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Wenn man Kinder ansehen lernt aufs Himmelreich hin, wie hoffnungsfreudig kann man da über ihnen an den Sieg der Menschheit glauben lernen, und wie umgibt uns alle das Himmelreich in unmittelbarer Nähe, unerklärbar und doch faßbar, unsichtbar und doch wirklich! Wer nur den Kindersinn, den demütigen, bekommen und sein Herz bekehren könnte zu den Kindern!
Die schlichte, einfache Art der Kinder, die nichts vorstellen und bedeuten will, die verschafft Himmelreichsrechte. Diese Art ist den Menschen angeboren und ureigen. Wer den eigentlichen Menschen sehen will, muß ihn im Kinde suchen. Geht er im Kinde verloren, so geht das Himmelreich von ihm weg, und wehe dem Menschen, durch den es an einem Kinde verloren geht! Will der gereifte Mensch nach allen bitteren Enttäuschungen der selbsterwählten Größe wieder ins Himmelreich gelangen, muß er Kind werden, neu geboren werden.
Es wäre eine wichtige Frage, die man von jedem Menschen aufwerfen könnte: Wie sieht er auf Kinder, wie stellt er sich zu Kindern, und wie sehen Kinder auf ihn? Gewiß, vor diesen Fragen würde manche Größe sehr klein werden. Es gibt kaum ein besseres Erkennungszeichen für Menschen als ihr Verhalten zu Kindern.
Je länger je mehr gewöhnten sich die Menschen, in allem Religiösen nur den blutigsten Ernst zu sehen. Denn das Religiöse war ihnen etwas Jenseitiges, zu dessen eigentlichem Wesen nur der finstere Tod und das Grab hinüberleiteten. Da war Humor ausgeschlossen, beinah lästerlich und frevelhaft.
Natürlich ist's in der Wahrheit ganz anders. Die Menschen gehören als Kinder notwendig zum Vater im Himmel in einer unlöslichen Einheit, an deren Herstellung zu arbeiten das unausgesetzte Streben aller Gottesmänner aller Zeiten ist. Nun möchte ich nur wissen, was ein irdischer Vater sagen würde, wenn seine Kinder unter seinen Augen nur im scheuesten Ernst herumschleichen würden. Nein es gibt keinen Ort, wo man so herzlich lacht und fröhlich ist, wie im Vaterhause. Die rechten Menschenkinder wissen sich allewege unter den Augen ihres Vaters im Himmel und wissen sich getragen von seiner Liebe. Sie ist die wahre Quelle ihrer ganzen Harmlosigkeit und Lebensfreude, auch ihres Humors, der am Vater erst richtig aufwacht.
Sagt man »Gott«, »Jehova« und dergleichen, so ist das schwer verständlich. Die Menschen wollen sich dann Vorstellungen, womöglich gar Erklärungen machen und können doch nicht. Aber »Vater« versteht jeder. Die sichtbare Vorstellung wird weit überragt durch den wesenhaften Kern des unendlich Gütigen, Barmherzigen, Sorgenden und Überlegenden. Gerade so ist's Gottes würdig. Ein Sein, das über eine leicht vorstellbare Persönlichkeit weggeht und uns nicht mehr als Person, sondern als tiefste Wesenheit berührt. Ein Ich, das Liebe ist.
Auf jeder Lebensstufe hat man eine andere Vorstellung vom Vater. Jedesmal eine vollwertige, ganz ausgefüllte, aber zugleich unausschöpfbare. Solange wir nur Väter haben, umschwebt sie ein eigentümliches Lebensgeheimnis, aus dem heraus uns ein ernstes Wesen, unerklärbar zwar, aber zugleich nicht erklärungsbedürftig, milde anschaut. Wenn wir Väter sind, wird das Geheimnis eher tiefer.
Der erste, der von Gott als Vater redete mit eigentümlicher Betonung und Ausschließlichkeit, war Jesus. Wir können vom Vater nicht reden, ohne von Jesus zu reden. Ja, wenn die Frage nach dem Wege zum Vater die eigentlich brennende Frage der Menschen ist, so ist die Frage nach Jesus nicht minder brennend.
Er war im Grunde derjenige, der die Beziehung zum Vater gefunden hat. Vorher war's ein Ahnen, bei Jesus wurde es Erlebnis, und wenn man seinen tiefen Frieden, seine Klarheit, seine Siegesgewißheit überdenkt, dann muß man sagen: Er ist der größte Entdecker aller Zeiten gewesen. Er hat etwas gefunden, was sich wirklich lohnte zu finden. Es gibt viele menschliche Errungenschaften, ohne die man allenfalls ebensogut leben könnte. Aber ohne diese nicht. Daß jemand sich als Kind weiß, das sich nach dem Vater entwickelt und seine letzte Befriedigung im Vater findet, das ist die Lösung aller Rätsel. Darüber jammern ja heute die meisten, daß sie wissen und sich klar sind, daß sie den Kinderglauben nicht haben.
Nun, Glaube oder nicht. Die Hauptsache wäre, daß sie sich selbst als Kinder und Gott als Vater erleben. Auch Jesus ist dadurch erst für uns wichtig, daß seine Entdeckung des menschlichen Wesens uns solche Erlebnisse schafft und ermöglicht. Es liegt uns zunächst nicht so sehr dran, ihn zu bewundern und anzustaunen, sondern durch seinen Weg befähigt zu werden, zu gleichen Zielen zu gelangen.
»Gebet.« – Das ist der freie Zugang, den jeder unmittelbar jeden Augenblick zum Vater hat. Kein aufgerecktes Wesen, in das man sich hineingesteigert, kein ödes Hersagen irgendwelcher Formeln, sondern das natürliche Denken, das sich getragen und befruchtet weiß durch die unmittelbare Nähe des Vaters, und mit dem Gedanken: Lieber Vater im Himmel – ohne weiteres, zu jeder Zeit, an jedem Ort die Verbindung im Geiste herstellte und die führende Vaterhand fester zu fassen wußte, ein Reden, in dem auch der leiseste Zug religiösen Wesens undenkbar ist.
Das Gebet wacht auf, wie im Kinde die Sprache aufwacht. Es genügt vorläufig für viele, wenn der Geist sie vertritt mit unaussprechlichem Seufzen, dann folgt das Stammeln des Gebets, das ungeschickte, das man an einem Kinde aber so unaussprechlich gern hört, das auch der Vater im Himmel zu schätzen weiß, auch wenn's auf die ungeschickteste Art herauskommt, wenn's nur wahr ist; und schließlich wird's die Sprache des Geistes, die selbständig in die Angelegenheiten des Vaters sprechen zu dürfen gewürdigt wird. Dann will es sehr ernsthaft geübt werden.
Bei Gebeten ist die Hauptsache, nicht daß sie ausgesprochen, sondern erhört werden. Wer aus Mangel an Erhörung aufhört zu beten, ist sicherlich vor Gott viel angenehmer, als wer gedankenlos fortsurrt.
Es mag viel Erdenzeit vergehen, bis man im Himmel so merkwürdige Dinge erlebt, daß Gebete und Almosen eines Menschen bis unmittelbar vor Gott treten dürfen. Solche Gebete und Taten bleiben niemals ohne Antwort. Kein Gebet bleibt ohne Antwort; es darf nur nicht in der Luft stecken bleiben, sondern muß den Lebensmut und die Lebenskraft haben, sich durchzuarbeiten bis in die göttliche Unmittelbarkeit hinein. Sonst fällt das arme Gebet natürlich auf die Erde.
Nicht jedes religiöse Reden dringt wirklich vor das Bewußtsein Gottes. Es muß erst die innere Berührung im Geiste vollzogen sein, ehe menschliche Worte den Eindruck des Betens hervorrufen können. Ehe nicht die Zwischenwand durchbrochen ist, hinter der der Mensch den Vater wirklich findet, kann er ja Gebetsworte machen, wie sie gerade seine Religion ihm vorschreibt oder erlaubt, aber ohne Schaden können sie ebensogut unterbleiben. Wenn der Anschluß nicht gefunden ist, kommen sie ohnehin nicht bis vor Gott, sondern bleiben unterwegs irgendwo stecken. Was vor Gott kommt, bleibt nicht unbeantwortet.
Wer betet, bedarf nur kurzer Worte, er braucht auch gar keine Worte. Gedanken schreien vor dem Lebendigen oft lauter als Worte. Wer Unmittelbares hat, braucht keine Gebärden und Formen. Er steht immer vor Gott, und seine Geisteskraft im Einklang mit dem Vater vermag alles. Denn Geist regiert die Welt und zwingt den Stoff.
Es gibt ja tatsächlich Leute, die beten, ohne nur irgendwelche Wünsche an Gott zu haben, und Religionen haben ja die sonderbare Lehre: das Beten nützt unter allen Umständen. Wenn's auch nicht so wird, wie der Beter will, so wird jedenfalls irgend etwas besser, wie man sich nur denken kann. Irgendwo wird man immer erhört, darum bete man nur unverdrossen weiter. Das ist geradeso, wie wenn man jemandem, der an einer Wasserleitung steht, sagen wollte: Drehe nur immerhin den Krahn auf, wenn's auch nicht in dein Gefäß hineinläuft, so wird's doch irgendwo herauslaufen, und dein Tun ist nicht vergeblich. Schade nur, daß er selbst an solcher Leitung nicht erquickt wird.
Aber an Jesu sah man das Unbegreifliche, daß das Beten nicht Erfüllung einer religiösen Pflicht war, sondern daß Riesenkräfte dadurch in Bewegung kamen, bereit, auch den leisesten Wunsch des Beters, auch wenn er nicht einmal in Worte gekleidet war, zu erfüllen, ja, daß bei ihm nicht das Beten, sondern die Erhörung die Hauptsache war, und daß diese niemals ausblieb. Man denke sich das einmal in unsere Verhältnisse hinein, um es einigermaßen in seiner Bedeutung zu würdigen. Würde irgendwo bei uns das Gebet solche unfehlbare Wirkungen hervorbringen, so müßte die Polizei darauf aufmerksam werden, denn das würde eine Neuordnung aller Verhältnisse bedeuten. Das religiöse Gebet ist unschädlich. Das kann man staatlich anordnen, und es wirkt staatserhaltend. Das Beten Jesu mußte die weitgehendsten und unübersehbare Folgen haben.
Das Allerwunderlichste aber war, daß Jesus das gar nicht als Eigentümlichkeit für sich in Anspruch nahm, sondern in trauten Stunden auch den Seinen, ja, jedermann das Recht zusprach, beten zu dürfen, ebenfalls mit der unfehlbaren Gewißheit der Erhörung ohne irgendwelche Einschränkung, ohne daß etwa das Ausbleiben der Erhörung mit unserem Unverstande u. dergl. entschuldigt würde; nein, freigebig, überreich, freundlich, nicht geizig und kleinlich sollten dem Beter Gaben in den Schoß geschüttet werden, unter der einzigen Bedingung: »Glaubet nur, so wird's euch werden. « Das Beten sah er offenbar an als frohes, heiliges Vorrecht aller Menschen, nicht als schwierige Religionstechnik.
Über dem Anschauen Jesu gingen den Menschen die Augen auf, was nie eine Belehrung bewirkt hätte, und es wurde klar, daß alles, was sie bisher beten genannt hatten, diesen Namen gar nicht verdiente. Das waren religiöse Worte, die als Worte Selbstzweck waren, bei denen allmählich der Gedanke an irgendwelche Folgen abhanden gekommen war und abhanden kommen mußte. Da bekannten sie ihre Armut und baten: »Herr, lehre uns beten«.
Wer von Wünschen hört, denkt natürlich zuerst und nur an sich selbst, höchstens an seine nächsten Freunde, aber Jesus hatte über dem Vater sich selbst und alles eigene Begehren vergessen. Aber das ist gar nichts Übermenschliches. Jedes ordentliche Kind gleicht ihm eigentlich darin. Ein heranwachsender Sohn oder Tochter redet doch täglich in unbefangenster Weise mit den Eltern. Worüber? Wenn's nur halbwegs ein liebes Kind ist, über die Angelegenheiten der Eltern, den Fortgang des Geschäfts und der Wirtschaft, die Ordnung des Hauswesens u. dergl. Es ladet gleichsam einen Teil der elterlichen Sorgen auf seine heranwachsenden Schultern, und Vater und Mutter wissen das außerordentlich zu schätzen. Dann werden die Kinder erst recht eigen, wenn sie frei und selbständig unsere Interessen teilen. Würden sie immer nur von ihrem Taschengelde, Kleidern, Schuhen, Essen, Trinken usf. reden, so wären sie überaus lästig. Aber daß sie unsere Sorgen zu den ihren machen und über die gemeinsame Sorge mit uns beraten, das ist erquicklich für beide Teile.
So stellte sich Jesus zum Vater. Die großen Sorgen des Vaters für die Welt nahm er auf sich und redete mit ihm darüber. So wurde es ein Beten, anders wär's ein Betteln. »Lehre uns beten« war die Bitte der Jünger. Da legte er ihnen drei Wünsche als oberste ins Herz.
Ein ganz rührendes Mißverständnis ist hier aufgestiegen, das einmal handgreiflich lehrt, wie wenig Jesus nachgeahmt sein wollte. Es hat nämlich allen Ernstes Leute gegeben und gibt noch solche, die meinen, im Himmel freue man sich außerordentlich, wenn jemand ein sogenanntes »Vaterunser« hersagt. Das wird nun auf diesem Planeten tagtäglich in mehr als 300 Sprachen bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit, mit oder ohne Andacht, mit rührender Buchstäblichkeit ausgeführt und mit dem naturnotwendigen Erfolge, daß alles beim Alten bleibt. Ja, es gibt sogar Leute, die es, um ja ganz sicher zu gehen, an 25mal hintereinander abschnurren. Natürlich mit gleichem Mißerfolg. Sie erwarten auch gar keinen Erfolg. So wird allerdings schwerlich eine Wandlung auf dem Gebiete des Gebetswesens eintreten. Die Religion hat sich leider des Vaterunsers bemächtigt.
Aber wenn die drei Wünsche ins Herz kämen, ganz abgesehen von den Worten, das wäre etwas. Wenn etwa Gott fragen würde: Mein Kind, was wünschest du am heißesten? und die Antwort käme unwillkürlich, selbstverständlich und wahr: Zum ersten Deins, zum zweiten Deins, und dann immer wieder Deins. Und das ohne Worte, im Geiste, wo man nicht lügen kann und in der Wahrheit, wo's immer bestehen bleibt. Dann war's gebetet.
Und wenn die drei Wünsche in Erfüllung gingen! Der Name Gottes überall heilig als erquickende, belebende, beseligende Gegenwart des Vaters bei allen seinen Kindern; die Herrschaft Gottes endlich, endlich da, überall, voll Heil und Erlösung und Befreiung; der Wille Gottes als einzig maßgebende Richtschnur des Handelns für alle im Himmel und auf Erden, wobei jeder bestrebt wäre, in Barmherzigkeit, Freundlichkeit und Geduld mit dem andern zu wetteifern: dann wären eben alle Wünsche erfüllt, die überhaupt denkbar sind, und das Sehnen der Kreatur gestillt. Unmöglich kann jemand Vater sein, der nicht alles, alles nur für die Kinder will. Was also in dir als Wunsch für Gott brennt, das brennt für die Welt, für die Menschheit, für dich ebenso sehr. Und nun sei so gut und tue Jesu die Liebe an und sage kein Vaterunser mehr gedankenlos auf. Er ist's wert, daß du ihn verstehen lernst.
Der Zustand der Gebetserhörung muß schließlich alle Gebiete erfassen und das Leben und die Kraft Gottes überallhin pflanzen, weil es das Sehnen des Beters ist, daß Gott werde alles in allem. Das letzte Gebiet, das für Gott in Besitz genommen werden muß, ist aber der Tod. Der Zustand der Gebetserhörung muß sich demnach für den Menschen in die Herrschaft auch über den Tod steigern. Vor der Macht des Geistes und der Wahrheit kann kein Hindernis bestehen für die Menschen, auch der Tod nicht. Aus dem Geist und aus der Wahrheit fließt also auch Auferstehung und Leben.
Es ist eine ganze Welt mit ungeheuren Kräften, die sich da vor uns auftut. Man muß sie nur zu erkennen suchen an Jesu und den Seinen und nicht an der Beterei, die etwa in weiten Schichten Religionsgebrauch ist.
Das, was der Mensch eigentlich bedarf, ist das Hereinragen der Macht Gottes in die äußern Lebensumstände, daß er wirklich genau wie ein Kind im Elternhause sein ganzes Leben durchwaltet und beherrscht weiß von väterlicher Liebe und Kraftentfaltung.
In dem, was sich von selbst macht, liegt oft ein bedeutsamer Wink Gottes. Die wenigsten verstehen den Zufall. Zwar hat Jesus selbst versprochen, daß denen, die nach dem Reiche Gottes trachten, der Zufall alles nötige bringen soll, aber doch gilt es bei vielen als Betätigung höherer Christlichkeit, wenn sie den Zufall verachten. Tatsächlich gibt's kaum etwas Schöneres als den Zufall, das Aufmerken auf das, was sich einfach und ungesucht gibt, und das Verstehen der bedeutsamen Winke, die darin liegen. Einfachheit ist immer das Kennzeichen des Göttlichen, das Verwickelte leidet immer an innerer Unwahrheit. Wer eine göttliche Leitung begehrt, verlange keine Wunder und Zeichen, sondern stelle sich getrost unter den Zufall und achte sorgfältig auch auf das unbedeutendste Vorkommnis. Von da aus suche er den Weg zum Vater. Es gibt keinen gewisseren Weg unter der Leitung des Vaters – als den Zufall.
Es ist keine morgenländische Übertreibung, sondern Erleben in stofflicher Wirklichkeit, daß es Menschen gibt, denen nicht einmal ein Haar vom Haupte fällt ohne des Vaters Willen. Das gilt natürlich nicht von den Massen. Die sind nicht so gestellt. Du brauchst's für dich auch nicht zu glauben, und wolltest du's glauben, wär's vielleicht eine religiöse Torheit. Du hast vielleicht nicht einmal geheiratet unter des Vaters Leitung, sondern irgend etwas irgendwoher gekriegt, was dir die Welle eines gleichgültigen Zufalls just in deinen Schoß spülte. Nur eines: Es gibt solche Menschen, und darum muß einmal auch dir der Augenblick kommen, von dem an dein Leben aus der Herrschaft eines öden Zufalls hineingehoben wird ins Himmelreich des Vaters. Denn es kann nicht sein, daß irgendein Mensch ausgeschlossen ist von einem Guten, das auch nur einem einzigen Erdgeborenen widerfährt. Wenn du hineingeboren bist ins Himmelreich, dann wird der Vater dein Leben leiten. Dann wird's freilich an dir sein, daran fest zu halten. Hineingebären kannst du dich nicht, aber drin zu leben und zu wachsen, das steht in deiner Macht.
Das Leben bietet unglaubliche Härten, die einer Erklärung oft genug spotten. Solchen Vorkommnissen gegenüber fangen Menschen, besonders jüngere Leute, gewöhnlich an zu fragen: Wo bleibt hier die Gerechtigkeit, die Güte und Barmherzigkeit Gottes? Ja die Frage quält sie nicht nur innerlich, sondern drängt oft genug nach außen und macht sich in Gesprächen, in religiösen Streitereien und ähnlicher Weise Luft. Das Ergebnis ist meist mit schmerzlicher Folgerichtigkeit ein Versinken im Zweifel, später in Gleichgültigkeit, kurz eine noch größere Selbstlösung von Gott als ursprünglich vorhanden war.
Das ist folgerichtig. Schon die zweifelnde Frage, nach der Gerechtigkeit und Güte Gottes ist ein Heraustreten aus der inneren Übereinstimmung mit Gott. Das Reden darüber ist noch eine Steigerung des Zustandes, eigentlich etwas ganz Schreckliches, das gar nicht folgenlos bleiben kann. Mindestens gesagt doch eine Unehrerbietigkeit ersten Ranges.
Also über Schwierigkeiten und unbegreifliche Vorkommnisse im Leben soll man wohl gar nicht nachdenken, einem blinden Glauben zuliebe? – O, nein. Im Gegenteil. Je mehr man denkt, um so besser und förderlicher. Aber es sollte mit Ehrerbietung geschehen, himmelreichsmäßig. Nicht mit der Frage: Gibt es einen Gott? sondern mit der Frage Jesu: Wo ist hier der Vater? Diese sollte dann nicht ruhen, bis der Vater gefunden. Dadurch müssen uns in Gott Erkenntnisse werden, die unsere heutigen Gedanken weit übersteigen. Wir bekämen ein Himmelreichswissen.
Schon das eine wäre wert gesucht zu werden, daß alle Furcht und Bangigkeit verschwindet. Wer sich aus seinem Leben jede Sorge, Ängstlichkeit, Unsicherheit hinausdenkt, kann sich eine kleine Vorstellung vom Himmelreich machen. Jede Furcht ist ein Stückchen Tod, aber die Gabe des Himmelreichs ist ewiges Leben, natürlich gleich und in Vollkraft.
Wer noch im Furchtwahne steckt, geht Schwerem gern aus dem Wege. Furcht ist eine Geisteskrankheit, die die innere Geschiedenheit des Menschen von Gott anzeigt. Die Kleinheit der Ursache von Furcht ist ein Maß für die Größe der Entfernung von Gott.
Bei jedem Menschen ist das Furchtbewußtsein sehr ernst zu nehmen. Immer der Schwächere fürchtet sich. Dem schadet auch alles, wovor er sich fürchtet, und wär's ein böser Blick oder ein Zuglüftchen. Wer aber weiß, daß er stärker ist in sich selbst, der fürchtet sich nicht, dem schadet auch nichts.
Das Leben ohne Hast, das Leben ohne Furcht, das Leben ohne Leid, das Leben ohne Mißlingen, das Leben voll Sieg, voll Freude, voll Friede, das ist das ewige Leben. Das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben. Das schenkt er ihnen ohne Tod und irgendwelche Umstände. Das ist ihr Mitbesitz, weil sie ja Kinder sind. Danach sehnt sich heimlich und öffentlich die Religion, davon träumt sie und redet sie, aber sie hat's nicht. Sie hat ganz recht, sie muß erst sterben, um es zu gewinnen. Hätte sie's, dann wäre sie ja das Himmelreich auf Erden und nicht die düstere, gähnende Langeweile der Völker.
Die Dinge sind sämtlich Gedanken Gottes. Gott denkt in lauter Wirklichkeiten, und unsere Umgebung ist ein Meer von Gottesgedanken, in denen der Vater in verborgener Weise sein Wesen hat.
Und der Vater, der alles für uns will, zu unserem Besten und Heil will, der nichts Schädliches, nichts Schlechtes für die Kinder will, läßt uns weben in diesem Meer von Güte.
Wer so blickt, steht über den Dingen, über dem Stoff, und weil er alles ansieht als vom Schöpfer und Vater aus, so steht er unwillkürlich auf seiten des Vaters und betrachtet alles als Kind, als Erbe, als Eigner und Beherrscher. Er ist nie beherrscht und beeinflußt von den Dingen, sondern einzig vom Vater, dem die Dinge unter allen Umständen Untertan sein müssen. Ein freier, froher königlicher Blick in die Welt.
Die Dinge sehen wirklich ganz anders aus. Uns machen sie leicht den Eindruck selbständigen Stoffes, der mit gewissen Kräften offenkundig ausgestattet ist, Kräften, die oft genug stärker sind als wir selbst, und die dadurch zu Furcht und Sorge Anlaß geben. Es gibt Menschen, die sehen alles mit einem ängstlichen Blick an und sind in beständiger Flucht vor dem Stoffe und seinen Erscheinungen. Dadurch wird natürlich das Leben gar bald zur unerträglichen Qual. Bei vielen tritt diese Qual erst ein mit der Wende des Lebens. In der Jugend fühlt man seine Kräfte und hat noch die goldene Vorspiegelung in sich, man könnte die Welt zwingen. Aber wenn die Enttäuschungen sich jagen, und schließlich auch die Kräfte anfangen zu versagen, dann ist der Jammer groß.
Aber wenn das alles nur Dinge sind, über die wir als Kinder gewisse Mitrechte haben, dann sind wir nicht ferner die Fürchtenden. Wir sind vielmehr die Ordnenden und Regierenden. Und mehr noch als das. Wenn alles, was ist, vom Vater stammt, dann ist offenbar, daß es nichts geben kann, was in seinem eigentlichen Wesen vom Vater verschieden ist. An sich und ursprünglich müßte Gott sein alles in allem. Es darf also auch Stoff und Geist nichts wesentlich Verschiedenes oder gar Feindliches sein, sondern höchstens gradweise unterschieden. Stoffliches ist Versichtbarung von Geist, Dinge, große Wirklichkeiten von Geistesgedanken, oder umgekehrt ist Geist unendlich verfeinerter Stoff, der das Sichtbare zur sinnlichen Wahrnehmbarkeit aus sich heraussetzt als sein Sinnbild und Erkennungszeichen.
Pantheismus – was? O nein. Das sind ja alles nur Worte. Geist bekundet sich in Kräften und Taten. Aus solcher Betrachtung werden sofort Taten, wenn der Mensch jetzt in allem und jedem dem Vater nachspürt. Dann wird der Stoff zum Wege, die Dinge werden zu Rastorten auf dem Wege, und die unerschöpfliche Masse der Dinge wird zur unausschöpflichen Erkenntnisquelle des Wesens des Vaters. Die Gedanken des Vaters, die sie darstellen, werden von uns umgesetzt in Taten des Forschens und Erkennens. Sie sind lauter Aufgaben, hingestellt, um an ihnen den Geist, die Herrlichkeit, die Güte des Vaters zu begreifen und zu erleben. Jedes Ding muß zum Erlebnis des Vaters werden, sobald wir so weit hineingedrungen sind, daß wir in ihm der Spuren des Vaters wirklich inne werden. Dann sind wir aber mehr noch als bloß Herrschende: wir sind Liebende, und auf unsere Liebe und die Erkenntnis unserer eigenen inneren Verwandtschaft mit dem All gründet sich unerschütterlich und unlöslich unsere Herrschaft.
In dieser Haltung vollzieht sich im Menschen etwas unbeschreiblich Großes. Es werden alle Dingwerte umgewertet. Wir sehen ja nicht, wie die Dinge an sich sind, aber wir sehen sie dann auch nicht mehr nur, wie sie für unser Durchschnittserkennen sind, sondern wir sehen sie, wie sie Gottes sind.
Wenn wir alles so umdenken, so ist von jedem Ding aus, das uns begegnet, ohne weiteres eine Brücke geschlagen vom Vergänglichen ins Unvergängliche, vom Zeitlichen ins Ewige, vom Irdischen ins Himmlische. Alle Dinge verlieren die Werte, die sie für sich sonst haben nach menschlicher Schätzung, und gewinnen in uns Ewigkeitswerte. Sie sind die Gleichnisse und bildlichen Darstellungen des Himmlischen. Das eigentlich Wertvolle ist das Himmlische, aber das Gleichnis und Bild wird lieb um dessen willen, was es darstellt.
Es muß einen Einfluß haben auf die Dinge, ob man in die Welt hineinsieht mit dem Blick des Liebenden, der in ihr den Vater sucht und findet oder nicht.
Das ist ganz deutlich. Wer je mit Tieren zu tun gehabt hat, weiß, daß sie gedeihen, wenn mit Liebe auf sie gesehen wird, und verkümmern, wenn wir sie gleichgültig oder gar mit Haß ansehen. Noch viel mehr sieht man's an Menschen, an Kindern zumal. Kinder fühlen körperlich den Blick des Wohlwollens oder der Mißgunst. Sie leben auf und entwickeln alle Tugend, wenn man sie mit Liebe ansieht, und werden in jeder Beziehung herunterkommen, wenn sie sich mit Verachtung oder Haß betrachtet fühlen. Das ist allgemein bekannt. Aber wo ist die Grenze, wo der Blick und die Gesinnung nicht mehr empfunden werden? Wo hört die Natur auf, lebendig zu sein, und wo ist sie leblos? Nach biblischer Anschauung steckt der Stoff voll von Lebenskeimen, denn die Erde brachte hervor aus sich heraus alle Lebewesen, und unsere heutige Wissenschaft bestätigt das wunderbar. Sie zieht nirgends dem Leben eine Grenze und nimmt an, daß schon die Atome voller Lebenskeime stecken, die sich in Anziehung und Abstoßung kundgeben und zur Unterlage aller Lebensformen dienen müssen.
Wenn das wirklich so ist, wie Bibel und Naturwissenschaft gemeinsam annehmen, so hat die Gesinnung des Menschen und der Wille des Menschen einen mächtigen Einfluß auf die Geschöpfswelt ohne Ausnahme. Im echten Menschen kommt die Natur erst zu ihrem eigentlichen Glanze und Wesen. Wer den Vater aus ihr heraussieht, der muß darum auch Macht bekommen, daß ihm alles gehorcht und Untertan wird, wenn's sein muß auch Berge, Sturmwind, Wellen und Meer. Denn in solchen Menschen erlebt die Geschöpfswelt den Vater. Alles, was ist, sind Gedanken Gottes, die ihre Gestaltung bekamen aus Gott und in Gott. Was sind also Gesetze des Stoffes? Willensäußerungen, Gedanken des Vaters. Wer nun den Vater versteht im tiefsten Wesen, der wird auch die Natur verstehen und wird imstande sein, sie zu regieren, und die Natur wird ihm gehorchen, wie sie dem Vater gehorcht.
Im wahren Menschen wird auch die stoffliche Welt mit allen ihren Lebensformen ihrer selbst bewußt. Denn der Mensch ist mit allem, mit dem Erdenkloß, wie mit dem Wurm, wie mit jeder Lebensform blutsverwandt. Darin stimmt auch Naturwissenschaft und Bibel merkwürdig überein. Im Menschen denkt die Naturwelt sich selbst und wird Gottes inne. Der Mensch ist das bewußte Empfinden und Leben der Erde. Wer nun naturmäßig, fürsorgend und liebend denkt, in dem begegnet sich die Schöpfung mit der Herrlichkeit ihres Urquells, dessen Wille wird zum Gesetze für die Dinge.
Das sind keine leeren Gedankengänge. Jesus hat in seinem Leben den Erfahrungsbeweis dafür erbracht. Es wurde ihm ja tatsächlich alles Stoffliche bedingungslos Untertan, alles übrige auch, nur mit Ausnahme einiger störrischer Menschen, die ihm aber noch Untertan werden. Er erlebte also die Wahrheit seines Verhaltens, das er ebenso dem Vater wie aller Kreatur gegenüber beobachtete. Dieses Erleben wuchs mit ihm, wie eine Erkenntnis wächst. Der Knabe schaute nach dem Vater aus und schaute und schaute, bis er ihn fand und im Finden die rechte Kindesstellung und damit natürlich auch Kindesrechte gewann.
Das ist das Geheimnis der Kraft Jesu: Weil er den Schwerpunkt des Alls im Vater suchte und sich selbst in die zweckvolle Einheit hineinstellte, wurde sein Denken und Wollen eines mit dem Vater, mit der Natur, mit dem All. In dieser Wesenseinheit mußten ihm auch alle Kräfte zu Gebote stehen. Die Einheit des Wollens muß auch eine Einheit des Könnens sein. Bei der Sachlage, daß das All im Vater ruht, ist es unmöglich, daß der Mensch, diese sichtbare Darstellung des Vaters, dauernd von allen Rechten an diese Welt sollte ausgeschlossen sein. Ist es so, wie Jesus es sah, dann muß dem Menschen alles gehören, sobald er in diese lebensvolle Einheit eingegangen ist.
Daher gab's für Jesus nur ein Ziel, die Gesamtheit aller Menschen mit in diese Einheit, die ihre wahre Natur ist, hineinzuziehen. Seine Stellung zur Natur beruhte nicht auf einer Anschauung, sondern auf dem Innewerden ihres eigentlichen Wesens. Darum schuf er auch kein Lehrgefüge, sondern eine zielvolle Geschichte.
Der Mensch kann von der ihn umgebenden Natur nicht getrennt werden. Waltet aber von dem Menschen und von allem Bestehenden zu Gott eine Beziehung als zu einem Vater, so ist ja der Mensch und die gesamte Natur, also alles Stoffliche, wesenseins mit Gott. Es gibt also keine Zweiheit von Natürlichem und Übernatürlichem, höchstens eine gradweise Unterschiedenheit. Das Sichtbare ruht auf dem Unsichtbaren, und der Geist drängt in den Formen des Seins nach Bewußtwerden seiner selbst und findet es vorläufig am deutlichsten im Menschen. In dem Maße nun, als der Mensch einheitlich wird im Empfinden und Wollen mit dem, der als Vater ihn selbst und das All durchwaltet, wird er auch Herr des Seins und offenbart in sich selbst das Wesen des Vaters.
Das war das Sehnen Jesu, daß bewußte Kinder des Vaters im Himmel würden, daß der Vater gesehen werde an den Menschen und ihrer stetig zunehmenden Vollkommenheit. Das mußte erreicht werden durch den großartigen Anschauungsunterricht, den er selbst erteilte: Sehet mich, und ihr sehet den Vater, denket wie ich, und euer Sein gestaltet sich um. Es wird nichts sein, das euch nicht zu Gebote steht.
Wer Fremdwörter liebt, könnte das nennen ein theozentrisches Verhalten, während das Elend der Menschen ist, daß sie egozentrisch denken und handeln.
Es ist gar kein Zweifel, daß die Wahrheit Jesu noch einmal durchdringen und Gemeingut aller Menschen sein wird. Sie ist die Wahrheit schlechthin. Nur ist sie bisher noch nicht genügend verstanden, noch nicht in Leben und Handeln umgesetzt. Sie ist aber so einfach, daß jeder sie verstehen kann und verstehen wird, und sie vermittelt sich nicht durch gelehrte Studien, sondern schlichte Geschichte und Erlebnisse.
Das Dasein ist nicht nur Erscheinung, sondern auch Gedanke. Dieser ist die tiefere Form. Jedem Ding liegt zugrunde ein Gedanke, ein Stück Geist. Und der Gedanke war früher da, nachher erst das Ding, das nur die Erscheinung des Gedankens ist. Als Gedanken nehme ich aber das Ding unabhängig von den Sinnen direkt durch den Geist wahr. Wenn nun eine Verbindungsbrücke so geschaffen würde, daß Geist auf Geist wirkt, so ist das jedenfalls der weitaus gewissere Weg des Erkennens, als der Sinnenweg, der auf die Erscheinungen begründet ist. Jesus nun suchte überall den Vater. Hinter jedem Ding und Sein mußte etwas vom Geiste des Vaters verborgen sein. So blieb er nie bei dem Sinneneindruck stehen, sondern beruhigte sich nicht, bis er den Vater erkannt hatte. Da sah er dann die Dinge, wie sie von Gott aus aussehen und mehr noch, wie ein Vaterauge auf sie schaut. Er sah an ihnen den väterlich fürsorgenden Sinn, unbekümmert um die Erscheinungsart.
So sah er auch die Menschen an. Der Mensch vom Vater aus betrachtet sieht oft wesentlich anders aus, als unsere Sinne seine heutige Wirklichkeit auffassen.
Offenbar wird die Art, vom Geiste auf den Geist zu schauen, für gewöhnlich trübend beeinflußt von der sinnlichen Anschauungsweise. Es ist ja auch Jesu nicht von selbst zugefallen, sondern war ihm das Ergebnis dreißigjähriger Übung und dreißigjährigen Fragens bei jedem Ding: wo ist hier der Vater? Wenn es aber gelingt, unbeirrt durch Sinneneindrücke den Blick am Vater festzuhalten, so muß in unsern Geist eine ungeheure Wirkungskraft hineinkommen. Wir beeinflussen dann nicht mehr mit den Sinnen die äußere Erscheinungsform der Dinge, sondern mit der Kraft unseres Geistes ihr Wesen. Wir wirken uns dann aus im Geiste und Sinne des Vaters und können an den Wurzeln alles Seins wirkungsvoll zur Geltung kommen. Die Veränderungen, die wir dann hervorbringen, durchbrechen nicht die Naturgesetze, sondern bringen im Gegenteil erst die wahre, innere, heilige, göttliche Natur zur Erscheinung.
Das Vollkommene ist das Wesen des Vaters. Das Unvollkommene ist ein Zeichen der Entwickelung. Göttlicher Lebensgrundsatz ist: Werden lassen. Im Unvollkommenen wird der Vater gesucht, im Vollkommenen gefunden. Das Unvollkommene richtet sich selbst. Es kann nicht bestehen. Das Ganze strebt auf Vollkommenheit und muß sie auch finden, weil der Vater sie ist.
Wir können also eine doppelte Haltung einnehmen, die Richtung auf das Vollkommene, oder auf das Unvollkommene. Aber jede hat ihre einschneidenden Folgen über unser Sein.
Wer das Unvollkommene und Fehlerhafte in der Entwickelung beachtet, in den wächst es hinein, und er verkümmert, weil er den Vater nicht sieht. Er scheidet sich vom Lebensquell und stellt sich mit allem, was unvollkommen ist, auf den Abbruch. Wer recht sieht, muß überall das Unvollkommene übersehen lernen und das Vollkommene, Gute und Wahre in sich aufnehmen. In dem Maße kommt er dem Vater entgegen und dem Leben. Er sieht sich hinein in das Wesen des Vaters, und in dem Maße, als er innerlich davon erfüllt ist, vermag er's auszustrahlen und fortzupflanzen.
An solchen Menschen, die in sich die Strahlen der Vollkommenheit sammeln, wird also das Wesen des Vaters gesehen und in die Sichtbarkeit verpflanzt. Demnach geht nur durch sie hindurch die echte Entwickelung der Menschheit auf Vollkommenheit. Alle Seitenlinien dürfen zwar auch wachsen und zunehmen, aber nur soweit es das in ihnen wohnende Maß der Vollkommenheit und Kraft zuläßt. Dann bleiben sie stehen, während die Lebenslinie an ihnen vorbei weiter läuft. Die eigentliche Linie des großen Vorwärts läuft überall da, wo man unmittelbar auf den Vater achtet, wo der einfache Mensch das Auge nach dem Vater aufschlägt und sich schlicht bewußt wird: Ich und der Vater.
Diese Entwickelung vollzieht sich mit derselben Sicherheit, wie wir jedes Naturgesetz sich auswirken sehen. An den Wirkungen wird die Richtigkeit erwiesen. Das ist der geschichtliche Erweis des Vaters.
Wer sich unter das Bewußtsein des Väterlichen stellt, der nimmt zu und gewinnt ganz unbewußt und unbeabsichtigt Vollkommenheitsspuren. An ihm wird mit größerer oder geringerer Deutlichkeit der Vater gesehen. Wer sich innerlich mit dem Unvollkommenen verbindet, das Nein überall heraussieht und das Minderwertige bemerkt, der entfernt sich vom Vater und verdüstert.
Ebenso geht's, wenn jemand nur den Stoff und sein äußerliches Walten sieht. Er verödet allmählich, auch wenn er das roh Stoffliche mit den Begriffen des Guten, des Schönen, des Wahren zu verbrämen sucht.
Es wird also geschehen, daß wer an die Liebe glaubt, voll Leben wird, wer an den Zufall glaubt, verödet. Die Wahrheit führt ihren Erweis in der Geschichte der Menschen. Nicht in der Form von Sätzen, sondern von Erlebnissen und Sein.
Das Vollkommene kann und soll man überall sehen. Sogar an den Menschen. In dem Maße, als wir es sehen, beglücken und beleben wir uns und andere. Wer das Gute am Menschen sieht, schafft ganz neue Menschengemeinschaft. Er braucht weder Aufsätze noch Vorschriften über das Verhalten der Menschen von sich zu geben, noch auf Friedensversammlungen zu tagen. Er wirkt zum Frieden. Oft ganz unbewußt.
Jeder Mensch fühlt den Blick, mit dem wir ihn betrachten, und den Gedanken, den wir auf ihn richten. Blicke und Gedanken sind Kräfte, die Menschen beeinflussen. Wir können, ohne ein Wort zu sagen, mit unserem ganzen Wesen Menschen auf den Weg zur Vollkommenheit hinweisen.
Sogar an uns selbst dürfen wir das Gute sehen und haben kein Recht, uns ohne weiteres als verlorene und verdammte Sünder wegzuschätzen. Wer in seinem Guten den Vater sieht, der bleibt auch bewahrt vor aller Eitelkeit und Selbstgefälligkeit. Er ist auf dem Wege der Vollkommenheit. Eitelkeit ist das deutlichste Zeichen, daß der Vater nicht gesehen wird. Vor ihm zerfällt sie von selbst. Sie kann gar nicht bestehen.
Der Weg zur Vollkommenheit bedeutet eine Entdeckungsreise in das Land des Guten und Wahren. Es gibt sehr viel Gutes in der Welt. Auch unser ganzes Leben ist davon durchzogen in allen seinen Begebenheiten. Wer auf den Vater achtet, findet eine Kette von Freundlichkeit und Erlebnissen des Guten. In diesen Erlebnissen erweist es sich uns, und in dem Maße, als wir ihn erkennen, sind wir auf dem Wege zu unserer Wahrheit. Wer so sehen würde, müßte also wenigstens ein kleines Gutes, auch im Schwersten, erkennen, und dieser kleine Sonnenblick, das ist das Erleben des Vaters. Da lächelt uns etwas Tröstendes an. S'ist ja gar nicht so schlimm, wie's scheint.
Wer sich nun durchtastet von Gutem zu Gutem und das Ungute übersehen lernt, der bewegt sich in der Vollkommenheitslinie. Wer sich durch Unvollkommenes irre machen läßt, verliert innerlich den Zusammenhang mit dem Vater, mit dem Leben.
Selbst in den Religionen der Menschen wohnt ein Gutes und Vollkommenes, das man sehen und beachten darf. Davon leben sie im Grunde. Es ist das, was sie alle gemeinsam haben, das Trachten nach Verbindung der Menschen mit dem letzten Grunde des Seins und die gelegentlichen Versuche, diese Verbindung zu einer unmittelbaren Quelle von Kraft und Leben zu gestalten. Dieses Gemeinsame ist ihr Göttliches. Das darf man sehen und dran froh werden. Das Trennende ist ihre Unvollkommenheit. Diese muß man übersehen und unbeachtet lassen. Damit hilft man den religiös gebundenen Menschen wesentlich in die Freiheit der Kinder Gottes.
Das Schönste ist, daß jeder ganz selbständig jeden Augenblick den Versuch machen kann, den Weg zur Vollkommenheit zu finden, und an seinen Erfahrungen wird jeder selbst merken, ob er recht ging, oder nicht, je nachdem er in der Liebe zunimmt oder unter dem Zufall verödet.
Wäre des Menschen Natur gottfeindlich und böse, so könnte sie nicht für Gott erlöst werden; da sie aber göttlich ist, so ist's möglich, sie zu befreien. Jesus glaubte also nicht an das Böse, sondern an das Gute im Menschen. Dem Guten brachte er seine Gotteskräfte und Lebensgemeinschaft nahe, um es zum Selbstbewußtsein und damit zur Erlösung zu führen.
Wir wissen ganz genau, daß die Massen und die maßgebenden Kreise an den Tod glauben und nicht an das Leben, an das Böse und nicht an das Gute. Das schadet aber nichts. Das darf auch heute so sein und wird niemandem übel genommen. Es schadet nur ihm selbst, wenn er über die Macht des Bösen zetert, denn er verwischt damit seine eigene göttliche Menschenherrlichkeit. Aber das Reich Gottes wird seinerzeit den Nachweis des Gegenteils führen, nicht durch Gründe, sondern durch Geschichte, nicht durch Worte, sondern durch Kraft.
Im Laufe der christlichen Jahrhunderte ist unvermerkt an Statt der sittlichen Vollkommenheit die Seligkeit als Ziel der Wünsche getreten. Nun ist ja gewiß, daß das eine ohne das andere nicht denkbar ist. Wer vollkommen ist, muß auch selig sein. Aber es ist eigentümlich, daß bei der Seligkeitslehre immer nur die Gnade betont wird. Die Gnade besteht natürlich darin, daß dem Sünder alle seine Sünden durch einen göttlichen Gnadenerlaß, der sich lehrgemäß rechtlich auf die Gesetzeserfüllung Christi stützt, plötzlich verziehen werden. Damit muß dann das Tor für den Eintritt in die Seligkeit geöffnet sein, und weiter begehrt der Christ ja nichts. Ewige Seligkeit, ewiges Wohlbehagen aus lauter Gnade, angesichts deren weder vergangene Sünden, noch irgendwelche Leistungen die mindeste Rolle spielen.
Es hat sich also das anfängliche Vollkommenheits- und Heiligkeitsziel in eine Zukunft von Seligkeit und Wohlbehagen verwandelt. Das Sonderbarste ist, daß sich diese Verschiebung haarscharf mit Bibelsprüchen beweisen läßt, wie übrigens alles; denn es hat noch niemals eine christliche Richtung irgendwelcher Art gegeben, die nicht für alle ihre Meinungen und Lehren einen genauen biblischen Bescheid vorrätig gehabt hätte.
Damit ist Jesu eigentliches Ziel zugunsten eines Nebenzieles verschoben. Die Seligkeit muß das selbstverständliche Ergebnis der Vollkommenheit sein, Sie dürfte aber nicht als Endziel hingestellt werden. Daß Gott zu seinem Rechte und Siege komme, nicht daß der Mensch zu Wohlbehagen komme, ist das wahrhaft göttliche Ziel, das Jesus erstrebte.
Überall, wo Menschen denken und arbeiten, da wehren sie sich gegen das Böse, gegen das Leid, gegen den Tod, für das Leben.
Das Leben nach dem Tode? – Das ist ein eiserner Bestandteil jeder Religion. Gelehrt hat Jesus darüber nichts. Was er allenfalls sagte, war eine Anpassung an die Gedankenformen seiner Zeitgenossen und hatte seine Spitze mehr im Diesseits als im Jenseits. Der köstliche biblische Beweis für die Unsterblichkeit der Erzväter, den er einmal aus der häufigen Formel: »der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« ableitete, war weniger Lehre als Notwehr gegen die alberne Zudringlichkeit sadduzäischer Freigeisterei. Jesus selbst hätte mit solchen Formen nie gearbeitet. Die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus, die den Schleier des Jenseits zu lüften scheint, macht auch mehr den Eindruck eines Gleichnisses als einer Lehre. Aber vom ewigen Leben sagt er: Wer an mich glaubt, der hat es. Also braucht man nichts darüber zu lehren. Ich denke, wer's hat, der wird schon merken, was es ist, und wie es ist. Er wird sein ewiges Leben leben und wird kein Interesse daran haben, daß er's erklären oder beschreiben kann.
Das Leben nach dem Tode an sich ist damit eine gleichgültige und belanglose Frage geworden. Offenbar hat der Tod nicht den leisesten Einfluß auf den Besitz oder Nichtbesitz des ewigen Lebens. Wer in Gott steht, hat's und weiß es; wer draußen steht, hat's nicht. Was hat mit diesen Wirklichkeitswerten der Tod, oder eine Lehre, oder eine Religion zu tun!
Ewiges Leben und Auferstehung. Das ist ja das Gewaltigste, was ein Mensch sich vorstellen kann. Niemandem sollte man's verargen, wenn er's schlankweg verwirft. Aber die Boten Jesu hätten es gar nicht in ihren Mund nehmen können, so wenig wie David, wenn's bloß ein ödes Dogma und nicht ein seliges Erleben gewesen wäre. Als Dogma schlägt es aller menschlichen Vernunft ins Gesicht und ist verwerflich. Als Erlebnis nimmt es unsere Natur in ihrem tiefsten Wesen und geheimsten Sehnen auf und hebt die Menschen auf eine neue, höhere Stufe des Seins. Mit dem bloßen Dogma werden sie erniedrigt, mit der Wirklichkeit unendlich erhöht. Als Dogma ist's beinah unverzeihlich. Leben hat nur als Erleben sein Recht.
Welche furchtbare Macht der Tod im Leibe und Geiste der Menschen ist, braucht man eigentlich nicht zu sagen. Es ist bei allen bekannt, die einigermaßen nachdenken. Was aber nicht bekannt ist, das ist die Macht des Lebens. Der Tod ist Finsternis, das Leben Licht. Auch die schwärzeste Finsternis zerfließt und verschwindet vor dem kleinsten Lichte. So ist das Leben in seiner Wahrheit ungleich stärker als jeglicher Tod. Unser verzagtes menschliches Geschlecht weiß das nicht.
Wenn das Leben zur Geltung kommt, richtet es seine Herrschaft ebenso wie der Tod im Leibe und im Geiste auf.
Es ist furchtbar gefährlich, Toten nachzutrauern. Es schadet den Lebenden und nützt nicht den Abgeschiedenen. Vom Standpunkte des Lebens aus, der für uns der einzig maßgebende sein muß, sind die Toten nicht im Fortschritt, sondern im Rückschritt, sowie der Greis gegen den Mann im Zurück ist. Wollen wir einen Lebenseinfluß ausüben, der uns unbewußt und ungewollt entstrahlt, so müssen wir mit Vollkraft unser eigenes Leben leben. Das wird auch auf unsere nähere und fernere Umgebung erquickend und belebend wirken.
Im Menschen Jesus Christus ist tatsächlich die Menschheit bereits in die Wahrheit völlig hinübergetreten. Es ist nicht mehr eine Frage der Möglichkeit, sondern der Zeit, daß das Ziel für die Gesamtheit erreicht werde.
An Jesus wurde deutlich, daß Himmlisches gar nichts Übernatürliches ist, sondern erst die rechte Natur. Was wir gewöhnlich menschlich und schwach heißen, ist Unnatur, was Jesus war, wurde deutlich als das das von Anfang war und bei Gott war und Gott war. In Jesu und an Jesu lebte der Mensch auf. Da war keine Kunst und Religion, da war heilige, fröhliche Natur, und das ist das Himmelreich.
Dabei entbehrte es keineswegs seines Glanzes, aber es war der stille Glanz der Hoheit, die dem Menschen an sich eigen ist. In dem Maße, als jemand unschuldig ist, liegt auf ihm ein Stück menschlicher Herrlichkeit. In Jesu war's bewußte, ausgereifte Klarheit, die sich wußte als Gottes, und darum auch die ganze Menschheit für Gott in Anspruch nahm und von seinen Himmelreichskräften keinen auszuschließen entschlossen war. Aus ihm kam's als selbstverständliche Wirklichkeit, daß der Anfang, den in ihm die Erscheinung des Himmelreichs gemacht hatte, nun nie mehr stille stehen werde und dürfe, bis alle Welt in Besitz genommen sei.
Das war an ihm und um ihn der Fortschritt der Zeit. Damals mag man sehr gejammert haben über die schlechten Zeiten und den Verfall des Judentums, über hereinbrechenden Unglauben und Sittenverderbnis, über das sichtliche Nahen der Endzeit und der Tiere aus dem Abgrunde. Aber in all das religiöse Gejammer trat der große Fortschritt der Zeit, das Himmelreich selbst herein, schlicht und voll Hoheit, menschlich und doch für viele unsichtbar, immer nachgebend und unterliegend, und doch voll Kraft und Siegesherrlichkeit. So kam in Jesu das Himmelreich zu den Menschen.
Darum ist uns auch Jesus zunächst nur als das wichtig, als was er sich selbst am liebsten bezeichnete, als Menschenkind. Er legt offenbar selbst den größten Wert darauf, als Menschenkind erkannt zu werden, weil dann sein Gutes ohne weiteres der Gesamtheit aller Menschenkinder zukommt. Darauf haben alle ein gewisses Anrecht, und den Weg, den Ein Menschgeborener gegangen ist, dürfen und können schließlich alle gehen.
Wenn es ihm gelang, den Weg zum Vater zu finden, so muß dieser Weg für alle vorhanden und gangbar sein, höchstens, daß viele ihn nicht finden.
Ein Mensch, genannt Jesus, der von sich nichts so scharf betonte, als daß er Menschgeborener sei und deshalb fast stets von sich in dritter Person als vom Menschensohne redete, hat gewiß Anspruch, ganz einfach als Mensch gewürdigt zu werden. Ihm scheint der Mensch nicht die elende Kreatur gewesen zu sein, als welche er vielfach hingestellt wird. Ihm fühlt man ab, daß er im Menschentum einen gewissen Adel der Kreatur sah, etwas viel Höheres, als wir heute zugestehen und ahnen. Diesen Glauben hat er auch gerechtfertigt. In Ihm ist der Mensch wirklich geadelt.
Wenn wir Jesum so betrachten, als Menschen, wie er den Weg zum Vater suchte und fand, fällt auf uns Menschen und unsern Weg zum Vater manches freundliche Licht. Er war als Sohn eines Weibes geboren, wie wir auch, und seine einfache menschliche Lebensgeschichte nötigt uns schon deshalb Teilnahme ab, weil auch uns selbst, die zu gleichem Streben wie er berufen sind, eine solche eignet.