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Vierter Abschnitt.
Hermann und Dorothea.

Die Geschichte, welche diesem Epos zu Grunde liegt. Inhalt und Charakter des Gedichts. Treue Schilderung des Landlebens. Objektive Zeichnung der Scenerie. Rein menschliches Dasein ist der Gegenstand der Darstellung. Schöne Klarheit des Stils. – Finessen deutscher Aesthetiker.

Die Freude, welche wir bei Lesung der Novellen empfinden, aus denen Shakespeare seine wunderbaren Stücke geschaffen hat, ist die Freude an der Wahrnehmung, wie das Genie aus dem kleinsten Nichts zu schaffen weiß und mit seiner eigenen Lebenskraft todten Stoff zu unsterblichem Leben umwandelt. Diese Freude trägt auch die Ueberzeugung in sich, daß es dem Künstler nie an Gegenständen fehlen kann, wenn er nur Augen hat zu sehen. Sie lehrt uns, daß große Dichter nicht nach würdigen Stoffen umher zu sinnen Pflegen; im Gegentheil genügt ihnen der flüchtigste Wink zu einem Kern für ein glänzendes Werk; ein hingeworfenes Wort ruft eine große Schöpfung hervor.

Ganz ähnlich dem Stoffe, den Shakespeare im Bandello fand, ist die alte Erzählung Das liebthätige Gera gegen die Salzburgischen Emigranten. Das ist: kurze und wahrhaftige Erzählung wie dieselben in der Gräflich Reuß-Plauischen Residenzstadt angekommen, aufgenommen und versorgt, auch was an und von vielen derselben Gutes geschehen und gehört worden. Leipzig: 1732., aus der Goethe eines der vollendetsten Gedichte schuf. Die Erzählung ist kurz diese: Ein reicher und angesehener Bürger von Altmühl hat seinem Sohn vergebens zum Heirathen zugeredet. Die vertriebenen Salzburger ziehen durch die Stadt; unter ihnen sieht der Sohn ein Mädchen, das ihm sehr gut gefällt; er erkundigt sich nach ihrer Familie und Erziehung, und da die Antwort befriedigend ausfällt, eilt er zu seinem Vater und erklärt ihm, entweder er müsse diese Salzburgerin zur Frau haben oder er bleibe ledig. Der Vater sucht ihn mit Hülfe des Pfarrers von diesem Entschluß abzubringen, aber ihre Vorstellungen sind erfolglos, und endlich giebt der Vater auf Anrathen des Geistlichen seine Einwilligung. Der Sohn geht zu dem Mädchen und fragt sie, ob sie bei seinen Eltern in Dienst treten wolle: sie ist bereit und er führt sie zum Vater; aber dieser, unbekannt mit der List seines Sohnes und in dem Glauben, die Sache sei schon in Ordnung, fragt sie, ob sie denn seinen Sohn auch recht lieb habe. Das Mädchen hält das zuerst für Spott, aber als sie erfährt, daß es Ernst ist, erklärt sie sich durchaus einverstanden und überreicht ihrem Bräutigam einen Beutel mit zweihundert Ducaten als ihre Mitgift.

Das ist die Erzählung, welche dem Goethe'schen Hermann und Dorothea zu Grunde liegt: Eine gewöhnliche Geschichte, in der nur ein Dichter ein Gedicht sehen konnte, und was hat Goethe daraus gemacht!

Der Vorgang ist in die Zeit der französischen Revolution verlegt. Politische Ereignisse sind es, vor denen die Vertriebenen fliehen. Der Ort der Handlung ist in der Nähe des Rheins, am rechten Ufer. Die Bevölkerung eines ruhigen Landstädtchens ist hinausgezogen, um den traurigen Zug der Vertriebenen zu sehen, trotz Staub und Mittagshitze. Der Wirth zum goldnen Löwen sitzt unter dem Thore seines Hauses am Marktplatz, wundert sich über solche Neugierde, lobt dagegen die werkthätige Milde seiner Frau, daß sie ihren Sohn Hermann mit Lebensmitteln und Kleidern zu den Unglücklichen hinausgeschickt habe, denn »Geben sei Sache des Reichen«. Schon kehren einige von den neugierigen Städtern zurück. Wie allen die Schuhe so staubig sind! wie die Gesichter glühen! Jeder führt das Schnupftuch und trocknet sich den Schweiß ab; die beiden Alten freuen sich, daß sie ruhig zu Haus geblieben sind, und werden sich nun alles erzählen lassen. Da kommt auch schon der Prediger und der Nachbar Apotheker mit ihm, sie setzen sich auf die hölzernen Bänke unter dem Thorweg, schütteln den Staub von den Füßen und fächeln sich mit den Tüchern Kühlung zu. Sie zählen von dem Elend, das sie gesehen, von der Verwirrung des Zuges, und gerührt spricht der Wirth die Hoffnung aus, daß doch sein Sohn Hermann die Flüchtigen treffen und erquicken möge; aber er verweilt nicht gern bei so traurigen Bildern und ladet seine Gäste in das kühle Hinterzimmer ein, wo sie, unbelästigt von den Sommerfliegen, ein Glas dreiundachtziger Rheinwein trinken wollen. Dort, zum Wein behaglich plaudernd, kommt er auf seinen Sohn zu sprechen, den er bald verheirathet zu sehen wünscht. Das ist der ganze Inhalt des ersten Gesanges, und doch so unbedeutend der Stoff ist, die wundervolle Behandlung giebt ihm Körper und Fülle; die Scene lebt vor uns; aus den Versen weht frische Landluft.

Im zweiten Gesange tritt Hermann zu dem Vater und seinen Freunden. Der scharfe Blick des Predigers entdeckt sofort, er sei als ein veränderter Mensch zurückgekommen; man sehe ihm den Segen der Armen an. Hermann erzählt, wie er seinen Auftrag erfüllt. Als er den Zug erreicht, sei ihm ein Wagen aufgefallen, mit Ochsen bespannt, auf dem eine eben entbundene Frau mit ihrem neugebornen Kinde nackend im Arme gelegen habe; neben dem Wagen sei ein Mädchen gegangen, welches die Ochsen lenkte; gelassen sei sie an ihn herangetreten und habe für die arme Wöchnerin um etwas Leinen gebeten. Das habe er ihr gegeben und alles andere dazu, was er an Speise und Trank bei sich gehabt, in ihre Hände gelegt, da sie es am passendsten vertheilen könne. Als Hermann geendigt, preist sich der Apotheker glücklich, daß er in so unruhigen Zeiten in seinem Hause allein lebe und nicht für Frau und Kind zu sorgen habe.

»Hab' ich die Baarschaft gerettet und meinen Körper, so hab' ich
Alles gerettet; der einzelne Mann entfliehet am leichtsten.«

Aber nachdrücklich fällt ihm Hermann ins Wort: es sei nicht würdig, im Glück und Unglück nur sich zu bedenken; Leiden und Freuden müsse man zu theilen verstehen; er selbst sei gerade jetzt mehr als je zum Heirathen geneigt –

Denn manch gutes Mädchen bedarf des schützenden Mannes,
Und der Mann des erheiternden Weibs, wenn ihm Unglück bevorsteht.

Das hört der Vater gern; solch ein vernünftiges Wort, ruft er aus, habe der Sohn selten gesprochen. Auch die Mutter giebt ihm Recht und verweist ihn aus seiner Eltern Heirath als ein nachahmungswürdiges Beispiel. In behaglicher Freude wandert ihr Gedächtniß zurück zu dem Tage der Verlobung, die unmittelbar nach einem schrecklichen Brande, der das ganze Städtchen in Asche gelegt, auf den Trümmern ihrer elterlichen Häuser stattgefunden. Hier unterbricht sie der Vater, die Geschichte sei wahr, aber besser sei doch besser; offenbar wünscht er, sein Sohn möge mit etwas mehr weltlicher Rücksicht handeln. Diese väterliche Besorgniß ist mit bewundernswürdiger Kunst und Laune geschildert. Er hebt hervor, wie theuer ein Haushalt sei, wie behaglich eine gute Mitgift für den Mann und die Frau selbst; er spricht die Hoffnung aus, daß auch Hermann ihm nächstens eine Braut mit schöner Mitgift zuführen werde, und bezeichnet ihm endlich geradezu die Töchter eines reichen Nachbarn, unter denen er wählen solle. Aber Hermann hat eine alte Abneigung gegen diese Nachbarsleute, die über sein einfaches Wesen immer gespottet und ihn ausgelacht haben, als er einst nicht wußte, wer Pamina und Tamino seien. Der Widerspruch erbittert den Vater; er schilt den Sohn, daß er nur zu Pferden und zum Ackerbau Lust habe, wie ein Bauerknecht, und erklärt voll Wuth, er wolle kein bäuerisches Mädchen als Schwiegertochter haben, sondern eine von feinen Manieren, die Klavier spielen könne und die besten Leute des Orts an ihr Haus zu fesseln verstehe. Hermann verläßt schweigend das Zimmer, und so schließt der zweite Gesang.

Im dritten Gesange fährt der Alte in seinem leidenschaftlichen Ergusse fort: der Sohn müsse immer höher steigen als der Vater, denn was würde aus Haus und Stadt und Volk werden ohne diesen steten Drang nach vorwärts. Die Mutter vertheidigt den Sohn; immer sei der Vater gegen ihn ungerecht und vereitle sich dadurch seine liebsten Wünsche selbst –

– wir können die Kinder nach unserm Sinne nicht formen;
So wie sie Gott uns gab, so muß man sie haben und lieben,
Sie erziehen aufs Beste und jeglichen lassen gewähren,
Denn der eine hat die, die anderen andere Gaben;
Jeder braucht sie, und jeder ist doch nur auf eigene Weise
Gut und glücklich.

Sie lasse ihren Hermann nicht schelten; er sei ein tüchtiger Mensch, aber bei täglichem Schmählen und Tadeln verliere er ganz den Muth. Damit verläßt sie die Stube, um den Sohn zu suchen. Ein wunderlich Volk die Weiber, ruft der Vater aus; sie sind wie die Kinder, jedes will leben wie's ihm gefällt, und hernach soll man sie immer nur loben und streicheln. Der Apotheker führt dann den Gedanken des Wirths über den steten Drang nach Neuerung und Verbesserung weiter aus; er schildert, wie gern er sein Haus neu aufputzen wolle und sich doch immer durch die Kosten abschrecken lasse; seine Worte haben einen ruhigen trocknen Humor und bezeichnen seinen Charakter sehr glücklich. Ueberhaupt ist der Gegensatz der Charaktere in diesem Gedichte außerordentlich schön und scharf gezeichnet: die Mutter und der Vater, der Prediger und der Apotheker, alle stehen in einer eben so klar wie mild umgrenzten Individualität vor uns, wie sie nur die höchste Kunst schaffen kann.

Im vierten Gesange sucht die Mutter den Sohn. Die Beschreibung dieses Ganges ist ein glänzendes Beispiel von Goethe's beschreibender Poesie – eine Reihe von Bildern ohne Bild, ohne jene bildliche Wendung, ohne die sonstigen malerischen Zuthaten dichterischer Schilderungen, und doch höchst lebendig und malerisch. Zuerst sucht sie ihn im Stalle bei seinen Lieblingspferden, dann geht sie durch die langen doppelten Höfe an Scheunen und Ställen vorbei in den Garten –

– schritt ihn hindurch, und freute sich jeglichen Wachsthums,
Stellte die Stützen zurecht, auf denen beladen die Neste
Ruhten des Apfelbaums, wie des Birnbaums lastende Zweige,
Nahm gleich einige Raupen vom kräftig strotzenden Kohl weg;
Denn ein geschäftiges Weib thut keine Schritte vergebens.
Also war sie ans Ende des langen Gartens gekommen,
Bis zur Laube mit Geisblatt bedeckt –

aber noch hat sie den Sohn nicht gefunden; durch ein Mauerpförtchen über einen trockenen Graben hinweg steigt sie den Weinberg hinan, durch den schattigen hohen Laubgang in der Mitte, wo schon reife Trauben in Fülle hereinhängen und auf den herbstlichen Jubel der Weinlese hindeuten; endlich durch die obere Thür des Weinbergs, die sie auch offen findet, tritt sie ins Kornfeld ein, das in weiter Fläche den Rücken des Hügels bedeckt; immer noch auf eigenem Boden schreitet sie, des herrlich prangenden Kornes sich freuend, auf dem Fußwege zwischen den Aeckern hin auf den großen Birnbaum zu, der die Grenze ihrer Felder bezeichnet. In seinem Schatten sitzt Hermann; sie rührt ihm leise die Schulter, er wendet sich, seine Augen sind voll Thränen. Nun folgt eine wunderschöne Scene, bei der Goethen selbst, als er sie zum erstenmal im Schiller'schen Kreise vorlas, die Thränen hervorquollen; »so schmilzt man bei seinen eigenen Kohlen«, sagte er, indem er sich die Augen trocknete. Hermann erklärt sich tief ergriffen von der Noth des Vaterlandes; er wolle Soldat werden und in der Vertheidigung des Landes seine Pflicht als Bürger erfüllen. Aber die Mutter fühlt sehr gut, daß es nicht politische Begeisterung ist, die ihn von Hause wegtreibt; sie hat seine Liebe für das vertriebene Mädchen errathen, und als sie ihn geradezu danach fragt, antwortet er ihr mit aufrichtigem Geständnis;. Ja, nur weil er Dorothea liebe und weil sein Vater aus einer reichen Schwiegertochter bestehe, wolle er das väterliche Haus verlassen; der Vater sei immer ungerecht gegen ihn gewesen, von früh auf habe er ihn verehrt und geachtet, nun treibe sein hartes Wort ihn weg. Die Mutter sucht ihn zu beschwichtigen und spricht ihm Hoffnung ein, er müsse dem Vater ein gutes Wort gönnen, ein Wort beim Weine habe nicht so viel zu bedeuten, nachher fühle der Vater sein Unrecht um so lebhafter, der Geistliche werde schon helfen. So führt sie ihn ins Haus zurück.

Im fünften Gesange finden wir die drei Männer noch immer beim kühlen Rheinwein und in den früheren Gesprächen. Zu ihnen treten Mutter und Sohn. Sie erinnert ihren Mann, wie oft sie sich mit einander auf den Tag gefreut, wo Hermann sich eine Braut wählen werde; nun sei der Tag gekommen; Hermann liebe das vertriebene Mädchen. Der Vater beobachtet ein bedenkliches Stillschweigen, aber der Geistliche erhebt sich rasch und spricht mit herzlichen Worten für Hermann; er sieht diese Wahl für eine Eingebung von oben an und er kennt Hermann gut genug, um volles Vertrauen in seine Empfindung und sein Urtheil zu haben. Der Vater schweigt noch immer. Der Apotheker, stets bedächtig, schlägt einen Mittelweg vor; er traut solchen Eingebungen nicht so ganz und räth, bei den andern Flüchtlingen Erkundigungen über das Mädchen einzuziehen. Wie viel feiner und schöner verfährt hier der Dichter, als jene alte Erzählung, wo der Liebhaber zuerst nach dem Charakter des Mädchens sich erkundigt und erst dann sich entschließt, sie zu nehmen. Für Hermann bedarf es der Erkundigungen nicht, aber er scheut sie auch nicht; mit beredten Worten stimmt er dem Apotheker bei, fordert auch den Geistlichen auf, mit ihm zu gehen, zwei so vortreffliche Männer seien unverwerfliche Zeugen. Der Vater kann diesen vereinten Bitten nicht widerstehen und giebt seine Einwilligung zu der Wahl seines Sohnes, falls die Freunde über das Mädchen Gutes erfahren. Hermann fährt sie hinaus bis in die Nähe des Dorfes; an einem von Linden umschatteten Quell hält er an, beschreibt ihnen Dorothea und will ihre Rückkehr dort erwarten. Das Dorf wird mit meisterhafter Klarheit geschildert: in Scheunen und Gärten lagern die Vertriebenen dicht gedrängt, auf den Straßen steht Karren an Karren, die Männer versorgen das brüllende Vieh und die Pferde, die Weiber trocknen emsig Wäsche auf den Hecken, die Kinder plätschern im Wasser des Baches herum. Durch dies Gedränge wandern suchend die beiden Freunde; ein Streit erhebt sich, den ein würdiger Richter beschwichtigt, und von diesem Alten erfahren sie nun alles Lob über Dorothea; sie sei »so gut wie stark,« von treuem liebevollem Sinn und habe durch eine herrliche That ihren Heldenmuth bewiesen, indem sie einst ihre Gespielen gegen die Rohheit wilder Soldaten vertheidigt. Mit dieser Freudenbotschaft kehren sie zu Hermann zurück und sagen ihm, er möge nur gleich Dorothea als seine Braut heimführen. Aber ihm sind während dessen Zweifel aufgestiegen, ob sie ihn auch nehmen werde; vielleicht liebe sie einen andern, vielleicht werde sie zu stolz sein, ihm in ein fremdes reiches Haus zu folgen. Er bittet die Freunde, ohne ihn nach Hause zu fahren, er will selbst sein Schicksal hören –

Aus dem Munde des Mädchens, zu dem ich das größte Vertrauen
Hege, das irgend ein Mensch nur je zu dem Weibe gehegt hat.
Was sie sagt, das ist gut, es ist vernünftig, das weiß ich.
Soll ich sie auch zum letztenmal sehen, so will ich noch einmal
Diesem offenen Blick des schwarzen Auges begegnen;
Drück' ich sie nie an das Herz, so will ich die Brust und die Schultern
Einmal noch sehn, die mein Arm so sehr zu umschließen begehret;
Will den Mund noch sehn, von dem ein Kuß und das Ja mich
Glücklich macht auf ewig, das Nein mich auf ewig zerstöret.

Der Prediger und der Apotheker fahren nach der Stadt zurück, letzterer nicht ohne Besorgniß, ob die geistliche Hand auch die Zügel zu führen verstehe; sie lassen Hermann allein; sinnend sieht er dem Wagen nach,

– – – – sieht den Staub sich erheben,
Sieht den Staub sich zerstreun, so steht er ohne Gedanken.

Die beiden folgenden Gesänge sind von höchster Poetischer Schönheit. In seine Gedanken verloren sieht Hermann plötzlich das Bild, das ihn ganz beschäftigt, leibhaft vor sich stehen; die hohe Gestalt des herrlichen Mädchens tritt ihm entgegen; sie ist gekommen um aus der Quelle zu schöpfen, da die unvorsichtigen Leute im Dorfe alles Wasser getrübt haben; sie freut sich, daß ihr der Weg zum Brunnen durch den Anblick des wohlthätigen Gebers, belohnt sei. Beide steigen die Stufen zur Quelle hinab und setzen sich aus den steinernen Rand.

– – – Sie beugte sich über, zu schöpfen,
Und er faßte den andern Krug und beugte sich über.
Und sie sahen gespiegelt ihr Bild in der Bläue des Himmels
Schwanken und nickten sich zu und grüßten sich freundlich im Spiegel.
Laß mich trinken, sagte darauf der heitere Jüngling;
Und sie reicht' ihm den Krug. Dann ruhten sie beide, vertraulich
Auf die Gefäße gelehnt.

Sie fragt ihn, warum denn er an die Quelle gekommen. Er blickt ihr ins Auge, fühlt »sich still und getrost«, aber ihr von Liebe zu sprechen ist ihm unmöglich, ihr Auge blickt nicht Liebe, sondern Hellen Verstand und heißt ihn verständig reden. Er giebt ihr den Wunsch seiner Eltern zu erkennen, ein Mädchen im Hause zu haben, das nicht mit der Hand allein, das auch mit dem Herzen in der Wirthschaft helfe und die früh verlorne Tochter des Hauses ersetze. Sie nimmt das als eine Anfrage, ob sie als Magd dienen wolle, willigt freudig ein, und da er nicht den Muth hat, ihr die ganze Wahrheit zu gestehen, läßt er sie in dem Glauben; sie ins Haus zu führen ist ihm schon die »Hälfte des Glückes«. Sie mahnt zum Aufbruch; die Mädchen würden immer getadelt, die lange beim Brunnen verweilen; noch einmal schauen beide in den Quell zurück, und »süßes Verlangen ergreift sie«. Er begleitet Dorothea in's Dorf, wo sie Abschied von ihren Freunden nimmt und von den Kindern unter Thränen, von den Alten mit herzlichen Segenswünschen entlassen wird.

Im achten Gesange führt Hermann die Geliebte auf dem Fußwege nach der Stadt. Die herrliche Abendlandschaft schimmert in lebendigster Farbenpracht vor unsern Augen:

Also gingen die zwei entgegen der sinkenden Sonne,
Die in Wolken sich tief, gewitterdrohend, verhüllte,
Aus dem Schleier, bald hier, bald dort, mit glühenden Blicken
Strahlend über das Feld die ahnungsvolle Beleuchtung.

Sie fragt ihn nach Vater und Mutter, er schildert sie ihr mit dem offensten Vertrauen. Und wie sie ihm selbst begegnen solle, fragt sie weiter, ihm, den einzigen Sohne und künftig ihrem Gebieter?

Also sprach sie, und eben gelangten sie unter den Birnbaum.
Herrlich glänzte der Mond, der volle, vom Himmel herunter;
Nacht war's, völlig bedeckt das letzte Schimmern der Sonne,
Und so lagen vor ihnen, in Massen gegeneinander,
Lichter, hell wie der Tag, und Schatten dunkeler Nächte.

Hermann freut sich dieser Frage, gerade an der Stelle, wo er noch vor wenigen Stunden verzweifelnd um seine Liebe geweint hat, aber er hat nicht den Muth mehr zu antworten, als sie möge ihr Herz sich es sagen lassen und ihm frei in allem folgen. Sie setzen sich nieder, ein wenig zu ruhen; im Mondlicht sieht sie die Häuser der Stadt, an einem Giebel ein Fenster; das ist Hermann's Zimmer, vielleicht bald ihr eigenes. Ihren Weg fortsetzend, kommen sie in den abwärts führenden Laubgang des Weinbergs; auf einer der rohen Steinstufen gleitet sie aus, vertritt sich den Fuß, er stützt sie;

– – – sie sank ihm leis' auf die Schulter,
Brust war gesenkt an Brust und Wang' an Wange. So stand er,
Starr wie ein Marmorbild, vom ernsten Willen gebändigt,
Drückte nicht fester sie an, er stemmte sich gegen die Schwere,
Und so fühlt' er die herrliche Last, die Wärme des Herzens,
Und den Balsam des Athems, an seinen Lippen verhauchet,
Trug mit Mannesgefühl die Heldengröße des Weibes.
Nach kurzer Rast treten sie in das Haus.

Der poetische Zauber dieser Gesänge so gut wie des ganzen Gedichtes kann natürlich aus meiner Inhaltsangabe kaum geahnt werden: den Duft des Veilchens giebt keine Beschreibung wieder; aber trotz aller Mängel bietet diese Skizze doch eine klarere Anschauung von dem Gedichte, als eine ästhetische Erörterung in der Weise der sogenannten philosophischen Kritik. Mit diesem Vorbehalt gehen wir zu dem letzten Gesang über.

Die Mutter wird besorgt über das lange Ausbleiben des Sohnes, geht ungeduldig im Zimmer ab und zu, spricht von dem aufsteigenden Gewitter und tadelt die Freunde lebhaft, daß sie Hermann auf seiner Werbung allein gelassen. Der Apotheker erzählt eine Geschichte, wie sein Vater ihn als Knabe Geduld gelehrt. Da geht die Thür auf, auf der Schwelle steht das herrliche Paar, alle staunen über die Aehnlichkeit ihrer Bildung, die Thür scheint zu klein, die hohen Gestalten einzulassen. Eilig stellt Hermann sie den Eltern vor, aber während er dem Prediger heimlich zuflüstert, daß die Fremde von seiner Liebe noch nichts wisse, hat der Vater ihr schon mit behaglich muntern Worten seine Freude ausgedrückt, daß sein Sohn so guten Geschmack habe, wie er selbst seiner Zeit auch bewiesen. Sie nimmt das für Spott, fühlt sich in der Seele verletzt, und tief erröthend erwidert sie, auf solchen Empfang sei sie nicht vorbereitet; sie fühle sehr wohl den Abstand von dem begüterten jungen Mann, und nicht edel sei es, mit bittrem Spott sie fast aus dem Hause zurückzutreiben. Den Geistlichen mahnt eine innere Ahnung, sie noch weiter zu prüfen; er tadelt sie zum Schein wegen ihrer Empfindlichkeit; auch die Launen der Herrschaft müsse der Dienende ertragen. Da drängt sich aus dem gepreßten Herzen das Geheimniß los; unter strömenden Thränen gesteht sie, nicht weil sie stolz und empfindlich sei, habe der Spott sie verletzt, sondern weil ihr wirklich im Herzen gleich bei der ersten Begegnung die Neigung für Hermann sich geregt und weil sie sich mit der Hoffnung geschmeichelt habe, sie könne vielleicht durch treue Arbeit im Hause ihn verdienen; nun aber sei sie gewarnt, und nun könne sie auch nicht länger im Hause bleiben; in Nacht und Sturm wolle sie hinaus, zurück zu den Ihrigen. Natürlich ist damit die schönste Lösung gegeben, Hermann klärt sie über ihren Irrthum auf, und indem er sie an sein Herz drückt, spricht er, nunmehr ein ganzer Mann, die Mannesworte, welche das Gedicht herrlich und würdig abschließen.

Das ist die Geschichte von Hermann und Dorothea, die Goethe mit homerischer Einfachheit in dem Versmaße Homers geschrieben hat. Nun müßte ich nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge wohl über die viel verhandelte Frage mich aussprechen, ob dies Gedicht eigentlich ein Epos oder eine Idylle oder in höherer Einheit ein idyllisches Epos sei. In dergleichen Unterscheidungen und Classificirungen sind ja die Kritiker stark; sie wissen uns zu sagen, was das eigentliche Epos ist, und worin es sich vom romantischen und bürgerlichen unterscheidet, und diese schweren Batterien richten sie dann auf Hermann und Dorothea. Wohl! wen dergleichen Untersuchungen befriedigen, der folge seiner Neigung und betreibe sie ungestört. Mir aber scheint die Frage, ob Hermann und Dorothea ein Epos sei oder nicht und was für eine Art Epos es sei, sehr müßig. Es ist ein Gedicht – das genügt. Wenn es sich nebenher von allen andern Gedichten unterscheidet, so schadet das nichts, und wenn es andern Gedichten ähnlich ist, so erhöht das seinen Reiz nicht weiter. Nehmen wir es denn für das was es ist, für ein Gedicht voll Leben, Charakter und Schönheit, einfach in seinem Stoff, erstaunlich einfach in der Behandlung, eine Nachahmung Homers und doch durchweg modern in Färbung und Empfindung. Von allen Idyllen ist es am wahrhaftesten idyllisch; von allen Gedichten, die Landleben und Landleute schildern, ist es das wahrste, und verglichen mit Theokrit oder Virgil, Guarini oder Tasso, Florian oder Delille, Geßner oder Thompson, überrascht es durch den gänzlichen Mangel an dichterischem Zierrath, durch seine Freiheit von aller falschen Idealisirung. Die Menschen sind in diesem Gedichte so wahr, wie sie die Poesie nur machen kann. Die Charaktere sind wundervoll gezeichnet, mit wenigen sichern und sanften Strichen. Selbst Shakespeare hat in seiner Charakterzeichnung nicht mehr dramatisches Leben. Die Nebenfiguren stehen in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit vor uns; Hermann, der rüstige Ackerbürger, offen, einfach und bescheiden, und Dorothea, dies gesunde, liebevolle, kräftige und einfache Landmädchen, sind ideale Charaktere im besten Sinne, d. h. in aller Reinheit der Natur. Jene idealen Hirten und Schäfer mit griechischem Profil und tadelloser Wäsche, für die schlechte Maler und armselige Dichter so schwärmen, waren durchaus nicht die Gestalten, die Goethe hätte zeichnen mögen; er glaubte an die Natur und über ihre Grenzen hinaus konnte er nicht idealisiren. Das steht im Zusammenhänge mit einer sehr bemerkenswerthen Eigenthümlichkeit. Grade wie Walter Scott hatte er an der Unterhaltung mit dem gemeinen Volk herzliche Freude; seine Schwiegertochter z. B., die mir unter andern diese Thatsache mittheilte, mußte sich oft darüber wundern, was sein großer Geist daran finden könne, sich mit einer alten Frau, die ihr Brod backte, oder mit einem alten Tischlermeister, der ein Brett behobelte, zu unterhalten; wenn er ausfuhr, sprach er viel mit seinem Kutscher, machte ihn auf die Eigentümlichkeiten der Gegend aufmerksam und freute sich über seine Antworten. Vornehm schweigsam wie er gegen langweilige Reisende und gegen Gelehrte sein konnte, deren Gesichtskreis nicht über ihre verstaubte Bibliothek hinaus ging, war er mit Leuten aus dem Volke immer gesprächig und voll lebhaften Antheils Das erklärt sich einfach: jede Individualität interessirte ihn. Ein Zimmermann, der wirklich ein Zimmermann war, gefiel ihm, aber wenn derselbe Zimmermann in Sonntagskleidern den vornehmen Bürger spielte, so wäre er gegen ihn eben so vornehm schweigsam gewesen, wie gegen jede andere Scheingröße. Wie lohnend für Walter Scott sein Verkehr mit dem Volke wurde, das zeigt uns der reiche Humor, welcher seine historischen Schöpfungen belebt, und was für Gewinn Goethe aus derselben Quelle zog, beweisen am besten Hermann und Dorothea, Faust und Wilhelm Meister.

Dieselbe Naturwahrheit waltet in der Scenerie. Sie wird uns nicht beschrieben, sondern unmittelbar dargestellt, der Dichter sagt nicht, wem sie gleicht, sondern was sie ist. Er giebt nicht Bilder, sondern die Dinge selbst. Darum ist auch dies Gedicht so durchaus volksthümlich, machte bei seinem ersten Erscheinen einen tiefen Eindruck, wurde aus grobem Papier zu geringen Preisen ganz wie ein Volksbuch nachgedruckt, und ist zugleich ein Lieblingsbuch der wahrhaft Gebildeten. Zwischen diesen beiden Klassen von Lesern aber steht, eine dritte, die zwar auch Bildung, aber nicht gerade tiefe Bildung hat; die findet die Einfachheit des Gedichts kahl: es sind das die Leser, welche eine bilderreiche Sprache verlangen und für die Kunst keinen Sinn haben, die derselben entbehren kann; für sie bedarf es aufregenderer Ereignisse und Charaktere, die auf Stelzen gehen. Vorüber an ihnen, vorüber!

Da ich in die Frage, ob das Gedicht ein Epos ist und was für eines, nicht eingehe, so bin ich auch der kleineren Erörterungen über Vergleichungen, Episoden und was dahin gehört überhoben; nur zwei Punkte sind noch kurz zu berücksichtigen.

Zunächst der Stoff. Da die Geschichte den traurigen Erlebnissen der Gegenwart entnommen war und in Gegenden spielte, die schon unter den verheerenden Wirkungen der französischen Revolution gelitten hatten, so suchte man in dem Gedichte natürlich eine politische Tendenz. Schiller würde es unzweifelhaft zum Träger einer glänzenden Verherrlichung der Freiheit gemacht haben, bei der unser Herz höher schlüge. Das war aber keineswegs Goethe's Absicht. Wie er es gegen Meyer ausdrückte, hatte er »das rein Menschliche der Existenz einer kleinen deutschen Stadt in dem epischen Tiegel von seinen Schlacken abzuschneiden gesucht und zugleich die großen Bewegungen und Veränderungen des Welttheaters aus einem kleinen Spiegel zurückzuwerfen getrachtet«; die Politik überließ er andern, und hier wie sonst beschränkte er sich auf das rein menschliche und persönliche Interesse; statt über Freiheit groß zu reden, wollte er die Menschen frei sein lehren, und unter Freiheit verstand er nicht politische Reformen, sondern die vollendete gesunde Entwicklung ihrer eigenen Natur. In einer der Xenien sagt er:

Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens.
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.

Und in diesem Sinne kann Hermann und Dorothea als ein Lobgedicht auf die Familie gelten, als eine feierliche Verherrlichung der ewigen und ursprünglichen Forderungen, welche die Natur an den Menschen stellt.

In Bezug aus den zweiten Punkt, den Stil nämlich, mag es genügen, das herzliche Lob anzuführen, welches Schiller in einem Briefe an Heinrich Meyer ausspricht. »Auch wir waren indeß nicht unthätig, wie Sie wissen, und am wenigsten unser Freund, der sich in diesen letzten Jahren wirklich selbst übertroffen hat. Sein episches Gedicht haben Sie gelesen, Sie werden gestehen, daß es der Gipfel seiner und unserer ganzen neueren Kunst ist. Ich hab' es entstehen sehen und mich fast eben so sehr über die Art der Entstehung, als über das Werk verwundert. Während wir andern mühselig sammeln und prüfen müssen, um etwas Leidliches langsam hervorzubringen, darf er nur leis an dem Baume schütteln, um sich die schönsten Früchte reif und schwer zufallen zu lassen. Es ist unglaublich, mit welcher Leichtigkeit er jetzt die Früchte eines wohlangewandten Lebens und einer anhaltenden Bildung an sich selber einerntet, wie bedeutend und sicher jetzt alle seine Schritte sind, wie ihn die Klarheit über sich selbst und über die Gegenstände vor jedem eitlen Streben und Herumtappen bewahrt. Doch Sie haben ihn jetzt selbst und können sich von allen dem mit eigenen Augen überzeugen. Sie werden mir aber auch darin beipflichten, daß er auf dem Gipfel, wo er jetzt steht, mehr darauf denken muß, die schöne Form, die er sich gegeben hat, zur Darstellung zu bringen als nach neuem Stoff auszugehen, kurz, daß er jetzt ganz der poetischen Praktik leben muß.«

Die homerische Form und Versart paßt für diese Art poetischer Erzählung vortrefflich; auch hatte sie Voß durch seine Luise schon populär gemacht. In Bezug aus den Stil möchte ich noch eine Vergleichung mit den letzten Büchern des Wilhelm Meister empfehlen, die um dieselbe Zeit geschrieben sind; es zeigt sich da recht, wie unendlich überlegen Goethe's Poesie gegen seine Prosa ist. Von den Fehlern seiner Prosa ist hier keine Spur. Die Sprache ist so klar und so einfach wie Krystall, das Detail ist ohne alle Ausnahme bedeutsam, nicht eine Zeile könnte ohne Schaden für das Ganze wegbleiben. Man fühlt, daß die kräftige Bergluft von Ilmenau, wo er das Gedicht im Laufe von sechs Monaten der Hauptsache nach verfaßte, den Dichter aus der matten prosaischen Stimmung erhob und ihm seine ganze sichere Kraft gab.

Zum Schluß dieses Abschnitts mag sich der Leser noch an einer Probe jener scharfsinnigen Kritik ergötzen, welche den einfachsten Thatsachen einen tiefen Sinn unterzulegen liebt. Hegel in seiner Aesthetik und nach ihm Rosenkranz in feinem vortrefflichen Buche »Goethe und seine Werke« haben als etwas Besonderes hervorgehoben, in Hermann und Dorothea sei die deutsche Färbung viel treuer als in der Luise, dem Vorbilde Goethe's. Der Beweis ist in der That spaßhaft. Bei Voß, sagen sie, trinken die Leute viel Kaffee, aber wie weitverbreitet auch die Gewohnheit des Kaffeetrinkens sein mag, doch sind Kaffee und Zucker nicht deutsch, sondern fremdländisch und ebenso sind die Porzellantassen nicht deutsch, sondern chinesischen Ursprungs; so werden wir in unserer Vorstellung meilenweit von Deutschland weggeführt. Wie ganz anders bei Goethe! Sein Wirth zum goldnen Löwen setzt den Freunden ein Glas Wein vor, und was für Wein? Rheinwein, den ächten deutschen Wein, der hinter seinem eigenen Hause wächst! Und diesen Rheinwein trinken sie aus grünen Römern, den ächten deutschen Weingläsern, und die Gläser stehen auf einem zinnernen Präsentirbrett, und das ist auch ächt deutsch!

Natürlich ist es die nüchternste englische Prosa, dagegen zu erinnern, daß bei Voß der Pfarrer und seine Gäste Kaffee trinken, weil es in einem Pfarrhause auf dem Lande gewöhnlich Kaffee giebt, während die Bürger in Hermann und Dorothea Wein trinken, weil sie beim Wirth zum goldnen Löwen sind, und Rheinwein trinken, weil sie im Rheinland sind – aber diese Prosa ist das einzige, was dem Engländer zur Erwiderung auf die Finessen deutscher Kritiker übrig bleibt.



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