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1805 bis 1832.
Schaute von den vielen Stufen
Unsres Pyramidenlebens
Viel umher, und nicht vergebens.
Auch das hohe Alter hat seine Blüthe, und
auch dieser auf das heiterste sich zu freuen
war ihm gegönnt.
Le temps l'a rendu spectateur.
Goethe's Einsamkeit nach Schiller's Tode. Besuch von Jacobi. Bekanntschaft mit Friedr. Aug. Wolff; mit Gall, dessen Schädellehre er zu schätzen weiß. – Die Schlacht bei Jena; Weimar wird geplündert; in Goethe's Hause französische Einquartirung; eine Nacht voll Unruhe und Gefahr; Christiane beschützt ihn. Muthiges Benehmen der Herzogin Louise. Napoleon's Wuth gegen den Herzog. Ein patriotischer Ausbruch Goethe's. Er heirathet Christiane. Was die Welt dazu sagte. Wie sich Frau von Goethe benahm.
Nach Schiller's Tode war Goethe sehr einsam. Er hatte mehr als einen Freund verloren; der kräftige Antrieb zum poetischen Schaffen fehlte ihm nun, und in der Thätigkeit dieses Schaffens hatte er ein volleres Leben geführt. Wohl werden wir ihn auch während der langen arbeitsvollen Jahre, die nun folgen – Jahre der Sammlung, des Studiums, neuer Erfahrungen und mannigfacher Entwürfe – noch Werke hervorbringen sehen, auf die mancher stolz sein könnte; aber der Mittagsglanz seines Lebens ist dahin, und das Licht, welches wir bewundern, ist die ruhige Strahlung der untergehenden Sonne.
Als sollte er seinen Verlust recht erkennen, kam bald nach Schiller's Tod Jacobi nach Weimar; obgleich die alten Freunde sich ihres Wiedersehens recht freuten, fanden sie doch bald, daß der geistige Abstand zwischen ihnen sich immer mehr erweitert hatte, wie jeder in seiner eigenen Richtung fortgeschritten war. »Wir liebten uns,« sagt Goethe, »ohne uns zu verstehen.« Goethe verstand weder Jacobi's Philosophie noch seine Sprache; Jacobi konnte sich in der Gedankenwelt seines alten Freundes nicht länger zurechtfinden. Das ist eine von den Strafen, mit denen wir unsre Entwicklung bezahlen: von den Plätzen unsrer stillen Freuden werden wir hinweggerissen, unsere Sprache wird denen fremd, die uns einst theuer waren und uns verstanden.
Einigen Ersatz dagegen fand Goethe in der genaueren Bekanntschaft mit dem großen Alterthumsforscher Friedrich August Wolfs, der trotz aller Differenzen im persönlichen Verkehr höchst anregend wirkte, namentlich indem er gegenüber den in Weimar fast ausschließlich betriebenen Kunststudien die alte Literatur vertrat. Bei ihm in Halle lernte er auch Gall, den Gründer der Schädellehre, kennen, der gerade im ersten Eifer Vorlesungen über seine damals völlig neue Lehre hielt. Wer es anerkennt, wie viel die Physiologie den Arbeiten Gall's verdankt – eine Anerkennung, die keineswegs eine Zustimmung zu dem übereilten und vielfach unvollkommenen System einschließt, welches er auf diese Arbeiten gründete –, der wird es gern hören, daß Goethe nicht nur Gall's Vorlesungen besuchte, sondern auch in persönlichen Verkehr mit ihm trat und viel Theilnahme und Verständniß für ihn zeigte. Zum Dank hatte Gall die Gefälligkeit, während einer Krankheit Goethe's seine Apparate und Präparate ihm auf das Zimmer zu bringen und dort die Anatomie des Gehirns zu erläutern. Statt dieser Lehre Spott, Verachtung und veraltete Vorurtheile entgegenzusetzen – wie es Männer der Wissenschaft und Männer von Welt thaten und noch thun – sah Goethe die Wichtigkeit der Gall'schen (seitdem allgemein angenommenen) Sections-Methode sofort ein, und die eigentliche Lehre sagte ihm beim ersten Anblick zu. Er war gewohnt, »das Gehirn von der vergleichenden Anatomie her zu betrachten, wo schon dem Auge kein Geheimniß bleibt, daß die verschiedenen Sinne als Zweige des Rückenmarks ausfließen und erst einfach, einzeln zu erkennen, nach und nach aber schwerer zu beobachten sind, bis allmälig die angeschwollene Masse Unterschied und Ursprung völlig verbirgt. Da nun eben diese organische Operation sich in allen Systemen des Thiers von unten auf wiederholt und sich vom Greiflichen bis zum Unbemerkbaren steigert, so war ihm der Hauptbegriff keineswegs fremd«. Daß bei der Gall'schen Lehre das Gehirn wichtiger sei als die Hirnschale, weil jenes das Bestimmende ist, diese nach ihm sich zu richten hat, hielt er ausdrücklich fest, und gegen die Uebertreibungen Gall's, der durch seinen Scharfsinn verleitet, zu sehr ins Specielle ging, war er von Natur geschützt. Zudem war ihm persönlich gegenüber Gall mit der Anwendung seiner Lehre nicht gerade glücklich; Goethe's ganzes Wesen betrachtet, versicherte er ganz ernstlich, er sei eigentlich zum Volksredner geboren – bei Goethe's bekannter Abneigung gegen alle Politik ergötzlich genug.
Das folgende Jahr 1806 brachte Angst und Noth. Schon im Frühjahr kündigten sich die Kriegsunruhen an; das Verhältniß zwischen Preußen und Napoleon wurde immer gespannter; indem der Herzog von Weimar wieder ein preußisches Kommando übernahm, gerieth auch sein kleines Ländchen in den Sturz Norddeutschlands hinein. Am 14. Oktober früh um sieben Uhr hörte man in Weimar fernen Kanonendonner. Die Schlacht bei Jena hatte begonnen, Goethe hörte die dumpfen Schläge erschreckend deutlich, aber gegen Mittag wurden sie schwächer, und er setzte sich zu Tisch wie gewöhnlich. Kaum war er beim Essen, als der Donner des Geschützes über die Stadt hereinbrach. Sofort verließ er den Tisch. Riemer traf ihn, wie er im Garten auf und ab spazierte. Die Kugeln flogen über das Haus, die Bayonnette fliehender preußischer Infanterie glänzten über der Mauer des Gartens hervor. Die Franzosen hatten aus den Höhen oberhalb Weimar einige Kanonen aufgepflanzt und feuerten von da in die Stadt. Es war ein heller, schöner Tag; die Straßen schienen ausgestorben; jedermann suchte sich zu schützen und zu verstecken. Ab und zu unterbrach ein Kanonenschuß die Stille; hier und da schlugen die Kugeln in ein Haus. Die tiefe Stille der Natur bildete einen ergreifenden Gegensatz zu dem wilden Lärm des Krieges.
Inmitten dieser entsetzlichen Stille kamen einige französische Husaren in die Stadt gesprengt, um zu recognosciren, ob der Feind schon abgezogen sei. Gleich darauf folgte eine größere Abtheilung. Bei Goethe's Hause ritt ein junger Husarenoffizier vor und meldete, das Haus sei zum Hauptquartier des Marschalls Augereau bestimmt und darum vor Plünderung sicher. Der Offizier war – Lili's Sohn, ein Herr von Türkheim. Goethe gab ihm das Geleit nach dem herzoglichen Schloß. Schon standen einige Häuser der Stadt in Flammen; die Soldaten erbrachen die Keller; die Plünderung begann. Vom Schloß kehrte Goethe nach Hause zurück, wo inzwischen einige Husaren sich eingerichtet hatten; der Marschall war noch nicht da. Bis tief in die Nacht wartete man auf ihn; dann schloß man die Thüren, und Goethe mit den Seinigen ging zur Ruhe. Um Mitternacht klopften zwei Tirailleurs an die Hausthür und begehrten Einlaß. Daß das Haus voll sei und der Marschall erwartet werde, machte auf sie keinen Eindruck; sie drohten durch die Fenster einzubrechen, wenn man die Thür nicht öffne. Man mußte sie einlassen und setzte ihnen Wein vor, dem sie tüchtig zusprachen. Da verlangten sie den Herrn des Hauses zu sehen; man stellte ihnen vor, er liege im Bett; das half nichts; er müsse aufstehen, sie wollten ihn nun einmal sehen. In solchen Fällen ist natürlich Widerstand vergeblich. Goethe wurde geweckt, warf seinen Schlafrock über, kam majestätisch die Treppe herunter und imponirte durch seine Erscheinung den betrunkenen Gästen so sehr, daß sie ganz höflich wurden, wie nur französische Soldaten sein können. Sie sprachen mit ihm, stießen freundlich mit ihm an, er mußte mit ihnen trinken; endlich ließen sie ihn wieder in sein Zimmer gehen. Bald nachher indeß, vom Wein erhitzt, verlangten sie ein Bett. Die andern Soldaten waren froh, auf dem Fußboden ein Lager gefunden zu haben; diese beiden wollten sich nur mit einem Bett zufrieden geben. Sie polterten die Treppe hinauf, drangen in Goethe's Schlafzimmer ein, und hier entspann sich ein Handgemenge, welches sehr böse aussah. Christiane, die überhaupt viel Muth und Geistesgegenwart entwickelte, holte rasch Hülfe herbei, und die Eindringlinge wurden schließlich aus dem Zimmer geschleppt; sie warfen sich dann auf das für den Marschall bestimmte Bett und blieben da trotz aller Vorstellungen liegen. Am andern Morgen kam endlich der Marschall an und seine Schildwachen beschützten das Haus.
Von noch andern und schrecklicheren Scenen hatte Weimar zu leiden. Die Plünderung wurde so gründlich betrieben, daß selbst das Schloß fast des Notwendigsten beraubt ward. In dieser verzweifelten Lage, während nahe beim Schloß Häuser in Flammen standen, zeigte die Herzogin Louise jenen unerschrockenen Muth, den die Welt ihr nie vergessen hat und der selbst auf Napoleon einen tiefen Eindruck machte. Als der Kaiser, von allen Schrecken des Siegers umgeben, in Weimar einzog, empfing sie ihn oben an der Treppe des Schlosses ruhig, fest, würdevoll. » Voilà une femme à la quelle même nos deux cents canons n'ont pu faire peur! – das ist eine Frau, der selbst unsere zweihundert Kanonen keine Furcht haben einjagen können«, äußerte er zu seinem Adjutanten Rapp. Sie bat für ihr Land, vertheidigte ihren Gemahl und bewog durch Festigkeit und Muth den Eroberer zur Milde, der gegen den Herzog wegen seiner Verbindung mit Preußen sehr aufgebracht war und ihm später oft mit bitterm Hohn erklärte, er schone ihn nur aus Achtung vor der Herzogin.
Die Wuth Napoleon's gegen den Herzog war ebenso unklug wie unbändig; aber wie kleinlich der große Eroberer sein konnte, interessirt uns hier weniger, als der leidenschaftliche Ausbruch, zu dem das Benehmen Napoleon's unsern Dichter hinriß. »Von Natur zu gelassener Betrachtung der Dinge aufgelegt (sagte Goethe zu Falk), werde ich doch grimmig, sobald ich sehe, daß man dem Menschen das Unmögliche abfordert. Daß der Herzog verwundete, ihres Soldes beraubte Preußische Offiziere unterstützt, daß er dem heldenmüthigen Blücher nach dem Gefecht von Lübeck einen Vorschuß von viertausend Thalern machte, das wollt ihr eine Verschwörung nennen? das gedenkt ihr ihm übel auszulegen? Setzen wir den Fall, daß heute oder morgen Unglück bei eurer großen Armee einträte: was würde wohl ein General oder ein Feldmarschall in den Augen des Kaisers werth sein, der nicht gerade so handelte, wie unser Herzog in dem vorliegenden Falle wirklich gehandelt hat? Ich sage euch, der Herzog soll so handeln, wie er handelt! Er muß so handeln! Er thäte sehr Unrecht, wenn er je anders handelte! Ja, und müßte er darüber Land und Leute, Krone und Scepter verlieren, wie sein Vorfahr, der unglückliche Johann, so soll und darf er doch um keine Hand breit von dieser edlen Sinnesart und dem, was ihm Menschen- und Fürstenpflicht in solchen Fällen vorschreibt, abweichen. Unglück! Was ist Unglück? Das ist ein Unglück, wenn sich ein Fürst dergleichen von Fremden in seinem eigenen Hause muß gefallen lassen. Und wenn es auch dahin mit ihm käme, wohin es mit jenem Johann einst gekommen ist, daß beides sein Fall und sein Unglück gewiß wäre, so soll uns das nicht irre machen, sondern mit einem Stecken in der Hand wollen wir unsern Herrn, wie jener Lukas Kranach den seinigen, ins Elend begleiten und treu an seiner Seite aushalten. Die Kinder und Frauen, wenn sie uns in den Dörfern begegnen, werden weinend die Augen aufschlagen und zu einander sprechen: das ist der alte Goethe und der ehemalige Herzog von Weimar, den der französische Kaiser seines Thrones entsetzt hat, weil er seinen Freunden so treu im Unglück war; weil er den Herzog von Braunschweig, seinen Oheim, auf dem Todbette besuchte; weil er seine alten Waffenkameraden und Zeltbrüder nicht wollte verhungern lassen!« Hier rollten ihm die Thränen stromweise von beiden Backen herunter, alsdann fuhr er nach einer Pause, und sobald er wieder einige Fassung gesammelt, fort: »Ich will ums Brot singen! Ich will ein Bänkelsänger werden und unser Unglück in Liedern verfassen! Ich will in alle Dörfer und in alle Schulen ziehen, wo irgend der Name Goethe bekannt ist; die Schande der Deutschen will ich besingen, und die Kinder sollen mein Schandlied auswendig lernen, bis sie Männer werden und damit meinen Herrn wieder auf den Thron herauf- und euch von dem euren heruntersingen!«
Ich werde auf diesen Ausbruch von Patriotismus bei einer spätern Gelegenheit zurückkommen müssen, und eile sofort zu einem wichtigen Ereigniß, welches nach einer vielfach verbreiteten Ansicht unmittelbar durch die Gefahren jener Schreckenstage veranlaßt sein soll – zu Goethe's Heirath mit Christiane.
Seit wir das letzte Mal Christianens Bild betrachteten, sind über fünfzehn Jahre verflossen, und ein schlimmer Wechsel ist mit ihr vorgegangen. Damals war sie ein schönes, lebhaftes, vergnügungssüchtiges Mädchen. Nun haben die Jahre und eigene Genußsucht ihre Reize zerstört. Jene böse Neigung, welche Jugend und Lebenslust noch in Schranken hielten, hat sich nun in einer Weise ausgebildet, die ihre Herkunft und Erziehung, wenn auch nicht entschuldigen, doch erklären mag, die wir aber nur mit Wehmuth betrachten können. Ihr Vater richtete sich, wie wir bereits erwähnten, durch Unmäßigkeit zu Grunde; ihr Bruder schadete seinem schönen Talente durch ähnliche Ausschweifungen, und Christiane selbst wurde vor der angeerbten verderblichen Neigung leider nicht durch die Rücksichten bewahrt, welche die gebildete Gesellschaft auferlegt; denn die Art des Verhältnisses, in welchem sie zu Goethe stand, schloß sie von dieser Gesellschaft aus. Vergnügungssüchtig und vor allem tanzlustig wie sie war, besuchte sie oft die Studentenbälle in Jena und die der geringeren Bürgerklasse in Weimar, und gewöhnte sich an einen reichlichen Weingenuß, der ihre Schönheit rasch zerstörte und manchmal zu ernsten häuslichen Auftritten führte. Gern hätte ich diese Verhältnisse mit Stillschweigen übergangen, aber sie sind zu allgemein bekannt, als daß ich nicht über sie sprechen müßte, und sie decken in Goethe's Leben eine Tragödie auf, welche die gar wenig ahnten, die ihn öffentlich immer in äußerlich so ruhiger Haltung sahen. Die bloße Erwähnung einer solchen Thatsache läßt einen Kampf widerstreitender Gefühle ahnen, der sich den Blicken des Publikums entzog: den Kampf zwischen Entrüstung und Mitleid, zwischen Entschluß und Schwäche. Eine gedruckte Andeutung von diesem häuslichen Elend habe ich nur an einer Stelle entdeckt, und zwar in einem Briefe Schiller's an Körner vom 21. Oktober 1800. Die Worte lauten: »Im Ganzen bringt Goethe jetzt zu wenig hervor, so reich er noch immer an Erfindung und Ausführung ist. Sein Gemüth ist nicht ruhig genug, weil ihm seine elenden häuslichen Verhältnisse, die er zu schwach ist zu ändern, viel Verdruß erregen.«
Zu schwach zu ändern! Ja, darin liegt die Tragödie, und darin auch die Erklärung. Seine liebende Natur bebte immer davor zurück, andere zu betrüben, und so war er nicht hart genug, um solch einem Zustande ein Ende zu machen. Er litt so viel, weil er andern kein Leid bereiten konnte. Wer das so von außen mit ansieht, dem scheint eine solche Langmuth unerklärlich; denn er weiß nicht, wie es bei den verrätherischen ersten Schritten zugegangen ist und wie die Langmuth durch wiederholte Versuche wächst, weiß nicht wie die Hoffnung aus Besserung immer wieder entscheidende Entschlüsse zurückhält, wie die Liebe solche Hoffnungen trotz aller Unwahrscheinlichkeit fördert und nährt. Der Zuschauer sieht nur gewisse handgreifliche Thatsachen und weiß sie sich nur deshalb nicht zu erklären, weil er die vielen feinen Mittelglieder nicht sieht, welche die Thatsachen mit einander verknüpfen, aber nicht sieht er, wie der Leidende in seinem Innern gegen ein steigendes Uebel ankämpft, endlich in das Unvermeidliche sich ergiebt und die Sache ruhig anzusehen versucht. Wohl ist es leicht zu sagen: warum trennte sich Goethe nicht sofort von Christiane? Aber die Trennung war nicht leicht. War sie doch die Geliebte seines Herzens gewesen, war sie doch die Mutter seines Kindes und ihm immer noch theuer! Die Trennung würde ihrer unglücklichen Neigung keinen Einhalt gethan, sie vielmehr verstärkt haben. Zu schwach, das Verhältniß zu ändern, war er stark genug, es zu tragen.
Und so ging ein Jahr nach dem andern hin. Die vielen guten Eigenschaften, welche Christiane hatte, deckten ihre Fehler. Er blieb ihr aufrichtig zugethan, und sie war ihm treu ergeben. Jetzt, in seinem achtundfünfzigsten Jahre, ließen ihn die Wirren einer trüben Zeit die Nothwendigkeit fühlen, er müsse mit seinen Freunden enger an einander rücken, und wer unter allen seinen Freunden verdiente einen näheren Platz als Christiane? Er entschloß sich, sie zu heirathen. Ob er mit diesem Gedanken schon in der letzten Zeit vorher sich getragen hat und ihn nun ausführte, da Weimar zu aufgeregt war, um viel auf sein Thun zu achten, oder ob der Wunsch, in so unruhiger Zeit die Zukunft Christianens und seines Sohnes für alle Fälle sicher zu stellen, für ihn bestimmend war, ist nicht genau zu entscheiden. Nach Riemer's Ansicht that er es aus Dankbarkeit gegen Christiane für ihr entschlossenes und kluges Benehmen in jenen schweren Tagen; aber mir scheint diese Erklärung um so weniger annehmbar, als nach ihrer eigenen Aussage schon in den ersten Jahren ihrer Bekanntschaft die Trauung in Vorschlag gewesen ist. In Ermangelung bestimmter Zeugnisse möchte ich auf psychologische Motive zurückgehen. Nehmen wir wirklich an, die Heirath sei schon früher beabsichtigt worden, so erklärt sich der Aufschub der Ausführung aus einer Eigenthümlichkeit in Goethe's Natur, aus seiner auffallenden Unentschiedenheit nämlich bei der Fassung bestimmter Entschlüsse – auffallend, meine ich, bei einem Manne, der so entschlossen und fest war, wenn er einmal seine Entscheidung getroffen hatte. Es ist das eine Schwäche phantasievoller Naturen. So stark auch ihr Wollen ist, wenn es einmal in Zug gekommen, so schwanken doch gerade bei Männern von lebhafter Empfindung und starker Einbildungskraft die Erwägungen vor dem Entschlusse hin und her und lassen das Wollen nicht aufkommen – eine Unentschiedenheit, die zwar tatsächlich der Schwäche gleichkommt, aber sich durch die Stärke des Wollens, sobald es frei geworden ist, von Schwäche unterscheidet. Goethe war sich dieser Eigentümlichkeit wohl bewußt; er pflegte sie daher zu erklären, daß er nie in Verhältnisse gekommen sei, die rasche Entschließungen nöthig machten, und daß er nie seinen Willen gebildet habe; doch lag der Grund nach meiner Ansicht viel tiefer und muß nicht in äußern Umständen, sondern in der Natur psychologischer Vorgänge gesucht werden.
Mag indeß der Aufschub der Heirath so zu erklären sein oder anders, gewiß ist, daß sich Goethe am 19. Oktober, also fünf Tage nach der Plünderung Weimars, und nicht, wie noch erzählt wird, »während der Kanonade«, in Gegenwart seines Sohnes und seines damaligen Sekretärs Riemer, mit Christiane trauen ließ.
Wer die Welt kennt, kann sich leicht denken, welch ungeheuren Skandal dieser Akt der Gerechtigkeit machte. Frau von Stein z. B. berichtete mit unverminderter Bitterkeit gegen Christiane an ihren Sohn, Goethe habe sich mit seiner »Maitresse« trauen lassen. Seine Freunde indeß gaben ihm laut Beifall, daß er sich aus einer schiefen Stellung gelöst habe. Fortan hielt er streng darauf, daß jeder Christiane mit gebührender Achtung behandelte, und wer es daran fehlen ließ, wurde bös angesehen. Sie ihrerseits trug die neuen Ehren mit Bescheidenheit und ruhigem Gleichmuth; treu hing sie an dem, der sie an seine Seite gehoben, und der Verehrung, mit der sie zu ihm aufblickte, gab sie eher einen übertriebenen Ausdruck – sie liebte es von dem »Herrn Geheimen Rath« zu sprechen – als daß sie es an Dankbarkeit hätte fehlen lassen; so erreichte sie es, daß fast alle, die sie kannten, ihr herzlich zugethan waren.