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Nach einer Pause von zwei Jahren und drüber fahre ich endlich fort, über Physiognomik drucken zu lassen. Darüber gedacht und geschrieben habe ich indessen sehr oft. Hätte ich eine größere Meinung von mir selbst, als ich wirklich habe, so würde ich die Ursache meines langen Stillschweigens vielleicht angeben: allein Schriftstellern von meinem Range geziemt es, dünkt mich, besser zu sagen, warum sie drucken lassen, wenn sie wirklich drucken lassen, als warum sie schweigen, wenn sie geschwiegen haben. Die Veranlassung zu dieser und der künftigen Fortsetzung meiner Gedanken über Physiognomik ist hauptsächlich eine Aufforderung eines, wie ich weiß, einsichtsvollen Rezensenten meiner Kalenderabhandlung in der allgemeinen deutschen Bibliothek. Er wünscht von mir die Ursachen zu vernehmen, die mich so sehr abgeneigt von Physiognomik gemacht hätten. Gut. Ich will sie ihm alle angeben, mit so vieler Deutlichkeit, als meine Einsichten verstatten, und mit so vieler Kaltblütigkeit und Ruhe, als mir die erhabenen Seelen lassen werden, die sich so gern in fremde Streitigkeiten mischen, ohne dadurch die Frage der Entscheidung, oder die Parteien dem Vergleich, näher zu bringen, oder selbst ohne einmal die Frage zu verstehen.
Allein hier kann ich unmöglich unterlassen (und man würde mir es verdenken, wenn ich es unterließe), alles dasjenige etwas umständlich zu erwähnen, was mir drei Gelehrte von sehr ungleichen Einsichten in dieser Materie, Herr Mendelssohn, Herr Lavater und Herr Hofrat Zimmermann gegen meine Gedanken teils eingewendet haben, teils eingewendet haben sollen. Was würde es mir helfen, fortzufahren, ohne das, was sie mir in den Weg gelegt haben, so weit wenigstens bei Seite zu schaffen, als ich kann? So ist doch Hoffnung weiter zu kommen, allein ohne dieses liefe ich Gefahr, aller Sorgfalt ungeachtet, umzuschmeißen. Überdies hoffe ich selbst durch meine Antwort auf diese Einwürfe schon vorläufig dem Verlangen des berlinischen Rezensenten so weit ein Genüge zu tun, als ihm bei dieser Gelegenheit nur von mir geschehen kann.
Um alles desto besser zu verstehen, will ich hier eine kleine Geschichte des an sich unbeträchtlichen Streits einrücken.
Als im Jahr 1777 im Sommer Niedersachsen von einer Raserei für Physiognomik befallen wurde, die allen Vernünftigen, welche wußten, mit was für unermeßlichen Schwierigkeiten die Sache verbunden ist, abscheulich vorkommen mußte, so dachte ich, dem nach Herrn Professor Erxlebens Tode die Ausgabe des hiesigen Taschenkalenders aufgetragen worden war, ich könnte den Kalender nicht nützlicher machen, als wenn ich einige Mittel gegen diese Seuche darin vorschriebe, indem ich dem gemeinen Haufen zeigte, daß man wenigstens behutsam verfahren müßte, und daß man den Menschen aus seiner äußern Form nicht so beurteilen könnte, wie die Viehhändler die Ochsen. Ich suchte zu zeigen, daß bei einem so unergründlichen Geschöpfe, als der Mensch, das unter übrigens gleicher Anlage, durch Kunst über alles, was wir jetzt wissen, verschlimmert und verbessert werden könnte, aus seiner äußern Form urteilen wollen, was es sei, nicht viel weniger wäre, als weissagen. Man könne es freilich in dem äußersten Falle, aber man könne auch in dem äußersten Falle weissagen. Das, was so viele Leute für Physiognomik einnehme, sei eigentlich das Pathognomische, und die Bewegung beweglicher Teile. Aus ruhenden Gesichtern lasse sich wenig oder nichts urteilen, und das wenige sei pathognomisch. Was die festen Teile angehe, so könne man vielleicht in dem alleräußersten Falle, auf monströse Genies und monströse Dummköpfe etwas schließen, aber für die meisten, mit denen wir zu tun haben, lasse sich nichts finden. Das waren teils meine Worte, teils der Sinn derselben. So wenig sich aber hieraus eine wissenschaftliche Prophetik würde festsetzen lassen, so wenig werde man je zu einer wissenschaftlichen Physiognomik gelangen. Ja noch weniger, denn eine neue Physiognomik werde einen neuen Menschen schaffen, so wie eine neue Verteidigungsart eine neue Befestigungskunst. Und endlich widersetzte ich mich dem fast an Torheit grenzenden Einfall: Harmonie zwischen dem, was die Welt, z. E. das Frauenzimmer, Schönheit, und dem, was sie Verstand und Tugend nennt, zu suchen. Alles dieses schrieb ich in einigen Morgenstunden zusammen, von der Hand weg zur Presse, so daß ich zuweilen, um fortfahren zu können, mein Manuskript wieder aus der Druckerei holen lassen mußte.
Ich habe wissentlich niemand besonders darin gemeint; freilich sprach ich von Schwärmern, allein die Schwärmer waren auf Tausende angewachsen, und daß man meine Ausdrücke so sehr auf einen gewissen Mann deutete, war, dünkt mich, ein sicheres Zeichen, daß man überzeugt war, der gewisse Mann sei ein Schwärmer. Kaum war der Kalender so lange ausgegeben, als Zeit nötig ist, für einen Brief von Hannover nach Zürich und von da wieder zurück zu laufen; so wurde ich von einer dritten Hand benachrichtigt, meine Abhandlung werde derb und kräftig widerlegt werden, und bald darauf erhielt Herr Dieterich einen eigenhändigen Brief vom Herrn Hofrat Zimmermann, die Antiphysiognomik werde derb und kräftig widerlegt werden. Weil immer bloß von derb und kräftig geredet wurde, und nichts von Gründlichkeit vorkam, so dachte ich: sollte wohl der Herr Hofrat gar selbst Hand anlegen wollen? Ich wußte, Deutschland sah auf ihn als – wenigstens den jetzigen weltlichen Arm der Physiognomik, und seine herkulische Laune, die sich leicht, wenn er seinen Stolz gekränkt glaubt, sogar ins Rohrsperlingische zieht, war mir bekannt.
Einige Monate darauf, ich glaube es war im Februar 1778, bekam ich auch wirklich Nachricht, der Herr Hofrat würde im deutschen Museum die Begriffe über die Harmonie von Schönheit und Tugend deutlich aus einander setzen, und meine Behauptung widerlegen. – Allein – – ich weiß nicht warum; ich lächelte bei dieser Nachricht. Denn ich muß bekennen, kräftige Widerlegung erwartete ich nun täglich aus diesem Quartiere, allein Auseinandersetzung der Begriffe, und zumal eine deutliche, die erwartete ich schlechterdings aus diesem Quartiere nicht, denn ich wußte, der Herr Hofrat hatte keine Zeit dazu. Was ich gemutmaßet hatte, traf ein. Ein Freund, der besser in der Sache unterrichtet war, schrieb mir, Herr Mendelssohn würde die Begriffe von Harmonie zwischen Schönheit und Tugend deutlich auseinander setzen, und Herr Hofrat Zimmermann, der Mendelssohns Abhandlung von Berlin erhalten hätte, bloß eine Einleitung dazu machen. Nun verstand ich die Sache und glaubte sie auch. Denn Begriffe deutlich auseinander zu setzen, ist gemeiniglich sehr schwer, und Einleitungen dazu zu schreiben, gemeiniglich sehr leicht. Jetzt war alles klar. Ja, ich freute mich herzlich, zu sehen, daß die Physiognomen, und namentlich der Herr Hofrat, nach so vielen nicht sehr fruchtbaren Bemühungen, Prachtphrasen und Silhouetten, nach einem mehr politischen als wissenschaftlichen Plan, nach Zürich zu schicken, endlich anfingen, sich deutliche Begriffe von Berlin zu verschreiben. Meine Begierde nach der Abhandlung des Herrn Mendelssohn war indessen außerordentlich. Schaden konnte sie mir schlechterdings nicht. Denn alles, was ich im äußersten Fall erwarten konnte, war – – daß ich etwas lernte, und wenn das nicht Vorteil ist, was in der Welt ist Vorteil? Der März des Museums erschien, und fürwahr, als ich ihn erblickte, so konnte ich meinen Augen nicht trauen. Eine Einleitung, voll Unverstand, knarrender mühsamer Schweizerprose, Sticheleien, auf mich, die von dem roten Kamm, und dem sich gekränkt glaubenden Hochmut des Schreibers zeugten, unbestimmtes, superlatives Lob von Mendelssohn, so wie es jeder Primaner austeilen kann, der Herrn Mendelssohn aus Rezensionen kennt, Klatschereien über Göbhard, Timorus und Philadelphia, die Wörter Maulaufsperren, von einem hannoverischen Publikum, das den Schreiber sehr weit übersieht; Kalendermacher, von mir, da alles mit dem Kalender eigentlich nichts zu tun hatte; und Knips für mich, von einem seichten elenden Wirrwarre von Abhandlung im Merkur Herr Hofrat Wieland, der Herausgeber der Abhandlung, hat mir in einem der folgenden Stücke ganz unaufgefordert deswegen alle die Gerechtigkeit widerfahren lassen, die ich von einem so einsichtsvollen und unparteiischen Manne verlangen konnte, von der dem Herrn Hofrat vermutlich von seinen Vertrauten aufgebunden worden war, sie sei derb und kräftig. Das war die Einleitung. Hinter drein folgte die Abhandlung, aus der ich zwar nichts Neues gelernt habe, aber es ging alles darin auf den Punkt, und alles war in der logischen Ordnung, mit der Einsicht und dem allgemeinen Wohlwollen abgefaßt, das den rechtschaffenen Mendelssohn auszeichnet. In der Tat, wenn ich alles so zusammen nehme, Einleitung und Abhandlung; so muß ich bekennen, ich habe in meinem ganzen Leben nur ein einziges Mal etwas Ähnliches gesehen, und das war – – ein Psalter hinter einem Eulenspiegel gebunden. Der Ausdruck ist hart, allein die Leser getrösten sich nur, ich will alles, alles beweisen. Nicht mit Aussprüchen anderer Gelehrten über diese Schriften, denn wenn ich die vorbringen wollte, so wäre kein Ende. Ich verachte diese Schülermethode, zu disputieren, und ich müßte sehr gereizt werden, wenn ich andere mir ehrwürdige Namen in diesen Streit ziehen sollte. Ich will die Leser in den Stand setzen, selbst zu richten. Allein dafür bitte ich mir etwas von ihnen aus: sie müssen schlechterdings keinen Namen ansehen; die sind nichts. Man muß nicht, wie ein französischer Abbé oder ein englischer Clerk darauf sehen, wer etwas sagt, sondern was er sagt. In Deutschland ist ja ohnehin bei dem eingerissenen Journal- und Zeitungslesergeist, der Ruhm eines schönen Schriftstellers das schnödeste Gut der Erde. Mit etwas Korrespondenz, panegyrischen Prachtbriefen, und einem schicklichen Wiederräuchern des Räucherers, erwerben sich Tausende eine kleine Ehrenwache vor ihr Häuschen, und den Namen eines schönen Geistes. Am Ende ists bloßes Kellereselsglück. Auch die heißen Tausendfüße und haben eigentlich nur vierzehn. Das macht, der eine kann nicht zählen, der andere sieht nicht ein, warum er zählen soll, und der dritte mag des verhenkerten Füßelns wegen nicht zählen. Der Naturforscher, der indessen gezählet hat, sitzt stille, ändert wohl gar den Sprachgebrauch nicht einmal, und denkt im Herzen: Der Tausendfuß hat nur vierzehn Füße.
Nun, ehe ich zur Sache schreite, nur noch ein paar Anmerkungen. Als ich die Einleitung erhielt, so dachte ich doch wieder, das hat Zimmermann nicht geschrieben, sollte der Mann, der dich wohl ehemals seinen Freund nannte, und dich gar einmal zu seinem Vertrauten machte, den du wissentlich nie beleidigt hast, der dich ehemals so impertinent lobte, sollte dich der jetzt gleich so impertinent tadeln, ohne dich in Briefen, die er dir sonst wohl ohne Ursache schrieb, zu warnen, oder, wo du geirrt hast, zum Widerruf zu bewegen? Du hast zwar gegen Herrn Lavater geschrieben, aber was geht das ihn an? Herr Lavater kann sich ja selbst verteidigen. Und welcher vernünftige Mann wird denn seinen Freund so verteidigen? so verteidigt ein Lakai oder ein Pajazzo seinen Herrn. Kurz, ich dachte, es wäre Göbhard zu Bamberg, und in dieser Meinung wurde ich bestärkt, als ich die Noten zum ersten Stück im April Des Deutschen Museums von 1778. las. Ich setzte mich gleich hin und schrieb meinen dritten Brief an Göbhard, und diesen Brief ließ ich drucken. Nachher dachte ich, sollte wohl Herr Boie gegen mich, seinen Freund, seinen treuen, und wenn die Urteile einiger Richter nicht trügen, nicht ganz unbeträchtlichen Mitarbeiter am Museum, solches einfältiges Zeug ins Museum einrücken lassen, wenn der Verfasser kein anderer Mann wäre, als Göbhard? Das gab mir Veranlassung zu einem Avertissement in dem Hamburger Correspondenten (vom 8. Juni 1778. Nro. 89). Dieses Avertissement ließ nun Herr Hofrat Zimmermann wörtlich in das deutsche Museum (Monat Julius 1778) einrücken, und gestand, Er, Er sei der Verfasser, nicht Göbhard. Ich hatte im Avertissement gesagt, der Verfasser von der Einleitung habe Mendelssohns Abhandlung nicht verstanden, schlechterdings nicht, und in den Noten herrsche eine Bostonische Laune. Allein ganz nach seiner bequemen Art erwiderte der Herr Hofrat hiergegen nichts, vermutlich fehlte es damals gleich an Phrasibus und an Zeit zur Untersuchung, sondern unten stand statt alles andern bloß von oben herab: Johann Georg Zimmermann, Königlicher Großbritannischer Hofrat und Leibarzt zu Hannover. – Quod erat demonstrandum, schrieb ich mir in meinem Exemplar dazu. – Allein um aller Welt willen, kann denn ein königlich großbritannischer Titularhofrat und Leibarzt zu Hannover nicht einfältiges Zeug schreiben? Kann, frage ich, ein königlicher großbritannischer Titularhofrat und Leibarzt zu Hannover nicht irren? Auch alsdann nicht, wenn er sich in Fächer begibt, wo sich die Natur nicht hilft? Wie? Ich sollte es denken. Ich weiß es wohl, die Vorgänger des jetzigen Herrn Leibarztes haben sich dieser allgemeinen Freiheit aller Schriftsteller nie bedient, allein Dieser hat es, ohne jetzt weiter zurück zu gehen, nicht allein in dieser Einleitung und Noten, sondern noch neuerlich in seinen herausgegebenen Tischreden so augenscheinlich bewiesen, daß, glaube ich, kein vernünftiger Mann in Deutschland mehr daran zweifelt; und sollte irgend ein vernünftiger Mann noch daran zweifeln, so bitte ich ihn mich aufzufordern, ich will ihm auf Ehre entweder sagen, warum er zweifelt, oder ihn überführen. Allein zu Richtern verbitte ich mir alsdann einmal für allemal alle Matronen, alle Kraftbarden, alle Ordokrafen und hauptsächlich alle die noch Jünglinge sind, oder die es schon wieder zu werden anfangen. Und ich will meinerseits, wenn ich es nicht tue, willig allen Anspruch auf Geschmack und Witz aufgeben und bekennen, daß ich nicht verstanden habe, was mir meine hiesigen Lehrer und Freunde je von Witz und Geschmack gesagt haben. Sind diese Bedingungen nicht billig? – – –