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Im blauen Himmel ging alles auf Strümpfen. Die Straße war auf drei Häuserlängen mit Stroh belegt und mit Kaff bestreut, und an der Haustüre hing ein Schild, auf dem zu lesen stand: Kein Ausschank. Alles Vieh und auch der Hund waren in der Nachbarschaft untergebracht, und die Pumpe war festgebunden, und auf der untersten Treppenstufe war mit Kreide die heilige Fünf hingemalt, denn der Tod stand hinter der Haustür.
Er war wütend. Kinder, Greise und sonstiges Niederwild zu jagen dünkte ihm kein Waidwerk; nach Edelwild gelüstete ihn, nach einer hohen Beute. Diesen Mann da zu fällen, diesen großen Künstler, ehe er sein Bestes gegeben, ehe daß er Tausenden von Menschen das Herz gestärkt hatte, das war ein lohnendes Ziel. Über die zwei Männer und die Frau, die zu seiten des Krankenbettes saßen und ihre Schilde vor den siechen Mann hielten, lachte der Tod; aber die eine, die nicht da war, die machte ihm schwer zu schaffen.
Ingrimmig knirschte der graue Engel mit den Zähnen, daß es dem Förster, der in der Gaststube saß, eisig über den Rücken lief und er schnell seinen Schnaps austrank. Dann bückte der Tod sich, trat auf die Straße, von der die Spatzen entsetzt aufflogen, als sein Schatten auf sie fiel, und stellte sich vor das gegenüberliegende Haus, wo Lorenmutters Fuchsien sofort die Knospen verloren, denn die Augen des Todes hatten sie gestreift. Aber auf die alte Frau fielen seine Blicke nicht; er wandte sie dahin, wo Helmold lag, und stierte nach dem Fenster. Hineinsehen konnte er nicht, weil die Vorhänge zugezogen waren; aber er wollte doch wenigstens hinsehen.
Der Kranke hatte ruhig dagelegen. Sein Gesicht sah wie eine Totenmaske aus; jede Spur von Leben hatte das Fieber aus ihm herausstilisiert. Regungslos saß der Arzt da, mit losen Fingern das Handgelenk des Freundes umspannend. Aber nun blickte er auf; die weiße Flaumfeder auf den Lippen des Kranken rührte sich hastiger. Frau Gretes Züge verzogen sich zum Weinen, Hennigs Gesicht verdunkelte sich; die Augen des Arztes sahen starr nach dem Gesicht des Kranken.
Im nächsten Augenblicke sprang er auf und hielt beide Hände über das Bett, denn Helmold hatte sich mit einem Ruck emporgeschmissen, sah ohne Verstand um sich, machte einen bittenden Mund und flehte: »Kuß, ein' einz'gen Kuß, Swaantje!« Sein Gesicht füllte sich mit Entsetzen; er fiel zurück und atmete schwer. Dann sprach er mit verdorrter Stimme: »Die Augen, nein die Augen; was sind das für Augen? Leg sie fort, ganz weit, nein, dahin, weg!« Seine Brust ging auf und ab; er röchelte: »Ist nicht wahr, hab ich nicht gemalt, Lüge, alles gelogen. Die Augen, die Augen! Grete, du hast gelogen. Wir drei, wir drei, wir drei, hast du gesagt. Gemeine Lüge!«
Er knirschte mit den Zähnen und stöhnte: »Tödeloh, da bin ich gestorben, ganz totgestorben. Ha la lit! Der gute Bock ist tot! Bock tot, will ich blasen. Mein Horn ist weg.« Er warf sich hin und her; dann sang er: »Rose weiß, Rose rot,« und flüsterte weiter: »Sophie, eine Runde! Deuwel auch, Klaus, laß dir das nicht gefallen; Wiebken mogelt.« Er lachte: »Es gibt viel Schönes, Wunderschönes: Maserholz, grobe Leinwand, so wie Annemiekens Hemden, rohes Kupfer, das heilige Dreieck. Ach ja, das heilige Dreieck, das dunkele Geheimnis, unser Anfang, Ende auch. Such verwundt, mein Hund, weiß verwund't, mein Hund! Szissa her mit'n Lüttken, her mit'n lüttjen Schluck!«
Er flötete den Jagdpfiff, versuchte zu blatten, zog beide Hände vor das Gesicht, als wollte er in Anschlag gehen, und schrie: »Mariee, Dicke, was hast du für Arme! Wahre Pracht. Auf Chali pfeif ich; das ist ein Biest. Jawohl, gnädige Frau, künstlerische Reife ist Beginn der Fäulnis. Entweder leben oder Künstler sein. Die Atrappe ist höhere Gemeinheit. Hurra, es lebe der Öldruck! Hennig, deine Line ist keine Dame, darum mußt du sie heiraten. Damen sind inaktive Dirnen. Pfui Teufel! Hier habe ich voriges Jahr den Keiler geschossen. Nein, ich schieß ihn nicht, Swaantje, aber küssen will ich dich, wenn du auch noch solche Augen machst.«
Er griff mit den Händen umher! »Hülfe, Hülfe, tut mir nichts: ich will ja mein Herz wegschmeißen! Da, da liegt es, seht Ihr, im Dreck; der Hund hat es geholt! Seid Ihr zufrieden, Grete und Swaantje? Nun bin ich ganz artig.«
Er fiel zurück und schlief ein, wachte aber sofort wieder auf und schrie: »Schwindel! Alles Schwindel, Farbe, Liebe, alles, alles! Hennig, sieh den Schillerfalter; alle Farben hat er, hat er; also Schwindel. Hat überhaupt keine, tut bloß so. Nichts ist so, wie es aussieht. Swaantje sieht gut aus, Swaantje ist böse. Grete auch, Sophiee auch, Mariee auch, aber Annemieken ist gut. Soll ich dir helfen, Annemie? Was brauchen wir unsere Herzen? Weg damit! Ohne Herz liebt es sich bequemer. Wer hat den Hochsitz hierher gestellt? Senator, Sie irren sich, Sie sind Fachmann, verstehen also von der Sache nichts, sind darin, nicht darüber. Prinz, du schießt ja doch nur vorbei, ganz sicher; hast ja den Tatterich. Frau Trui, der Honig ist ausgezeichnet, süß, wie heimliche Küsse. Aber die Farbe ist Schwindel; Honig muß rot sein. Alles, was süß ist, ist rot. Rote Rosen sind schön. Wer hat die verdammten Nesseln mang die Küsse gebunden? Was sollen die Witze? Häh?«
Er fiel abermals zurück. Der Arzt goß Arznei ein und flößte sie dem Kranken ein, der unwillig schluckte. Frau Grete sah wie der Tod aus, Hennigs Gesicht war wie aus Holz. Helmold schlug um sich. »Laß mich in Ruhe mit dem verdammten Kleide, hörst du? Es ist mit kalten Augen besetzt, gemeinen Augen. Fort damit! Ich hasse die Kanaille und halt sie mir vom Balge, sagt Horaz. Prost, oller Römer! Janna, Manna, singt noch eins!« Er summte: »Meiner zu gedenken, das gebrauchest du ja nicht.« Starr sah er nach der Wand: »Ich habe deine Brüste gesehen, o wie schön, und ich will sie küssen. Gib sie her, sofort, hörst du! Ach laß auch, sie sind kalt. Siehst du, das hast du davon. Lauf mir nicht immer nach, Swaantje! Überall bist du! Ich will den Bock haben, stell' dich nicht immer davor, sonst wahrhaftig, ich mache den Finger krumm. Frau Pohlmann, in meinem Bette waren Flöhe. Nein, bloß Spaß, waren Gewissensbisse. Annemie, ich bin müde. Du sagst, du willst nicht? Teuf, Lork! Hast auch zwei Gesichter, ein Taggesicht und eins in der Nacht, und das ist mir lieber.«
Er sang nach einer Tanzmelodie: »Beni Benjamin hat gesagt, ich hab den Lungenkataharr! Hab' mir das Herz verkühlt, hat kalte Füße gekriegt. Heißen Pottdeckel darauf, das hilft. Ich will nicht mehr malen, ich male mir noch alles Blut aus dem Leibe. Und das brauch' ich noch 'ne Weile. Fritsche, alter Döllmer, trag' das Gewehr nicht so dämlich! Hennig, wo willst du hin? Ach so! Na, wenn das man gut geht! Nun hab ich es dicke; überall stehst du mir im Wege, Swaantje! Komm her, Mädchen. Hoch lebe die Liebe und die umliegenden Bierdörfer!«
Er murmelte: »Ja, ja, schon gut. Mein Bild, das kannst du küssen und mit ins Bett nehmen, aber mich, das fällt dir nicht ein! Ach Süße, komm her, einmal, o du, du, du!«
Er schwenkte den Arm: »Tanzen sollst du, bist du weich, bist windelweich, und dann nehm' ich dir den Rosenkranz ab, Ringelringelrosenkranz ab. Ein bißchen welk ist er schon. Und nun haben wir die Bescherung. Siehst du, Prinz, du pürschst zu laut! Sekt her! Was kann das schlechte Leben helfen. Die alten Deutschen tranken noch eins!«
Er lachte: »Ja, malen, das kann ich. Kranke Frauen kriegen ganz gesunde Kinder, gehen aber leicht hopps dabei. Amanda, was sagst du? Biermamsell, ja, mir Wurst, aber du kannst wenigstens küssen! Jawohl, Miezi, es ist noch etwas Leberwurst da, aber die Kohlen sind rein alle. Bete zu deiner Heiligen, und schaff sie ab, wenn sie uns keine Kohlen schickt. Swaantje, ich will meinen Kuß haben! Den hab ich kontraktlich. Och Chott, Mensch, das ist ja viel zu weit! schießt ja doch daneben! Bei meiner Beerdigung muß ich aber dabei sein, diesmal wenigstens. Christus sagst du? Bin mehr für Wode. Ist ja auch gleich. Meinetwegen Maria; ich denke dabei an Frigge. Importen mag ich nicht, bekommen nicht. Frigge hilft uns schon; bete zu ihr. Du sollst sehen, sie hilft dir. Frigge fügt Hand zu Hand, Mund zu Mund, Schoß zu Schoß. Gelobt sei Frigge!«
Er lächelte: »Mein Herz tanzt auf einer goldenen Wiese, und mein Mund läuft hinter dir her. Siehst du, jetzt bist du hingefallen. Na, weine man nicht; komm her, ich heb' dich auf!«
Er bewegte den Kopf in einem sanften Takte, als horche er auf eine ferne Melodie; dann fing er an zu summen, so seltsam, daß seine Frau ein Schauer schüttelte, denn die Singweise war aus Lust und Leid gewebt, mit Übermut durchwirkt und mit Verzweiflung besäumt.
»H'ach,« rief er dann, »h'ach du, du! Du hast es gesagt. Sagst: ich habe dir ja nichts gesagt!« Er lachte glücklich auf »Du sagst, ich habe dir ja nichts gesagt! Habe dir ja nichts gesagt, nichts gesagt.« Er lachte belustigt: »Ich habe doch ein Gehör wie der Fuchs. Weiß schon Bescheid, weiß, was das heißt. An der Fährte spricht man den Hirsch an; das da ist sicher einer vom zwölften Kopfe. Und den will ich haben, oder ich will die Kunst nicht verstehen.«
Er schauerte zusammen; der Arzt zog ihm die Steppdecke bis unter das Kinn. Er flüsterte: »Danke, danke!« Er küßte in die Luft: »Ach wie schön warm! Das ist so lieb von dir, liebe Swaantje. So warm.« Er schnurrte wohlig: »Wie lange habe ich dich gesucht, wie lange, aber du hast die Fährte verwischt. Das ist sicher ein guter Bock. Gute Nacht, Herrschaften; ich gehe schlafen. Komm Annemie! Mädchen, du hast ja Swaantjes Kleid an! Nein, das geht nicht; ist dir ja viel zu lang. Sofort ausziehen, hörst du! Na, weine man nicht, behalt's an; bist ja doch die beste, die allerbeste!«
Frau Grete ging hinaus, kreidebleich im Gesichte; als sie wieder hereinkam, sah sie Hennecke an und schüttelte den Kopf. Der Kranke flüsterte: »Dein Herz ist von Gold, Swaantje, und du hast es an einer silbernen Kette unter den Spitzen auf deiner Brust. Das sieht doll aus, ganz doll.« Er schrie auf: »Wo bist du, Gotteswillen komm her!« Sein Kopf fiel auf die Seite, und er begann rasselnd zu schnarchen.
Der Arzt flüsterte: »Gehen Sie essen, ich bleibe so lange hier; er schläft. Das ist ein gutes Zeichen, ich habe Hoffnung.« Er zählte die Pulsschläge und nickte langsam. Dann lächelte er der Frau zu und zeigte mit dem Kopfe nach der Tür. »Erst etwas essen und dann ein bißchen hinlegen. Wir haben an einem Kranken genug. Hennecke, gehen Sie mit! Und daß es ja ganz stille im Hause ist.«
Als Frau Grete draußen war, sah sie Hennig an und flüsterte: »Behalten wir ihn wohl, lieber Freund?« Er nickte: »Ich glaube es; seine Indianernatur wird ihm durchhelfen. Aber nicht wahr, jetzt essen Sie ein bißchen?« Sie nickte müde.
Er führte sie in das kleine Zimmer, rückte ihr den Sessel und die Fußbank zurecht, goß ihr ein Glas Sekt ein und begann dann zu essen, ruhig und langsam, wie immer. Das half; sie aß ein Stückchen Brot und kaltes Fleisch und bekam wieder etwas Farbe.
Hennecke tat, als kümmere er sich nicht um sie; aber wenn er etwas nahm, rückte er den Auflageteller immer so, daß die besten Stücke vor ihr lagen, und als ihr Glas leer war, füllte er es. Dann aber sagte er: »Nun schlafen, bitte, und sobald die Antwort kommt oder eine Änderung im Befinden eintritt, klopfe ich.«
Die Frau nickte und stand auf; als sie schon die Türklinke in der Hand hatte, blieb sie stehen und hielt den Kopf schräg, als wenn sie lauschte. Dann lächelte sie Hennecke zu und sagte: »Sie kommt, wir werden gleich Nachricht haben. Sie hat das Telegramm selber aufgegeben.« Hennecke sah sie ernst an und nickte. Die Frau trat auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach: »War es so schlecht von mir, was ich tat? Wenn er stirbt, so bin ich schuld.« Er antwortete: »Beruhigen Sie sich, liebe Freundin; Reue ist die größte Sünde, die es gibt, denn sie hat keinen Zweck. Sie haben gehandelt, wie Sie mußten.« Sie sah ihn ernst an und schüttelte den Kopf: »Nein, ich habe ihn belogen. Aber, nicht wahr, der Gedanke, er liebt eine andere, und ich, seine Frau, die zwei Kinder von ihm hat, soll entsagen. Sie begreifen, daß da zuerst alles Kleine und Enge in einem nach oben kommt. Und so bin ich hart zu ihm gewesen und schlecht, sehr schlecht. Erst habe ich gesagt: ›Ja ja, mein guter Junge, sie soll kommen! Wir drei, nicht wahr?‹ Und so nach und nach nahm ich alles zurück und dachte nicht daran, daß ich ihm zuerst die Augen geöffnet hatte.«
Dann setzte sie sich an das Fenster. Düster sah sie vor sich hin, die Hände im Schoße faltend. »Ich bleibe hier; schlafen kann ich doch nicht, ehe das Telegramm da ist. Rauchen Sie bitte, lieber Hennecke. Aber erst sehen Sie zu, wie es oben steht.«
Langsam gingen die Stunden dahin, Hennecke löste den Arzt ab. Der war zufrieden. »Er kommt an das Ufer, glaube ich, der Puls ist ganz ruhig.« Er aß und ging nach oben, und Hennecke leistete der Frau wieder Gesellschaft. Sie sprachen wenig. Plötzlich seufzte Frau Grete erleichtert auf und lächelte gespannt. Männertritte kamen näher und erklommen die Treppe; die Haustür ging auf. Die Frau erhob sich, öffnete die Tür und nahm dem Briefträger das Telegramm ab, gab ihm den Taler, den sie schon bereit hielt, löste gelassen den Verschluß, faltete das Papier auseinander, las den Inhalt, ohne eine Miene zu verziehen, nickte, reichte Hennecke die Depesche und sprach: »Es ist so, wie ich sagte: sie kommt. Gott sei Lob und Dank!«
Die Tür ging auf; der Arzt stand darin, helle Freude im Gesicht. »Sie haben Ihren Mann wieder, Frau Hagenrieder,« sagte er ganz laut. Er sah erstaunt auf, als die Frau nur nickte und meinte: »Ich wußte es.« Er trank ein Glas Sekt aus: »Merkwürdig,« murmelte er dann; »eben erwachte er, seufzte sich den Schlaf fort, sah ganz klar aus den Augen, machte sie wieder zu und mit ganz fieberfreier Stimme flüsterte er: ›Sie kommt!‹ Und dann schlief er wieder ein.«
Am andern Morgen lachte die Sonne, und die Amsel sang zum ersten Male. Helmold war sehr schwach, aber fieberfrei. Als er die drei Schneeglöckchen sah, die seine Frau ihm auf das Tischchen stellte, ging ein leises Lächeln über sein Gesicht. Er winkte mit den Augen, und sie bückte sich zu ihm nieder. »Näher!« hauchte er, »noch näher!« Sie küßte ihn auf den Mund. »Meine liebe Frau,« flüsterte er und schlief ein.