fand, daß die Welt doch noch ganz nett sei. Er freute sich über die bunten Blumen hinter den Zäunen, über die Tauben, die vor ihm herflatterten, über den Turmfalken, der auf der Stoppel rüttelte, und dachte: »Hol's der Teufel; Gott gibt's reichlich wieder!« Er war auch gar nicht ärgerlich, als er spät abends zurückkam, ohne seinen Hirsch gehört zu haben.

Als er am anderen Nachmittage dicht vor dem Osterhohl war, kam er an einem kleinen Hause vorbei, das halb versteckt hinter gewaltigen Stechpalmenhorsten lag. Ein Mädchen stand in der Tür und sah ihm mitten in die Augen. Sie hatte ein volles, aber feines Gesicht, und ihre Augen sahen halb wie die eines Kindes aus, halb wie die einer Frau, die allerlei erlebt hat. Er ging auf sie zu: »Willst du mir Glück bringen, Mädchen?« Sie lachte ihn an: »Gerne, wenn ich es machen kann.« Er legte die Büchse auf den Boden. »So, nun spring dreimal darüber!« Sie nahm ihre Röcke zusammen und sprang, daß ihre hübschen Waden zu sehen waren. »Danke schön!« sagte er, nahm sie um die Mitte und küßte sie. »So, und nun schenk mir noch ein Glas Wasser!« Sie ging vor ihm in das Haus, und er folgte ihr. »Wie heißt du denn, Hübsche?« fragte er und setzte sich in den Spinnstuhl. »Annemieken Ahlmann,« antwortete sie und lächelte ihn an. »Hm,« meinte er; »nun laufe ich schon sieben Jahre hier herum und habe dich noch kein einmal gesehen.« »Ich Sie aber schon oft!« erwiderte das Mädchen; »aber Sie gingen immer so stolz vorbei.«

Eine alte Frau kam herein. Sie kicherte, als sie Helmold sah, und zwang ihm ein Glas Buttermilch auf. »Ja,« sagte sie, »wir sind froh, wenn sich hier mal ein Mensch sehen läßt. Seit das mit Abbe gewesen ist, will keiner was mit uns zu tun haben. Und es war doch man ein Unglück. Ja, ja, das hitzige Geblüt, wer das hat, der kommt leicht zu Schaden. Na, denn viel Glück auch, junger Herr, und lassen Sie sich mal wieder sehen. Annemieken, zeige dem Herrn den Richteweg über die Osterhaide; das ist um die Hälfte näher.«

Das Mädchen ging mit. Als sie im Holze waren, legte Helmold den Arm um sie und küßte sie. Sie wurde rot und weiß nacheinander und fragte dann: »Kommen Sie Sonntag auch zum Erntebier?« Er nickte. »Aber mittanzen tun Sie wohl nicht?« Er nickte wieder. Sie wurde feuerrot und flüsterte: »Auch mit mir einmal?« »Aber sicher,« antwortete er; »ich glaube, mit dir tanzt es sich fein!« Sie nickte: »Ich kann mich tottanzen! Aber wir haben Unglück gehabt. Vater und Mutter sind an der Auszehrung gestorben und Abbe, mein Bruder, der hat den Verwalter von Ohlenhofen totgestochen, wo seine Braut diente. Würden Sie das nicht auch tun?« Er nickte: »Ganz sicher, wenn mir einer an meine Braut käme!« Da lachte sie und drückte sich fester an ihn.

Als er eine Viertelstunde vor dem Schandenholze war, kehrte sie um. Er warf seinen Rucksack zu Boden und legte die Hunde ab. Er ging erst schnell über die Haide, aber je näher er dem Walde kam, um so kürzer wurden seine Schritte. Hinter einem mächtigen Wachholderbusche blieb er stehen und lauschte; es war alles still, nur die Goldhähnchen piepten. Er schlich unter dem Winde von Busch zu Busch, bis er das Hauptgestell übersehen konnte. Eine halbe Stunde blieb alles still, dann meldete halb rechts ein geringer Hirsch. Einen Augenblick später brach es dort und in voller Fahrt floh der Schneider über die Schneise; hinter ihm her dröhnte der Baß eines starken Hirsches. Von fern her schrie ein guter Hirsch, näher ein andrer. In der Dickung brach es, dumpfe Schläge erschallten; der Schadhirsch strafte ein Stück Wildbret ab. Helmold lachte; am liebsten hätte er geschrieen: »So recht, mein Hirsch!« Seine Augen funkelten, halb vor Freude, halb vor Haß.

Langsam rauchte er und sah durch die Zweige des Wachholderbusches die Schneise entlang, die von den schrägen Sonnenstrahlen getigert war. Ein Fuchs schnürte dicht an ihm vorüber, ohne ihn zu wittern; ihm folgte ein Hase. Eine Weile saß er still, dann rückte er zu Felde. Tauben schwangen sich in ihren Schlafbäumen ein; der Schwarzspecht rief zum letzten Male. Helmold lauschte angestrengt. Ab und zu gab der Platzhirsch ein halblautes Knören von sich. Die Sonne sank; hier und da glühte auf einem Kiefernstamme ein roter Fleck auf und täuschte ein menschliches Angesicht vor, verschwand und tauchte an einer anderen Stelle wieder auf. Im Kienmoore schrie ein guter Hirsch herausfordernd; drohend antwortete der Platzhirsch. Ein Kälbertier trat über das Gestell; das Kalb folgte. Warnend rief der Hirsch und zog bis an den Rand der Dickung; sein Atem flog weiß vor ihm her. Das Tier machte Kehrt und trat wieder zurück, und das Kalb trollte hinterher.

Helmold lächelte kalt. »Der weiß mit den Weibsleuten umzugehen,« dachte er; »fällt ihm gar nicht ein, zu schmachten und zu betteln. Er nimmt sich, was ihm zukommt, kraft seines Geweihes.« Er überdachte das letzte Jahr. »Welch ein Narr bin ich gewesen! Hätte ich damals im Tödeloh zugepackt, so hätte ich nicht Nacht für Nacht in mein Kopfkissen hineinzuheulen brauchen. Und wäre ich Grete mit der Tatsache gekommen, so hätte sie sich geduckt.« Er schämte sich vor sich selber. Er hatte sich nackt vor ihr ausgezogen. »Ein schwerer Fehler! Frauen wollen den Mann über sich sehen; stellt er sich neben sie, so sehen sie auf ihn hinunter. Sobald sie wissen, man liebt sie wirklich, ist man schon verloren,« dachte er; »Mann und Weib sind Todfeinde; das ist es. Das Weib ist Realist, klebt an der Erde; der Idealismus, die Himmelssehnsucht des Mannes, ist ihm unbegreiflich, ja verächtlich. Urmensch ist es, handelt nur aus Instinkt. Ihre Hauptwaffe ist die Lüge, die Verstellung; unbewußt, darum so gefährlich, weil uns unlogisch erscheinend, unbegreiflich. Ihre Unwahrhaftigkeit ist primitiv, ist naiv.«

Er drückte die Asche in der Pfeife herunter. »Sie müssen gedrückt werden, soll ihre Liebe nicht ausgehen,« dachte er und lachte. »Auch Swaantje ist ein Weib; ich habe mir eine Göttin aus ihr gemacht. Magd soll das Weib dem Manne sein, nicht Herrin. Nie ist sie ihm Kamerad.«

Es prasselte in der Dickung; der Hirsch trieb die Tiere zusammen. Dumpf schallte es; er forkelte ein störrisches Stück. »Ruppig muß man sie behandeln. Nietzsche hat recht: ›Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht!‹ Erobert wollen sie sein, roh hingenommen. Wieviel Glück und Wonne hätte mir das Jahr bringen können, wäre ich meiner Natur gefolgt! Den Kameraden suchte ich in Grete; Wahnsinn! Suchte bei ihr Verständnis! Als ob es das zwischen Mann und Weib gäbe. Von Mann zu Mann, ja, und von Weib zu Weib, aber nicht über Kreuz. Der Hirsch ist klüger; er hält sich zum Hirsch, solange ihn die Liebe nicht zwickt, und ist es damit aus, läßt er das Frauensvolk stehen und sucht sich Kameraden, die so fühlen wie er selber.«

Die Schlagschatten der Stämme fielen über das Gestell; hohl rief der Kauz; ein Bock schreckte in den Bleeken. Ganz selten schrie ein Hirsch; der Abend war zu lau und versprach Regen. Helmold stopfte sich eine neue Pfeife und steckte sie hinter dem Hute an. Er hielt Grete und Swaantje nebeneinander und schüttelte den Kopf. »Ein dreifacher Esel bin ich gewesen; eine Möglichkeit, die den beiden als eine Unmöglichkeit erscheinen muß, habe ich von ihnen erbeten. Ich war krank, sonst wäre ich nicht auf einen so irrsinnigen Gedanken gekommen. Bei beiden habe ich meinen Nimbus zerstört; Sie sehen auf mich hinab. Das muß anders werden, denn«, er reckte die Brust, »denn ich will meinen Wunsch nicht verhungern lassen.«

Er bohrte seine Blicke in die Dämmerung. »Und Grete, sie ist eine kluge und gute Frau. Sie ist eben Frau und kann deshalb kein Mensch in meinem Sinne sein; und die andere schließlich auch nur so lange, als bis«, er stockte im Denken und sah mit harten Augen nach dem schwarzen Fleck, der auf der Schneise stand. Langsam hob er das Glas; es war ein Stück Wild, das sich dort äste; ein zweites und ein drittes trat dazu. Er nickte vor sich hin: Jawohl, so mußte es werden; er wollte sich mit Grete gut stellen, denn er liebte sie. Wenn er sie zuweilen zu hassen glaubte, so kam das daher, daß er ihr seine eigene Dummheit nachtrug.

Er fuhr zusammen; mitten auf der Schneise stand ein Schatten, höher als die anderen. Das Glas versagte, aber es mußte der Hirsch sein. Dumpf dröhnte es und die anderen Schatten zogen in das jenseitige Jagen, von den Geweihstößen ihres Gebieters getrieben. »Wie viele mag er bei sich haben?« dachte Helmold. »Sicher zehn bis zwölf. Das ist für ihn der Begriff des Weibes, wie für mich die Zusammenstellung Greteswaantje; aber Sophiee und Annemieken und Mariee runden den Vollbegriff Weib erst ab. Denn ich bin mehr wert als zehntausend andere Männer, kann deshalb auch mehr Ansprüche machen. Und das werde ich, so wahr ich Helmold Hagenrieder heiße!«

Er erhob sich, ging einige hundert Schritte zurück und stellte sich unter einer Schirmkiefer auf der Haide an. Der Abendstern stand blank über dem Walde. Er dachte an Swaantje; kühl betrachtete er sie und lächelte. Sie hatte mit Grete über den Roman gelacht, dieweil er mit zerrissener Brust am Boden lag; sie empfand es peinlich, als er mit einem Weidewundschusse im Wundbette saß. Er lachte tonlos vor sich hin: »Was denkt er von mir?« hatte sie gefragt. Ach ja, die Dame war stark in ihr. Eine kalte Wut schüttelte ihn. »Wenn sie jetzt hier wäre, würde ich ihr zeigen, daß ich ein Mann bin. Komm! würde ich sagen und sie würde kommen.«

Kühl strich der Abendwind über die Haide und raschelte in den gelben Moorhalmen. Helmold fröstelte es. Er knirschte mit den Zähnen; er dachte daran, wie erbärmlich er sich angestellt hatte, als er in der Werkstatt um einen Kuß bettelte. »Hätte ich zugepackt, stände ich anders vor ihr da. Jetzt bemitleidet sie mich. Pfui Teufel! Und sie? Auch an ihr habe ich gesündigt, schwer gesündigt. Ich habe ihr vorenthalten, was ihr zukam; krank und elend habe ich sie gemacht, ebenso wie mich. Gedichtchen habe ich ihr geboten statt Küsse, Seufzer anstatt Liebkosungen. Schöner Held, der ich bin mit meiner schlappen Rücksichtnahme auf ihre Seele, auf Grete, auf die Verwandtschaft, die Gesellschaft, meine Stellung und ähnliche Albernheiten!« Höhnisch lachte die Scham ihn an. Er dachte an den Mühlenkrug, an Janna und Manna, an sein Lautenspiel und an die Lieder, die er den Mädchen sang. »Pfui, pfui; wie ein Schuljunge benahm ich mich!«

Der Hirsch im Kienmoore schrie; er schrie sich bis in die Blecken hinein. Der Schadhirsch antwortete und zog ihm näher. Helmold lauschte; blanke Freude lachte ihm aus den Augen. Die Hirsche standen sich gegenüber, der eine schrie dem anderen in das Gesicht. »Wundervoll,« dachte er, und ihm war, als wenn der eine feuerrot, der andere blutrot schriee. »Ein Leben von rot auf Rot; rote Liebe auf rotem Mord; das ist Leben!« Er dachte an einen Mann, der ihm einst mitten in sein Leben hineingegriffen hatte. An einem klaren Wintermorgen standen sie sich im weißen Walde gegenüber. Wie blödsinnig das war: die Zylinder, die Pelze, die Gummischuhe, die rotbraunen Handschuhe, und darin die Pistolen, und vor allem: die glattrasierten, höflichen Gesichter der Zeugen und die verbindlichen Manieren des Unparteiischen! Sein Gegner ebenso, und er selber nicht anders. Und dabei: zehn Schritt Barriere mit Vorgehen und Kugelwechsel bis zur Kampfunfähigkeit. Er lächelte, denn er dachte daran, wie ihm sein Gegner den hohen Hut vom Kopfe schoß und in demselben Augenblicke mit einem schweren Schulterschusse umfiel. Hier der Seidenhut mit dem weißen Atlasfutter im Schnee, da der Arzt bei dem Verwundeten, alle Wipfel voll von Goldhähnchengezirpe, die Luft erfüllt von den Locktönen der Kreuzschnäbel, und der von himmelblauen Schatten gestreifte Schnee, von der Sonne mit Demanten besät, und mitten darin ein großer herzförmiger roter Fleck und ein kleiner, der wie ein Kreuz aussah, und von dem lauter rote Kleckse bis zu der Stelle führten, wo der Arzt arbeitete; eine schöne Erinnerung!

»O, ich habe auch solche,« dachte er, als er, die Hunde hinter sich, über die Haide ging; »und sogar eine ganze Menge.« Vor seinen Augen stand ein Tanzboden, niedrig und ganz mit Tabaksrauch gefüllt, und durch das Fenster flog, das Fensterkreuz und alle Scheiben mitnehmend, ein Gefreiter von den Oldenburger Dragonern, und der ihn so auf den Schwung gebracht hatte, das war der Einjährigfreiwillige Hagenrieder gewesen. Seine gewilderten Rehböcke fielen ihm ein und der Hirsch, den er auf einem Birkenbaume dreihundert Gänge weit über die Grenze geschleift hatte, und Tiedo Tiedsen, sein Konpennäler, der auszog, um den Buren gegen die Khakis zu helfen, und der das redlich besorgte, bis eine Kugel sein heißes Herz zur Ruhe brachte. Eine unbändige Lust packte ihn, die ganze Zivilisation auszuziehen und irgendwohin zu gehen, wo Kraft vor Recht geht und nur der Mann gilt, der am schnellsten im Anschlage ist. Aber dann dachte er: »Verpfuscht, zu spät!« Die drei wilden Blumen, die er die letzten Tage über am Wege gepflückt hatte, kamen ihm wertlos vor; er schlug einen Bogen, um nicht an Ahlmanns Hause vorbeizukommen, von dem ein kleines Licht herüberschimmerte, und er setzte sich im Krug in das Gastzimmer und nicht in die kleine Stube, wo er mit der Wirtin allein sein mußte.

Es kamen nun einige regnerische Tage und die Hirsche schrieen nicht. Vergebens umschlich er das Schandenholz und pürschte im Kienmoore; es blieb alles stumm. Jede Nacht trat der Schadhirsch aus, wie die Fährten auf der Haide wiesen, zog jedoch vor Tau und Tag wieder in die sichere Dickung. Am Sonnabend aber drehte sich der Wind und wurde hart und kalt, und sofort orgelten überall die Hirsche.

Es war noch schwarze Nacht, als Helmold zu Holze zog, Gift am Schweißriemen. Unter dem Winde wartete er auf der Haide den Tag ab, in seinen Mantel gewickelt. Der Himmel war ganz hoch und sternenklar, und das Haidkraut starrte von Reif. Der Schadhirsch schrie zwischen den Krüppelkiefern in den Bleeken und zog dem Hirsche vom Kienmoore entgegen. Helmold hörte, wie die Geweihe aneinanderprasselten, und das Keuchen der beiden Kämpen war deutlich zu vernehmen. Ein heller Wind bewegte die Kronen der Kiefern und flüsterte in dem Haidkraute; im Osten zerriß die Nacht über dem Walde; Wanderdrosseln pfiffen, und im Moore weckten sich die Kraniche auf. Die Sterne gingen langsam nach Hause, und aus den unheimlichen Gespenstern wurden harmlose Wachholderbüsche.

Der zweite Hirsch schrie schon wieder im Kienmoore. Helmold merkte sich ganz genau seine Stimme, während er langsam und bedächtig Brot und Speck aß. Als er damit fertig war, prüfte er mit nassem Finger die Windrichtung, nahm einen kleinen Schluck Kognak, zog den Mantel aus, legte den Rucksack ab, steckte den Hirschruf in die rechte Joppentasche, legte den Hund ab und deckte ihn mit dem Mantel zu, und sobald er Korn und Kimme zusammenbringen konnte, pürschte er sich an das Holz heran.

Der Wind wurde noch schärfer; Helmold knöpfte die Joppe fest zu und zog den Gürtel enger. An der Ostseite bohrte der Morgen ein Loch in die Dämmerung und sah dadurch über die Haide. Der Hirsch im Kienmoore schrie noch einmal und verschwieg dann. Helmold trat an den Rand des Hauptgestelles, prüfte den Wind und lauschte. Endlich hörte er es einmal linkerhand brechen; der Platzhirsch hatte seinen alten Stand eingenommen. Er hörte ihn ab und zu knören und vernahm, wie ein Kälbertier mahnte.

Es war mittlerweile ganz hell geworden; die Meisen wachten auf, die Goldhähnchen piepten in den Zweigen, eine Krähe zerkrächzte die Stille. Helmold sah sich um; ein Mutterreh mit zwei Kitzen zog über das Gestell, dicht an dem Hasen vorbei, der still wie ein Baumstumpf da saß und nur die Löffel aufrichtete, als Helmold in den Bestand trat. Da sah es wild und wüst aus; der Sturm hatte vor Jahren einen Teil der untergebauten Fichten umgeschmissen, und den Rest hatte die Nonne umgebracht. Die von allerlei Gestrüpp bewachsenen Wurfböden erhoben sich überall, zwischen ihnen lagen kreuz und quer die hohen Stangen, von oben bis unten mit silbergrauen Flechten bezogen.

Behutsam das Geknick meidend schob er sich von Stamm zu Stamm, die Büchse schußfertig in den Händen, mit den Augen das silbergraue Gewirr zerpflückend. Nichts entging ihm, weder die Fährte am Boden, noch der Dompfaff in dem Ebereschenbusch, nicht der Fliegenpilz unter der Birke, nicht die zerfetzte Rinde an den Malbäumen.

Eine Stunde war vergangen, da hatte er erst zweihundert Schritte hinter sich, denn nach jedem Tritte machte er Halt und lauschte mit offenem Munde oder prüfte den Wind. Da hörte er den Hirsch knören. Langsam schob er sich hinter einen Wurfboden, langte die Muschel aus der Tasche und quetschte einen neidischen Ruf heraus; von drüben kam eine mürrische Antwort. Er ging, den Schritt eines Hirsches nachahmend, rücksichtslos durch das Fallholz, sich immer in Deckung haltend und ab und zu einen Schrei aus der Muschel herausholend; der Schadhirsch antwortete schon ärgerlicher. Helmold machte das Mahnen eines Tieres nach und ließ einen herausfordernden Ruf hinterher folgen; gereizt erwiderte ihn der Mordhirsch und zog näher. Hinter einem Wurfboden trat Helmold laut hin und her, daß der anmoorige Boden quatschte und das Fallholz brach, und während ihn der Frost schüttelte, vernahm er, wie sein Hirsch immer näher kam. Er setzte die Muschel an den Mund und schrie ihm eine grobe Redensart entgegen, und abermals eine, die noch viel frecher war, und eine dritte, mehr als gemein. Der Hirsch meldete nicht; es schien, als ob er starr wäre über die bodenlose Unverschämtheit des Nebenbuhlers. Helmold ließ den Hirschruf in die Tasche gleiten und machte scharf.

Vor ihm war alles still, dann mahnte ein Schmaltier und darauf brach es laut; vor ihm stand der Hirsch auf dreißig Gänge und schrie aus vollem Halse. Helmold sah nichts, als vier lange blanke Enden, ein graues Gesicht mit tief liegenden Lichtern und einen Strom weißen Dampfes. Die volle Brunftwitterung stank ihm in Nase und Mund hinein. Der Hirsch schrie noch einmal mit ganzer Kraft und wendete sich. Sowie er das Blatt freigab, hielt Helmold darauf und riß Funken. Er hörte Kugelschlag und sah durch das Feuer, daß der Hirsch stark zeichnete. Prasselnd fuhr er ab, daß das graue Geäst weit umherflog. Hinter ihm her polterte das Kahlwild.

Helmold blieb eine Weile stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirne, trank einen Schluck Tee, steckte sich eine Zigarre an und ging auf den Anschuß. Er brauchte nicht lange zu suchen; er fand Schweiß und Schnitthaar. »Tiefblatt«, murmelte er, als er die Schweißspritzer betrachtete und von einem Farnwedel einige Haare ablas. Er verbrach den Anschuß und ging dahin, wo er den Hund abgelegt hatte. Dort überlegte er; bis zu der Wirtschaft, das war reichlich weit. Da fiel ihm Annemieken ein, und er ging nach dem Osterhohl.

Als er in das Haus trat, begrüßte ihn die alte Frau freudestrahlend. Dann trippelte sie nach der Halbetüre und rief mit ihrer brüchigen Stimme: »Amsemieken, Mädchen, komm hille!« Das Mädchen kam herein; es hatte bloße Arme und vor dem Leibe einen alten Sack als Schürze. »Kann ich bei euch einen Teller Suppe haben?« fragte Helmold. Sie lachte glücklich; aber dann bekam sie einen roten Kopf und sagte: »Wir haben aber bloß Bohnensuppe und alten Speck.« Er lachte: »Das ist grade das Richtige; ich habe einen Hirsch geschossen und will ihn nachher nachsuchen, und bis zum Kruge ist es mir zu weit.« Er ließ sich in den Spinnstuhl fallen und sah den Funken zu, die um den Kesselhaken spielten. Als die alte Frau hinausgegangen war, sagte das Mädchen: »Ich dachte, du würdest gestern abend hier noch einmal vorbeikommen.« Er antwortete: »Ich war sehr müde und hatte meine böse Stunde.« Das Mädchen sah ihn groß an: »So ein feiner Herr? Ich dachte, der hätte nicht Kummer, noch Sorgen. Denn ist es wohl um ein Mädchen? Aber darüber mußt du dir keinen Kummer machen; wenn man nicht hat, was man lieben will, denn so liebt man, was man hat.« Er lachte: »Woher hast du denn diese Weisheit?« Sie bekam dunkele Augen: »Ich war eine Zeit in der Stadt.«

Sie ging zu dem Kessel, rührte das Schweinefutter um und sah in dem kleinen Topf nach, ob das Essen bald fertig war. Dann ging sie in den Garten und kam mit einem Blumenstrauß zurück, den sie auf den Tisch stellte, über den sie ein weißes Tuch gelegt hatte, machte sich vor dem halbblinden Spiegel das Haar, band die Sackleinwandschürze ab, ließ ihren Rock herunter, wusch sich die Hände und band eine reine Schürze vor. Die Großmutter brachte die Suppe, Helmold holte, was er an Wurst und Schinken im Rucksacke hatte, heraus und legte es auf den Tisch, desgleichen eine Tafel Schokolade und stellte die Kognakflasche dazu, aus der die alte Frau ein Schlückchen bekam. Es wurde ein sehr gemütliches Essen, und die Großmutter gnickerte in einem fort über den lustigen Jägersmann, der so schöne schlechte Witze erzählen konnte. Nach dem Essen aber nickte sie sofort im Spinnstuhle ein und Helmold gähnte auch. »Kannst in meinem Bette schlafen gehen, Junge,« sagte Annemieken. »Und du mein Schatz, bleibst hier?« sang er. Sie schüttelte den Kopf und ließ sich mitnehmen.

Um zwei Uhr wachte er auf und hörte die Großmutter im Flett umhertrippeln. Annemieken stand vor dem Spiegel und kämmte sich. Er wunderte sich, daß ihr Spiegelbild ganz anders aussah, als ihr Gesicht, bis ihm einfiel, daß Spiegel lügen. »Alle Reproduktion ist Schwindel,« dachte er. Die Großmutter klopfte an: »Der Kaffee ist fertig,« rief sie, und als er auf die Diele kam, tat sie, als ob sie von nichts wüßte.

»So, Gift, nun ist es aber Zeit, daß wir uns auf die Strümpfe machen,« sagte Helmold, als er gegessen und getrunken hatte. Als er den Anberg hinaufging, flötete er vor sich hin und dachte dabei: »So, das war ein Tag, rot in Rot; den nimmt mir keiner mehr weg!« Lustig pfeifend schritt er über die Osterhaide. Auf der Blöße äste sich vertraut ein guter Bock; er ließ ihn leben. »Annemiekens wegen,« dachte er, denn sie hatte ihm erzählt, daß sie sich jeden Morgen über den Bock freute.

Vor dem Holze nahm er den Schweißriemen ab, dockte ihn halb auf, und als er bei dem Anschusse war, legte er den Hund zur Fährte. »Such verwund't, mein Hund,« rief er ihm zu; »weis' verwund't, mein Hund!« Der Teckel stieß einen dünnen Laut aus und tupfte mit der rotbraunen Nase auf einen Schweißspritzer. Dann legte er sich so stürmisch in den Riemen, daß sein Herr gänzlich aufdocken mußte.

Es war eine wilde Nachsuche, denn der Hund schliefte fortwährend unter den gefallenen Fichten durch, so daß Helmold alle Augenblicke den Riemen fahren und über die toten Stangen hinwegsetzen und den Riemen wieder festtreten und greifen mußte. Nach fünfhundert Gängen wies der Hund das erste Wundbett vor. Das zweite kam, ein drittes in einem Tümpel und ein viertes; aber da brach es in der Dickung, der Hund riß Helmold den Riemen aus der Hand und hetzte mit hellem Halse weiter. Sein Herr blieb stehen und atmete tief, auf den Ball des Teckels horchend. Seine Augen strahlten: »Wundervoll, ganz wundervoll!« dachte er, wischte sich Stirn und Hals ab, nahm einen Schluck aus der Kognakflasche und setzte sich auf einen Wurfboden, bis sein Herz sich beruhigt hatte.

Dann horchte er auf; der helle Hatzlaut des Hundes brach mit einem Male ab und vertiefte sich zu dumpfem Standlaut. Helmold lachte: »Hat ihm schon!« Er nahm die Büchse vom Rücken und ging schnell aber vorsichtig dem Halse des Hundes nach, der aus dem Nachbarjagen herüberläutete. Er trat über das Gestell und drängte sich durch die Fichtenleichen, ab und zu springend, wenn die grauen Stangen zu hoch lagen, oder sich zwischen zwei Wurfböden durchwindend. Je näher der Standlaut klang, um so behutsamer schlich er, und dann blieb er auf einmal stehen und riß sein Gesicht zu einem breiten Lachen auseinander, denn mitten in einem quelligen Ellernsumpfe stand der Hirsch bis an den Leib in der Modder und versuchte, den Hund zu forkeln, der vor ihm auf einem zwei Fuß hohen Kissen von Silbermoos vorstand und ihn mit heiserem Halse verbellte, ab und zu den Versuch machend, ihn niederzuziehen, aber gewandt zurückzuckend, sobald der Hirsch das Haupt senkte.

»Prachtvoll, ganz prachtvoll,« dachte der Maler, legte den Rucksack ab, langte vorsichtig das Skizzenbuch heraus und hielt mit dem Stifte Hund, Hirsch und Landschaft fest; dann stach er die Büchse, zielte auf den Halsansatz, und so wie es knallte, prasselte und quatschte es, der Hirsch war verschwunden, und mit giftigem Laute sprang der Teckel zu. »Tot, tot!« rief Helmold ihm zu, liebelte ihn ab, brach sich einen Bruch, zog ihn über den Einschuß und steckte ihn an den Hut; dann setzte er das Horn an die Lippen und prahlerisch klang es über Wald und Haide: »Hirsch tot, Hirsch tot, Hirsch tot!«

Er hob das Geweih aus dem Schlamm. »Donnerhagel!« sagte er, als er es sich ansah, »Donnerhagel noch einmal, das ist mein bester Hirsch!« Er zog das Waidmesser und brach mit zwei Griffen die Kusen heraus. »Nummer eins,« lachte er, als er sie in die Hosentasche steckte. Aber dann strich er sich über die Stirn, als ob er da Herbstseide gefühlt hätte; er dachte an die silberne Spange mit den Hirschhaken, die er Swaantje verehrt hatte. Mit Mühe brachte er den Hirsch auf die Decke, brach ihn auf, machte den Hund genossen, schärfte die Mürbebraten heraus und die Zunge und tat sie in den Rucksack, während er das große Gescheide verscharrte und das Kleine zum Ausschweißen an einen Ast hing. Dann zog er säuberlich das lange Gehääre aus der Brunftmähne, wickelte es in ein Stück Papier, legte es in das Skizzenbuch, wusch sich die Hände und machte das Messer sauber, trank den Rest seines Tees aus, steckte sich eine Zigarre an, dockte den Schweißriemen auf und ging dem Gestelle zu, wo er sich der Länge lang an einen Jagenhaufen lehnte, gegen den Himmel sah und rauchte, während Gift in seinem linken Arme lag und schlief.

Nach einer Viertelstunde knallte Peitschenschlag; der Wagen hielt vor dem Gestell. Helmold sprang auf und winkte den Wagen heran; der Prinz lenkte, und hintenauf saß der Jagdhüter und der Kutscher. »Waidmannsheil!« rief der Prinz, »ist es der Mörder?« Der Maler lachte: »Jawollja, ein Haupthirsch; herzlichschönen Dank auch! Es ist mein bester Hirsch bis heute, obzwar er man vier Enden hat. Aber solche!« Er reckte den Arm und zeigte mit der Hand erst auf den Ellenbogen, dann auf den Schulteransatz. »Klobige Stangen, und Enden so weiß wie ein Jungfernbein.«

Der Prinz sprang ab und folgte seinem Freunde, der ihn zu dem Hirsche führte. »Auf den Ruf?« fragte er. Helmold nickte und erzählte, wie er es angefangen hatte. Etwas wie Neid kroch um den Mund des anderen, als er das Geweih sah, doch dann sagte er: »Na, den wollen wir heute abend im Jagdhause ordentlich tottrinken.« Der Maler schüttelte den Kopf: »Nee, im Blauen Himmel, da ist heute Erntebier!« Der Prinz faltete seine Stirne zusammen, aber dann meinte er: »Ich danke, bleibe lieber im Jagdhause, Willst da wohl Studien machen, Helmold?« Der lachte: »I wo, denke nicht daran; tanzen will ich, daß die Haide wackelt; mir läuft jetzt schon das Wasser in den Tanzbeinen zusammen.«

Der Jagdhüter und der Kutscher schleiften den Hirsch dem Gestelle zu. »Guter Schuß,« meinte der Prinz; »Blatt rein, Blatt raus.« Er sah sich das Herz an, dessen Spitze durchschossen war. »Unglaublich, daß der Hirsch damit so weit geflohen ist! Man sollte meinen, mit einem solchen Schusse müßte er im Feuer bleiben. Und der Gift, das ist ja ein Haupthund! Komm her, Kerlchen, hast brave Arbeit gemacht!« Aber der Teckel wich ihm aus.

Helmold hielt das Herz des Hirsches in der Hand und ihm war, als wäre es sein eigenes. Auch er hatte einen tödlichen Blattschuß bekommen und lebte noch, floh durch Dorn und Dickung, schleppte sich von einem Wundbette zum andern, und war doch verloren, denn hinter ihm her hetzte mit hellem Halse das Gedenken an die Eine. Mit einem Schlage sah er ein, daß seine Wunde nie verheilen würde, und wenn er sie noch so oft kühlen würde in allen Marieen und Sophieen, die er auf seiner Todesflucht antraf, denn immer kläffte die Erinnerung in seiner Rotfährte, und einmal würde sie ihn doch zu Stande hetzen und niederziehen. »Und wenn schon,« dachte er, und sah mit frechem Blicke hinter sich als stände der eiserne Ritter da, »und wenn schon! Vorgestern die Mariee, gestern die Sophiee, heute Annemieken, und morgen,« er stockte, aber dann sprang er über den Graben, »und morgen Grete und übermorgen Swaantje. Blut um Blut; denn umsonst will ich nicht gestorben sein!«

Sie brachten den Hirsch nach dem Jagdhause, wo der Prinz zurückblieb, während der Maler mit dem Kutscher und dem Jagdaufseher nach Stillenliebe fuhr. Helmold freute sich über den prachtvollen Nacken des Jagdhüters, über den festen Schnitt seines Gesichtes und den weitausgreifenden Blick seiner ruhigen blauen Augen. Es war ein Mann der schnellen Tat, der nicht viele Worte machte und niemals lange fackelte, ganz gleich, ob es sich um Wild oder Weib handelte, oder um einen Wilddieb. Früher wurde in der Gegend viel gewildert; seitdem Moormann da war, hatte das fast ganz aufgehört, besonders seit der Zeit, daß er Sliekenhinnerk, einen Freischützen von Beruf, der im Verdacht stand, den Ohlenwohler Hegemeister totgeschossen zu haben, niedergeknallt hatte. Hagenrieder hatte ihn gefragt, wie ihm dabei zumute gewesen war, als der Mann tot zu seinen Füßen lag. »Großartig«, hatte Moormann gesagt und lachend hinzugesetzt: »Ein Schade, daß er nichts auf dem Kopfe hatte zum Andiewandhängen; aber ich habe doch wenigstens seine Photographie!«

Hagenrieder sah ihn sich genauer an. Er war fünfundvierzig Jahre alt, hatte aber keine einzige Falte in dem braunen, rotbäckigen Gesichte, und auf seinem Handrücken hatte kein unerfüllter Wunsch seine Fährte hinterlassen. Er hatte eine hübsche stramme Frau und einen Haufen Kinder; doch sagte man ihm nach, er ließe auch sonst nichts anbrennen. Die Blicke, die manche Frauen und Mädchen ihm gaben, waren wie ein verstohlener Händedruck; aber die von einigen Männern und Jungkerlen schmeckten nach Messerstichen. Wenn er anlegte, knallte es auch schon, ob er nun Hagel oder Kugeln nahm. »Wer sich besinnt, der nicht gewinnt,« sagte er. Er hatte mehrere solcher Sprüche: »Wer viel denkt, sich viel kränkt,« hatte er einmal zu Hagenrieder gesagt, und ein anderes Mal meinte er: »Frauenvolk und Nesselkraut, wer sachte zufaßt, kriegt Blasen auf die Haut.« Dieser Spruch fiel Helmold nun ein. »Ach ja!« dachte er und kam sich klein und feige vor.

Als sie ein Weilchen gefahren waren, kamen sie an einem Trupp junger Burschen vorbei, die ihnen nachjohlten. »Sind das nicht Schadhörstener?« fragte der Kutscher. Der Jagdaufseher nickte, und der andere meinte: »Das ist eine rüdige Bande.« Moormann zuckte verächtlich die rechte Schulter.

Helmold hörte kaum darauf, was vor ihm gesprochen wurde; er mußte wieder an Swaantje denken, an den Tag, als sie krank im Bette lag und er ihr die Pfirsichspelten zwischen die Lippen schob, »Nein,« dachte er, »es ist doch ein Unterschied zwischen diesen Weibsleuten hier und Grete und Swaantje; die einen kann man ganz hinnehmen und sie bleiben, was sie sind, und bei den anderen kann ein einziger Kuß die Seele bis auf den Grund aufwühlen.« Ein Schatten flog über sein Gemüt; er wußte: nie und nimmer würde er Swaantje so behandeln können, wie Mariee oder die Krugwirtin, und deshalb würde er sich bis an sein Lebensende mit dieser tauben Liebe herumschlagen. Dann aber sagte er sich: »Und wenn Swaantje daran zerbricht, ich will meinen Willen haben, denn ich bin zu wertvoll, als daß ich an ihr umkommen darf. Was ist sie denn? Ein schönes Mädchen aus guter Familie! Es gibt mehr solche; aber Männer wie ich kommen nicht oft vor. Sobald ich nach Swaanhof komme, mache ich einen Bajonettangriff auf sie. Denn zum Kuckuck noch einmal, es ist doch alles Unsinn, was ich in sie hineingeheimnist habe, auch ihre Schriftstellerei. Das war nichts als Widerhall meiner Seele, und es war schließlich nur ein Geständnis von ihr, eine feine Art der Hingebung. Sie hat von mir empfangen und brachte Novellen und Skizzen zur Welt. Aber so sind wir: schafft ein Mann etwas Mittelmäßiges, so verreißen wir ihn nach allen Regeln der Kunst; bei einem Weibe finden wir dieselbe Leistung riesig. Warum? Weil Weiber im Durchschnitt nicht produktiv sind bei ihrer rein rezeptiven Veranlagung und uns jede Ausnahme davon als Riesenleistung vorkommt.«

Eine heiße Blutwelle brandete in seinem Gesichte; er schämte sich. »Verflucht!« dachte er; »ich machte sie zur mittelmäßigen Schriftstellerin, und sie rächte sich dadurch, daß sie mich auf Abwege brachte.« Seine Tendenzbilder fielen ihm ein; alle vier hatte er übergestrichen. Niemals hatte er früher eigene Verse und Singweisen bei der Arbeit gehabt; so sehr hatte ihn diese elende Verliebtheit zerrüttet, daß er alle Klarheit verloren hatte.

Noch einmal schämte er sich, denn ihm fielen die zugeknöpften Augen Hennigs ein, mit denen der die Bilder betrachtet hatte. »Famoser Kerl!« dachte er, und ging in Gedanken alle seine Bilder aus der letzten Zeit durch. Aber er fand nur noch bei Swaantjes Bildnis einen Fehler; die Landschaft war zu aufdringlich, die Haide zu rosenrot, die Wacholder zu botanisch richtig. Das mußte alles zusammendämmern, ineinanderfließen, so daß nur das Gesicht allein wirkte. Er wischte in Gedanken alle Härten aus der Landschaft und arbeitete den Kopf mehr heraus. Dabei fiel ihm ein, daß er nur die halbe Swaantje gemalt hatte, die milde, weiche, selbstlose Swaantje mit den zärtlichen Augen und den liebevollen Lippen; aber sie konnte auch unbarmherzige Augen haben und grausame Lippen. Davon sollte das Bild auch erzählen, von ihrem zweiten Gesichte; aber nur ganz verstohlen durfte es aus dem Alltagsgesichte hervordrohen. »Alltagsgesicht, das ist es,« dachte er; »Maske ist ihre Weichheit, ihr feuchtschimmernder Blick, ihre hilflose Anschmiegsamkeit, mit der ihr Gesicht sich Tag für Tag schmückt; dahinter ist Starrheit, Kälte und Geiz. Ich will das alles in ihr zerbrechen, und wenn sie dabei zusammenkracht!«

So dachte er, denn eine freche, schwefelgelb und feuerrot geringelte Tanzweise schallte vom Kruge herüber. Der Wagen hielt. Unter der Linde stand Hennig, seine Line neben sich. »Donnerwetter, Kerl, ist das ein blödsinnig vernünftiger Gedanke von dir!« rief Helmold, »und fein, daß du deine Lüttje mitgebracht hast. Tag, schöne junge Frau!« Das Mädchen schlug lachend ein. »Kinder, kommt mit rauf, ich muß mich erst noch umhosen und waschen.«

»Du siehst großartig aus, Helmke,« sagte Hennig, als sie oben waren, ihn mit zufriedenen Augen ansehend. »Tja,« erwiderte der andere; »die gute Landluft!« Er schrie die Treppe hinunter: »Mine, zwei Handtücher!« Das Mädchen kam heraufgestürzt. Es war ein blasses, dünnes Geschöpf, aber sie sah in dem hellen Tanzkleide so niedlich aus, daß der Maler sie an das Ohr faßte und heranzog. »Kiek sieh, aus Kindern werden Leute! Hast'e schon 'n Bräutigam?« Sie schlug die Augen unter sich. »Na, dann bring' ihm das mit und sag', ich lasse ihn schön grüßen!« Er küßte sie, daß ihr die Luft fortblieb. Mit feuerrotem Kopf schob sie sich aus dem Zimmer. »Na, ihr seid gut!« sagte Line lachend; »die wievielte ist das denn hier? Aber alles was recht ist, so seid ihr mir doch lieber, als wie neulich, wo ihr aussahet, wie eine kranke Katze.«

Helmold wusch sich im Nebenraum. Er hatte nur die Kniehosen an, als er, das Handtuch in der Hand, hereinschoß. »Du, Hennig, ach so, na, Line, Sie sind ja schon etwas abgehärtet! Also, warum hast du neulich nichts gesagt, als ich dir meine Saharabilder und so weiter zeigte?« Sein Freund schnitt sorgfältig die Spitze der Zigarre ein. »Muß man denn immer etwas sagen?« Helmold lachte. »Alter Politikus!« Er ging in das Schlafzimmer und kam wieder heraus, nun mit einem grün und rot gestreiften Leinenhemde über dem Oberkörper. Er stellte sich vor den Spiegel, zog eine Halsbinde durch den Kragen, knöpfte ihn an und band sich eine unverschämte Schleife. Als er die Hosenträger über den Kopf schlug, fragte er: »Du, Hennig, ich male nicht mehr mit Orchesterbegleitung.« Der andere brummte etwas vor sich hin, und Helmold fuhr fort: »Mir kommt das so vor, als wenn du mit der einen Hand schreiben würdest, und mit der anderen malst du.« Hennig sah auf und nickte seinem Freunde in den Spiegel zu: »Sehr richtig!« Der lachte: »Ja, warum hast du das nicht eher gesagt, alter Heimtücker!« Der antwortete: »Ein Schwäre muß von selbst aufgehen!« Helmold platzte los: »Großartig; meine Lyrik als Abszeß! Aber du hast recht. Und nun höre: geh' morgen in meine Malstatt, und sieh dir die Saharabilder, Wodes Zorn und Frigges Feuertod an; ich glaube, jetzt werden dir die Bilder gefallen.« Er drehte sich um und sah Hennig listiglustig an. Der machte sein dümmstes Gesicht. »Ich habe nämlich an allen eine Kleinigkeit geändert; rate mal, was?« Der andere nahm die Schultern auf und ließ sie wieder fallen. »Malgründe habe ich daraus gemacht, weggestrichen habe ich sie!« Er lachte ausgelassen.

Hennecke sprang mit feuerrotem Gesichte auf: »Mensch,« rief er, »Helmke!« nahm ihn an den Ohren und küßte ihn, daß es knallte; »das ist ja großartig!« Er faßte Line an den Arm und warf sie Helmold an den Hals: »Küsse ihn, Mädchen, küsse ihn, bis er nicht mehr piep sagen kann! Wir haben unsern Helmke wieder! Er ist gesund! Er wird keine Heulkrämpfe mehr kriegen und anständige Leute im Ratskeller blamieren.« Er sauste aus der Türe und kam nach einer Weile mit einer Flasche Sekt und drei Gläsern zurück: »Kerl, darauf wollen wir aber mit dem Besten anstoßen, das es in diesem Kretscham gibt! Heil, heil und zum übermalten Male heil!«

Er schenkte wieder ein und fröhlich passend kramte er, Line neben sich in das Sofa ziehend, aus: »Was haben wir uns für Sorgen um dich gemacht! Nicht wahr, Linchen?« Das Mädchen nickte und lächelte ernsthaft. »Eine halbe Nacht heulte sie mir im Bette herum und wimmerte: ›was fehlt ihm bloß! was fehlt ihm bloß! wenn wir ihm doch bloß helfen könnten!‹ Ich habe mich in meinem Leben noch nicht so erschrocken, als wie du uns sagtest, daß du bei jedem Bild jetzt ein Lied und eine Melodie hast! Und als ich dann deine gemalten Leitartikel sah, da war ich ganz zertrümmert; am liebsten hätte ich dir eins an den Hals gehauen! Kerl, was bin ich froh, daß du diese schwere Infektion hinter dir hast! Denn ich war tatsächlich in Sorge um dich. Du kamest so fein in die Höhe, und mit einem Male fielest du die ganze Treppe wieder hinunter und fingest an zu malen, als läge dir etwas am schwarzen Adler. Übrigens: die weiße Haide ist auch fehlerhaft; es ist eine Tautologie.« Helmold nickte. »Das Dümmste ist schon heraus; das andere kommt noch. Ja, ich war schön in den Dreck gefallen.« Er pfiff laut: »Das macht die Liebe ganz allein!« Hennig sah ihn von der Seite an, lachte dann und sagte: »Auf der großen Diele sieht es sengerich aus; die Schadhörstener Rauhbeine sind da; es riecht nach Kloppe!«

Als sie auf die Diele traten, Line zwischen sich, kam von dem Ausschänke her ein heiseres Hohnlachen; da standen die Schadhörstener, prahlten und tranken sich Frechheit an. Helmold ging vorbei, ohne sie anzusehen, und ohne darauf zu achten, daß es hinter ihm herflog: »Kiek den Stadtjapper! Der hat sich die Waden ausgestoppt!« Brüllendes Hohnlachen folgte dem Witze. Die Freunde gingen auf die Stillenlieber Jungens zu; Helmold sagte ganz laut: »In Schadhorsten haben sie wohl kein Geld für ein eigenes Erntebier? Und da tanzen sie wohl bloß, wenn sie eine Handvoll Schrote auf den Hintern kriegen!« Die Stillenlieber lachten hell auf; die Schadhorstener brummten wie Dächse, denn zwei von ihnen hatten wegen Wilderns gesessen.

Den Walzer ließ Helmold vorbeigehen; Hennig und Line tanzten ihn. Als sie zum vierten Male bei den Schadhorstenern vorbeikamen, wurde aus ihrer Mitte ein junger Bengel so gegen Line gestoßen, daß sie stolperte; aber Hennecke hielt sie und trat einem Schadhorstener mit Absicht so auf die große Zehe, daß der Mensch die Zigarre aus dem Munde fallen ließ.

Helmold bestellte bei der Musik die Hamburger Polka; die Trompeter bliesen sogleich an. Er klatschte in die Hände und winkte Annemieken heran; mit hochaufgerichtetem Kopfe ging sie quer über die Diele und stellte sich neben ihn. »Donnerkiel,« sagte Hennig zu Line; aber was er sich dachte, sagte er nicht.

Die Musik legte los; hastig liefen die verrückten Töne hintereinander her. Helmold und Annemieken tanzten vor, dann kam Klaus Ruter, der Sohn des Vorstehers, mit seinem Schatz, und darauf Hennig und Line und dann die anderen Stillenlieber. Die Schadhörstener machten lange Augen; solch Tanzen hatten sie noch kein Mal gesehen; aber Helmold hatte vorher eine Runde Portwein ausgegeben, und der hatte die Knochen geschmiert. Er tanzte gerade auf die Schadhörstener los, schlug ihnen die Füße dicht vor den Gesichtern vorbei und sah durch sie durch, als wenn sie Luft waren. Sie ärgerten sich blau und blaß, trauten sich aber nicht aus ihrem Winkel heraus, denn die Stillenlieber Jungens hatten keine guten Augen, und der Schadhörstener Hauptschläger sollte erst noch kommen.

Mit dumpfem Getrampel und gellendem Aufjuchen brach der Tanz ab; die Stillenlieber Jungens hatten alle rote Köpfe, und ihren Mädchen gingen die Schürzenlätze auf und ab. »Kinder!« schrie Hagenrieder und schlug auf den Tisch, daß die Gläser Polka tanzten, »ich habe von Morgen den dicken Happbock vom Schandenholz dode geschossen; darauf will ich einen ausgeben. Frau Pohlmann, sechs Buddeln Rotkopp und eine Kiste Ziehgarr'n!« Die Schadhörstener, die sich erst alle umgedreht hatten, als er so losprahlte, machten schnell wieder kehrt, als der Wein herbeigeschleppt wurde. Aber dann lachten sie, denn Christel Remmert, der Sohn ihres Vorstehers und der Hauptschläger weit und breit, trat ein, gerade als die Stillenlieber mit Hagenrieder und Hennecke anstießen und lauthals hoch riefen, als Helmold schrie: »Hoch Stillenliebe und alles, was sich dazu rechnet, und die Knochen für die Hunde vor der Türe!«

Christel Remmert ging quer über die Diele, warf der Musik einen Taler hin und schrie: »Solo für Schadhorsten!« Die Musiker standen auf und stimmten einen Walzer an. Die Stillenlieber tranken ihre Gläser aus und stellten sich vor ihre Mädchen. In der vordersten Reihe standen Hagenrieder, Hennecke und Ruter, die Hände in den Taschen, die Zigarren in den Mundwinkeln.

Remmert trat vor sie hin, klatschte in die Hände und winkte Annemieken, und zwei andere Schadhörstener machten es bei Line und Ruters Mädchen ebenso, aber die Mädchen lachten sie aus. Da versuchte Remmert, sich zwischen dem Maler und seinem Freunde durchzudrängen, erst mit der Schulter, und als das nicht gehen wollte, indem er sie mit den Händen auseinanderschob. Aber Helmold stieß ihn vor die Brust, daß er zurücktaumelte.

»Teuf, du Aas!« schrie der lange Kerl und sprang auf den Maler zu; der trat zur Seite und schlug ihm mit einer schnellen Fußbewegung die Beine unter dem Leibe weg, so daß er schwer auf die Diele hinstürzte. Auf ihn fiel ein anderer Bengel aus Schadhorsten, den Hennecke in die Herzgrube gebort hatte, und da schrie Klaus Ruter: »Die Fenster auf!«, sprang mitten zwischen die Fremden, packte den Stärksten von ihnen an Brust und Hosenlatz, hob ihn auf, warf ihn zwischen die Stühle, daß es krachte, griff wieder zu, schleppte ihn zum Fenster und warf ihn in die Mistgrube.

Die Stillenlieber brüllten vor Vergnügen, und Helmold auch. Da hörte er hinter sich einen Schrei, und als er sich umdrehte, sah er Remmerts kreideweißes Gesicht und eine Hand, die ein Messer hielt. Im nächsten Augenblicke aber war das Gesicht rotgestreift, und das Messer fiel zu Boden; Annemieken hatte dem Heimtücker eine Weinflasche so in das Gesicht geschlagen, daß ihm die Scherben Mund und Nase zerschnitten.

Im nächsten Augenblicke stand kein Schadhörstener mehr auf den Beinen. Moormann, der von der Gaststube aus zugesehen hatte, rief: »Sie gebrauchen das Messer!« Sofort standen die acht Stillenlieber Bauern den jungen Leuten aus dem Orte bei, und nun flogen die Fremden kopfoberst, kopfunterst teils aus der großen Tür, teils aus dem Fenster, und die diesen Weg gehen mußten, lernten dabei, wie Stalljauche schmeckt. Helmold und Hennig halfen tüchtig mit, und dabei bekam der erste einen Schlag mit einem Bierglase auf die Backe, daß er einen fingerlangen Schnitt davon behielt. Er ließ sich schnell nach Ohlenwohle fahren, wo der Arzt wohnte, und kam nach anderthalb Stunden geflickt und vernüchtert wieder, aß wie ein Wolf und tanzte bis in die zwölfte Stunde. Dann brachte er Annemieken nach Hause und saß hinterher mit Hennecke und den Bauern noch beim Biere. Frisch und munter wachte er am anderen Morgen um acht Uhr auf, frühstückte mit Hennig und Line und fuhr sie zur Haltestelle.

Auf dem Rückwege fiel ihm ein, daß er seit dem vorigen Nachmittage noch nicht an Swaantje gedacht hatte, und nun er das tat, schien sie ihm nur noch ein Schatten zu sein. Als er nach dem Mittagessen auf dem Sofa lag und den Spielfliegen zusah, die unter den Deckenbalken tanzten, überlegte er sich seine Lage in aller Ruhe. »Sieben Jahre lang hat mir diese Liebe in den Knochen gesteckt; ein Jahr lang war sie akut. Das genügt mir; jetzt ist Schluß«, sann er. »Ein Loch behalte ich immer davon, das weiß ich; ungeküßte Küsse und ungeschlagene Schläge, das ist das bitterste Weh. Aber schließlich vernarbt alles und schmerzt nur noch ab und zu bei Wetterwechsel.« Er dachte geflissentlich an das Mädchen; aber seine Gedanken waren nicht hell und zart wie das Laub der Maibuchen, und nicht welk und mürbe, wie Fallaub, sie waren hart und fest, wie das Buchenblatt, das sich schon gewendet hat.

»Im Grunde hat mir die Sache nur genützt,« überlegte er; »bisher war ich ein Junge, ein Kind; jetzt habe ich mich entweiblicht und vermännlicht. Ich will jetzt nur noch tun, was ich will, und mich unter keinen fremden Willen mehr ducken. Ich werde küssen, was mir gefällt, und zu Boden schlagen, was mir vor die Pferde kommt.«

Es klopfte leise an die Tür. Er rief: »Herein, wenn es kein Geldbriefträger ist!« Die Wirtin kam mit dem Kaffee. Sie hatte den ganzen Tag mit ihm gemuckt, Annemiekens wegen, und als er sie vorhin in der kleinen Stube umfassen wollte, hatte sie sich ihm schweigend entzogen. Jetzt stellte sie ihm ihr feinstes Geschirr auf den Tisch und einen bunten Strauß dazu, und als er sich in der Sofaecke reckte und unter herrischem Augenaufschlage fragte: »Ist das alles?« da warf sie sich in seine Arme und küßte ihn, wie sie ihn noch nie geküßt hatte.

»So werde ich das fortan immer machen,« beschloß er, als sie ihn verlassen hatte und er seine Zigarre rauchte; »den Hirschen und den Männern werde ich höflich entgegengehen und die Frauenzimmer auf mich zukommen lassen. Das Hinterherlaufen hat nun ein Ende. Moormann hat recht.«

Ruhig und bedächtig machte er sich für die Nachmittagsbrunft zurecht, nachdem er Grete eine Mohnblumenkarte gemalt und in den Kasten gesteckt hatte.

 


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