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Das Reich Gottes ist grundanders als alles, was man auf der Erde Religion nennt.
Was heißt Reich Gottes? – Einem denkenden Menschen muß auffallen, daß Jesus, wenn er überhaupt redete, nur über einen einzigen Gegenstand sprach. Es scheint an sich, daß er mehr gehandelt als geredet, mehr Zwiesprache mit einzelnen gepflogen als öffentliche Darlegungen gehalten hat; aber wenn er zu den Massen redete, dann begann er wohl stets: Im Reiche Gottes ist's so – und erzählte eine Geschichte, die jeder stets erleben konnte, als wollte er sagen: Ihr lebet doch und erlebt alle Tage irgend etwas. Das Reich Gottes ist auch nicht anders wie einfaches Leben und Erleben.
Nun ist eigentümlich, daß im Laufe der Zeit die Menschen versucht haben, ihm alles nachzumachen. Sie reden ihm auch alles nach. Mit seinen wunderbar feinen Sätzen und Sprüchen gehen sie um, als wären es Wurfgeschosse, nur hingelegt, um gegen diesen oder jenen einzelnen oder ganze Richtungen geschleudert zu werden. Aber eines ist anscheinend übersehen worden. Vom Reiche Gottes haben sie nicht gesprochen. Wenigstens in seinem Sinne nicht. Daß sie nicht auch versucht haben sollten, seine Himmelreichsreden in den Mund zu nehmen und abzuschleifen, ist natürlich undenkbar. Aber hier sind sie ihm nicht begegnet.
So kommt's, daß für das allgemeine, landesübliche Verständnis das Himmelreich etwas Fernes, Jenseitiges ist, bei Jesu etwas Nahes, etwas Kommendes, etwas, das beinah schon da ist, das gewiß noch kommen muß bei Lebzeiten mancher Anwesender. Er versteht unter Himmelreich offenbar eine neue Zeit, einen neuen Zustand der Menschen, durchwaltet von göttlichen Lebenskräften. Diesen herbeizuführen, dafür trat er mit seinem Leben ein. Äußerlich würde scheinbar gar nicht soviel anders werden. Denn das Himmelreich ist gleich einem Säemann, einem Kaufmann, einem Könige, einem Sauerteig, aber innerlich wird alles neu sein, und darum wird es auch alles neu gestalten und umwerten ...
Die Wünsche unseres Geschlechts bezüglich des Himmelreichs sind andere geworden. Man wünscht etwa hineinzukommen, als sei es fest, unbeweglich, jenseitig. Jesu brennender Wunsch war umgekehrt, daß es zu uns komme. Ihm war es beweglich, herannahend, diesseitig. Diesen Wunsch legt er auch den Seinen als Gebet ins Herz: Dein Reich komme! Sie beten ihn auch – die Menschen beten ja ungeheuer viel – aber man merkt ihnen meist an, daß das innere Verstehen fehlt.
Das Reich Gottes weiß nichts von selig werden. Es ist in sich Seligkeit. Nur die Religion will einmal selig werden. Das Reich Gottes hat selig gemacht mit seiner ersten Berührung, denn es ist Leben und Seligkeit, die Religion sperrt die Lebendigen in ein Jammertal und verspricht einigen Toten eine allerdings an sehr viele Bedingungen geknüpfte Seligkeit, während sie die meisten erbarmungslos in die Hölle versenkt. Gott und Religion ist ungefähr derselbe Gegensatz, wie Himmel und Hölle, und es gehört schon Jahrhunderte alte Gedankenlosigkeit und Denkmüdigkeit dazu, wenn man sie miteinander verwechselt.
Nach allem, was uns die Bibel erzählt, ist jede große Gotteszeit begleitet gewesen von sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen. Überwiegende Kraftansammlungen von Geist drängen hinein in die Welt der Erscheinung. Es ist wie in der menschlichen Geschichte. Kleine Zeiten und kleine Geister haben ihren geistigen Besitz in Form von Gedanken und Lehren, große bezeugen sich in umwälzenden Taten. So lange Göttliches uns ferne ist oder langsam tropft, tritt es nur in die Welt der Gefühle, Stimmungen und Vorstellungsreihen, sobald das Tröpfeln zum Strome anschwillt, muß es in sinnliche Erscheinung drängen, denn die gesamte Sinnlichkeit ist ja nichts anderes als Ausdruck göttlicher Gedanken.
Das Reich Gottes muß, wenn es menschliche Wirklichkeit werden soll, wahrgenommen werden in einer fortlaufenden Kette sinnlich greifbarer Tatsachen höheren Geschehens. Solange der Stoff nicht den Gedanken Gottes gehorcht, ist das Reich Gottes nicht da. Daß den Zeiten des Christentums solche Erlebnisse fern liegen, beweist noch nicht, daß sie auch Bibelzeiten unbekannt geblieben seien.
Ist das Reich Gottes eine Kraft und Wirklichkeit ..., dann kann es nicht ins Religiöse verlaufen, oder wenn dieses doch von der Menschheit als das Mildere und Annehmbarere erwählt werden sollte, muß das Reich Gottes mit naturgeschichtlicher Notwendigkeit verschwinden, denn das Stillstehen in Gedankensystemen und das glühende Vorwärtsdrängen des ewigen Lebens ist auf die Dauer unvereinbar.
Das Reich Gottes hat etwas, was jeden Menschen einfach erschüttert und im Tiefsten angreift, denn es ist seine eigene Urwahrheit, die ihm entgegentritt. Es ist wie ein Spiegel, in dem jeder sich selbst sieht, aber nicht wie er ist, sondern wie er sehnlichst wünschte zu sein. Religionen wirken einschläfernd, das Reich Gottes umwälzend, jene zielen auf Tod und Sterben, dieses auf Leben und Auferstehen.
Vor der Macht, die aus Stephanus redete, erwachte auch die Angst. Denn von dem Bestehenden läßt das Reich Gottes keinen Stein auf dem andern. Wer nicht das feste Zutrauen hat, das er Neues, unaussprechlich Großes findet, wenn er das Alte hergibt, der sollte sich hüten, sich drauf einzulassen. Er gleicht dem zagen Könige, der mit Tausenden begegnen will dem, der mit Hunderttausenden über ihn kommt, dem Bauunternehmer, der zu bauen anfängt, aber nicht hat, es hinauszuführen und eine lächerliche Ruine erbaut.
Es ist eigentümlich, mit welcher Einstimmigkeit die ganze Bibel jenseit allen religiösen Gebahrens steht, wie einig alle ihre Schreiber sind, daß solche Dinge allenfalls ertragen werden können, daß aber nur Wert hat, was im Geiste und in der Wahrheit liegt. Alles andere muß fallen. Nicht Religion, sondern göttliche Unmittelbarkeit, Reich Gottes bedürfen die Menschen. Das muß der Zustand der Zukunft werden. Wenn es überhaupt einen Gott gibt, muß alles, was wahr ist, auch einmal Wirklichkeit werden. Wer darauf hofft, trägt in sich die Keime des ewigen Lebens und vermag heute schon alles zu tragen.
Für das Reich Gottes ist's immer eine gefährliche Sache, Wege einzuschlagen, die nicht irgendwie religionswissenschaftlich genehmigt sind. Es ist ihm eigentlich alles fest vorgeschrieben, und es trifft bei seinem Kommen auf die Erde überall schon seine festen Regeln, in denen es sich zu bewegen hat. So ging's seinerzeit mit dem Messias, so geht's heute mit dem jüngsten Tage, mit der Wiederkunft Christi, der Auferstehung usf.
Aber das Reich Gottes hat die Eigentümlichkeit an sich, immer gerade anders zu kommen, als ihm religiös vorgeschrieben ist. Da muß es sich eine oft recht herbe Beurteilung seitens seiner erblichen Vertreter gefallen lassen, und es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß es oft für große Zeiträume aus der Erde hinausbeurteilt worden ist, und dann nur noch irgendwo in den Wolken ein luftiges Dasein führen darf oder als Zustand nach dem Tode zu einem zweifelhaften Bestehen herabgedrückt wird.
Im Reiche Gottes gibt's keine Konfessionen. Da ist Gott alles in allen. Da ist alles Religiöse ausgeschlossen und beseitigt.
Es handelt sich gar nicht darum, irgendwo fertige Gemeinschaften einzurichten und etwas zu gründen. Das tun Religionen. Das Reich Gottes will das große Vorwärts hineinwerfen und die Menschen auf das Neue des lebendigen Gottes richten, den Fortschritt des Lebens anfangen. Das Weitere folgt von selbst, so wie Wasserfluten von selbst ihren Weg finden, wenn's erst irgendwo anfängt zu tröpfeln und zu sickern.
Das Reich Gottes stürzt alles um, aber ohne List oder Gewalt, ohne Verbrechen oder Blutvergießen, ohne Aufruhr und Empörung, ganz einfach und schlicht, indem ein neues plötzlich da ist und einfach drauflos wächst. Bekanntlich kann der härteste Fels dem Samenkörnchen und seiner Gewalt nicht widerstehen, weil er tot ist und das Samenkörnchen lebendig. So verfällt alles Bestehende, soweit es tot ist, vor dem Leben des Reiches Gottes, und soweit in ihm Leben keimt, ist es unwiderstehlich zum Anschluß genötigt. Die gründlichste, aber auch die friedlichste Umwälzung aller Dinge. Weh' dir, du arme, alte Welt, wenn das Reich Gottes über dich kommt, und zugleich Heil dir, denn du mußt und wirst in ihm verjüngt werden!
Die Einheit Gottes, die Einheit der Menschheit, ja die Einheit Gottes und der Menschheit ist die wundervolle, beseligende Offenbarung, die Lösung aller Rätsel für den, der es versteht. Wenn die Menschheit eins ist und Gottes ist, dann müssen sich alle Rätsel herrlich lösen. Nicht Zeit, nicht Raum kann dauernd dieser Einheit etwas anhaben. Unaufhaltsam müssen die getrennten Teile aufeinander zustreben. Es muß nur die Einheit offenbar werden, und alle Not ist ausgelöst in Wonne.
Nicht Weisheit, sondern Kraft muß das Reich Gottes entfalten.
Der heilige Geist ist sichtbar wie die Materie, vielleicht nicht für jedes Auge deutlich, aber als eigentümliche Lebensmacht doch unverkennbar. Nicht der Taufschein verdeutlicht die Zugehörigkeit zum Reiche Gottes, sondern der Besitz des heiligen Geistes. Man braucht keinen einzigen Lehrsatz über den heiligen Geist, aber man braucht seinen Besitz, und dieser wird schon von selbst zum Ausdruck kommen mit unaussprechlicher Klarheit.
Das Reich Gottes ist ein wirklicher Besitz von erdgültigen Werten, kein erträumter oder bloß vorgegebener. Sein Kennzeichen ist Geist und Kraft.
Das ist auch eine Eigenschaft des Himmelreiches, daß es bereichert. Wer an Mammon denkt, hat immer nur das Bewußtsein der Armut. Wer an das Himmelreich denkt, merkt plötzlich, daß er viel reicher ist, als er geahnt, und daß er nie mehr das Bewußtsein der Armut bekommt.
Das Wort vom Reiche Gottes ist lebendigmachend. Wenn es in ewiges Leben versetzt, warum nicht viel mehr und viel leichter in erhöhtes leibliches? Wo wirklich Kräfte sind, müssen sie in der Beherrschung des Stoffes zum Ausdruck kommen.
So allgemein verbreitet Religionen auch sind, so stehen sie doch mit der Natur nicht im Einklang, sondern im Widerspruch. Denn in allen Religionen lautet die unerläßliche Forderung auf Einförmigkeit in Gedanken, Anschauungen, Gebärden und Gebräuchen. Das ist wider die Natur. Der Menschengeist läßt sich nicht auf die Dauer in vorgeschriebene Formen bannen, so wenig wie die Natur irgendwo Einerleiheit der Formen kennt.
Wie etwa leibliche Gebrechen auftreten können als unmittelbare Folge verkehrter Lebenshaltung, so ist das Gesetz, die Religion das Gebrechen, das falscher Geistesstellung mit innerer Notwendigkeit folgte. Wer in Gott steht, ist frei von allem Gesetz. Er lebt sich aus in natürlicher, ureigener Gottesherrlichkeit. Indem er seine eigene Wahrheit immer weiter entfaltet, stellt er sinnenfällig die Wahrheit Gottes dar.
Religion ist ein Zustand der Erstarrung in geistiger Gottesferne.
Religion heißt wörtlich »die Wiederholung«. Formelhaftes Lesen, immer wieder dasselbe – das bedeutet Religion.
Das ist sehr bezeichnend. In der Religion liegen entschieden Werdeversuche zu geistigem Leben. Dieses Leben soll der Menschheit von ihren fortgeschrittneren Gliedern, die sich die Religionen ausgedacht haben, eingeprägt, »angewöhnt« werden durch unendliche Wiederholung. Die Menschen werden gleichsam auf Geist hin abgerichtet. Wo aber alles Dressur ist, da ist in der Regel vom Geiste nicht die Spur, hat einmal jemand gesagt.
Gleichwohl haben die Religionen sehr große Verdienste um unser Werden gehabt. Sie waren stets mächtige Wirkungskräfte für die Pflege geistigen Lebens. Nur ist ganz deutlich, wenn nicht etwas kommt von unmittelbarem Geiste, der uns über die Bande der stumpfsinnigen Massengewöhnung hinaushebt, so werden wir gerade auf dem Wege der Religionen über einen toten Punkt nicht hinauskommen. Geist und Gewöhnung klingen nebeneinander, wie wenn man von langsamer Plötzlichkeit reden wollte. Religionen sind Werdeversuche und dürfen daher auch sein und ihre Gebräuche zur Anerkennung bringen, sie sind aber nicht das Werden und Wachsen selbst.
Viel Reden über die Wahrheit, das ist die Art der Religionen. Aber die Wahrheit selbst nicht haben, aus Nebendingen sein Leben und seine Kraft beziehen wollen und nicht aus der Wahrheit selbst, mit den Dingen verrauschen und der Mode unterworfen sein, aber oft genug neben dem ewigen Leben vorbei gelangen, das ist auch ihre Art.
Es hat noch niemals irgendeine Theologie lange geherrscht, noch nie eine Theologie etwas von Gott aus Wichtiges zu sagen gehabt. Theologen haben zuweilen etwas Wichtiges gesagt, aber als Menschen, nicht als Theologen. Auch Luther redete als Mensch und als Deutscher. Als seine Sache erst theologisch wurde, wirkte sie nicht mehr befreiend, sondern bindend.
Wenn Gott einmal wirklich in die Geschichte hereintreten will, ist oft das Haupthindernis gerade die Religion. Denn niemand wehrt sich so verzweifelt gegen Neues, als wer im Alten erstarrt ist. Das ist der Unterschied: Im Reich Gottes gilt: Das Wort ward Fleisch; in der Theologie: Das Wort ward – Tinte.
Das Geschehen Gottes ist überall gleichartig, aber unerschöpflich in immer neuen Formen. Darum wird's von den Menschen so wenig erkannt, weil sie nicht den Geist verstehen können, sondern regelmäßig in der Form hängen bleiben und alte Formen festhalten, aus denen der Geist längst entflohen ist.
Jesus und Religion, das sind die unversöhnlichsten Gegensätze, die es gibt. Es gibt keinen Weg zum Stillstehen, kein Glühfeuer zur Abkühlung und kein Schwert zum Streicheln.
Es ist einer der verhängnisvollsten Irrtümer der Geschichte, Jesum mit dem Christentume in Verbindung zu bringen. Der Christus hat mit dem Christentume gerade so viel gemein, wie Jesus mit dem Jesuitismus – den Namen, aber nicht das Wesen.
Jesus war zum Entsetzen seiner Zeitgenossen und Nachfahren der unkirchlichste und unreligiöseste Mensch, der je diesen Planeten betreten. Von der Kirche sagte er: Diesen Tempel könnt ihr meinetwegen abbrechen. Bei mir wird alles von Grund aus neu, und von Religion hat er weiter nicht viel gesprochen. Er hat sie aber nicht abgeschafft, nein erfüllt hat er sie. S'ist ja nicht so schwer. Er wuchs weit, weit über sie hinaus.
Es ist schwer verständlich, daß das Christentum sich in seinen neuen Religionsformeln und seinen endlosen Streitereien um nichtige Lehren auf Jesum berief. Welches Christentum übrigens? Die Zahl der Christentümer ist wie bei jenem bösen Geiste Legion. Alle diese Christentümer sind neue Religionstümer wie andere auch, die mit einigen Jesusgedanken und -lehren aufgeputzt sind, aber nicht das eigentliche Wesen dieses Geistes erfaßt haben.
Daher kommt's, daß sich heute die Massen von den Christentümern abzuwenden Miene machen, weil sie nicht mehr mit Gedanken und Lehren hingehalten zu werden wünschen. Der Jesushunger ist's eigentlich, der bewußt oder unverstanden die Menschen von ihren Christentümern und sonstigen Religionstümern hinwegtreibt.
Der Jesushunger ist aber der Hunger nach dem wahren Menschen, nach seiner neuen Sittlichkeit und seinen gewaltigen Zielen. Jesus ist um Jahrtausende der Entwickelung vorausgeeilt. Anders geht auch nichts vorwärts, als daß die Strahlen des wahren Lichts in einzelnen Brennpunkten zusammenlaufen, um erkannt zu werden. Jesus war der Brennpunkt für die ganze Menschheit, darum ihr wahrer Fortschritt, und jede naturgemäße Entwickelung wird vielleicht nicht christlich, aber jesusmäßig verlaufen.
Darum bleibt seine Sittlichkeit ewig neu, obgleich ihre Gedanken schon vor Jahrtausenden, sogar schon vor Jesus, von Moses, ausgesprochen worden sind. Sie bewegt sich ja gar nicht in Gedanken, sondern nur in Geschichte und Tun.
Die Gedanken Jesu sind alt. Daß aber sein Tun und Wesen in der Menschheit Boden gewinnt, das ist etwas unendlich und beglückend Neues. Das muß geschehen und wird auch geschehen, und darum liegt alle Aussöhnung der Geister, die Lösung aller Rätsel in ihm. Er ist aber der Menschensohn. Die Zukunft der Menschheit im Geiste ist die Verwirklichung seiner Wahrheit.
Viele halten noch heute die Sache Jesu Christi auf Erden für eine Einrichtung, die die Möglichkeit gewährt, selig zu werden. Daß er aber ein Kommen Gottes in Reich, Kraft und Herrlichkeit für die ganze Welt plante und auch wirklich begann, das ist ihnen verborgen.
Je mehr diese Auffassung, die sich schon in der Apostel Zeiten bemerkbar machte, um sich griff, um so mehr ließen naturgemäß die Himmelreichskräfte nach, und es blieb stehen ein geistliches Wesen, eine christliche Religion mit Priestern und Predigern, Parteien und Sekten, die ein ganz ähnliches Gebaren zeigt, wie weiland die jüdische Religion. Jesus ist wohl einzelnen nahe, in der Sache ist er nicht dabei.
Religionen sind die Gewohnheiten des geistlichen Stillstandes. Kein Hindernis war dem Meister im Leben so stark, als die Religion, keines hat auch dem Auferstandenen so viel zu schaffen gemacht.
Religionen sind die Friedhöfe des Geistes. Man kann nicht den Lebendigen bei den Toten suchen.
Ein Weg ist nicht zum Stillstehen da, sondern nur zum Vorwärtsgehen. Ebensowenig gibt's eine stillstehende Wahrheit oder ein stillstehendes Leben. Jesus ist nicht bei den Stillstehenden. Er ist bei den vorwärts Schreitenden. Bei denen ist er allerdings alle Tage bis an der Welt Ende, aber nie wird es gelingen, den Auferstandenen in Fertiges einzuschließen. Fertiges ist Grab. Wollte er das, so brauchte er überhaupt nicht aufzustehen. Aber er wollte vorwärts mit der ganzen Glut seiner heißen Seele, die nicht einmal das Grab zu halten vermochte.
Wenn man ganz ruhig die Persönlichkeit Jesu überdenkt, wie die vorhandenen Berichte sie uns schildern, so unterscheidet er sich sehr wesentlich von dem, was wir etwa einen Religionsmann nennen. Er hat als hervorragendsten Zug einen Sinn für das allgemein Menschliche, der nirgends Verkehrsgrenzen anerkannte. Dabei etwas so Einfaches und Natürliches, daß man sagen muß: gerade dadurch unterscheidet er sich von allen Religionsleuten.
Religionen sind mehr oder weniger der Welt abgewandt, Jesus ihr zugewandt. Religionen schaffen Anhängertum und Parteibildungen, die die einen für sie geeignet erscheinen lassen, die andern nicht. Jesu war jeder recht. Er schloß keinen aus, wenn er nur kam. Je beladener und mühseliger er war, um so besser konnte er ihm helfen. Er suchte das Gute der Menschen, und an ihm kam der Mensch in die Höhe. Er ging nicht darauf aus, sich durchzusetzen, seinen Gedanken zur Annahme zu verhelfen, sondern er ging auf in einem unendlichen Dienen, Lösen und Befreien.
Darin unterschied er sich von den Religionen, die alle zu binden und mit mehr oder weniger Gewalttätigkeit ihr Gepräge überall aufzudrücken suchen. Es ist ja wahr, daß je und je alle möglichen Religionsgebilde Jesum für sich in Anspruch zu nehmen gesucht haben. Aber ein Blick auf ihre Verschiedenheit und Unstimmigkeit müßte jeden überzeugen, daß der Meister nichts mit ihnen zu tun hat. Würde man ihn heute fragen, zu welcher christlichen Konfession er sich eigentlich bekenne, so würde er antworten: Ich habe mich doch bisher noch niemals zu irgendeiner bekannt, sondern sie alle werden und wachsen lassen, wie sie es verstanden und konnten. Wollt ihr mich aber ernstlich für euch in Anspruch nehmen, so antworte ich: Ihr müsset alle völlig umgeboren werden, sonst seht ihr nichts von dem, worin ich bin, vom Reiche Gottes.
Aber zu den Menschen bekennt er sich. Auch zu jedem, der innerhalb irgendeines Religionsgebildes steht. Nicht ein Mensch auf der ganzen Welt, der bei Jesu nicht Verständnis und Hilfsbereitschaft fände. Auch sicherlich keiner, der ihm nicht freudig zujauchzen würde, wenn ihm Jesus heute persönlich nahe träte. Die ihn verwerfen, haben ihn nur nicht verstanden. Würden sie ihn verstehen, so würden sie wissen, daß er ihnen näher steht, als sie ahnen.
Der neue Weg geht aus einer neuen Natur heraus und hat innerlich mit allem bloß Hergebrachten und allgemein Angenommenen rein nichts zu tun, sondern geht nur vom Vater und zum Vater.
Er ist der unscheinbarste, aber der angenehmste. Die ihn gehen wollen, derer bedarf's nur wenige, aber die Wenigen müssen's gewinnen. Der Vater gibt ihnen das Reich, das sie ersehnen, und für das sie arbeiten. Sie haben nie Sorge, daß ihrer zu wenig wären. Die Vielen finden den Weg ja doch nicht. Aber von den Wenigen aus wird auch auf die Vielen Reich, Kraft und Herrlichkeit rettend und heilend überfließen. Sie sind in allem drin und doch von allem los. Sie entbehren jedes Abzeichens und sind doch kenntlich. Man erkennt sie an dem Himmelreichswesen, das sie unbewußt ausströmen. Sie bilden nirgends eine Partei, aber sie sind auch an nichts gebunden. Es sind Menschen, gesinnt wie Jesus Christus auch war. Leute solcher Gesinnung, die sind auf dem Wege zum Vater.
Ob viele diesen Weg Jesu finden werden? Für die meisten wird er zu einfach sein und zu unscheinbar. Von Tempelzinnen herunterfahren, das wäre eher vieler Geschmack, aber bei dem hausbackenen täglichen Brote anzufangen – das sieht man ja nicht, da ist nichts daraus zu machen. Das werden wenige finden. Es liegt gar nicht im Geschmacke der Menschen, die immer etwas vorstellen wollen. Mit dem Himmelreich kann man aber nichts vorstellen. In dem Augenblicke würde es entschwinden. Alles was irgendwie Scheinwesen ist, ist vom Himmelreiche gelöst.
Wer also glaubt, ohne greifbare Formen, Organisationen, Abzeichen usf. nicht bestehen zu können oder wenigstens die Massen nicht behandeln zu können, muß vom Himmelreiche absehen. Darum finden viele diesen Weg nicht. Nicht daß er unangenehm oder dornig oder unwegsam wäre! Im Gegenteil. Ein schmaler Weg ist immer angenehmer, schattiger, staubfreier, ungezwungener, aber er ist nicht betreten. Man findet ihn nicht.
Den Weg, den alle gehen, der Weg der Sichtbarkeit, des Augenfälligen, der Religion in ihren Äußerungen, ihren Sätzen und Gebärden usf., den findet man leicht, und darum ist er breit. Aber der breite Weg führt ins Verderben. Das ist sein Fehler. Überall wo etwas scheinen soll und Mode wird, geht's auf Kosten der Wahrheit und also des Lebens. Aber Jesu Weg ist voller Leben jeden Augenblick, denn er ist jeden Augenblick innerlich wahr.
Schon eines ist herrlich, daß die Sorge fehlt, was die Leute dazu sagen. Ihn nannten sie Fresser, Säufer, Zauberer, besessen, Gotteslästerer, kurz alles, was die Leute so sagen. Aber ihn berührte es nicht einmal, denn er hatte und setzte alledem entgegen den wirklichen Besitz des Himmelreichs. Wer seinen Weg heute gehen würde, dem würden sie das Christentum absprechen, ihn unlauter, lüstern, verrückt, Atheist usf. nennen. Ist aber köstlich, wenn man unter diesen Namen das Himmelreich besitzt. Dann braucht man sich um alles das nicht zu kümmern. Aber überhaupt fehlt jede Sorge. Nur eine ist da, daß die Verbindung im Geiste mit dem Vater aufrecht erhalten bleibe.
Die Menschheit kann Jesus und Paulus nicht vergessen und wird's nie tun. Damals ist etwas angeregt worden, das geht um unter den Zeiten und Geschlechtern, das hat noch keine Religion ausgewischt. Zu allen Zeiten hat's Ketzer gegeben, die aus der Bibel nicht die christliche Religion herauslasen, sondern die Kunde vom Reiche Gottes. Sie haben der Religion viel zu schaffen gemacht, und kein Bibelverbot hat dagegen gefruchtet, keine Bibelauslegung die frohe Botschaft totgeschlagen oder zum Schweigen gebracht.
Die Wahrheit gärt unter den Völkern und stößt bald hier, bald da auf. Es werden Menschen mitten in allen Religionen der Welt, die tragen das Siegel des Reiches Gottes, und sie kennen einander und winken einander zu. Die Religionen hassen und verfolgen sie, aber unterdrücken sie nicht, sie töten sie, aber sie stehen immer wieder auf. Die Welt lebt auf einem Vulkane. Er kann lange schweigen, aber er bricht immer wieder durch. Die Alten hatten keine Ahnung, daß der Vesuv ein Feuerberg sei, aber am Tage von Herkulanum wurden sie's mit Entsetzen inne. Das Christentum ist der erloschene Vulkan, auf dem man seine Dörfchen und Städtchen aufbauen, seine Gärtchen pflanzen und seinen Kohl bauen kann. Aber keinen Tag ist man sicher vor dem Ausbruch der glühenden Wahrheit. Es ist ein unbehagliches Wohnen, ein immer geängstetes, ein ewiges Bröckeln und heimliches Krachen, wie ein Aufbegehren aus den Tiefen der Wahrheit.
Aber worauf wartet denn der Ausbruch der Wahrheit? Wir wissen leider immer noch nicht, warum der Mont Pelée gerade auf das Jahr 1902 gewartet hat, und wenn wir trotz aller Erdbebenkunde das noch nicht einmal wissen, warum sollen wir das Warum und das Wann des Reiches Gottes ergründen? Ist wohl eine Zeit gewesen, in der es nicht rumort hätte? Waren die Ketzer des Mittelalters nicht Vorläufer und Geistesverwandte Luthers? Und die Religion des Luthertums, hat sie nicht die kühnen Forscher und Denker und Entdecker hervorgebracht, die allesamt grundstürzende Wahrheiten verbreiteten? Mit wem mag wohl der Auferstandene heute sein heimliches Wesen haben, mit der Religion oder mit der Naturwissenschaft? Mit den Bestandesmenschen oder den Umsturzmenschen? Oder geht er am Ende seinen eigenen Weg und arbeitet in der Tiefe, daß die Blasen hier und da aufsteigen, oder glüht im geheimen, daß hier und da Felsblöcke in die Luft fliegen, und Lavamassen strömen? Aber die Blöcke und die Lava sind nicht das Feuer, sie zeugen nur von der Riesenkraft, die in den Tiefen wühlt.
Eigentlich sind's doch glückselige Jahrtausende seit Jesus und Paulus. Noch niemals sind vom Himmel aus den Menschen die Möglichkeiten des Andersseins abgeschnitten gewesen. Aber in den vergangenen zwei Jahrtausenden sind diese Möglichkeiten zu einer unübersehbaren Flut der Wirklichkeit angeschwollen. Das ist doch eine herrliche Gnade Gottes. Aber schließlich sind die Möglichkeiten doch begrenzt und nur die Einheit ist unbegrenzt. Wenn sie alles erschöpft haben, müssen sie ja zum Vater zurück, und die Arme der Wahrheit werden sie umfangen. Es wird eine Zeit kommen, da werden die Menschen keine Ketten irgendwelcher Art mehr tragen wollen, keine Sklavenketten und keine Geistesketten. Da wird ein einziger Schrei aus der Menschheit gellen: Freiheit. Die Freiheit im Geiste, die Freiheit der Kinder Gottes ist das Menschheitserbe. Je näher es kommt, desto sehnsüchtiger wird die Menschheit erregt. Sie fühlt das Nahen und versteht es nicht. Darum ist sie so unruhig und unbändig. Ihr Heil kommt.
Ob dann wohl wieder ein Jakobus seine Dogmen beschließen wird? Ob dann wohl wieder die Erstlinge der Freiheit ein kleines Zionsidyll einrichten werden und eine Religion der Freiheit ausspinnen? Ich glaube nicht. Und wenn sie's täten, die Welt will heute eine Einheit werden, will nicht mehr die Vielheit der unbekannten Völker und Länder sein. Heute kann schon nichts geredet werden, was nicht alle Völker hören. Heute braucht der Auferstandene nicht zwölf Boten in die Welt zu schicken, die Welt wird selbst zum Auferstandenen kommen. Sie hat alles andere durchgekostet, und ihr ist übel davon geworden. Es kostet nur ein Wort: Es werde Licht! Und es wird Licht. Niemand wird es gewinnen als Jesus. Die Religionen werden alle zerfallen, auch die christlichen, aber siegen und erlösen wird das Reich Gottes.
Zwei Dinge sind's, die nie eine religiöse Partei gewährt. Erstlich ewiges Leben zu haben. Sie versprechen's alle, aber für später, wenn die Leute erst tot sind. Dann soll das ewige Leben irgendwie auf unerklärbare Weise kommen, aber ein Haben und Besitzen auszuteilen, das vermögen sie nicht. Lehren darüber können sie sehr viel, aber der Verlangende bleibt hungrig.
Jesu Art war's ferner, Schätze auszuteilen, gleich, überreich und für alle. Das ist das zweite, was eine Partei nicht vermag. Sie hat manches Gute und begehrt Gutes, aber nur für sich, nie für die Welt. Natürlich wollte der Pharisäismus schließlich auch die Welt bekehren, er missionierte sogar sehr eifrig, aber erst hätte er ihr das Pharisäertum aufgenötigt und dann das ewige Leben versprochen – nach dem Tode natürlich. Alle Bekehrer bekehren zuerst zu ihren Formen und Anschauungen, dann erst zu Gott. Den Menschen auf seinem Boden zu belassen und von da aus unmittelbar an Gott zu knüpfen, das vermögen sie nicht. Aber Jesus will das Leben gleich und für alle ohne Unterschied. Denn Gott hat die Welt geliebt. Diese unaussprechlich tröstliche Wahrheit leuchtet aus Jesus als Erlebnis. Gott hat die Welt in ihrem Wesen nicht verachtet oder gehaßt oder verdammt, sondern geliebt, damit keiner verloren gehe, sondern alle das ewige Leben haben.
Wo bleibt da der Pharisäismus? Wo bleibt irgendeine religiöse Richtung oder Partei, wenn Gott die Welt geliebt hat?
Geh' mitten in die Christenheit und höre, wie sie ihren Heiland verehrt. Sie brauchen ihn, um ihren geistlichen Jammer zu stillen, gegen ihr unnennbares Weh und ihre unversieglichen Tränen und Seufzer: O erquicke uns Mühselige und Beladene, wie du verheißen! Sie bitten auch nicht umsonst. Sie werden erquickt. Aber daß jede Speise von ihm her etwas erzeugen soll bei ihnen, ein Lebenskeim ist, dem sie zur Entwickelung helfen sollen, das ahnen sie nicht. Sie wollen nur erquickt sein, satt wollen sie werden, und sie sind unersättlich.
Seine Gaben sind Aufgaben, seine Pfunde geliehen. Mit denen soll gewuchert werden, daß sein Gut gemehret werde. Jede Erquickung muß von uns in Taten umgesetzt werden, sonst ist sie für ihn und uns verloren. Aber meistens heißt's, wenn er Frucht sucht: Wir armen, schwachen Kreaturen, wie können wir denn Gottes Werke wirken? Und damit bleiben sie die armen, elenden Sünder. Ja, die geistliche Armseligkeit ist bei vielen wie ein unumstößlicher Glaubenssatz aufgerichtet.
Das ist das Eigentümliche an den Religionen, daß sie stets weit mehr lehren, als sie halten. Wenn dann einer kommt und plötzlich vollen Ernst macht und die Lehren mit eiserner Folgerichtigkeit in das Leben umzusetzen trachtet, dann stößt er überall an, und man findet, daß der liebe Bruder doch etwas zu weit geht. Am wohlsten befinden sich die Religionen bei einer abgetönten Mittellage, wo alles, was irgendwie schroff wirken könnte, sorgsam abgerundet ist.
Es hat ja zu allen Zeiten als gefährlichste Schwarmgeisterei gegolten, an die Gegenwart biblischen Geschehens zu glauben, zu denken, die alte Bibel könnte einmal aus ihrem Lederbande heraustreten und sich erlauben, Tagesgeschichte zu werden.
So lange der Haß nicht aufflammt, steht's flau um die Sache des Reiches Gottes. Jesus ist nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Das Christentum wirkt außerordentlich erhaltend für alles Bestehende, das Reich Gottes fegt alles Alte weg, und wenn's Tempel wären, und setzt sein Grundanderes in weniger als drei Tagen an Stelle des Bestehenden.
Es ist das Schicksal aller Großen, daß sie als Gottversucher gelten, und die Religionen der Erde können sie nicht vertragen. Sie passen nicht in die gesellschaftlichen Ordnungen und sind dem Staate unbequem, aber die Religionen hassen sie, denn sie verführen und verwirren die behaglich lenksamen Massen. Sie werfen nämlich in die Menschen hinein das Bewußtsein menschlicher Größe und Eigenart. Sie ermutigen viele zu sagen: Ich bin auch etwas.
Sie sind das Gewissen der Geister, daß sie aufhören müssen, sich als Masse zu fühlen. Darum haßt sie die tonangebende Mitwelt. Sie sind die Glückseligen, die das Gute für die Menschheit erringen helfen. Darum müssen sie das größte Leid tragen.
Die Gewaltigen dieser Erde haben allezeit begriffen, daß sich Massen am leichtesten durch Religion zügeln lassen. Nur wo diese nicht völlig ausreicht, helfen sie mit Polizei und Kriegsgewalt nach. Letztere Mittel empfehlen sich aber nicht, weil sie aufreizen und erbittern. Religionen haben etwas Beruhigendes, Einschläferndes, das die Gegensätze glättet, das unterwirft, noch ehe der Widerstand erwacht ist. Darum müssen alle Erdgewaltigen fromm sein und auf Religion halten.
In christlichen Kreisen räumt man ziemlich allgemein der Bibel, d. h. der Summe der Schriften des Alten und Neuen Testaments eine maßgebende Stellung in allen Glaubens- und vielen Lebensfragen ein. Die Frage: Wie stimmt dies oder das mit der Schrift? wird wohl allgemein als wichtigste empfunden. Der Streit beginnt immer erst bei der Auslegung der Schrift, die von den einen so, den andern oft genug genau in entgegengesetztem Sinne verstanden wird. Die Bibel gilt allen als das maßgebende Wort Gottes, gleichsam als ein vom Himmel aus unmittelbar geoffenbartes Wort des Vaters, von dem abzuweichen nichts minderes als einen Abfall von Gott selbst bedeutet.
Bei dieser gemeinsamen Auffassung aller Christen ist nur eines zu bedauern, daß von Gott aus nicht auch die Auslegung festgelegt wurde, denn es konnte Gott nicht verborgen bleiben, daß darüber einmal die größte Meinungsverschiedenheit entstehen würde, und viele sich in bester Überzeugung an Gottes Ordnungen und Worten hoffnungslos versündigen würden. Wer näher zusieht, dem fällt auch auf, daß nur ein Teil der Bibel wirklich benutzt wird, daß ganze Bücher wie völlig verschlossen sind. Über einen ganz geringen Teil wird nur gepredigt, und das mit rührender Wiederholungsseligkeit. Warum geschieht das, wenn alles gleichmäßig Gottes Wort ist? ...
Was ist eigentlich die Bibel, wenn wir sie selbst hören? Die Mehrzahl der biblischen Schriftsteller, wenigstens die neutestamentlichen, dürfte wohl ohne das Bewußtsein und die Absicht geschrieben haben, nun gerade Bibel zu schreiben. Die paulinischen Briefe zumal sind zunächst an die Empfänger gerichtet, aus der Zeit für die Zeit geschrieben, gleichsam aufgefangene apostolische Augenblicksbilder. Die Evangelisten schrieben schon eher für längere Dauer. Sie wollten in Zeiten, als das Bild des Auferstandenen schon erblich, wenigstens den geschichtlichen Jesus festhalten.
So ist die Bibel eigentlich die Urkunde großen Geschehens von Gott aus. Sie will selbst nicht mehr sein. Das Geschehen selbst aber ist größer als die Urkunde. Man kann die Urkunde buchstäblich inne haben und doch im Geiste vom Geschehen unberührt sein. Würde aber umgekehrt wieder jemand im Erleben Gottes selbst stehen, so bedürfte er der Bibel nicht, jedenfalls stünde er über ihr. Petrus nennt sie einmal das Licht an einem dunkeln Ort und hält sie für sehr wichtig für finstere Zeiten. Aber wenn's hell ist, braucht man kein Licht und keine Laterne.
Die Bibel ist also sehr mittelbar Gottes Wort. Wir müssen sagen, es gibt Zeiten des lebendigen Gotteswortes, und die Bibel ist die Urkunde solcher Zeiten, die sie im Gedenken der Menschen festhält und hinüberhoffen und glauben hilft in ihre Wiederkehr und Erneuerung. Die Bibel ist eigentlich nur der Zeuge des Wortes Gottes. Würde es sich etwa heute vernehmen lassen, so wäre das Heutige uns wichtiger als das Vergangene, das wir doch nur bruchstückweise erhalten haben, hindurchgegangen auch durch die Eigenart von Schreibern anderer Zeiten und anderen Volksempfindens. Andererseits aber würde die alte Bibel unserem Verständnis in ganz ungeahnter Weise näher gerückt sein, wenn wir heute Offenbarungszeiten hätten. Wir würden das Alte völlig neu verstehen, viel deutlicher bekommen, und unser heutiges Erleben würde uns im Lichte des alten viel gewisser werden.
Was in aller Welt hat denn die Bibel zu schaffen mit Judentum oder Religion! Die Bibel ist wirklich die größte Ketzerin, die es gibt, denn sie ist die Urkunde vom Reiche Gottes auf Erden, und alle Ketzer, die je waren und sein werden, wurden's ja nur, weil sie die Bibel gelesen hatten und durch die Bibel abgefallen waren von den ererbten Sitten der Väter. Rom weiß gut, warum es die Bibel verbietet, das heutige Judentum, warum es die Propheten nicht lesen läßt. Für die Religionen ist die Bibel allewege das gefährlichste Buch gewesen.
Die Bibel ist wirklich interessant. Man darf sie nur nicht nehmen als alte Geschichte, die man Kapitelweise, wie eine Religionspflicht abhaspelt, sondern man muß in ihr den springenden Punkt sehen, wo des heutigen Lebens goldener Baum grünt. Wer die Verbindungslinie nicht ziehen kann zwischen heute und einst, wer nur die alte Form und nicht den ewig neuen Inhalt sieht, wer an dem Urquell der Beweglichkeit nicht selbst beweglich wird, für den ist natürlich die Bibel furchtbar langweilig, allenfalls erbaulich, aber jedenfalls in keiner Weise anregend und belebend.
Man kann mancherlei aus der Natur herauslesen. Es geht ihr wie der Bibel. Man kann ja die verschrobenste Religionsschwärmerei aus der Bibel herauslesen, ebenso wie Leben und Wahrheit. Man kann aus der Natur Haß und Mord herauslesen, wenn man den Kampf aller wider alle und das Leiden der Kreatur schwermütig ans Licht zieht. Man kann auch Güte und unendliche Liebe herauslesen.
Die werden in beiden recht lesen, die für sich Lebensfortschritte herauslesen.
Niemand kann sagen, daß er durch seine Zugehörigkeit zu irgendeiner Richtung oder Partei oder dergleichen Gott näher sei. Sondern jeder ehrliche Mensch weiß, daß die Gemeinschaft mit Gott von seiner religiösen Zuzählung völlig unabhängig ist. Das ist in Jesu klar geworden und geschieht von ihm aus ohne jede Färbung, Stempelung oder Knechtung der Menschen.
Die Religion hat an sich, daß sie beständig über Gott redet, daß sie viele Gotteskinder, die in Gott leben, an sich zieht und ihnen den Glauben beibringt, ihr Gutes habe ihnen die Religion vermittelt, was sie doch unmittelbar von Gott hatten. So konnte auch Jesus in herzlichem Verlangen nach der Gemeinschaft mit dem Vater und ihrer Erneuerung den Tempel betreten, obgleich er, wie viele tun, das schon mitbrachte, was er zu finden hoffte.
Sicher sind die meisten Vertreter jeglichen Kirchentums bis in die letzte Faser hinein durchdrungen von der Wahrheit ihrer Sache. Die niederen ganz gewiß. Man hat dafür gesorgt, daß sie nichts anderes lernten als das Überlieferte. Die Höheren wiederum sind so durchdrungen von der Notwendigkeit der Religion an sich, daß in ihnen ein anderer Gedanke nicht mehr Raum hat. Die erdrückende Mehrheit handelt in gutem Glauben. Das ist gut so. Denn wem die Augen aufgingen, der würde den Verstand verlieren oder davonlaufen.
Wohl jeder, der fest für seine Religion einsteht, ist der Überzeugung, daß innerhalb seines Bekenntnisses und Glaubenskreises eitel Wahrhaftigkeit herrsche, und in allen wichtigen Dingen die Ehrlichkeit ausschlaggebend sei. Erst wenn er aus dem religiösen Bannkreise erlöst und ins Reich Gottes übergetreten ist, wird er schmerzlich inne, daß jede Religion zuerst sich selbst sucht, daß ihre wahrheitliebendsten, ehrlichsten Bekenner alles nicht unmittelbar nach Gott, sondern über ihre festgelegten religiösen Grundvorstellungen hinweg denken und entscheiden. Sie sind alle gebunden im Geiste, und wechseln sie ihren Glauben mit einem anderen, so werden sie noch viel fester gebunden. Nur die Umgeburt ins Reich Gottes hinein wirkt befreiend. Die Gebundenheit der Religion ist natürlich für niemanden ein Vorwurf, sondern nur eine Naturerscheinung. Sie kommt auch erst zum Bewußtsein mit der Erlösung davon. Käme das Bewußtsein vorher, so würde es unsäglich belasten.
Nur mißverstehe man auch nicht. Die Religionen, so wenig sie Jesum vermitteln, sind schließlich auch kein Hindernis für ihn. Dazu sind sie viel zu unbedeutend. Was sind sie eigentlich? Sie sind Gefäße, in denen Menschen verwahrt werden, sind Aufsichtsanstalten, die auf Menschen Zucht ausüben. Als solche sind sie sogar sehr wertvoll. Für manchen ist's einfach unmöglich, ohne Zucht und Beaufsichtigung zu leben. Viele würden wild werden, wenn man sie losließe, so wie manche Leute sich einfach nicht mehr zu betragen wissen, wenn sie über See gehen. In allen solchen Fällen sind Religionen ausgezeichnet. Ein Weltunglück, wenn man sie abschaffen wollte. Für die Welt wäre der Mangel der Religionen viel empfindlicher als für das Reich Gottes. Dieses kann ohne sie auskommen, die Welt nicht. Für die Welt wär's auch gut, wenn sie christlich würde. Sie käme dann in rechte Zucht.
Die Religionen sind also ohne irgendeine Ausnahme nicht das reine Gebiet von Geist, sondern stehen innerhalb des Stoffes, aber freilich als Wegspuren über das Stoffliche hinaus. Wer mit himmlischen Blicken unser großes Religionsmuseum durchwandelt und durcharbeitet, der wird nicht ohne gerührtes Lächeln bleiben können über all die wunderlichen Werdeversuche, die doch alle kein Werden sind. Es ist geradeso, wie wenn man einen Spielzeugschrank seiner Kinder öffnet mit all dem verbrauchten Gerümpel. Ja, ja, Spiele sind auch Werdeversuche, und ein Ernst liegt hinter ihnen. Aber sie sind Spiele.
Kinder soll man nie im Spielen stören. Das ist eine gedankenlose Roheit. Die Menschen soll man auch nie in ihren Religionen antasten. Das hat weder Zweck noch Verstand. Wer den Menschen helfen will, muß ihnen Leben austeilen können, reines Geistesleben. Dann fällt das Religionswesen allein von ihnen ab.
Jede Religion bezeichnet mithin einen Entwickelungsdurchschnitt. Es wird noch lange Leute geben, die unter dieser Linie bleiben. Für diese ist Religionsübung ein möglicher Fortschritt zum Leben. Daher muß man den religiösen Übungsmeistern dankbar sein, daß sie soviel Minderwertige emporheben. Für alle Geister aber, die über der Linie stehen, würde Religion einen Rückschritt bedeuten. Sie müssen versuchen, immer weiter über sie hinauszuwachsen. Das bedeutet keine Religionsverachtung. Kein Mensch verachtet auch seine Kinderjahre. Im Gegenteil denkt er gern und freundlich an sie zurück. Aber er muß mehr werden.
Religionsfeindliche Richtungen und Bestrebungen bezeichnen in der Regel keinen Fortschritt und erlahmen gewöhnlich sehr bald in einer unaussprechlichen Langeweile. Die fortschreitende Menschheit wächst von selbst und ohne schroffe Härten und jähe Übergänge über das religiöse Formenwesen hinaus. Sie braucht Geist, göttliche Unmittelbarkeit, und läßt schließlich die Religionen ganz von selbst weit hinter sich. Sie sind nur Entwickelungsspiele.
Von Gott aus wird jede Religionsübung an einem Menschen geduldet, wenn sie überwaltet ist von dem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Vater. Er weiß ganz genau, daß die Formen fallen, sobald Er alles in allem ist, und wer jetzt ohne Äußerlichkeit nicht bestehen kann, mag sie nun Götze oder Heiliger oder Buchstabe heißen, braucht sich darüber keine besonderen Gedanken zu machen. Der Vater hat ihn doch lieb, und wenn er aus Liebe zum Vater solche Dinge glaubt festhalten zu müssen, wird er trotzdem angenehm sein. Im Himmel weiß man: das verwächst sich. Wenn nur das Herz fest zu Gott steht. Die große Gefahr religiöser Äußerlichkeiten liegt lediglich darin, daß sie so leicht eine Macht über den Menschen werden und den Menschen und die Massen zu gedankenlosen Werkzeugen psychischer Gewalten machen. Der Mensch aber muß Herr sein aller Dinge, auch der religiösen, denn er ist Gottes.
Aus jedem Volke ist seine eigene Religion herausgewachsen. Jede hat so lange ihr Recht, bis Gott sie davon erlöst und in höhere Formen des Seins hinüberwachsen läßt.