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»Jetzt wird's gut,« meckerte der Spielaumichel, sein Bocksbärtchen streichelnd und danach sein leeres Mostglas aus dem Fäßchen, das nun auf dem Tisch stand, frisch füllend.
»Ja, was ist denn das, was macht denn die auf einmal für Sprünge?« redete der alte Stump verwundert ins allgemeine Gelächter.
Dem alternden Bäcker Burket aber juckte und zuckte es in allen Gliedern. Das war einmal eine Gelegenheit, ans Röllchen zu kommen, das einem immer so nahe am Gesicht vorbeilächelte und so verlockend, und das einem doch immer wieder so unbegreiflich aalglatt entglitt, wenn man's zu fassen meinte. »Nein,« murmelte er in sich hinein, »ich tu's doch nicht. Nein, nie. Zwei Schritte weit brächte ich's auf dem Hag und würde ich alsdann hinunterpurzeln, so hätte ich zum Schaden noch den Spott. Der Spott aber ist einem bei den Weibern auch wieder ein Schaden und wohl der nachhaltigste. Ach, 's Donners doch auch, wäre ich nur um zehn Jahre jünger!«
So hielt er an sich als ein erfahrener, bestandener Mann und blieb auf dem Rasen liegen. Aber seine Selbstbeherrschung freute ihn gar nicht, als er nun sehen mußte, wie sich der Tschuppmoosjunge, des Battisten Bändichtli, der bei des Mädchens Aufruf wie ein aufgeschreckter Hase unter der Wettertanne aufgeschnellt war, auf den Hag hinstürzte und wie er alsbald und gar nicht schlecht mit tastenden bloßen Füßen dem Röllchen nachzugehen begann.
Aber zweimal purzelte er, zur großen Freude des Bäckers und unter dem Auflachen aller, ins Gras, denn er hatte sich eben im Marschieren auf dem Hag nicht so ausgebildet wie das Röllchen. Doch das kam ihm immer wieder in schönem Gleichgewicht wie der Glorienengel auf dem Galeriegesims zu Kilchaltdorf entgegen. Und nun besann er sich, tat weniger hastig und da machte er sich auch schon wieder, mit vorsorglich tastendem Fuß, dem nicht allzu eilfertig vor ihm hertänzelnden Mädchen nach. Also verminderte sich der Abstand zwischen ihnen immer mehr und es hätte noch allerlei geschehen können.
»Du Welthex', was stellst du denn an?!« lärmte jetzt unversehens der graue Hirte am Gütsch, der endlich aus seiner Verblüffung herausgekommen sein mochte. »He, heilige Mutter St. Anna, wer heißt dich denn auch schon Küsse feilhalten, du Knopf! Also der Reb willst du's nachmachen? Ja, Herrgott doch auch, das ist ein anderes, die Reb ist ein ganzes Frauenzimmer, fast hätte ich gesagt, ein ganzer Mann, die darf für ihre Küsse schon einen Kramladen auftun, aber du, ja, Röllchen, Kind Gottes, bist mir noch wohljung. Mindestens ein Jahr lang mußt du noch warten, denn ein Sträuchlein mag sein, was für eins als es will, wenn's zu früh blüht und sich gar zu sehr ans Licht macht, frißt's der Rauhreif. Also wenn du gern den Hag ausläufst, und das tust du ja fast jeden Tag eine Weile, so hab' ich nichts dagegen, jedoch ein Wettrennen auf dem Hag um Küsse ist bei uns sowieso nicht Landesbrauch. Und . . .«
Fast erschrocken hielt er an, denn bei einem Haar hatte der Bändichtli auf dem Hag das Röllchen erreicht, ja, zum Donner, jetzt streckte er schon die Hand nach seinen Zöpfen aus.
»Bursche, Tschuppmoosvogel,« lärmte er unwirsch, »jetzt mach', daß du vom Hag herunterkommst, du Lecker! Ja, du wärst mir der erste, von dem ich meine Töchter abküssen lassen möchte, du, noch so ein Grünling und dazu des Hühnerbäuerleins und Schuhmachers Battisten Bub.« Er hielt einen Augenblick inne, als er bemerkte, wie der gutgewachsene, flinke Junge auf seinen Anruf hin, hart vor dem Kuß, vom Hag fiel und sich erhebend, gesenkten Kopfes, düster, gedrückt, wie ein abgekanzeltes Hündchen, sich wieder unter die nahe Wettertanne zum alten, grinsenden Metzgerknecht schlich und niederlegte. Aber als er sah, wie auch seine Jüngste sich, ein Schmollmäulchen zeigend, auf den Hag hockte und wie die Judith halblaut sagte: »Ja, Vater, so schrecklich wäre jetzt das doch auch nicht gewesen. Der Bändichtli ist ja ein rechter Bursche und ein Knecht, wie man ihn sich nicht schaffiger wünschen kann, das können wir ja wissen,« ward er auch über die Judith und noch mehr über sich selber unwillig und schnauzte: »Ja, ja, ja, ihr Weiber müßt doch immer allem die Stange halten, was nicht grad eine Kirchenfahne ist und zum Guten reden, besonders wenn's um junges Mannsvolk geht. Aber gern oder ungern, ich sag's und dabei bleibe ich: das Röllchen ist noch nicht zeitig genug zum Küssefeilhalten, obwohl's schon von allen Seiten, zu früh, beim Strahl, Blust ansetzt.«
»Vater,« warf die Judith ein, »das weiß man doch hierlands von den Bergkirschenbäumen: die zuerst blühen und dann aber am langsamsten reifen, bringen zuletzt die süßesten Früchte, wahr oder nicht?«
»Judith,« sagte der Alte, der seine Tochter einen Augenblick sinnend angesehen hatte, »und wenn das Röllchen da auch zeitig sein sollte, was mir jetzt doch schier scheinen will, und wenn sie nach dem verliebten Geküß und Geschleck so gelüstig ist, daß sie meint, auf den Hag steigen und es aller Welt auskündigen zu müssen, so sollen ihr doch andere Ledige nachsteigen. Bauernsöhne, die nicht bloß eine zehnfränkige Knolluhr und ein Soldatenmesser im Sack haben. Kurzum, hier sind des Stumpen zu Haus und ich sag's, eine Stumpentochter zu küssen ist keine Knechtenarbeit. Hab' ich recht oder nicht, Bäckermeister?« wandte er sich an den Bäcker Burket.
Der Bäcker verzog zwar keine Miene, ja, er schaute bei des Hirten Anruf fast ernst drein, aber innerhalb spann und schnurrte seine Seele vor großem Behagen wie eine Katze hinterm Ofen. Als er jedoch sich anschickte zu antworten, gab's um ihn ein Auflachen und nun mußte er, wie alle die andern, auf den Schullehrer Beda Aloser schauen, der sich mit hängenden Armen und seinem dünnbehaarten Kopf, der ihm immer vornüber abzufallen drohte, aus der Gesellschaft weggemacht hatte und nun eifrig auf den Hag zustrebte.
»Ja, wo willst du denn hin, Beda?« rief ihm der Salami kreischend, hocherstaunt nach.
»Heja,« kam's dickschleimig, in Abständen, zurück, »wo könnte ich denn hinwollen? Auf dem Hag will ich dem Röllchen nachsteigen und seine Küsse einsammeln.«
Jetzt aber ging ein Gelächter um den Gütsch, wie's das Echo nicht oft hatte zurückgeben müssen. Heiland, war das eine Freude! Sie schwoll noch an wie ein Wasserfall im Donnerwetter, als das Röllchen sich erhob und auf dem Hag mit gar verführerisch geschürztem Mund hin- und herzutänzeln anfing und die Frische und Köstlichkeit seines ganzen Wesens dem herankommenden Lehrer zur Schau brachte.
»Ja,« meinte der Spielaumichel, sein Hakenpfeifchen am Tisch, auf dem er hockte, ausklopfend und die dürren Beine schlenkernd, »des Stumpenröllchens Küsse täte ich auch lieber sammeln als zugedeckelte Schnecken.«
Aber als der gute Beda Aloser, der infolge der ungewohnt reichlich eingenommenen blutschönen, so leicht eingehenden Tranksame, sozusagen vom Dampf auf den Hag zugetrieben ward, schon meinte dem Ziel seiner tiefgefühlten Wünsche nahe zu sein und mit gebührender Aufmerksamkeit die weißen Waden obsich auf dem Hag ihr anziehendes Spiel aufführen sah, nahte sich ihm das Verhängnis. Mit einemmal fühlte er sich am Kragen seines abgeschossenen Hochzeitsrockes gepackt und ob er wollte oder nicht, er mußte ganze Wendung machen und geleitet von der unwiderstehlichen Faust seiner Ehegattin Sulamith den Rückweg zur wonnetrunkenen Sippe machen.
»Wart', ich will dir durch den Grünhag gehen, du näschiger Geißbock!« kreischte ihn der wütende Salami an. »Wohl, das fehlte mir jetzt grad noch. Ich kann mich für dich jahraus und -ein plagen und abhunden, auf daß wir zu etwas kommen und du ein Herr, ein richtiger Herr, wirst, was ja bei deinem elenden Löhnlein ewig nie möglich wäre, und da gehst du und machst dich auf einmal, wie du ein wenig zuviel Wein hast, einer andern nach. Da wäre mir doch eher der Tod in den Sinn gekommen, als daß du mir nach der Richtung abkommen könntest. Ja, du bist mir ein schöner, Beda. Aber wart' nur, das will ich dir für immer abgewöhnen. Das weiß ich dann schon anzureifen. Wohl, du brauchst andern auf dem Hag nachzulaufen wie die Kater im Hornung. Wenn's dir so um Küsse zu tun ist, so weißt du, wo sie für dich haufensgenug auf Lager sind, denn da bin ich nicht ärmer als der Rolli, so wohlhabend als die Reb und reicher als die Mager. Und über der Judith ihre Munition kann dir der Viehhändler Auskunft geben, wenn er will. Sowieso, so geht man mit einer Stumpentochter nicht um, Beda. Sei du froh und dank unserm Herrgott beim Aufstehen und beim Abliegen, daß du mich bekommen hast, denn du bist mir lange genug, wenn auch nicht auf dem Hag, so doch wie eine Schnecke am Hag nachgeschlichen.«
Doch als der Jubel der andern so recht über sie kam und als sie seiner vollbewußt ward und gar des Vaters Stimme vernahm, der ihr zurief, ob sie denn des Teufels sei und ihrem Mann kein Schrittlein daneben im Räuschlein übersehen möge, verstummte sie wie aufs Maul geschlagen und begann ihren Lebensgenossen unversehens sänftiglich, ja zärtlich zu behandeln.
Aber ihre Vorwürfe und ihre kreischende Stimme waren so jählings, so lawinenmäßig über den Schullehrer gekommen, daß es bei ihm nicht mehr so geschwind guten wollte. Im Gegenteil, als sie ihn nun unter den andern im Grünen hatte, überkam ihn auf einmal der ganze Weltjammer und eine mit keinem Blei abzusenkelnde und zu erfassende Trostlosigkeit. Er kauerte da wie aus Lumpen gemacht und begann angelegentlich in sich hineinzuweinen, ohne daß er einen Laut hören ließ, aber die Tränen liefen ihm über die Backen und alle, die ihn mit lachenden Augen ansehen mußten, erwarteten jeden Augenblick, sein Gesicht werde wie ein allzunasses Pflaumenmus auseinanderlaufen.
Jetzt ward der Salami erst recht wild. Sie fauchte alles ringsum an; dem meckernden Spielaumichel zeigte sie gar die Zunge. Alsdann schleppte sie ihren Schullehrer unter den Tisch, zog ihm den Rock aus und legte ihn auf die Gitarre, sein Haupt draufbettend, das er nicht mehr zu tragen vermochte. Gar sorglich betreute sie ihn und bald hatte er sich in den Schlaf geweint.
»O Mutter, die Finken sind tot!« sang der alte Stump zu Salamis Verdruß und zur Freude aller andern.
Aber das Röllchen hatte die Handorgel wieder in den Händen und begann nun, zuoberst auf dem grünen Gütsch hockend, einen frohflüssigen Gautanz nach dem andern aufzumachen, wobei ihre Augen unter der Wettertanne weideten, wo der Tschuppmoosjunge bäuchlings lag und mit bekümmertem Gesicht alleweil und geradenwegs zu ihr hinaufsah. Aber das stille Lächeln in ihren blauen Augen wollte nicht vergehn. Sie schienen sich aus seinen Schwermütigkeiten nicht allzuviel zu machen.
Und als sich nun die Köpfe leise, merklich oder auch offensichtlich, zu wiegen und die Füße zu regen begannen, je nachdem es dem Zuhörenden innerhalb von der lüpfigen Tanzmusik her erdbebte, stand die Reb unversehens und sagte, den Metzger Balz Schwitter ansehend, der noch keineswegs der guten, ja frohen Laune der andern teilhaftig war: »Metzger, wie haben wir's jetzt, wir zwei, wollen wir noch einen Gang zusammen wagen oder hab' ich's dir etwa verleidet?«
Überrascht, bis in die Zehennägel hinunter erfreut, schaute der Metzger zur Reb, die gar angriffig, mit Augen, aus denen kein Mensch kommen konnte, vor ihm stand. »Ja, beim Eid,« machte er laut, »will ich's mit dir noch einmal wagen, zehnmal, wenn du's willst und was und wie du's willst.«
»Metzger,« sagte die Reb, »wenn's dir paßt und du nichts dagegen hast, so wollen wir miteinander durch die Wettertanne da nahebei hinaufsteigen. Und wenn du vor mir oben bist, so bleibt's beim versprochenen Kuß. Ich will ihn dir dann gewiß nicht absein; mitten in dein rotlachtes Gesicht hinein sollst du ihn bekommen. Bin aber ich vor dir zuoberst im Tannendolden, so kannst du dich acht Tage lang und drüber schämen.«
»Mach' doch nicht so Geschichten, was erfindest du denn heute noch alles,« sagte unwirsch der Salami, »laß doch den Metzger einmal in Ruh, bevor du dich ihm völlig verleidest.«
»Halt's Maul!« rief der alte Stump aus, »und laß mir die Reb machen. Sie weiß schon was sie will; die Reb ist die Reb. Und da wir nun einmal zum Festen hier sind, ist's doch wohl, beim Hagel, gut, wenn etwas läuft. Die beiden, die Reb und der Metzger, wollen eben wissen wer sie sind, bevor sie sich so recht Bescheid tun und auf Wiedersehen! sagen.«
»Gleichwohl,« meinte jetzt auch die Mager, »man kann alles übertreiben. Ja, die Reb übertreibt's, Vater, und vielleicht ist's den Metzger schon lange reuig, daß er selber da zu uns heraufgekommen ist, wenn er, es ist doch, bei Gott, wahr! seine eigenen Würste da oben auf der Ruchegg so im Schweiße seines Angesichtes essen muß.«
Der Alte lachte. »Das verstehst du nicht ganz, liebe, trockene Hagar,« redete er, »denn von dem allen steht nicht viel in den Legenden der Heiligen.«
Der Bäcker Burket schaute nicht ohne Wohlgefallen auf die Mager, deren ruhiges Wesen ihn anzog.
Aber die Stolzernbase meinte: »Laß sie machen, Mager, schau', das Reden nützt ja da doch nichts.«
So war's auch. Der Metzger Balz Schwitter und die Reb standen schon unter der prächtigen, weitausladenden Wettertanne, unter der sich der Bändichtli und der alte Fleischerknecht ziemlich widerwillig hervorgemacht hatten. Und nun gaben sie sich den Handschlag doch und sogar zum voraus.
»Bäcker Burket,« rief die Reb, »habt Ihr bisher den Kampfrichter gemacht, so macht ihn jetzt nochmals!«
Ja, der Bäcker war gern hiefür bereit. »Ich zähle drei,« sagte er munter werdend, »dann hinauf in die Tanne! Nehmt euch ein wenig in acht! Nicht daß ihr Hals und Beine brecht.«
Und langsam, schier feierlich, begann er, die Hand hebend, zu zählen: »Eins!« Sie maßen sich unter der Tanne mit einem geschwinden, lustigen Blick. »Zwei!« – Der Metzger schaute forschend in das allseitig schwer über ihnen lastende Dickicht hinauf, von dessen tiefer Dämmerung er allerlei küßliche Möglichkeiten erhoffte. »Drei!«
Da begann von zwei Seiten der Aufstieg in den gewaltigen Baum.
Der Metzger Balz Schwitter, so oft und so sehr er schon in alles mögliche Rauhe und Ungestrählte hinein mußte, eine Tanne hatte er noch nie erstiegen. Er hatte sich gedacht, es werde über die Äste so eine Art Leiter im Halbdunkeln geben, wie beim Aufstieg auf den Kilchaltdorfer Kirchturm. Ab und zu werde man auch ein bißchen den Kopf anschlagen, aber im ganzen werde das keine besonderen Schwierigkeiten haben. Er hatte keine Ahnung, daß eine Wettertanne aus lauter ungeschnittenen Tannreisbesen besteht. Nun mußte er's unliebsam erfahren, denn sie fuhren ihm zu Dutzenden ins Gesicht.
So kam's, daß er, kaum recht im Baum, schon rundum, auch überall da, wo er seiner Lebenstage nie eine Bürste zu spüren bekommen hatte, aufs gründlichste und unaufhörlich abgestaubt, ja gestriegelt und gestrählt ward. Er hatte es sonst keineswegs mit den Schellenlauten, obwohl er auch kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte. Nun aber ging's mit ihm durch und er hob an zu fluchen, daß die Base Anneseba aus der Stolzern und die Mager sich bekreuzten.
Der Spielaumichel aber sagte, freilich nicht zu laut: »Das kann einer jetzt schon merken, schon an der bösen Litanei an, die der Metzger betet, daß er aufs Tannenklettern nicht recht eingeübt ist. Mit einem Eichhörnchen könnte er's allweg ewignie aufnehmen.«
Es lachte niemand, im Gegenteil, es sahen alle in tiefstem Schweigen auf die gewaltige Wettertanne, in der es so lebhaft umging. Die beiden wunderlichen Vögel aber, die drin hausten, bekam man wohl etwa zu hören, aber kaum zu sehen.
Doch, hin und wieder zeigte sich jetzt die Reb. Man sah es wohl, sie hatte zu tun wie die Schmeißfliege im Heumonat, aber sie kam auch obsich. Sie wußte eben, wie man mit diesen ungebärdigen Fächern aus Tannreisern umgehen, sich gegen sie wehren mußte, daß sie einen nicht, wie der König Robeam die Juden, mit Geißeln und Skorpionen züchtigten. Mit kundiger Hand hob und lenkte sie das alles von sich ab. Wie eine Luchsin verstand sie's, überall durchzuschlüpfen und also aus der finstern Wettertanne eine leidliche Stiege zu machen. Zu oft hatte sie, in ihrer Kindheit schon, diesen alten, einsamen Baum am Gütsch erstiegen. Sie kam dem sichern, sich kaum regenden Wipfel näher und näher.
Der fluchende Metzger aber hatte es immer schwieriger. Es wollte ihn bedünken, so sapperlots habe er die Rute in seinen Lausbubenzeiten nie bekommen wie heute von diesem Baum. Nein, so konnte es nicht weitergehen. Diese Kletterei verleidete ihm ärger als einem Eichhorn der Umgang in einer Drille. Da hatte er sich von diesem Tannicht, in dem er nun steckte, gar mancherlei Wohlbekömmliches, ja allerhand Kurzweil und Lustbarkeit hinter den Kulissen und selbander versprochen und nun war's ihm wie einem wurmstichigen Apfel, zum Abfallen. Ja, beim Eid, sagte er sich nun, die Reb ist nicht nur baumstark und von Stahl und Eisen, sie ist auch ein durchtriebener Bursche, denn sie hat mich da zu einem Wettklettern hinzängeln können, das für mich zum voraus verloren war, was ich hätte denken können, wenn ich überhaupt ans Denken gedacht hätte. Ich habe eben nur die Reb vor Augen gehabt und nicht diese verfluchte, dreimal gottverdammte, wettertannige Kratzbürste. Und nun hat sie mich, wo sie mich hat haben wollen. Völlig bin ich ihr in die Falle gegangen und sie kann mich auslachen. Herrgott doch auch, mich so hereinzulegen, mich, den sonst die verschlagensten, spitzköpfigsten Bauern nicht so leicht erwischen. »Trotzdem,« machte er brummig in sich hinein, »nun will ich sie erst recht haben. Keine paßt so zu mir, wie diese Reb und keine hat mir's noch so gekonnt wie sie. Wenn sie mich nur besser leiden könnte! Aber dieser Wildling im Unterrock macht sich ja nichts aus den Mannsleuten. Und doch hab' ich schon gemeint . . . Himmelherrgottdonnerwetter noch einmal!« lärmte er laut auf, denn nun hatte ihn ein mächtiger Tannreisbesen fast hinabgefegt.
Unten meckerte es. Der Spielaumichel.
Aha, man lachte ihn also auch unterhalb und nicht nur oben aus. Ja, natürlich, das gehörte sich auch, es geschah ihm hundertmal recht, was hatte er sich so fangen lassen.
Er hockte sich, so gut es ging, auf einen Ast, um zu verschnaufen und vor den Tannreisern ein wenig Ruhe zu bekommen. Keinen Schritt wollte er weiter tun. Mochte man lachen, oben und unten. Den Hobel konnten sie ihm ausblasen. Er wollte einfach ein wenig ausruhen und sich danach nidsich machen. Höher hinauf sollte sie ihn nicht bringen. Mit den Küssen war's ja doch nichts. Statt der Küsse von der Reb hatte er von dieser hinterhältigen, groben Wettertanne, die so urväterfromm, so scheinheilig am Gütsch stand und tat, als ob sie nur die kleinen Vögel auf ihren Ästen singen und nisten lasse, die Rute auf die Fresse, ja auf den ganzen zündroten und verschwitzten Vollmond drum herum bekommen. Diese verflixten, abgefeimten Bauern! Nein, das hätte er sich bei dieser rauhwolligen, kurzangebundenen Reb doch nicht vorgestellt, die so fluhhart aussah, daß doch eine Höhle voll arger Füchslein in ihr verborgen sein könnte.
»Metzger!« rief's von hoch oben.
Ja, ruf du meinetwegen, dachte er ingrimmig; kannst lange warten, bis ich dir das Echo mache.
Und er begann, sich von seinem höchst unbequemen Hock zu lösen und sich abwärts zu lassen. Nun, gottlob, das ging doch etwas besser als beim Aufstieg, doch mußte er verflucht scharf aufpassen, daß sein Schuh keinen Ast verfehlte.
»Heda, da unten, Balz, was ist's denn mit dir, wo steckst du denn?!« lärmte oben die Reb. »Höher hinauf kann ich auch nicht mehr, denn sonst müßte ich in den Himmel hineinkommen, was nur den Toten erlaubt ist. Ich bin aber noch lebendig. So bleibe ich lieber da oben im Tannenwipfel hocken. Ich erwarte dich. Komm doch einmal, Metzger! Du hast doch vor mir oben sein wollen. Wie ist's, gefällt's dir in der Tanne da unten so ausnehmend wohl, daß du drin etwa gar schon zu nisten anfängst? Soll ich herabrutschen und dir dabei ein wenig helfen? Guggu, guggu, was für ein lahmer Vogel bist du!«
Sie lachte auf und auch um den Gütsch war ein Gelächter, aus dem man die Stimme des alten Stump aus allen heraushörte.
Da riß die übermütig gewordene Reb einen Tannzapfen aus dem leicht schwankenden Dolden des Baumes und ließ ihn fallen.
Ein kurzer Aufschrei unter ihr im Dickicht, ein Knacken und Rutschen und ein Lärmen und Schreien am Gütsch und schon lag der Metzger Balz Schwitter auf dem Rasen unter der Tanne und gab kein Lebenszeichen mehr von sich.
»Reb!« lärmte der hocherschrockene Stump. »Du bist wohl vom Teufel besessen, daß du dem Metzger Tannzapfen auf den Kopf fallen lassest. Steig herunter, du Wetterhexe, kannst ihn jetzt da unten auflesen.«
Alles umstand den abgestürzten Metzger. Er mußte wohl im augenblicklichen Schreck einen Fehltritt getan haben, als ihn Rebs Tannenzapfen traf.
»Er wird uns doch, will's Gott, nicht tot sein!« jammerte die Stolzernbase.
»Nein,« meinte jetzt der Bäcker Burket, der beim Metzger niedergekniet war und den Kopf an seine Brust gelegt hatte, »tot ist er gewiß nicht; es ist ihm einfach geschwunden und nun ist er ohnmächtig. Die Tanne hat ihn eben etwas hart fallen lassen. Er muß doch schon ein schönes Stück weit oben gewesen sein.«
Das Röllchen kam, das rote Doppelschälchen seiner zusammengehaltenen Hände schon voll Quellwasser, um den Gütsch gegangen und ließ es über des Metzgers Gesicht rinnen.
Nein, er regte keinen Finger, keine Wimper.
Die Frauen begannen zu klagen und zu schreien.
»Komm einmal herunter!« lärmte der Stump nochmals zornig in den Baum hinauf, in dem es mäuschenstill geworden war.
Ein Rutschen durchs Tannicht, und jetzt glitt die Reb hart neben dem wie leblos Daliegenden auf den Rasen.
Aber im Hui war sie wieder auf und bleich, wie sie noch niemand zu Berg und Tal gesehen hatte, bückte sie sich und wollte den schweren Mann, der da so unheimlich still vor ihr lag und dem sie also bös mitgespielt hatte, einfach auf die Arme nehmen. »Ich will ihn ins Haus hinuntertragen,« sagte sie.
»Bist du verrückt?« herrschte sie der Stump an. »Was fängst du denn an, wie solltest du den Metzger zu tragen imstande sein? Dazu braucht's zwei bäumige Männer. Jetzt schau' einer diese Reb an!« rief er aber gleich verwundert aus.
Wohl, freilich vermochte die Reb den Metzger zu tragen. Sie hatte ihn schon auf den Armen, wo er lag wie ein Knäblein aus der Riesenzeit. Er ward ihr zwar, allem Anschein nach, keineswegs leicht, aber sie behielt ihn und schritt mit ihm bedachtsam, streng atmend um den Gütsch und zum Ruchegghaus hinunter.
Der Alte mußte seiner Tochter nur so nachglotzen. Das war denn doch noch über seine Erwartung. Trotzdem ihm der Absturz seines Gastes stark auflag, war er doch nahe daran aufzujauchzen. Nein, was doch diese Reb für eine Kraft in sich hatte!
Unwillkürlich folgte auch er ihr, hinter der die alte Base Anneseba mit der Judith und der Mager hergingen, während das Röllchen geradezu auf das Ruchegghaus, in dem sie für den Metzger in der Töchterkammer ein Bett zurechtrichten wollte, zuzukugeln schien. Auch der Bäckermeister, der alte Metzgerknecht und der Tschuppmoosjunge machten sich ihnen bedrückt nach.
Es blieb nur der Salami zurück, die es mit ihrem Beda, dem Schullehrer, der Reb nachmachen wollte. Aber obschon sie auch ein kräftiges Stück Frauenvolk war, so brachte sie das mit ihrem viel leichtern Mann nicht fertig, was ihrer Schwester fast mit Selbstverständlichkeit geraten war. Nämlich, so oft sie ihren betrunkenen, nun allerlei durcheinanderstammelnden Beda auf den Armen hatte, ging er ihr wieder auseinander wie ein überladener Arm voll nasser Wäsche, und glitt auf den Rasen zurück. Und da ihm dieses Säuglingsspielen nicht recht zusagen mochte, kroch er unter den Tisch, wo sie ihn einfach liegen ließ, denn mit großem Unbehagen bemerkte sie, daß alles abgezogen war und wie auch der Spielaumichel, als letzter, aber seitwärts zu Tal, das Geschenk der Reb, den kaum angebrochenen Schinken unterm Arm, sich davonmachte.
»Schelm, Halunk'!« lärmte sie ihm nach.
Er schien aber diese Zurufe nicht auf sich zu beziehen oder er war sie zu gewohnt, als daß sie ihm besonderen Eindruck hätten machen können. Er schaute sich nicht einmal um und weg war er.
Einen Augenblick sah ihm der Salami sinnend nach, alsdann machte sie sich über den Tisch her und stopfte ihrem darunterliegenden Mann die weiten Rocksäcke mit den verbliebenen Schweinswürsten voll und danach nahm sie, ziemlich hastig, die letzte halbvolle Flasche Rotwein zu Handen und sich aufs Mostfäßchen, nahe zu ihrem Mann, der wieder eingeschlafen war, hockend, füllte sie sich ein Glas plattvoll. Also blieb sie hocken und vergaß den Festtag, seinen schlimmen Unterbruch und Welt und Zeit.
Und als jetzt der Abendstern im verglühenden Himmel ob den frischverschneiten Hochalpen stand, kam auch sie in ein kreischendes Singen, was ihren musikalischen Schullehrer aber mit Unruhe zu erfüllen schien, denn er begann, sich auf seiner Zupfgeige herumzuwälzen.
Die Reb aber hatte den Metzger Balz Schwitter ins Ruchegghaus getragen und es schien ihr doch zu wohlen, als sie den schweren Mann auf ihrem Laubbett in der Töchterkammer ablegen konnte.
Und als sie ihn nun mit ihren Schwestern zugedeckt und wohlgebettet hatte, machten sich alle vier Töchter in die Stube hinunter, in der sich's die Mannsleute, der alte Stump, der Bäcker Burket und der Viehhändler Baschitoni, der Mann der Judith, am Tisch vor dem Ofen schon einigermaßen bequem gemacht hatten. Den alten Metzgerknecht hatte der Bäcker in den Stall hinübergeschickt, wo er ihm sein Roß einspannen sollte, da er neben der Stolzernbase auch den abgefallenen Metzger auf sein Wägelchen aufladen und zu Tal mitfahren lassen wollte. Wo aber der Tschuppmoosjunge hingekommen sein mochte, kümmerte die Leute in der Stube einstweilen wenig.
Wie jetzt die Töchter eintraten, befahl der graue Hirte einen gutgezuckerten und recht bissigen Schnapskaffee. Während aber die Mager sich in die Küche verzog und das Röllchen die grüne, vielgebuckelte Krausle voll Bergkirschengeist vom Büfett nahm und die noch vorhandenen Kaffeebeckelein auf dem Tisch zu verteilen anfing, erhob sich die Base Anneseba aus der Stolzern und sagte, die Judith und die Reb bei den Händen fassend: »Kommt, wir wollen noch rasch vor dem Zunachten in die Mulde da beim Haus hinuntersteigen und zum hl. Wendel beten, daß er dem Metzger bald wieder auf die Beine hilft, denn das wäre ja schrecklich für ihn und für uns alle, wenn ihm doch etwas Ernstliches passiert sein sollte und schon schlimm genug wär's, sollte er nur etwas gebrochen haben, Komm, Judith komm, Reb!«
»Ja,« machte der Stump, dem man ansah, daß es ihm selbst die gewohnte Ofenbank nicht recht behaglich werden lassen wollte, »da hast du jetzt wieder einmal den Vogel abgeschossen, Anneseba. Geht nur hinunter! Es ist mir, der heilige St. Wendel sollte auf euch hören und euch jedenfalls nicht zuwider sein, wo wir ihm heute eine nagelneue Kapelle, die mich und andere einen schönen Batzen gekostet hat, eingeweiht haben. Auch kann er nicht sagen, daß wir ihm immer in den Ohren gelegen seien, denn es ist heute das erstemal, daß wir so geradewegs bei ihm um etwas anhalten. Und wenn's auch dasmal nicht fürs Vieh ist, so ist's doch für den Metzger Balz Schwitter, der auch allerhand mit dem Vieh zu geschäften und schon manchem Kalb aus der Welt geholfen hat. Ja, geht nur. Röllchen!« schnörzte er aber jetzt seine Jüngste an, »frag' die Mager, ob sie den Schwarzen bald einmal auftische oder ob sie die Kaffeebohnen zuerst aus Amerika kommen lassen müsse.«
Als aber die Stolzernbase und die Judith übers Stiegenbrücklein hinab vors Haus traten, sahen sie sich fast verwundert um, denn die Reb war verschwunden.
»Wo ist denn jetzt die Reb?« fragte die Judith.
»Sie wird schon nachkommen,« meinte die Alte, »wir wollen einstweilen in die Mulde hinunter.«
So machten sie sich denn miteinander in Röllchens Gartenmulde hinunter, in die sich schon die Schatten der Nacht hineinschlichen.
Irgendwo meinten sie etwas wie ein unheimliches Krächzen oder Puhuen zu hören. Kam's denn nicht vom Gütsch in der Hausmatte her? Es mochten wohl aufgescheuchte Krähen oder eine jagende Nachteule sein.
Seltsam war's nur, daß dabei der Judith ihre Schwester Sulamith in den Sinn kam. Wo mochte denn nun diese hingekommen sein? Sollte sie wohl noch mit dem trunkenelendigen Schwager Lehrer hinterm Gütsch hocken oder hatte sie angefangen, ihn gegen Erlenstalden hinabzuschleppen? Ja, man sollte doch nachsehen. Also gedachte sie nach der Vorsprache beim St. Wendel nochmals hinauf zum grünen Gupf des Festplatzes zu gehen und nachzuschauen, was mit ihrer Schwester, dem Salami und dem Schullehrer los sei.
Aber da standen sie ja schon vor dem weißen Heimkapellchen, hinter dessen Gitter man kaum mehr den doppelten Heiligenschein St. Wendels zu gewahren vermochte, obwohl sich jetzt der Mond hinterm Bärlauistock heraufließ.
In der Rucheggstube begannen sich der Alte vom Berge, der Stump, der Bäcker Burket und der Viehhändler Tritsch bei einem starkrüchigen höllschwarzen Kaffee allmählich von ihrem Schrecken zu erholen.
Der kleine Hirte konnte sich nicht enthalten, gestachelt vom heimlichen Feuerlein seines Bergkirschengeistes, ins Prahlen zu kommen. Und zwar fing er an, die Reb, die doch das Unheil des Kilchaltdorfer Metzgers verschuldet hatte, in allen Tönen zu rühmen, ja, wahrlich, in allen Regenbogenfarben malte er sie. Und was das für eine sei, wie's in der ganzen Eidgenossenschaft höchstens zwei gebe, aber die andere habe die Katze gefressen. Und wie sie ihm gleiche. Ausgenommen die Größe, sei sie von ihm wie abgeschnitten, der durch und durch ähnliche doppelte Matthias Stump, Stump, Stump!
Die andern hörten ihm zu. Der Viehhändler giltmirgleich, denn er war ja seines Schwiegervaters Art gewohnt, der Bäcker aber anscheinend aufmerksam, in Wirklichkeit jedoch ziemlich zerstreut, was der Alte freilich gar nicht merkte, denn er sah und hörte jetzt nur sich. Der Bäcker Burket aber ließ seine Augen bald dem Röllchen, auch etwa der Mager nachgehen, die sie ja bedienten oder sonstwie in der Stube zu tun hatten. Aber so sehr ihn auch die stille, selbstsichere Art der langen Stumpentochter, die gebückt in der getäfelten, niedrigen Stube umgehen mußte, anzog, und so wohl ihm ihr dreifacher Kranz dicker binsenroter Zöpfe gefiel, er mußte doch immer wieder von ihr weg nach dem umtunlichen Röllchen sehen, das nur so in der Stube herumglitt wie ein sagenhaftes Herdweibchen und von dessen blauen Augen es einem so schwindlig werden konnte, als verliere man plötzlich den Boden unter den Füßen und falle ins Blaue hinein.
Als jedoch die Mager völlig in die Küche abrückte und sich also das Röllchen den nimmermüden und immer deutlicher werdenden Blicken des Bäckers alleweil ausgesetzt sah, ward es ihr unbehaglich. Und noch weit unbehaglicher, als er sie einlud, sie möchte sich doch ein Zeitchen ausruhen und sich zu ihm an den Tisch setzen. »Es muß ja nicht grad auf die Knie sein,« meinte er lachend.
»Ja, hock' doch ein Zeitchen zu uns!« redete jetzt auch ihr Vater, dem's durch den Kopf ging, daß der Kilchaltdorfer Bäckermeister es auf seine Jüngste abgesehen hatte und dem es schmeichelte, allenfalls einen so wohlbestellten, weitum bekannten Dörfler zum Schwiegersohn gewinnen zu können. »Der Bäcker Burket beißt dich nicht, denn,« lachte er kurz auf, »er hat auch schon lange nicht mehr alle Zähne.«
Nein, Sackerlot, das hätte er ja wohl nicht sagen sollen, denn der Bäcker lachte ganz und gar nicht mit, sondern er machte eher ein Gesicht wie die Sonne, wenn sie Wasser zieht. Und als der Stump jetzt auch seine grauen Schläfen gewahrte, ward es ihm föhnklar, daß er seine vorherigen Worte nicht aus dem Buch der Weisheit geschöpft hatte.
Dafür lächelte aber das Röllchen. Und den Bäckermeister gradaus und ausgiebig ansehend, rückte sie flugs eine Stabelle an den Tisch und setzte sich ganz nahe zu ihm.
Aber als sich dieser der unerwarteten Annäherung so recht freuen wollte und als er seine Rechte allzu vertrauensselig und siegesgewiß um das lächelnde Mädchen legte, sprang es wieder auf und sagte hellauflachend: »Meister Bäcker, Ihr seid ein Lecker!«
Das fand nun wieder der alte Stump besonders lustig, denn er ließ ein Gelächter heraustrollen und rief aus: »Siehst du, Burket, was ich für Töchter habe, sogar reimen können sie. Ja, die Stumpentöchter, das ist noch Berglandgewachsenes, Rassiges, leiblicher- und geistigerweise, durch und durch, sag' ich dir, Bäcker. Und was das Röllchen anbelangt, das hat's vornehmlich im Kopf und der Enden. Da würdest du dich wundern, Burket, was die für Kalender machen kann und wie du dich vorsehen mußt, wenn du einer Katze und meiner Jüngsten auf dem Hag nachgehen und dabei nicht ums Gleichgewicht kommen und in eine schmutzige Regengumpe abfallen willst. Also das Röllchen hat's mit dem Geistigen. Aber sonst,« machte er fast geringschätzig, »sonst ist's mir, das muß ich schon reden, zu leicht. Siehst du, Bäcker, diese sonst so behende Eidechse da hat mir zu wenig Willen, darin ist sie mir, ich sag's grad, zu wenig Stump. Sie gibt mir und ihren Schwestern zu rasch nach. Das mag bequem liegen für Eltern und für einen Mann, der das Kommandieren gewohnt ist, aber Stumpenart ist das nicht. Wenn ich allen meinen Töchtern Meister geworden bin, so ist's, weil ich der Matthathias Stump bin, von Gott bestimmt oben am Tisch zu hocken und damit holla und fertig! Aber eines sag' ich dir: Es ist kein Schleck gewesen, diese Weiber wenigstens soweit zu zähmen, daß sie mich nicht ab der Stabelle zu lüpfen vermocht haben. Versucht hat es auf ihre Weise eine jede, und die Zunge hat mir nicht bloß der Salami herausgesteckt. Und sogar hinterrücks haben sie's etwa versucht, mir ein Bein zu stellen. Aber so klein mich unser Herrgott erschaffen hat, so gut hat er mich gesetzt, obwohl er kein Ofner ist. So sind sie gegen mich umsonst stößig gewesen. Gut, sie sind nun in ihrer Art auch wider mich und lassen sich nicht so leicht von diesem und jenem unter den Daumen nehmen. Hingegen das Röllchen, das hat mir nicht grad viel zu schaffen gemacht; da habe ich nur die Stumpenaugen ein wenig mehr als gewöhnlich aufmachen müssen, so hat's schon nachgegeben. Und ich muß es bekennen, ich hätte meine Jüngste hin und wieder lieber querköpfiger gehabt, denn auch sie muß die Welt und ihre scharfen Ecken nehmen, zu nehmen suchen. Dir, Bäcker, oder wer mein Kind bekommt, dem möchte es dienen, daß sie so gar keinen Willen hat, aber noch lange nicht immer, denn eine willensstarke Frau ist für den Mann eine Handhabe und ein Trost und ein Segen für die Kinder, für die Buben und für die Töchter erst recht. Deswegen braucht eine ja noch lange kein Hammer und keine Zange zu sein, aber noch weniger sollte sie sein wie zerlassene Butter. Also mich plagt's doch ein wenig, daß sie nicht genug eigenkräftiges Stumpenblut hat.«
Das Röllchen aber hatte ein Scheiblein im Fenster zurückgeschoben, durch das, mit der eindämmernden Nacht, eine kühle, erfrischende Hochweidluft in die Stube hereinquoll. Alsdann erwischte sie ihre Handorgel, die merkwürdigerweise auf dem Büfett gelegen war und mit ihr hockte sie sich, unsichtbar für die andern um den Tisch, hinter den Ofen auf einen Stiegentritt und begann einen Walzer zu spielen.
Aus der völlig dämmerhaft gewordenen Mulde machte sich jetzt die Stolzernbase mit der Judith. Sie hatten dort ein paar Vaterunser für den verunfallten Balz Schwitter und für die armen Seelen gebetet und dann ein Weilchen auf die Reb gewartet. Als sie jedoch nicht kam, waren sie wieder davongegangen.
Und nun stiegen sie aus der Mulde zum Gehöft hinauf. Wie sie in die Hausmatte kamen, mußten sie verwundert anhalten.
Unmittelbar vor ihnen ging einer, mit hochgestreckten Beinen, auf den Händen um den da und dort ein wenig überfließenden Brunnen und es sah, wahrhaftig, völlig so aus, als ob er zur Tanzmusik, die aus dem offenen Fenster der Rucheggstube kam, köpflings tanzte. Ja, rings um den Brunnen tanzte er. Und der Mond schien ihm auf die hochgestellten Schuhe, daß die Nägel dran schimmerten.
»Jetzt schau' dazu, Judith,« rief die Stolzernbase aus, »jetzt tanzt der Herrgottsdonner, dieser Tschuppmoos Bändichtli, schon wieder auf den Händen! Etwa ein halb Dutzend Beine müßte also dieser Hupfauf gewiß haben, bis er sich einmal für eine Zeitlang austanzen könnte, ah, ah, ah!«
»Freilich,« meinte mit munter sprudelndem Lachen die Judith, »oder doch wenigstens zwei Beine von der Tochter einer andern Mutter sollte er haben, die mit ihm gern tanzen täten.«
Jetzt lachte die Alte auch auf, ja sie wußte sich vor Vergnügen nicht zu lassen. Als sie sich jedoch nach dem kurzweiligen Handtänzer umsah, war der weg.
Aha, dort stand er schon im Halbdunkel vor dem Stall beim alten Metzgerknecht, der des Bäckers Roß einzuspannen begann.
Heiter gestimmt und den abgestürzten Metzger vergessend, machten sich die zwei Frauen übers Stiegenbrücklein hinauf ins Haus hinein, wobei die stolzgebaute, breitschulterige Judith ihre zwar beleibtere, aber kleinere Base völlig verdeckte.
Wie sie nun in die Stube hineinschritten, konnten sie eben hören wie der Stump, seinen grauen, verwilderten Kopf unwillig hochhebend und die mutige, rundliche Stirn furchend, dem Röllchen, das sich im Ofenwinkel mäusleinstill verhielt, sein Handorgelspiel verwies. »Ich habe es jetzt da nur zu wenig beachtet,« redete er unwirsch, »sonst hätte ich dir das Handorgeln früher abgeknöpft, du Fratz! Wer wird denn also tanzaufspielen, wo wir den abgefallenen Metzger im Haus haben. Wenn ihm, gläublich, allem Anschein nach, auch nichts Schlimmeres passiert ist, so kann er vielleicht doch irgendeinen heimlichen Schaden innerhalb davontragen. Jedenfalls wollen wir zuerst wissen, wie's mit ihm eigentlich steht, bevor wir wieder deine Tanzmühle anlassen.«
»Es ist ihm heilig und gewiß nichts geschehen,« machte ruhig der Viehhändler, »dafür hat er zu feste Postur um und um. Auch ist er zum Glück auf den Rasen gefallen.«
»Am End' könnte ich aber doch hinaufgehen in die Schwesternkammer und schauen, was mit ihm los ist,« meinte die Judith. »Es ist mir, man sollte jedenfalls einmal nach ihm sehen.«
»Nein,« warf die Base Anneseba ein, sich am Tisch niederlassend, »das tut jetzt einstweilen nicht. Laßt ihn schlafen, so erholt er sich am raschesten und dauerhaftesten. Dann kann man immer noch sehen, was allenfalls zu machen ist.«
»Röllchen,« lärmte der Hirte, »stell' ein Kaffeebeckelein, zwei, auf den Tisch! Die Base da und unsere Judith sollen auch einen Schluck Schwarzen haben, so kommen sie wieder zu einer normalen Temperatur, sagt der Erlenstalder Sigrist.«
Aber die Mager erschien schon mit der großen Blechkanne aus der Küche.
»Im übrigen,« redete der Stump weiter, »hab' ich's mit der Base Anneseba. Laßt den Balz Schwitter liegen. Der Schlaf ist ein guter Doktor. Will einem der nicht mehr ins Haus kommen oder in die Kammer, so schaut einem schon der Tod ein wenig durchs Schlüsselloch. Dennoch, wir wollen für den Metzger das Beste hoffen. Wer gescheit ist, prophezeit immer gutes Wetter. Sowieso muß mir dieser Gast über Nacht bleiben. Da gibt's nichts anderes. Heda, laß dich auch zu Tisch, Judith!«
Also schenkte die Mager den zwei Frauen ihre Kaffeebeckelein topfebenvoll mit der schwarzen, kräftig geschnapsten Tranksame, die sie in ihrer großen Kanne hatte.
Das Röllchen stellte sich ans Fenster und schaute durchs offene Scheiblein in die Nacht hinaus und hinüber zur mondbeschienenen Scheune.
Oben aber in der Kammer der Stumpentöchter, wo der abgestürzte Balz Schwitter lag, war lauter Freude.
Die Reb war also, als ihre Base Anneseba und ihre Schwester Judith zum Heimkapellchen hinuntersteigen wollten, auf dem Stiegenbrücklein zurückgeblieben und dann hatte sie sich, allseitig sichernd, ganz ihrem sonstigen Tudichum entgegen, leise über die krachende Treppe hinauf an die Kammertüre geschlichen, hinter der sie sonst selber zu nächtigen pflegte. Die Schuhe, die sie unten abgezogen hatte, stellte sie neben der Türe an die Wand und horchte angestrengt durchs Schlüsselloch hinein.
Als sich drin nichts regte, tat sie behutsam auf, und die Türe gleich wieder zunehmend, machte sie sich klopfenden Herzens auf ihr Bett zu, auf das sie den Metzger gelegt hatte und drin er jetzt wohl schlief.
O ja, das sah sie schon, er schlief und trotz der starken Dämmerung konnte sie auch wahrnehmen, da der Mond einen silbergewirkten, zitternden Läufer über das Bett legte, daß er seine roten Backen wieder gefunden hatte.
Gottlob, gottlob! jauchzte es in ihr. Nein, nun hatte er ihretwegen doch nicht todfallen müssen. Es wäre zu schrecklich gewesen. Die andern, die ja nur Hartholz an ihr sehen wollten, konnten keine Ahnung haben, wie es bei ihr innerhalb auszusehen gekommen war.
Lang atmete sie auf. Jetzt war doch alles gut. Viel hatte es ihm wohl nicht geschadet, da er schon wieder so gut aussah und immer besser, wollte sie bedünken, je näher sie ihm auf leisen Barfüßen kam. Und sollte er auch eine Zeitlang liegen müssen, da oben auf der Ruchegg, nein, sie würde ihn gewiß nicht vernachlässigen. Was an ihr lag . . .
Und nun, o ja, du heiliges Verdienen, nun hatte er sie doch dazu gebracht, daß sie ihm einen Kuß geben mußte. Auf eine ganz andere Art freilich zwang er sie dazu, als sie's sich gedacht hatte. Mit tausend Freuden wollte sie ihn nun küssen, ihn, der sich so durch und durch als Mann gezeigt hatte und der ihr so unentwegt . . . Nein, sie mochte es jetzt nicht ausdenken. Schnell, nur schnell den erzwungenen Kuß abgetan und dann wie der Blitz wieder zur Kammer hinaus.
Da, sie wischte den Mund mit dem weißen Hemdärmel ab, stand sie ja bei ihm. Und jetzt neigte sie den Kopf ein wenig, aber seine roten, schwellenden Lippen, die zu warten schienen, schreckten sie zurück. Ein Zittern überkam sie, wie sie's ihr Leben lang noch nie erfahren hatte. Es ging ihr windschnell die Geschichte durch den Kopf vom starken Hans, der das Gruseln erlernen wollte und es wie sie fast nicht fertig brachte. Jetzt aber, ja bei Gott, überlief es sie wie ein Geschwemm Wassern voll kalter Frösche, es gruselte sie bis ins letzte Härchen hinaus. Dennoch, es mußte sein, sie war ihm's schuldig. Rasch ließ sie sich über den Schläfer hin und küßte ihn herzhaft auf den Mund.
»Juu!«
Da hatte er sie schon mit beiden Armen um den Hals und hing sich mit Leib und Seele an sie und küßte sie wo er hintraf, daß es schnalzte. Und sie vermochte nicht, sich ihm zu entreißen; ihre außergewöhnliche, gottverliehene Kraft mußte völlig von ihr genommen worden sein.
Also ergab sie sich, und so hatten sie sich.
Als nun gleich danach die Mager, lang wie ein Nachtschatten und gespenstig still, in die Kammer hineinkam, sah sie ihre starke, eisenmäßige Schwester am Bett beim verunfallten Balz Schwitter knien. Aber ihr Haupt lag in seinen Armen und er küßte es soviel er wollte, und er wollte viel.
Was aber die Mager am meisten überraschte und es ihr völlig verschlug, war das wahrhaft plärrende, aber von Herzen kommende Weinen ihrer Schwester. Ja, das war ihr etwas ganz Neues, denn sie konnte sich nicht erinnern, daß sie die Reb jemals anders als aus unbändiger Wildheit, aus Zorn, hatte weinen hören.
Die beiden merkten sie gar nicht. Noch einen langen, nicht ganz neidfreien Blick tat sie noch in das Glück der Reb, ihrer jüngern Schwester, danach drückte sie sich wieder zur Kammer hinaus, die Türe sachte, ja sänftiglich hinter sich zunehmend.