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Es war im November des Jahres 1788. Ein eisiger Wind pfiff durch die Straßen von Paris, und trieb ein Heer von Schneeflocken vor sich her, das wirbelnd durch die Lüfte jagte. Schon war die Seine zugefroren, und die ältesten Leute wußten sich nicht eines so zeitigen Winters zu entsinnen.
Das Volk blickte mißmutig auf die Reichen, und jammerte mit Recht über die schwere Zeit, denn einem trockenen Sommer war Mißwachs und Teuerung gefolgt, und der harte Winter erhöhte die Klagen der Armen. Wenn daher jetzt an diesen hungernden Menschen die stolzen Karossen vorüber jagten, die ihre vornehmen Insassen zu einem üppigen Feste trugen, dann konnte man hier und da einen unterdrückten Fluch hören, oder man sah es, wie sich drohend eine Faust erhob gegen die Rosse, welche den finsteren Mann, an dem sie vorübereilten, mit Schmutz und Schnee bewarfen, so daß die Nässe eisig durch seine dünnen Lumpen drang.
Grollend trug das Volk seine Last und zürnte den Reichen, denen das Leben nur Freude zu bieten schien. Es war ein Funke von Haß gegen alles, was vornehm und reich war, der in diesen vom Elend gequälten Menschen glühte, und es gab Köpfe genug in dem erregten Frankreich, die eifrig den Funken schürten, bis er zur zündenden Flamme empor wuchs, die verderbenbringend daraus auflodern sollte. Die Männer, welche so sorglich dem Funken Nahrung gaben, meinten, sie wollten Herren des Feuers bleiben, und es nach ihrem Gutdünken leiten, aber sie ahnten nicht, daß die Zeit nicht fern war, wo die furchtbare Lohe ihnen über den Kopf wachsen, und sie mit ins Verderben reißen würde.
In der Bretagne war die lange genährte Zwietracht ausgebrochen und auch in der Dauphinée gährte es. Ein Heer von Flugschriften erschien und erhitzte die Gemüter immer mehr. Wohl hatte Malesherbes in einer ernsten Denkschrift den König gewarnt, die Unruhen nicht so leicht zu nehmen, aber noch mochte Ludwig die drohenden Gewitterwolken nicht sehen, oder er gab sich wenigstens den Schein der Sorglosigkeit, und überließ sich der den Bourbonen so eigentümlichen Jagdleidenschaft. Wenn ihn trübe Gedanken dabei verfolgen wollten, dann suchte er die lästigen Störer fort zu schicken mit dem leidigen Trost, den die geschmeidigen Hofleute allezeit für ihn bei der Hand hatten, nämlich, daß die neuen Reformen, sowie die Versammlung der Reichsstände und die ersehnte Einberufung Neckers bald alle Übelstände beseitigen würden.
Ludwig sagte sich – und mit vollem Recht konnte er es – daß er sein Volk liebe wie ein Vater seine Kinder und nur darauf sinne, sein Land zu beglücken. Mußten die Verblendeten das nicht endlich einsehen und sich zur Ruhe geben? Er hoffte es zuversichtlich und blieb taub gegen alle Warnungen. Auch die schöne, sorglose Königin erkannte noch nicht den Ernst der Zeit. Sie hatte bisher als unvergleichlicher Stern bei allen Festen gestrahlt, und der Hof hatte sich ihrem liebenswürdigen, aber verwöhnten Willen gebeugt.
Die Lustbarkeiten waren weniger glänzend als in früheren Tagen, seitdem Ludwigs Minister immer wieder auf Sparsamkeit gedrungen hatten, doch die Königin verstand es auch, über diese Feste einen eigenen Zauber auszubreiten. Strahlend in Jugend und Schönheit eilte sie fröhlichen Sinnes von Lust zu Lust, doch konnte sie es nicht verhindern, daß der bittere Ernst des Lebens erst leise, dann aber lauter und lauter anfing an ihr lebensfrohes Herz anzuklopfen.
So trieb Paris sein Wesen. Hier wurde geklagt und gemurrt, dort trafen erhitzte Köpfe zusammen, schmiedeten Freiheitspläne und rüttelten an allem Bestehenden, und bei Hofe, sowie in der vornehmen Welt, ergötzte man sich an rauschenden Festen.
Im Faubourg St. Germain war das Hotel des Marquis St. Herbert glänzend erleuchtet. Dahin rollten elegante Equipagen und hielten unter dem Portal. Diener in der reichen Livree des Hauses empfingen die Ankommenden und geleiteten sie die breite Stiege hinauf. Ein strahlendes Lichtmeer und der berauschende Duft seltener Treibhauspflanzen strömte den Gästen aus den geöffneten Flügelthüren entgegen. Plaudernd und scherzend schritten die zierlichen Schönen mit den Kavalieren an ihrer Seite über den weichen Teppich hinauf, ohne einen Blick auf die herrlichen Fresken zu werfen, die das Treppenhaus zierten. Unbeachtet von der verwöhnten Welt standen in dem Empfangssaal rings an den Wänden die Statuen in ihrer ernsten Schönheit. Es waren alles Meisterwerke von Künstlerhand, die schweigsam herabschauten auf die gepuderten Köpfe der Herren und den hohen Lockenbau der Damen, auf all dies kostbare Gepränge und die rauschende Lust, welche einen Nachklang bildete zu den Festen, die der Hof in den Tuilerien feierte.
Hier war es, wo der Marquis St. Herbert seine Gäste empfing, und sie mit dem ihm eigenen ritterlichen Anstand zu seiner Gemahlin führte. Die Marquise war, trotzdem sie längst die erste Jugend überschritten hatte, noch immer eine schöne Frau zu nennen. Geist und Verstand leuchteten aus den Augen und sprudelnder Witz belebte ihre Unterhaltung. Sie war noch jetzt von einer Schar Bewunderer umgeben, die ihr bereitwillig huldigten und es übersahen, daß die Natur, welche diese Frau mit ihren Gaben überschüttet, ihr ein köstliches Gut vorenthalten hatte, das sich durch keine äußeren Vorzüge ersetzen läßt. Ihr fehlte das warme Herz, das die Frau zur Seele des Hauses macht. Nur gefeiert und bewundert wollte sie werden, darum hatte sie ihren Söhnen nie eine hingebende Mutter, ihrem Gatten nie eine helfende Gefährtin sein können, sie war nur der glänzende Mittelpunkt seiner Feste geworden.
Im Hotel St. Herbert versammelte sich alles, was zur Blüte der ersten Gesellschaft gehörte, daher fand man hier die verschiedensten Geistesrichtungen vertreten. Um die Marquise scharten sich die philosophischen Freunde des Hauses, die Anhänger des Voltaire, Diderot, Helvetius, die sich an der geistreichen Unterhaltung der schönen Frau ergötzten, während Männer wie Cazotte und Malesherbes von dem ruhigen Ernst und den klaren Anschauungen des alten Marquis angezogen wurden.
Dieser echte Edelmann und treue Royalist war ein zu klarer Kopf, um sich wie so viele andere täuschen zu lassen. Begeistert für seinen König, für das ganze königliche Haus und für den Ruhm Frankreichs, gewahrte er mit tiefem Schmerz die Zerrissenheit seines Vaterlandes und den verderblichen Einfluß, den Rousseaus schwärmerische Philosophie, sowie Voltaires geistreiche Sprache auf den Geist seines Vaterlandes ausübten. Er fühlte nur zu wohl, daß dies Jagen nach glänzenden Zerstreuungen, das vom Grafen Artois ausging und in das Marie Antoinette mit hinein gerissen wurde, seinem teueren Königspaare geschadet hatte. Aber wie sollte er dem Treiben dieser jungen lebenslustigen Fürstin Einhalt thun? Konnte er die stolze Kaisertochter zurückhalten, wenn sie die zarten Hände in die verwickelten Staatsgeschäfte mischte? Vergebens hatte der Marquis gewarnt; der König, der immer nur zu bereit war nachzugeben, wenn Minister oder Deputierte Widerspruch erhoben, fühlte sich jedesmal verletzt und war verdrießlich, wenn er auf Widerstand beim Adel traf. Ja, er konnte in unglaublichen Zorn geraten, wenn Edelleute, getrieben von dem Bewußtsein ihrer heiligsten Pflicht, es wagten ihm Vorstellungen zu machen. Der Marquis hatte dies erfahren und sah ein, wie nutzlos seine Bemühungen waren, dem jungen Königspaare die Augen zu öffnen.
Dies Bewußtsein war ein wunder Punkt in seinem Herzen geworden, über den er nicht sprach, selbst nicht zu seinen vertrautesten Freunden, denn seine stolze Liebe zu seinem Herrscherhause hätte es als Verrat angesehen, über die Fehler des Fürstenpaares zu sprechen. Mit Freuden wäre er zu jedem Opfer bereit gewesen, hätte er dadurch dem wohlwollenden Herzen seines Königs mehr Energie einzuflößen vermocht, oder seiner angebeteten Königin den Abgrund zeigen können, an dem sie sorglos stand.
Auch an sein Ohr war das Wort gedrungen, das jetzt höhnend durch Frankreich zog. – Das Motto der Regierung Ludwig XIV. war » l'état c'est moi« (der Staat bin ich). Ludwig XV. rief » aprés moi le déluge« (nach mir der Untergang). Unter Ludwig XVI. aber heißt es » ordre, contreordre, désordre« (Befehl, Gegenbefehl, Verwirrung). Jedes königstreue Herz fühlte tief den Kummer, den teuren Herrscher schmähen zu hören und ihn nicht verteidigen zu können.
Ähnliche Gefühle mochten auch jetzt die Seele des Marquis erfüllen, denn seine Stirn schien umwölkt, offenbar hatte er für den Augenblick seine Pflichten als Wirt vergessen.
Doch wie unwillig über sich selbst schüttelte er hastig mit dem Kopf und wandte sich an einen jungen Mann in dunkler Kleidung mit feinen aber bleichen Zügen. »Wo ist Horace?« fragte er ihn halblaut.
Der Angeredete ließ seine träumerischen Augen suchend im Saale umherirren. »Ich sehe ihn nicht,« erwiderte er, »aber ich will auf sein Zimmer gehen und nach ihm fragen, die Gäste werden den Bruder bereits vermissen.«
Es lag ein eigener Wohllaut in der Stimme des jungen Mannes, der Klang war nur zu weich, die Gestalt zu gebrechlich und der Blick der dunklen Augen zu tief von den Wimpern verschleiert.
Den Marquis schmerzte es, daß dieser, sein Erstgeborener, so wenig dem Bilde eines frischen Jünglings entsprach. Er vermißte in seinen Zügen männliche Kraft und Entschlossenheit, und diesen Mangel empfand er so bitter, daß er dadurch leicht geneigt war, den Charakter des Sohnes zu unterschätzen.
Nichtsdestoweniger liebte er ihn innig und hatte in früheren Jahren mit einer fast mütterlichen Sorgfalt über der zarten Gesundheit des Kindes gewacht. Schon früh war in dem Sohne der Wunsch rege geworden, sich dem geistlichen Stande zu weihen und beide Eltern hatten sich damit einverstanden erklärt. Die Marquise, weil sie für das Streben ihres Ältesten wenig Verständnis besaß und ihre ehrgeizigen Pläne sich nur mit dem jüngeren Horace beschäftigten. Der alte Herr aber, weil er hoffte, daß der Sohn unter der Tonsur die reichste Befriedigung und ein tiefes, wenn auch stilles Glück finden würde. Er empfand es schmerzlich, daß seinen Kindern das wachsame Mutterauge gefehlt. Kein ermunterndes Wort aus sanftem Frauenmunde hatte das schüchterne Gemüt des Ältesten zur Thatkraft ermutigt, oder hatte seinem sehnenden Herzen einen festen Halt im Glauben gegeben. Keine liebende Mutter hatte über dem Jüngsten gewacht, um seinen sprudelnden Übermut zu zügeln und seiner schnell auflodernden Begeisterung edle Ziele zu stecken.
Der Vater hatte es zwar versucht, aber seine Pflichten hielten ihn viel vom Hause fern und jetzt, wo sein trüber Blick überall nur Schatten entdeckte, konnte er sich nicht entschließen, den Söhnen seine geheimsten Gedanken mitzuteilen. Er wollte Horaces sorglose Jugend nicht trüben, und das zaghafte Gemüt Gilberts, seines Ältesten, nicht durch eigene Sorgen noch mehr beschweren.
So stand der Marquis allein mit seinen trüben Ahnungen und seinen geheimen Kämpfen, denn auch der Gattin, die ihm immer innerlich fremd geblieben war, gestattete er nie einen Blick in sein sorgenvolles Herz. –
Gilbert hatte den Saal verlassen und war in das Zimmer des Bruders geeilt. Er fand diesen in sehr eleganter Gesellschaftstoilette, ein zerknittertes Blatt in den Händen.
»Gut, daß du kommst,« rief Horace dem Eintretenden hastig entgegen. »Lies dieses Schreiben, und dann sage mir, wem ich diese Ordre verdanke.« Er reichte dem Bruder das Blatt und während dieser es aufmerksam durchlas, schritt Horace ungeduldig im Zimmer auf und ab.
Man konnte sich nicht leicht ein ungleicheres Paar denken als diese Brüder, und doch bestand zwischen den beiden eine innige Freundschaft. Horace vertraute dem verschwiegenen Herzen Gilberts rückhaltlos alle die mancherlei Thorheiten, zu denen sein Übermut ihn hinriß, und dieser wußte mit feinem Takt die Knoten zu lösen und dem Bruder die Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu räumen. Er selbst erwartete nichts vom Leben, seine Hoffnungen, wie die seiner Eltern, vereinigten sich in Horace, der mit vollem Recht der Liebling des Hofes und auch der Stolz seiner Familie war.
Groß und schlank gewachsen, voll Jugendkraft und Mut, gewann er durch seinen ritterlichen Anstand und seinen fröhlichen Sinn im Sturm alle Herzen, und nur zu bereitwillig verzieh man ihm seine Thorheiten. War es da wohl zu verwundern, daß seine übersprudelnde Laune oft zum Übermut heranwuchs und daß die Siege, welche ihm so leicht gemacht wurden, jeden Reiz für ihn verloren? Unbewußt schlich sich dadurch ein Gefühl von Übersättigung in sein Herz, und sein reich begabter Geist, der in den lachenden Festen keine dauernde Befriedigung finden konnte, sehnte sich hinaus, nach Dingen, die er selbst nicht anzugeben wußte.
Jetzt aber, wo ein Befehl ihn fortschickte von dem fröhlichen Paris, erschienen ihm die Feste in einem zauberhaften Lichte und voll kälteren Unmuts trat er zu dem Bruder, der längst die wenigen Zeilen zu Ende gelesen hatte und sinnend vor sich niederblickte.
»Was sagst du dazu, daß ich jetzt fort soll?« fragte er erregt, »man schickt mich in die Verbannung in einem Augenblick, wo sich hier alles amüsiert und von einer Lust zur andern jagt.«
»Du wirst dort neue Freunde und neue Freuden finden,« tröstete Gilbert, »der Sonnenschein folgt dir überall, denn du bist für das Glück geboren. Diese Ordre trifft mich schwerer als dich, sobald du gehst, ist mein Leben ganz einsam. Mein fröhlicher Bruder findet überall heitere Genossen, mich aber sucht niemand auf.«
Horace war an den Bruder herangetreten und hatte seinen Arm um dessen Schulter gelegt. »Du treuer Freund,« sprach er, »wer soll meine Thorheiten wieder gut machen, wenn du nicht bei mir bist! Doch ich weiß, wem wir dieses verdanken,« fuhr er heftiger fort, »meine Mutter wünscht meine Entfernung von Paris, weil sie fürchtet, ich könnte zu tief in die neckischen Augen unserer schönen Cousine Viktorine gesehen haben. Die Partie wäre nicht nach ihrem Sinn, denn sie träumt von höheren Dingen für mich und hat sich hinter die Königin gesteckt, um meine Abberufung von hier zu bewirken, daher werde ich mit einem Befehl nach Nancy geschickt, um bei einem dortigen Regiment höchst wichtige Dinge zu lernen oder zu lehren. So hat unsere Mutter ihren Willen durchgesetzt und mich für diesen Winter von Viktorine entfernt.«
»Sollte das nicht ganz gut sein?« warf Gilbert ein, »es will auch mir scheinen, als ob dein Herz nicht unempfänglich für ihre Schönheit wäre.«
Horaces fröhliches Lachen unterbrach den Bruder. »Mein Herz wird so leicht weder von ihr noch von irgend einer anderen gefangen. Soll es aber einmal sein, daß ich mich binde, dann müßte es wahrhaftig ein anderes Weib sein als Viktorine oder eine der zierlichen Schönen, die ich allabendlich sehe.«
Gilbert sah lächelnd zu ihm auf. »Der verwöhnte Liebling will seine Arme doch nicht nach Fürstentöchtern ausstrecken?« scherzte er.
»Ich weiß nicht – gleichviel« – gab Horace zerstreut zurück, dann fügte er nachdenklich hinzu: »Das Weib, dem ich meine goldene Freiheit opfere, muß hoch geboren sein, so daß es über mich kommt, wenn ich in ihre Augen sehe, wie ein süßer Traum aus unschuldiger Kinderzeit, wie ein seliger Gruß aus einer besseren Welt.«
Er fuhr mit der Hand über die Stirn und lächelte dann über sich selbst. »Thorheit,« murmelte er, »das sind Gebilde müßiger Stunden, in denen man träumt, man könnte ein Herz erringen, das so treu wäre in seiner Liebe wie Penelope, des Odysseus Weib, oder so hingebend wie Griseldis. Man schafft sich Ideale« ...
»Um sie von der Wirklichkeit mit harter Hand zerstören zu lassen,« unterbrach ihn Gilbert rauh. Dann aber, als er dem verwunderten Blicke des Bruders begegnete, änderte er seinen Ton. »Warum solltest du nicht träumen,« fuhr er wehmütig fort. »Du bist jung, und es ist schön, Großes vom Leben zu erwarten. Gott bewahre dich vor Täuschungen. – Doch man wird uns im Salon vermissen,« brach er hastig ab, und des Bruders Arm in den seinen nehmend, verließ er mit ihm das Zimmer. Lustige Tanzmusik tönte ihnen auf dem Korridor entgegen. Horaces gute Laune war bereits zurück gekehrt. »Ich will das Heute noch genießen und nicht an morgen denken,« entschied er und summte fröhlich die bekannten Melodien vor sich hin.
Nachdem er in der Gesellschaft die ersten Worte der Begrüßung gewechselt, suchte er den Marquis auf, dem er mit leisen aber hastigen Worten von seinem Kommando erzählte.
Der alte Herr überflog das Blatt. »Diese Ordre kommt mir unerwartet, ich werde dich schmerzlich vermissen, auch dir wird es unlieb sein,« sprach er dann mit einem warmen Blick. »Dennoch müssen wir uns bereitwillig darin finden, da es auf des Königs Wunsch ist, daß du fortgeschickt wirst.«
»Wer weiß, durch welche Hinterthür dieser Wunsch an ihn herangetreten ist,« warf Horace mißmutig dazwischen.
Der Marquis richtete sich höher auf, ein eigentümliches Aufblitzen der grauen Augen sprach von seiner Erregung. Rasch entfaltete er das Blatt, das er noch immer in der Hand hielt, und wies aus die Namensunterschrift des Königs unter der Ordre. »Wenn einer meiner Söhne einen Befehl erhält, unter dem dieser Name steht,« sprach er, »so wünsche ich, daß ein jeder willig gehorche, ohne zu fragen, wie dieser Wille entstand. Dieser Königsname genügt, um freudig in den Tod zu gehen, er verbietet aber auch zugleich jedes Murren bei einer mißliebigen Ordre.«
»Ich werde zu gehorchen wissen,« lautete die ruhige Antwort des Sohnes, nur ein Zucken seiner Mundwinkel verriet, daß des Vaters Worte ihn verletzt hatten. Die schnelle Aufwallung des Marquis war bereits vorüber, freundlich legte er seine Hand auf Horaces Schulter. »Überwinde dich mir zu liebe, mein Sohn,« bat er, »und erinnere dich, wenn du unbedacht eine Handlung des Königs tadeln willst, daß du mit solchen Worten deines Vaters Herz triffst. Die schwere Zeit, welche uns droht, mahnt die Königstreuen, sich fest um des Herrschers Thron zu scharen, und auch nicht mit einem Hauche die Hoheit zu verletzen, die wie ein Heiligenschein das Königspaar umgeben soll.«
Es war selten, daß der Marquis mit solchem Ernst zu seinem Jüngsten sprach, weil er gewohnt war, in ihm noch den knabenhaften Jüngling zu sehen. Daher berührten jetzt seine Worte das Herz des Sohnes doppelt tief, und ein fester Händedruck, als beide sich trennten, sagte dem Vater dies besser, als Worte es vermocht hätten.
Horace suchte Viktorine auf, die er von einer Schar Bewunderer umgeben fand. Sie empfing ihn mit huldvollem Lächeln und einem freundlichen Blick der schönen Augen, die ihn verwundert zu fragen schienen, warum er sich so lange ihrem Zauberkreise entzogen habe. Er scherzte heiter mit dem schönen Mädchen, unterhielt sich mit den Freunden, die ihn bald umringten, und teilte ihnen wie Viktorine seine bevorstehende Abreise nach Nancy mit.
Ein Sturm des Bedauerns erhob sich, man verwunderte sich, man tadelte, man fand es unerhört, jetzt einen der ersten Offiziere der Garde du Corps nach der Provinz zu schicken. Horace, eingedenk der Worte seines Vaters, zeigte nicht seine Verstimmung, sondern äußerte nur sein lebhaftes Bedauern, die Freunde sobald verlassen zu müssen. Zugleich sprach er mit Interesse von seinem Auftrage und von dem besonderen Reiz, der in jeder Abwechselung liege. Er fühlte in dem Augenblick, was er sprach, denn Viktorinens übermütige Laune, welche durch seine Mitteilung in keiner Weise beeinträchtigt zu sein schien, reizte ihn, in den Äußerungen der Freude über sein Kommando immer weiter zu gehen. Geschickt wußte er dabei der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben, und bald plauderte man wieder von den verschiedensten Dingen, ohne auf Horaces Fortgehen zurück zu kommen.
Das war, was dieser wünschte, er selbst wollte nicht mehr daran denken, um noch einmal, wie er sich vorgenommen hatte, in vollen Zügen die Lust des Augenblicks zu genießen. Zuerst war seine Fröhlichkeit mehr eine gemachte, aber die allgemeine heitere Stimmung riß ihn allmählich mit fort und scheuchte jeden Schatten aus seinem Herzen.
Endlich war das Fest zu Ende, das Lachen verhallt, das neckische Geplauder verstummt. Amor hatte seine Pfeile bereitwillig versandt an jenem Abend, und manche süße Fessel war fester geschmiedet worden. Das alles war nun vorbei; der eine nahm noch im Herzen einen lieblichen Traum mit, der andere Enttäuschung und Leere. Gleichviel – die vornehme Welt eilte jetzt heimwärts, denn der bleiche Morgen dämmerte am Himmel. In den Salons hatte man die schweren Damastvorhänge dicht zugezogen. Warum sollte man auch den fahlen Morgenschein hereinlassen? Die schimmernde Luft des Abends hätte in diesem Lichte grau und farblos ausgesehen, ihres duftigen Reizes beraubt, müde und überwacht, wie die Gesichter der geschäftigen Diener, welche den verhüllten Schönen dienstfertig den Schlag der Wagen öffneten und verstohlen gähnend, sich von den ersten Sonnenstrahlen blenden ließen.
In dem Salon der Marquise saß die Familie plaudernd zusammen. Viktorine ruhte auf einem Sessel in lieblicher, nachlässiger Haltung, doch sprach keine Ermüdung, nur sinnendes Nachdenken aus ihren Zügen. Es war etwas Seltenes, daß dies schöne Mädchen, deren Kopf immer übersprudelte von Leben und toller Laune, so gedankenvoll da saß; Horace konnte sich von ihrem Anblick nicht trennen, er beobachtete genau ihre gesenkten Wimpern und ihr zerstreutes Spiel mit dem Fächer. Hatte es ihm doch scheinen wollen, als hätten eben die blauen Augen mit einem eigentümlich feuchten Schimmer auf ihm geruht. Er hätte so gern tiefer geblickt, durch die Augen in das Herz hinein. Wurde ihr der Abschied von ihm dennoch schwer, und waren ihre Freundlichkeiten für den Vetter mehr gewesen, als ein leichtes Spiel, das sie einen Augenblick ergötzte?
Da hörte er die Gräfin St. Paul, ihre Mutter, klagen: »Was soll aus den Festen werden, wenn man die besten Cavaliere in die Provinz schickt!«
Schon wollte er antworten, doch Viktorine hatte schnell den Kopf erhoben. »Wahrhaftig, maman,« lachte sie sorglos, »daran fehlt es hier nicht. Es wird sehr interessant sein, wenn Horace uns nach seiner Rückkehr von seinen Erlebnissen in Nancy erzählt und von den Schönen der Provinz schwärmt. Aber wie kam es,« fügte sie mit einem halb neckischen, halb herausfordernden Blick hinzu, »daß Sie heute Abend so wenig von Ihrer Abreise sprachen? Fürchteten Sie, meine rosige Laune durch solches Gespräch zu verderben?«
Der junge Offizier fühlte sich durch ihren Übermut verletzt. War diese Frage nur ein kleiner koketter Zug, um ihn fester in ihre Netze zu ziehen, dann sollte sie sich irren.
»Ich wollte Sie nicht von Dingen unterhalten, die für Sie vollständig gleichgültig sind,« erwiderte er ruhig.
Viktorine warf schmollend den hübschen Kopf zurück. Er achtete nicht darauf, sondern wandte sich an seinen Vater, der eben eingetreten war. »Je mehr ich über mein Kommando nachdenke, desto lieber ist es mir,« sprach er. »Ich freue mich, dabei unser altes Schloß Boncourt aufzusuchen, das bei Nancy liegt.«
»Könnte ich fort von hier, ich wäre längst schon einmal hin gereist,« erklärte der Marquis, »doch weiß ich, daß auch ohne persönliche Beaufsichtigung alles dort in bester Ordnung ist, denn St. Pierre, mein Verwalter, führt ein treues Regiment. Ich kenne ihn schon aus der Zeit, als er noch Sekretär bei Turgot war, er ist ein Biedermann durch und durch; bringe ihm meinen Gruß, wenn du nach Boncourt fährst.«
»Ich will es nicht versäumen,« nickte Horace, »und werde sehen, es so einzurichten, daß ich ein paar Tage dort bleiben kann, um einen Einblick in das Ganze zu gewinnen.«
»Im Schlosse selbst wirst du schwerlich wohnen können, es ist fast Ruine und nur ein Aufenthalt für Ratten und Mäuse geworden, denen höchstens noch die Eulen Gesellschaft leisten,« scherzte der Vater. »Der östliche Turm ist zwar erhalten, auch die Empfangshalle und das daran stoßende Zimmer, aber soviel ich weiß, bewohnt St. Pierre diese Räume. Jedenfalls findest du aber in der Nähe ein Unterkommen.«
»Der Wagen der Frau Gräfin St. Paul,« meldete der eintretende Diener.
Der Marquis beeilte sich, der Gräfin den Arm zu bieten. Horace bemerkte, wie Viktorinens Blick ihn flüchtig streifte, aber indem er Gilbert vorschob, trat er mit einer Verbeugung zurück. »Die Ehre, unsere gefeierte Cousine zum Wagen zu geleiten,« sprach er in gemessenem Tone, »gebührt dem Ältesten, ich wage keine Eingriffe in seine Rechte. Vielleicht darf ich morgen kommen, um Abschied zu nehmen vor der Reise, auf deren Berichte Sie jetzt schon mit einem gewissen Interesse zu warten scheinen.« Gilbert bot Viktorine den Arm. Diese hatte sich rasch erhoben, ihre frischen Lippen konnten ein leichtes Zucken nicht verbergen. »Ich fürchte, verschiedene Besuche werden mich verhindern. Sie morgen zu empfangen,« wandte sie sich an Horace. »Nehmen Sie mein Lebewohl schon heute; ich wünsche Ihnen viel Vergnügen in der romantischen Ruine mit der interessanten Gesellschaft, die Sie dort erwartet.«
Mit einem kurzen, stolzen Kopfnicken gegen den jungen Offizier legte sie ihren Arm in den Gilberts und verließ den Salon. Horace schaute ihr mit einem wehmütigen Blick nach, als er seine Schulter leicht berührt fühlte.
Die Marquise stand neben ihm. »Du wirst dich ohne Mühe dem Netze dieser Sirene entziehen, wenn du von ihr getrennt bist,« sagte sie, »du bist der Liebling des Hofes, mein Sohn darf sich nicht scheuen, auch um die Liebe einer Fürstentochter zu werben.«
»Wenn du die junge Herzogin Duplessi meinst, so kann ich dir die Versicherung geben, daß ihr Herz nie zu dem meinen stimmen wird,« gab Horace kühl zurück. »Ich täusche mich, glaube ich, nicht, wenn ich mein Kommando als das Werk meiner Mutter ansehe. Möchte das, was mir jetzt schwer ist, heilbringend für uns werden.«
Um die Lippen der Marquise spielte ein feines Lächeln. »Ich bin davon überzeugt,« antwortete sie, »und nehme die Folgen meine Handlung auf mich.«
Mit einer anmutigen Bewegung reichte sie ihm die Hand zum Kusse. Horace führte sie an seine Lippen, er sehnte sich danach ein Gespräch abzubrechen, das ihn peinlich berührte, und trennte sich bald darauf von der Marquise mit einem mehr formellen als herzlichen Gutenachtgruß.
Im Korridor traf er mit dem alten Herrn zusammen. Gern hätte er noch ein vertrauliches Wort mit ihm gewechselt, doch ein Zug von Abspannung in dem Antlitz des Vaters hielt ihn davon zurück.
Das Gemüt des Jünglings war durch die verschiedenen Eindrücke des Tages mehr als sonst erregt, daher zog es ihn, als er den Marquis verlassen hatte, unwiderstehlich zu Gilbert.
Er fand den Bruder an seinem Schreibpult sitzend, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. Bei Horaces Eintritt schloß er dasselbe.
»Glücklicher Mensch!« rief Horace und warf sich auf den einzigen bequemen Sessel, der sich in dem Zimmer befand und nur für ihn bestimmt war. »Du fühlst dich zufrieden hier,« fuhr er fort, während sein Blick über das Zimmer glitt, das in seiner strengen Einfachheit fast an ein klösterliches Asyl erinnerte. »Dir genügt dieser schmucklose Raum. Dich kann das bunte Treiben nicht berühren, die Lust dich nicht berauschen, darum kennst du keine Täuschung, kein ernüchterndes Erwachen! Ruhig sitzest du hier und liest und träumst, fühlst dich befriedigt und verlangst nichts mehr. Weiß Gott, du bist ein glücklicher Mensch!«
Der bleiche Mann auf dem harten Holzschemel blickte auf den Bruder, der auf dem weichen Polster nachlässig zurückgelehnt, ein Bild ruhender Kraft und blühendsten Lebens bot. »Und solltest du nicht richtiger von dir sagen ›glücklicher Mensch‹«, fragte er. »Mir scheint, zu deiner lachenden Jugend paßt das Wort am besten. Warum aber nennst du mich so?«
»Warum?« fuhr der andere auf. »Warum? Weil du kein unbefriedigtes Sehnen mit dir herum trägst. Noch in diesem Jahre erhältst du die priesterliche Weihe und hast dann das Ziel erreicht, nach dem du strebtest. Gedenkst du noch unserer kindischen Spiele? Der Mutter roten Shawl hattest du um deine Schultern gehängt, aus Goldpapier war die Mütze gedreht, die du dir auf den Kopf drücktest, und in den hoch erhobenen Händen schwangst du stolz als Bischofsstab das Stöcklein des würdigen Kaplans, unseres Zuchtmeisters. Wie klopfte mir das Herz, wenn ich mit gefalteten Händen andächtig hinauf starrte zu dem großen Bruder, der in so feierlichem Schmuck auf den Katheder geklettert war und von da aus donnernde Worte an mich richtete! Wie lange wird es währen, so ist dein Kindertraum erfüllt!«
Ein Ton, wie verhaltenes Stöhnen, drang zu Horace, verwundert blickte er auf den Bruder, der noch bleicher geworden war als sonst, und schwermütig vor sich hinstarrte. »Habe ich dir nicht gesagt,« hörte er Gilbert murmeln, »man schafft sich nur Ideale, damit die Wirklichkeit sie rauh zerstöre. Ja, selig war die Knabenzeit, als ich noch in dem hohen Dome kniete! Wie Engelshymnen klang mir der Gesang der Chorknaben, und ich meinte die Weihrauchsdüfte, die mich umwallten, sollten auch mein kindisches Stammeln empor tragen zu dem Herrn. Ich sah wie die leichten Wolken, nebelhaften Geistern gleich, sich aufwärts hoben, höher und höher bis zu der gewölbten Kuppel hinan. Andachtsschauer durchrieselten mich und in heiliger Scheu wagte ich kaum die Augen zu erheben zu dem Bischof, der in der silberdurchwirkten Tiara am Altare stand, vor ihm die Schar der Chorknaben, die knieend das Rauchfaß schwangen. Die unzähligen Kerzen um ihn strahlten ein blendendes Licht aus und lockten flimmernde Funken aus der goldenen Bischofsmütze, die sein Haupt schmückte. Wie ein Gesandter des Himmels erschien er mir, wenn er segnend die Hände ausbreitete, und mein glühendes Herz kannte nur den Wunsch, einer der dienenden Priester zu werden, welche den heiligen Mann umringten. Ich sah die Jakobsleiter, deren Spitzen den Himmel berührten, sah in den Priestern die Engel Gottes, welche den armen Menschen eine Friedensbotschaft brachten und lautere Wahrheit aus dem Reiche des Lichtes. Aufwärts wollte auch ich steigen, von Wahrheit zu Wahrheit, von Klarheit zu Klarheit – und jetzt? ...
Ich habe mein erträumtes Ideal erreicht, ich werde Priester, und dabei habe ich einen tiefen Blick gethan in das Leben der Männer, welche als Spitzen unserer Kirche dastehen. Nun bin ich erwacht, nüchtern erwacht, um brennende Thränen zu weinen und mir auf den Knieen meine Blindheit zurück zu wünschen! Ich habe es erkannt, wie das ungeistliche Leben unserer hohen Prälaten der Kirche giftige Frucht trägt; denn wenn von oben herab ein böses Beispiel gegeben wird, so folgen die anderen bald nach. Das Volk kann nicht mehr die Männer als Gottes Boten betrachten, deren Wandel das Licht scheut, und somit wird der Einfluß der Kirche gelähmt, ihre Macht gebrochen, sobald ihre Disziplin verloren geht!«
Gilbert war aufgestanden, sein Blick hob sich wie ein flammender Stern aus den Wolken, die ihn verhüllten, die tiefe Blässe seines Gesichtes war einer brennenden Röte gewichen, das gewaltige Gefühl, das ihn durchglühte, belebte seine sonst so matten Züge. In heftiger Erregung fuhr er fort: »Wo das Wort Gottes im Munde des Priesters nicht im Einklang steht mit seinem Wandel, da gleicht es einer klingenden Schelle, einem Ruf in die Winde! Es konnte mein Herz nicht mehr entzünden, und vergebens suchte ich mir Kraft und Trost zu schöpfen aus den gepriesenen Reden dieser Männer.
Mit den härtesten Bußübungen peinigte ich meinen Leib, die strengsten Gelübde legte ich mir auf, aber keine Ruhe kam in meine gequälte Seele. Der Himmel, der mir so nahe schien in meiner Kinderzeit, wich zurück in unerreichbare Ferne!
Und das alles geschah, weil meine geöffneten Augen das weltliche Treiben derer erkannten, die meinem Innern Gesetze vorschreiben wollten. In meinem Innern wogt ein wirrer Kampf, und düstere Schwermut lähmt jeden freien Schlag des Herzens. In wessen Munde ist noch Wahrheit? Wo finde ich Kraft, wo Licht für meine umnachtete Seele?«
Schwer atmend ließ sich Gilbert auf seinem alten Platze nieder, die innere Erregung schien ihn zu ersticken. Er riß die Vorhänge zurück und stieß das Fenster auf, um tief Atem zu schöpfen. Eine Flut blendenden Lichtes strömte hinein, die Strahlen der Morgensonne umleuchteten wie mit einem Glorienschein das goldene Kruzifix und die Bibel auf dem Schreibpult.
Gilbert starrte auf das funkelnde Kreuz. »Soll mir das eine Antwort sein,« flüsterte er, »will der barmherzige Gott selbst mir den Weg weisen, wo ich Licht und Wahrheit suchen soll?« Er schwieg und Thränen rollten langsam über seine Wangen. »Es ist Tag geworden,« begann er nach einer kurzen Pause wieder mit klarer Stimme. »O, daß es auch in meiner Seele lichter Tag würde!«
Horace hatte mit Staunen den Bruder betrachtet. War das derselbe Mann, der sonst so ruhig, so völlig befriedigt schien? Welch ein Feuer flammte in seinen Augen, welche Glut sprach aus seinen Worten! Als Gilbert sich jetzt zu ihm wandte und ihn bat, die Worte zu vergessen, welche er in leidenschaftlicher Erregung gesprochen hatte, da wehrte Horace mit Entschiedenheit dem Bruder. »Du hast meine Seele aus dem Schlaf gerüttelt, in den der üppige Festrausch sie wiegte,« rief er, »auch der Vater richtete heute ernste Worte an mich und sprach von drohenden Wolken. Da meine ich, daß es auch für mich Zeit wird, ein Mann zu werden. Bei Gott, die ernste Zeit, welche ihr voraus zu sehen scheint, soll mich gewappnet finden, ich will als treuer Kämpe mit klarem Auge und festem Arm unerschütterlich zu meinem Könige stehen.«
Kühne Entschlossenheit und begeisterter Jugendmut leuchteten bei diesen Worten aus den Augen des Jünglings; Gilberts Blick ruhte voll Stolz und Liebe auf dem Bruder, der hoch aufgerichtet vor ihm stand, wie ein Recke aus alter Zeit. Er reichte ihm bewegt die Hand. »Gott helfe uns durchzuringen, einem jeden auf dem Posten, den der Herr uns zuerteilt,« erwiderte er feierlich.
Als die beiden sich endlich getrennt hatten, lag Gilbert noch lange auf den Knieen vor dem Kruzifix, dessen strahlender Lichtglanz ihm tröstend und verheißend in die Seele drang.