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Für den nächsten Tag hatte die Gesellschaft, in welcher Anton sich in Pyrmont bewegte, eine Fahrt nach den Extersteinen verabredet. Die Extersteine sind eine Gruppe von Felsen, die, in der Ebene senkrecht emporsteigend, doppelt riesig erscheinen und daher von den Badegästen als Naturwunder vielfach besucht werden. Da sie ziemlich entfernt sind von Pyrmont, erfordert der Ausflug einen ganzen Tag. Anton sah daher weder Margarethe noch Marie, die er am Brunnen Morgens vergebens gesucht hatte. Auch am folgenden Tage waren sie nicht dort. Nur der Vater und der Freifelder Friedrich gingen an ihm vorüber, antworteten kurz auf den guten Morgen, den er ihnen bot, und Anton traute sich nicht zu fragen, wo die Andern wären.
[77] Gegen Abend aber litt es ihn nicht ohne ihren Anblick. Er wanderte, als die Sonne schon zu sinken begann, durch die Parkanlagen hinauf nach dem Tannenwäldchen über der Dunsthöhle, wo die Landleute sich um die Zeit häufig aufzuhalten pflegen; dann weiter fort durch die ganze Stadt nach der Saline und der Salzquelle und wieder zurück in den Park. Marie war nirgend zu finden. In dem vergeblichen Suchen steigerte sich mit seiner Ungeduld sein Verlangen, sie zu sehen, zu solch wilder Heftigkeit, daß er selbst sich fragen mußte: »Was soll's denn werden, wenn Du sie jetzt findest?«
Er blieb wie erschrocken vor sich selbst mitten in seinem Wege stehen. Nie hatte ein Weib noch Eindruck auf ihn gemacht, nie hatte er dieses tiefe, schmerzenvolle Verlangen empfunden. Er war eine jener kräftigen Naturen, deren Jugend die Liebe nicht ersehnt, weil sie ausgefüllt ist von der Freude des Daseins. Die Mädchen und Frauen in der Residenz hatten ihn ausgezeichnet; er war hübsch, reich und der Sohn eines vielvermögenden Mannes. Die Mädchen nannten ihn angenehm, ihre Mütter einen wünschenswerthen Bewerber trotz seiner Jugend; die eignen Eltern selbst hatten ihm scherzend gesagt, daß er [78] nur zu wählen habe, daß er ja dann noch warten könne Jahr und Tag, daß ihnen dies oder jenes Mädchen wohl einmal eine willkommene Schwiegertochter sein würde – es hatte ihn Alles gleichgültig gelassen. Weder die Zureden der Eltern, noch die Anmuth, die Bildung, die feine Schönheit der Städterinnen hatte ihn gereizt – und jetzt liebte er, liebte, daß es sein ganzes Wesen ausfüllte, ein Bauermädchen, das wenig von allen jenen Vorzügen besaß, die man ihm als begehrenswerth geschildert an seiner künftigen Frau. Er liebte Marien, weil das instinktive Gefühl den starken, seelenreinen Jüngling zu dem Weibe zieht, das am Meisten und im reinsten Sinne Weib ist. Ohne daß er es wußte, hatte des Geheimraths Geringschätzung weiblicher Bildung dem Sohne andere Frucht getragen, als der Vater beabsichtigt. Sie hatte ihm im Weibe nichts suchen lehren, als das reine Weib, das ihm in Mariens Gestalt und Wesen in jedem Augenblicke voll und ganz entgegentrat. Mochte sie der Mutter dienen, irgend einem Kranken hilfreiche Hand bieten, am Brunnenrande arbeiten mit den andern Mädchen, ein Kind an sich drücken, mit Männern verkehren, immer war sie dasselbe ganze Weib, immer trat ihre Wesenheit, dies [79] Ausgefülltsein von dem einfachen Berufe des Weibes, hell und sie selbst beglückend in ihr hervor, immer erschien sie Anton als unvergleichlich mit allen Frauen, die er gekannt hatte, bis zu dieser Stunde.
Voll von diesen Gedanken und von Mariens Bilde, sie dennoch suchend, schrak er zusammen, da sie plötzlich bei einer der Biegungen des vielgewundenen Weges zwischen den hohen blühenden Sträuchen vor ihm stand, von denen die Wege umgeben sind. Es war ihm, als käme sie zu früh, und doch hatte er noch einen Augenblick vorher die Sehnsucht nach ihr kaum mehr ertragen zu können geglaubt.
Wortlos, Beide erglühend, reichten sie sich die Hände, aber Marie zog doch schnell wieder die ihre zurück.
»Wo bist du gewesen all die Tage?« fragte er.
»Immer mit der Muhme – der Friedrich hat's verschuldet« – antwortete sie.
Marie ging vorwärts, während sie sprach. Anton folgte ihr, in hastiger Erregung die Vorgänge durchdenkend, die hinter den einfachen Worten des Mädchens verborgen lagen. Dabei waren sie an einen der Teiche gekommen, in denen die zahlreichen schneeweißen Wasserlilien im letzten Sonnenscheine glänzten.
[80] Antons Schweigen ängstigte Marie. Es war, als wollte sie davongehen. Dann sah sie sich um nach allen Seiten und blieb dann neben ihm. Sie bückte sich aber, als müsse sie irgend Etwas thun, hob einen kleinen Stein auf und warf ihn nach den Lilien.
»Was machst Du?« fragte Anton zerstreut und beklommen.
»Ich jage den Frosch von der Lilie weg!«
Damit warf sie das Steinchen ins Wasser, Anton blickte hin, der Frosch tauchte unter, es war ihm, als erleichtere ihm das sein Herz.
»Sieh, wie die Sonne den Lilien gute Nacht sagt!« rief er; und Marie fragte: »Kennt Ihr denn nicht das alte Lied von den Lilien und von der Sonne?«
»Nein! Wie lautet das?«
»Ach, das kennt jedes Kind!«
Und ganz leise vor sich hinsummend sang sie nach einer alten, wehmüthigen Volksweise:
»Die Lilien und die Sonne,
Die küssen sich vor Schlafengeh'n!
Ich hab' meine Herzenswonne
So lang nicht mehr geseh'n!«
Kaum aber hatte sie die letzten Sylben gesprochen, als die Beiden sich umschlungen, geküßt und [81] wieder getrennt hatten, ehe sie wußten, daß es geschehen war. Wie aufgeschreckte Vögel flohen sie darauf nach verschiedenen Seiten, und erst als die Gebüsche sie seinem Auge entzogen hatten, fragte sich Anton, wie er Marie habe lassen können, nachdem er sie einmal in seinen Armen gehalten.
Mittwoch am Abend war die Hauptallee schwach erleuchtet, und die Musik hatte die Bauern über die gewohnte Stunde im Freien erhalten, welche im Gegensatze zu den Städtern diese Abendmusiken am Mittwoch und Sonntag niemals versäumen. Anton hielt sich in der Seitenallee. Einmal war es ihm, als sähe er Marie vorübergehen, aber sie wendete den Kopf nicht, so fest er auch nach ihr hinblickte, und dann verschwand sie im Dunkel. Bis spät in die Nacht hinein irrte er durch die Alleen. Eine wilde Gedankenjagd tobte in seinem Gehirn.
Bald schien es ihm, als dürfe er nur zu seinem Vater gehen und ihm Alles sagen, um am Ziele seiner Wünsche zu sein, bald lachte er auf mit dem bittern Lachen des Hohnes über diesen Irrthum seines Herzens. Margarethens Schicksal stand ihm drohend vor Augen. Wenn Marie ihm jemals vorwerfen könnte, ihr Leben zerstört zu haben, wie sein Groß [82]vater das Leben der alten Margarethe – es würde ihn wie Furien durch die Welt verfolgen, sagte er sich. Aber was wollte er denn? Was konnte denn geschehen? – Würde sein Vater jemals einwilligen, ihm ein Bauermädchen zur Frau zu geben? – Würde der stolze Hofbauer sie ihm geben gegen den Willen seines Vaters, wenn er Mittel und Wege fände, ein Weib zu ernähren ohne des Vaters Beistand? – Ein Paar hundert Thaler konnte er sich in jedem Augenblicke verschaffen; sollte er sie nehmen, Marie überreden ihm zu folgen und mit ihr nach Amerika auswandern, fort aus einem Welttheil, in dem Alles Standesvorurtheil, Alles falscher Stolz und Selbstsucht, und nirgend ein wahres, menschliches Empfinden war? – Oder sollte er nichts Gewaltsames versuchen, sondern sich von Marie Treue schwören lassen und ruhig abwarten, bis diese Revolution, die ihm plötzlich in ganz anderem Lichte erschien, die Schranken durchbrochen haben würde, die den Menschen vom Menschen trennten? Was hinderte ihn, dem Vater die Wahrheit zu gestehen, der Geist und Wissen an einer Hausfrau für gleichgültige Dinge hielt, der oft über die Gelehrsamkeit der Berlinerinnen gespottet hatte, und der, wenn er seinen einzigen [83] Sohn mit eines Bauern Tochter verheirathete, am Besten darthat, daß er sich zum Volke rechne und mit dem Volke zusammenstehe? – Die junge Liebe ist der kühnste Dichter, der spitzfindigste Advokat, wenn es darauf ankommt, sich eine Welt voll Glück zu erträumen oder unüberwindliche Hindernisse zu besiegen. Von Hoffen zum Verzweifeln, von Verlangen zur Entsagung, von Elternliebe zur Verachtung aller Familienbande schweiften Antons Gedanken hin und her, bis eine tiefe Ermüdung ihn der Wirklichkeit zurückgab und er mit Staunen bemerkte, daß der Morgen bereits herandämmerte, als er endlich seine Wohnung erreicht hatte.