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V.

Fast eine Woche verweilte Kunz Schmidt bereits mit den Seinen in Pyrmont, als Anton eines Nachmittags im Spazierengehen Margarethen begegnete, die allein des Weges daher gehinkt kam. Er fragte sie, wohin sie wolle?

»Nach Löwzen, junger Herr,« entgegnete Margarethe; »die Wirthin dort ist Schwesterkind mit meinem Vater gewesen. Sie ist krank, da will ich einmal hinaufsehen, was ihr denn eigentlich schadet!«

Ohne Weiteres schloß sich Anton ihr an. Von der großen Straße bog man unweit der Hauptallee ab und gelangte in die Kampen. Kamp nennt man im Westphälischen das eingehegte Wiesenland. Diese Kampen, verschiedenen Besitzern gehörend, werden untereinander mit Lattenzäunen abgetrennt, welche [44] fast überall von Schlehdornhecken und niedriggehaltenen Weiden umwachsen sind. Nur immer an einer Stelle ist ein Durchgang gelassen in den Nachbarkamp, breit genug, einem Menschen Raum zu geben und so den Weg durch das ganze Wiesenland zu bilden, das sich hier bei Pyrmont, an der einen Seite bis zur Chaussee des Städtchens Lügde, auf der andern bis zum Fuß der Hügelkette hinzieht. Ein mit Erlen und Weiden umrandetes, schnell strömendes Flüßchen, die Emme, zieht sich durch das ganze Thal. Es setzt die Maschine der naheliegenden Saline in Bewegung, deren hohe Schornsteine aus der Ebene hervorragen, und treibt weiterhin die Wassermühle, von deren Rädern tausendfach glitzernd das Wasser herniederperlte.

Der Himmel war wolkenlos, ein warmes Sonnenlicht ausgegossen über das frische Gras und Laub, alle Berge umher so klar, daß man die Aeste der einzelnen Bäume bis zu den Spitzen der Berge erkennen konnte. Den Wandernden gegenüber zogen sich die lippedetmoldischen Berge hin, an deren Fuße das preußische Städtchen Lügde mit seinem von Karl dem Großen erbauten, achthundert Jahre alten Kirchlein, im Sonnenscheine ruhte. Weiterhin erhoben sich die [45] zu Hessen-Kassel gehörenden Höhenzüge, während rechts die letzten Ausläufer des Teutoburger Waldes, links der Königsberg das Thal abschloß, von dessen halber Höhe das rothbedachte Försterhaus freundlich herniederschaute.

Auf den eben frischgemähten Wiesen schritt man wie auf grünem Teppich einher, der kräftige Duft des Heus quoll aus den Schobern hervor. Kein Laut regte sich in der ganzen Natur, außer dem Schwirren der Käfer und dem Jubelton aufsteigender Lerchen, die sich, vom Tritte der Nahenden aufgeschreckt, in die Luft schwangen, um bald darauf wieder unterzutauchen in den warmen, duftigen Rasen. Ruhig hingestreckt lagen weiße und braune Kühe in den einzelnen Kampen, hie und da hob eine den Kopf empor und schaute mit hellen Augen die Vorübergehenden an, um sich dann wieder auszustrecken und die genußreiche Ruhe nicht zu unterbrechen.

Die friedliche Stille hatte etwas Bannendes. Die Wandernden schwiegen Beide, bis Margarethe sagte: »Ist's Einem doch, als dürfte man das liebe Vieh nicht mit seinen Reden stören, so still hat's unser Herrgott ihnen heute zurecht gemacht. Manchmal möcht' ich auch wieder hinaus zum Bruder auf den [46] Birkenhof, aber ich hab's geschworen, in der Stadt zu bleiben, so schwer es Einem im Sonnenschein auch wird, immer die alten Mauern und nicht einmal ein schön Stück Vieh um sich zu sehen!«

Dabei trat sie an eine silbergraue breitstirnige Kuh heran, klopfte ihr den Hals und setzte sich neben dem Thier ins Gras.

»Euer Fuß will wohl nicht weiter fort,« sagte Anton und setzte sich neben sie. »Wie seid Ihr denn dazu gekommen, lahm zu sein? Seid Ihr denn so geboren, Margarethe?«

»Es ist kein Krüppel gewesen unter allen Kindern im Birkenhof,« entgegnete die Alte, »und ich habe so gesunde Glieder gehabt wie Eine. Lebte Euer Großvater noch, der könnt's Euch sagen, ob ich lahm geboren bin.«

»Margarethe, Ihr habt schon oft von meinem Großvater gesprochen und Euch gefreut, daß ich ihm ähnlich sehe, was habt Ihr gehabt mit ihm? Erzählt es mir, da wir jetzt allein sind und ich es schon all die Tage gern gewußt hätte.«

Margarethe sah ihn eine Weile an, dann sagte sie: »Ja, so hat er ausgesehen; – ich hatt's vergessen und viele Jahre nicht mehr daran gedacht; denn [47] die Zeit macht vergeßlich. Nun, da ich Euch gesehen habe, ist mir's oft, als wär's nicht lange her, und als könnte es Alles noch einmal geschehen. Darum wollte ich, Ihr wäret nicht gekommen, und meine Augen hätten Euch nicht gesehen! Aber Ihr sollt es wissen, und darum will ich's Euch erzählen, was nie ein Mensch von mir gehört hat.

Als ich jung war wie die Marie und auch wohl schön wie sie, da kam Euer Großvater zu uns in den Hof. Ihr werdet es kaum wissen; denn man wird es Euch nicht gesagt haben, wie der klein angefangen und mit Noth und Sorge gekämpft hat lange Zeit. Der Reiche vergißt oft gern der Tage seiner Armuth. Es war Winterszeit und klingender Frost, und Euer Großvater war ganz erstarrt von der Kälte; denn seine Kleider waren abgetragen und nicht warm. Die Mutter nahm ihn mitleidig an die Ofenbank, wir mußten Platz machen für ihn; er aß die heiße Suppe mit uns, und als er aufgethaut war und mein Vater ihn ausfragte, erzählte er uns sein Leben. Er war ein Findelkind, das man vor der Thür seines Herrn ausgesetzt hatte. Der hatte ihn auferziehen lassen und ihn dann als Laufburschen, hernach als Gehülfen in seinem Kraut gebraucht und ließ ihn nun mit dem [48] Rothgarne auf den Dörfern herumreisen, um Kundschaft zu bekommen unter den Bauern, die das Rothgarn für das Hausgewebe brauchten. Damals webten die Bauern mehr noch selbst als jetzt, und wenn der Flachs gerathen war, hatten wir drei, auch vier Webstühle im Gange. Nach jenem Tage kam er oftmals in unsere Gegend, und immer kam er wieder in unsern Hof. Wenn wir sein Pferd kommen sahen, freuten wir uns, Vater und Mutter gingen ihm entgegen, der Knecht schnallte unbefohlen das Ränzel ab und führte das Pferd in den Stall; denn Jeder wußte, daß er übernachten würde, so gewiß als ein Kind im Vaterhause übernachtet. Er wußte seine Geschäfte in der Nachbarschaft so einzurichten, daß er oft die Wege am Tage zu Fuß oder zu Pferde nach den nächsten Höfen und Dörfern machte und Abends immer wiederkehrte unter unser Dach. Mein Vater ließ sich gern von ihm erzählen, wie es in der Stadt aussah; meine Mutter erfuhr von ihm, was in der Nachbarschaft geschah; ich hörte Alles gern, was er erzählte, und Alle mochten ihn gern, ich aber am meisten. Als ich siebzehn Jahre alt war, hatte er mir's auch gesagt, wie lieb er mich hätte, und wir hatten uns zu heirathen versprochen, sobald er Haus und [49] Hof haben würde; denn daß mein Vater mich einem Menschen geben könnte, der noch mit sechsundzwanzig Jahren nichts hatte als neunzig Thaler Lohn, daran war nicht zu denken, und wir konnten ja auch nicht leben damit. So gingen viele Jahre hin. Schreiben konnte er mir nicht; denn ich konnte damals nicht Geschriebenes lesen und habe es erst viel später vom Vicarius gelernt. Allein sprechen durften wir uns auch nicht viel, weil meine Mutter aufmerksam geworden war, und wir mußten, wenn er vom Birkenhofe wegging, genau den Tag und die Stunde verabreden, in der wir uns ein paar Monate später auf irgend einem Punkte treffen wollten, ehe er wieder nach dem Birkenhofe kam. Da habe ich mich mit Angst und Noth weggestohlen und bin ihm bald im Sonnenbrand, bald im Schnee und Regen entgegengelaufen, um ihn nur einen Augenblick allein zu sprechen, und habe ihm Alles geglaubt, was er mir sagte. Von der Stadt hat er mir erzählt, und wie ich werden müßte dort, damit ich hingehörte, und tausend Mal hat er mir Treue geschworen, ich habe sie ihm auch schwören müssen – und ich habe sie gehalten, er aber nicht.

Eines Tages, es war im August und schon wäh [50]rend der Kornernte, bin ich am Abend ihm entgegengegangen und habe immer um mich gesehen, wenn ich aus dem stehenden Korn, an dem ich mich hinschlich, hinaus mußte ins freie Feld, auf Stoppeln oder Wiesen, ob mich Niemand bemerkte; denn es war mir angst und beklommen zu Muthe. Im Erlenhag hinter dem Mühlgrunde sollte ich ihn finden, aber er war nicht da, und schon fürchtete ich, ich würde zurück müssen, ehe ich ihn gesehen hätte, als er plötzlich vor mir stand. Er sah blaß aus, daß ich meinte, er sei krank. Ich fragte ihn, was ihm fehle; ich erschrack, als er mich nicht küßte zum Willkommen, wie es sich gehörte; aber er sagte, es sei Alles gut. ›Wo hast Du Dein Pferd?‹ fragte ich. – ›Beim Schulzen in Freifelde.‹ – ›Wie kommst Du denn dahin?‹ – ›Ich will dort nächtigen.‹ – ›Nächtigen? und nicht bei uns?‹ – ›Ich muß morgen in aller Frühe nach Iserlohn zurück.‹ – ›Aber weshalb bist Du denn gekommen?‹ – ›Um Dir zu sagen,Margarethe, daß ich zurück muß, und daß ich in den nächsten Monaten wohl auch nicht werde wiederkommen können.‹

Ich war wie todt vor Schreck, nicht über die Worte, sondern über die Art, mit der er das Alles [51] sagte. Es war, als wäre er selbst todt, als wär's nur noch sein Gespenst, das wiedergekommen wäre, mich zu ängstigen und zu quälen. In dieser Pein warf ich mich auf die Knie und betete laut, daß der böse Geist weichen möchte. Ich wußte nicht, was ich that. Er fing an zu weinen, ich weinte bitterlich, so bitterliche Thränen, wie sie je ein Menschenauge vergossen hat auf der Welt. Er nahm mich in seine Arme, er sagte mir, daß er gar zu arm sei, daß sein Herr ihn nicht länger behalten wolle, wenn er die Tochter nicht heirathe; daß er mich ja auch nicht heirathen könnte, wenn er den Dienst verließe, weil er dann gar nichts hätte; daß er also heirathen würde, und daß ich es auch thun sollte, wir könnten ja doch kein Paar werden. Er habe sich das Alles überlegt; er könne ja nicht aufs Land ziehen und ein Bauer werden, wenn der Vater selbst was für ihn thun und uns einen kleinen Hof kaufen wollte; ich könne doch auch nicht warten, bis er sich in der Stadt Haus und Hof und ein Auskommen erworben hätte, und ich paßte auch nicht hin und würde das Land nie verschmerzen. – – Er sprach immer, immer fort, er allein; denn ich konnte nichts sagen. Als er gegangen war, wurde es mir [52] schwarz vor den Augen, daß ich bewußtlos niederfiel. Die Müllersfrau, die mich fand, schickte den Knecht nach dem Birkenhofe und ließ es sagen. Vater und Mutter kamen, mich zu holen mit dem Wagen. Sie meinten, es sei von der Hitze gewesen; sie ließen mir die Ader schlagen; ich sollte sagen, wie ich in den Erlenhag gekommen, ich konnt's nicht; denn viele Tage habe ich damals im Fieber gelegen und von mir selbst nichts gewußt. Als ich zu mir kam und wieder gehen konnte, kam die Mutter ins Wochenbett mit dem Kunz; darüber vergaßen sie zu fragen, wie ich krank geworden und wie ich nach dem Hag gekommen war. Es war große Freude mit dem Kinde; Mutter und Vater waren schon alt, und es hatte es Niemand mehr erwartet. Wenn ich die Freude sah, mußte ich oft weinen; ich dachte mir, das ist nun Alles für Dich vorbei; Du wirst kein Kind haben; denn Du kannst ja Deinen Schwur nicht brechen, den Du bei allen Heiligen gethan hast, wie er – und ich habe ihn auch nicht gebrochen.«

Ein Anflug von stolzem Selbstbewußtsein zuckte über das leise geröthete Gesicht der Alten und durch den Ton von Wehmuth, mit dem sie die Geschichte ihrer Jugend erzählt hatte. Sie sah Anton nicht an, [53] nahm aber das Strickzeug auf, das eine Weile in ihrem Schooße geruht hatte, schlug die blaue Wolle um die Finger und setzte ihre Arbeit fort.

»Und was wurde weiter?« fragte Anton.

»Was weiter wurde?« wiederholte Margarethe und legte die Arbeit nieder, »das will ich Euch sagen, junger Herr.« Dabei faßte sie mit Heftigkeit die Hand des Jünglings und sprach: »Euer Großvater hat schlecht an mir gehandelt, so schlecht, daß weder er noch Ihr noch irgend ein Mensch es jetzt gut machen könnte. Hätte die heilige Vehme noch gelebt, die einst Gericht gehalten hat auf der rothen Erde, sie würde ihn zu finden gewußt haben für den Meineid, den er mir geschworen hatte. Jetzt geht solche Schuld frei aus, und die Zeiten und die Menschen werden immer schlechter dadurch.«

Sie hielt abermals eine Weile inne, dann fuhr sie fort: »Als wieder die Zeit heran kam, in der er sonst bei uns einzutreffen pflegte, blieb er aus, es kam ein Anderer statt seiner. Vater und Mutter fragten nach ihm, und es hieß, er sei wo anders hingeschickt und würde später einmal wieder in diese Gegend kommen. Den Leuten aber, die auch wissen [54] wollten, wo er denn geblieben sei, sagte der Neue: ›Er will sich verheirathen, und da er eine Liebschaft gehabt hat mit der Tochter vom Birkenhof, mag er nicht wiederkommen!‹ – Das ging wie ein Heckfeuer umher, es kam auch auf den Birkenhof. Die Leute besannen sich auf meine schwere Krankheit, sie sagten das Schlimmste von mir; wenig fehlte, daß sie mir Kirchenbuße aufgelegt hätten, und doch war ich unschuldig wie ein Kind. Mein Vater war wild vor Zorn; ich sollte gestehen, was ich gesündigt hätte; ich hatte nichts gesündigt, ich hatte nichts zu gestehen. Mit einem Faustschlage stieß er mich zur Erkerkammer hinaus, daß ich mit meinen Augen voll Thränen die Stiege verfehlte, ich fiel, brach das Bein und blieb lahm für Lebenszeit.

Die Nachbarstöchter drehten sich von mir, wie ich wieder unter die Leute kam, von Tanzen war nicht mehr die Rede, aber auch das junge Mannsvolk ließ mich allein in der Ecke stehen. Ich konnt's nicht aushalten, den Aeltern fraß es das Herz ab. Da wurde der Aelteste Vicar-Adjunct im Münsterschen. Den erbarmte es, und er nahm mich fort vom Birkenhof zu sich ins Haus. Bei dem bin ich geblieben fast zehn Jahre, bis Vater und Mutter hinfällig geworden [55] waren und mich brauchten in der Wirthschaft. Da bin ich zurückgegangen in den Birkenhof und habe ihnen die Augen zugedrückt, und sie haben mir den Kunz anvertraut, der ein Bursche von zwölf Jahren gewesen ist damals zur Zeit. Ich bin denn bei ihm geblieben andere zehn Jahre; drauf hat er sich verheirathen wollen mit seiner Frau, und ich habe ihm abgeredet, weil sie kränklich und schwach gewesen ist von Kindesbeinen an. Solch eine Frau aber taugt nicht in die Wirthschaft. Das hat oft Streit gegeben zwischen mir und ihm; er hat geglaubt, ich wollte keine Frau ins Haus haben, um das Regiment nicht zu verlieren, und einmal im Zorne hat er gesagt: ›Ich kann nichts dafür, daß Du ledig geblieben bist, und nichts für Dein lahmes Bein. Man weiß, wo Du's her hast!‹ – Wie er mir das gesagt hat, habe ich noch am nämlichen Abend meinen Kasten gepackt, bin am Morgen fortgefahren und habe einen heiligen Eid geschworen dem Kunz ins Gesicht, daß mein lahmer Fuß nie wieder die Schwelle vom Birkenhof betreten sollte. Das hat ihn gepackt, er hat mich mit weinenden Augen gebeten, ihn nicht zu verlassen: denn sein Herz ist gut, und nur sein Jähzorn hatte ihn verleitet, ich hätte aber nicht bleiben [56] können, und wenn die Welt drüber untergegangen wäre. Darauf bin ich wieder zum Aeltesten zurückgegangen, der inzwischen nach Iserlohn als Vicar versetzt worden war, an die katholische Kirche, und bin bei ihm geblieben, bis er vor zwei Jahren gestorben ist.«

Als sie schwieg, fragte Anton mit einer Stimme, der man die innere Bewegung anhörte: »Und Ihr habt auch das gehalten? Ihr seid nie zurückgekehrt auf den Birkenhof? Ihr seid immer einsam geblieben in Iserlohn?«

»Was sollte ich anders, zum Bruder konnte ich nicht hin, so sehr er es bereut, daß er mich zum Verschwören des Hauses gebracht hat, in dem wir Alle geboren sind. Er hat's auch nicht mehr gefordert, weil es doch einmal geschehen war. Er hatte mir ein Leibgeding ausgesetzt, wie man's den Aeltern thut, und das nehme ich an, seit der Vicar gestorben ist. Ich gehe bisweilen mit hieher, er giebt mir dann manchmal die Marie in die Stadt für eine Weile, und ich soll den Aeltesten bekommen, wenn er zur Schule geschickt wird, weil mein Herz an den Kindern hängt. Da bleibe ich denn in Iserlohn und denke, der Herr hat's so gewollt, und der Vicar, der [57] ein gottseliges Leben geführt, hat mich gelehrt, auch meinen Feinden nicht zu fluchen. Ich habe Euren Großvater manchmal gesehen, wenn er mit seiner Stadtdame und dem einzigen Kinde vorbeigegangen und gefahren ist, ich habe ihn auch ab und zu einmal gesprochen in den letzten Jahren, und Euren Vater habe ich aufwachsen sehen, der ihm gar nicht ähnelt. Er schlägt nach der Mutter. Ich habe vergeben, wie ein Christ es soll – aber vergessen habe nicht ich, nicht Kunz den Schimpf, der auf den Birkenhof gefallen, so lange die Schmidts ihn haben, und das ist lange her!«

Bei den Worten stand sie auf, schüttelte die Grashalme des losen Heus von ihren Kleidern und schickte sich an, ihren Weg fortzusetzen. Anton folgte ihr. Sie schritten schweigend eine Weile neben einander her, bis er endlich in die Worte ausbrach: »Margarethe, Euch hätte ich gern zur Großmutter gehabt!«

Sie wendete sich langsam nach ihm um, sah ihm ernsthaft ins Gesicht und entgegnete: »Ich habe auch was für Euch wie ein Mutterherz, weil Ihr ihm gleich seht, wie ein Ei dem andern. Ich habe ihm erst ganz vergeben, seit ich Euch gesehen habe, und [58] es wird wohl gut sein für meine arme Seele, daß es so gekommen ist!«

Beide waren ernst und in tiefen Gedanken. So gingen sie fort, immer die Emme entlang, über ein paar Steinbrücken, durch deren Bogen die schon tiefgesunkene Sonne auf das Wasser funkelte, bis in einen Kamp, der voller Erlengebüsche stand. Ein kleines Mädchen mit nackten braunen Füßchen mühte sich dort ab, eine Schürze voll frischgeschnittenen Grases aus den Kopf zu heben. Dabei war ihr die Sichel hingefallen, die sie nicht aufzunehmen vermochte, so daß Anton hinsprang, der Kleinen zu helfen, die nun neben ihnen herging und sich erbot, da sie in Löwzen zu Hause sei, ihnen einen Richtweg zu zeigen. Die heitere, scherzende und dabei doch kluge Weise, in der die Greisin mit dem Kinde zu verkehren wußte, nahm Anton vollends für sie ein, und um das Mädchen freier zu machen für Margarethe's Scherze, erbot er sich, das Gras zu tragen. Margarethe litt es nicht.

»Laßt sie nur gehen,« sagte sie, »das ist ihre Arbeit, und sie muß es lernen, auch bei der Arbeit froh zu sein; denn sonst kommt sie nicht viel dazu in so einem Leben wie das unsere, voll langer Arbeitstage und kurzer Rast, das doch viel froher ist als Euer Le [59]ben in den engen Stadtmauern, in denen man nichts weiß von Sonnenschein und frischer Luft.«

Ueber einen Holzsteg, der aus den Kampen schräg hinauf ging, gelangten sie auf den großen Fahrweg. Dann führte eine Stiege von rohen Steinen bis ins Dorf, das am Fuße der Berge lag. Es bestand aus lauter schlechten Häusern, die Leute darin waren auch schlechter gekleidet, als es sonst in dieser Gegend der Fall, aber sie sahen so zufrieden aus; die Häuser lagen unter Bäumen, so dicht an einander in das lauschige, schattige Fleckchen Erde am Wasser hingebaut, daß Anton meinte, hier müsse es auch im Winter warm, hier immer friedlich und ruhig sein, und diese Ruhe dünkte ihm zum ersten Male süß und wünschenswerth. In dieser ihm bis dahin unbekannten weichen Stimmung seines Herzens fand er Alles schön, was ihn umgab, selbst die fensterlosen Häuser, selbst die halbgetrockneten, rauhen Lehmwände und die ganze Aermlichkeit des Dörfchens

Vor dem ersten Hause hielt ein Heuwagen, Buben fütterten die vier Esel, welche ihn gezogen hatten, mit frischem Gras und Klee. Am Rande des Flusses lachten die Frauen bei der Arbeit des Waschens, andere kamen mit säuerlich duftendem Brote vom Ofen [60] zurück, gefolgt von Kindern, die des beim Brotbacken nie fehlenden heißen Fladens warteten. Schaaren von wackelnden Gänsen umringten sie, und Kinder, Hunde und Ferkel krabbelten wie Ameisen, emsig mit sich und ihrem Thun beschäftigt, auf dem Boden herum. Das Alles belustigte ihn, als hätte er es nie gesehen auf den Gütern seines Vaters, und machte ihm doch das Herz schwellen in Wehmuth, wenn er sah, wie Margarethe sich heimisch fühlte in dieser Umgebung, und dann bedachte, daß es im Grunde der frevelnde Leichtsinn seines Großvaters gewesen sei, der sie aus dieser ihrer Welt vertrieben hatte.

Ein unklares Gefühl, eine Bangigkeit, die er sich nicht zu erklären wußte, durchzitterte seine Seele mitten in ihrer Freude. Er hätte sich fragen mögen, was ihm denn eigentlich fehle; er hätte Margarethe fragen mögen und fand nicht den Muth, das Wort dafür. Er kannte sich selbst nicht mehr.

So schritten sie durch das Dorf bis zu dem Gasthofe hin, in dem Margarethe ihre Kranke besuchen wollte. Er lag als letztes Haus des Dorfs, schon ziemlich hoch und so in den Berg hineingebaut, daß man keine Aussicht hatte, als hinab auf den Weg durchs Dorf. Rothzieglig und auch mit Ziegeln be [61]dacht, erschien es mit seinen zwei Stockwerken wie ein Palast neben den übrigen Hütten. Vor der Thüre auf der Bank der vorgebauten Treppe saß Margarethens Bruder; ein Fleischer, der ein Kalb verkauft hatte, neben ihm. Das Kalb war angebunden an einen Baum und wehrte sich in wunderlich dummen Sprüngen gegen den Hund, der es bellend umkreiste. Große Schnitten Brot mit Schinken belegt und volle Bierkrüge standen vor den Männern.

»Es geht besser da drin!» rief Kunz der Schwester entgegen, als er ihrer ansichtig wurde. »Sie wird bald wieder auf den Beinen sein.« Und dann, sich gegen Anton wendend, fragte er: »Wo hast Du denn den jungen Herrn aufgegabelt?«

»Wir sind des Wegs zusammen gegangen,« antwortete sie,

»So nehmt Platz, wenn's Euch beliebt, junger Herr,« offenbar mehr, um Margarethen zu willfahren, die sogleich in das Haus ging, als weil ihm selbst die Ankunft des jungen Mannes willkommen gewesen wäre.

Als Anton sich niedersetzte, stand der Fleischer auf, zog unter der blauen Blouse die lederne Geldkatze um den Leib, rief noch einen schönen Dank für den Im [62]biß ins Haus hinein und ging, von seinem Hunde gefolgt, davon, während das angebundene Kalb ihm in jämmerlichen Tönen nachblökte.

Als Anton und Kunz allein waren, sagte der Letztere: »Ihr wißt, daß wir nicht gut zusammenstehen, Eurer Herr Vater und ich; Ihr wißt auch wohl, daß wir hart aneinander gekommen sind bei der letzten Besprechung, die er hier angeordnet hat. Wie kommt es denn, daß Ihr, der Ihr sein Sohn seid, Euch an uns drängt, daß Ihr mit der Margarethe fast mehr Verkehr habt, als mit den Frauenzimmern Eures Standes?«

Ein brennendes Roth flog über Antons Gesicht, es durchzuckte ihm Herz und Hirn. Er hatte es nicht gewußt, weshalb er Margarethen suchte, jetzt stand es in voller Klarheit vor seinem innern Auge. Die räthselhafte Wehmuth, die ihn durchzittert bei dem sanften Frieden dieses Abends, war ihm plötzlich kein Räthsel mehr. Er hätte den Namen Mariens ausrufen mögen, damit die Sehnsucht nach ihr sich in befreienden Thränen genug thue – aber der kalte, feste Blick des Bauern bannte die auftauchende Wonne in das Herz des Jünglings zurück, und kaum wissend, was er that, sagte er: »Was schadet's Euch, wenn ich mit Margarethe gehe? Sie mag es leiden, [63] und mein Vater hat nichts wider Euch, nichts wider sie. Ihr thut ihm Unrecht, wenn Ihr anders von ihm denkt.«

»Hat er Euch nie gesagt, Euch an uns zu machen, um zu hören, wie die Bauern denken?«

Anton fuhr empor. »Haltet Ihr mich für einen Aufpasser?« rief er zornig.

»Nein Herr! Aber Euer Vater ist ein Mann, der seinen Vortheil versteht. Er könnte Euch gesagt haben: Sieh Dir die Bauern an, damit Du lernst, daß sie nicht unsres Gleichen sind, und daß wir für uns zu sorgen haben, nicht für Sie.«

»Das hat er nie gesagt.«

»So hat er's doch gedacht und giebt Euch eine schweigende Lection. Die könnte Euch zu Theil werden, aber anders als er meint, wenn Ihr zu sehen verständet, was vorgeht um Euch her, und Euch zum Mannsvolk hieltet, statt zur Margarethe.«

Anton hätte gern geantwortet, gern gesagt, wie es die Wahrheit war, daß er in dem Verkehr mit den Landleuten eine andere Ansicht über sie gewonnen habe, daß er sie in vieler Beziehung bewußter, aufgeklärter gefunden, als er sie geglaubt hatte nach den Schilderungen seines Vaters. Aber die Ehrlichkeit seines Herzens hinderte ihn, es zu thun, weil er sich nicht verbergen konnte, daß er mehr sagen würde, als er Gutes von ihnen dachte, um Kunz Schmidt für sich zu stimmen und in Mariens Nähe geduldet zu werden.

»Eine Lection,« sagte er endlich, »habe ich allerdings erhalten, und die besteht darin, Herr Schmidt, daß Ihr ebenso ungerecht gegen die Städter seid, als manche von diesen gegen den Landmann, und daß auch Ihr nur an Euren Vortheil denkt, daß auch Ihr nicht von Euren alten Privilegien lassen wollt, sofern sie Euch bequem sind.«

»Privilegien?« fragte Schmidt, »welche hat man denn dem Bauer gelassen, die er noch aufgeben könnte? Unsere Söhne nimmt der König in die Garde, weil sie groß und kräftig sind; sie dienen zwei Jahre ganz umsonst, sie werden von der Arbeit weggeholt alljährlich für die Landwehrübung, ohne daß man uns fragte: Brauchst Du jetzt Deinen Sohn, brauchst Du ihn nicht? Aber noch ist kein Bauernsohn Offizier geworden in der Garde, in der die Bauernsöhne dienen müssen. Ich weiß wohl, es heißt dann, sie hätten nichts gelernt – aber wo lernen es die Gardeoffiziere anders, als in den Cadettenhäusern, in denen [65] der König sie umsonst erhält? Die Adeligen setzen Kinder in die Welt, die der König ernährt mit unserm Gelde, mit unserm Steuerquantum von Anfang bis zu Ende, und wir sollten unsere Kinder zeugen und ernähren, blos daß sie zum Dienen da sind ohne Lohn und Dank? Glaubt Ihr, der Bauer werde mit einem Zaum um den Hals geboren und der Edelmann mit Sporen an den Füßen?«

»Und wißt Ihr nicht, Herr Schmidt, wie sehr mein Vater Eurer Meinung ist, wie auch er die Abschaffung der Garden, der Cadettenhäuser, der Adelsprivilegien, der Steuerbefreiung fordert?«

»Das weiß ich wohl; denn die sind ihm im Wege. Aber hat er schon gefordert, daß der Unterricht frei sein soll für Jedermanns Kind, damit nicht den Reichen allein der Vorzug des Lernens zu Theil wird? Glaubt Ihr, es ist mir gleichgültig, daß ich nicht sprechen kann wie Euer Vater? Glaubt Ihr nicht, daß ich unsere eigne Sache, wenn ich sprechen gelernt hätte, nicht besser vertheidigte als er, dem sie nicht am Herzen liegt? Aber meine Kinder sollen es lernen, und es soll die Zeit kommen, wo eine andere Volksvertretung zusammensitzen wird in Berlin als die jetzige.«

[66] Kunz hatte sich warm gesprochen. Anton, so wenig er anfangs gesammelt gewesen war, wurde von der Entschiedenheit ergriffen, mit der Jener seine Ansichten ausdrückte. Er konnte sich nicht verbergen, daß sie viel Wahrheit enthielten, daß von dem Bauer viel gefordert, daß ihm verhältnißmäßig nicht genug, nichts mehr geleistet werde, als der Schutz des Staatsverbandes. Er gestand dies zu, machte aber geltend, daß auch im Bauer ein schroffer Standesgeist, schroffe Standesvorurtheile unverkennbar wären, und daß er den Bauernstolz ganz ebenso ausgebildet fände, als den Stolz des Adels und des Kaufmanns.

»Wie man in den Wald schreit, so schallt's wieder,« sagte Kunz, plötzlicher freundlicher werdend. »Es ist gut, daß Ihr was erfahren habt vom Bauernstolz, das ist eine gute Lection. Aber geht ins Land, seht zu in den Höfen, ob der Bauernstolz sich wendet gegen den Untergebenen, ob er hochmüthig herabsieht auf Knecht und Magd, auf Instmann und Häusler? Bei Euch heißt's: freundlich nach oben und barsch nach unten – kommt zu uns und lernt freundlich sein gegen Arm und Gering und starr gegen Den, der sich besser dünkt, weil er es besser hat als wir. [67] Das könnt Ihr brauchen, wenn Ihr einmal mit Bauernsöhnen zusammensitzen werdet in der Volksvertretung.«

»Und wenn ich nun käme,« sagte Anton, den Gedanken mit leidenschaftlicher Wärme ergreifend, »und sagte, laßt mich einmal leben im Birkenhof unter Euch, damit ich das Landvolk kennen lerne in seinem Wesen, was würdet Ihr dann antworten?«

Ein Zug des Mißtrauens ward in dem Gesichte des Bauern bemerkbar; »ich würd's Euch abschlagen, mein' ich,« erwiederte er trocken. »Denn Ihr könntet Euch nicht lange gefallen unter uns, und was Ihr wissen müßt, daß läßt sich lernen auch in einem Tag, wenn Ihr's nicht glauben wollt ungesehen.«

Während dieser letzten Worte, denen Anton aus Besorgniß, das Mißtrauen des Bauern zu steigern, keine Bemerkung hinzuzufügen wagte, hörten sie Tritte sich nahen, und als Anton den Kopf zurückwendete, erschienen auf der obersten Stufe der verfallenen Steintreppe, welche zu den auf der Höhe gelegenen Gemüsegärten führte, Marie und Friedrich. Das Tannengebüsch zu beiden Seiten der Treppe ließ den von der sinkenden Sonne beleuchteten Raum, in dem Marie stand, noch heller erscheinen. Sie hatte [68] den breitgebogenen Strohhut abgenommen, den die Bäuerinnen zu tragen pflegen; ihr von der Stirn ganz zurückgekämmtes Haar glänzte golden unter dem schwarzen Käppchen hervor, das die zusammengenestelten Flechten bedeckte. Ihre Augen, ihre Wangen strahlten in Jugend und Freude, als sie festen und doch leichten Schrittes die steile Treppe hinabstieg. Es war das schönste Bild eines kräftigen Landmädchens; dennoch lag ein gewisser Ausdruck in ihrem Wesen, der sie von allen andern Bäuerinnen unterschied.

Der junge Mann blickte mit schlagendem Herzen zu ihr empor. Schöner hatte er Marien nie gesehen, mit der er nur wenig Worte gewechselt, seit er sie kannte, und zu der ihn doch ahnungsvolle Sehnsucht gezogen in der Stille dieses Abends, bis ein Wort ihres Vaters ihm verrathen hatte, daß er nur sie gesucht habe bei seinen Streifereien durch Wiese und Feld. Gegen ihre Gewohnheit trat sie rasch an ihn heran, reichte ihm, was nie geschehen war, die Hand und bot ihm einen guten Abend, während sie gleich darauf mit einer Art von schelmischem Trotz nach Friedrich hinüberblickte, der in seinem Sonntagsanzuge stattlich herausgeputzt, kaum die pelzverbrämte [69] grüne Sammetmütze rückte, um Antons Gruß zu erwiedern.

Während das geschah, klopfte der Vater seine Pfeife aus, zog den Tabacksbeutel hervor, stopfte die Pfeife neu und ging dann mit dem Bemerken ins Haus, daß er nur gute Nacht sagen wolle bei der Kranken und dann nach Pyrmont den Rückweg antreten. Marie folgte ihm, und auch Friedrich ging hinein.

Als sie nach wenig Minuten zurückkehrten, kamen Margarethe und die Wirthstochter mit hinaus. Diese hatte eine frische Schürze vorgebunden und nöthigte Anton und Friedrich, zuzugreifen bei dem Schinkenbrote, das noch auf dem Teller stand. »Das Brot ist freilich nicht frisch,« sagte sie. »Die Mutter ist aber schon lange krank, da hab' ich nicht immer so backen können, weil ich alle Hände voll zu thun hatte, und nun ist das Brot altbacken und schmeckt nicht mehr. Das thut mir leid.«

Um ihr zu gefallen und weil der Ton unvermögender Gastfreiheit so rührend wahr klang in dem Munde des Mädchens, nahm Anton eine der Schnitten und verzehrte sie lobpreisend. Das freute die Wirthstochter. »Der ist nicht schlecker!« sagte sie und [70] trug erheitert den übrigen Vorrath fort, um die Gäste noch ein Stück Wegs zu begleiten.

Wie sie nun so hinschlenderten in dem milden, weichen Abendthau, der von der Sonne noch durchzittert und durchwärmt, sich doch schon um die Höhen zu legen und in gelblichen Lichtstreifen über den Kornfeldern zu schimmern begann, pflückte die Wirthstochter im Gehen bald eine blaue Kornblume, bald eine rothe Feldnelke oder eine wilde Mohnblüthe, band mit Aehren einen Strauß davon und schenkte ihn Anton, zu dem sie Zutrauen gefaßt hatte, seit er ihr Brot gegessen und gelobt hatte.

»Ihr seid anders wie die Andern,« meinte sie. »Gestern waren welche da, die fanden das Brot hart und den Schinken zäh und den Pfeffer zu fein und das Salz zur Butter zu grob, und legten das Geld hin und ließen Alles stehen und liegen, daß man sich die Augen aus dem Kopfe schämen mußte, daß es nicht besser war; darum sollt Ihr wenigstens für Euren Schatz einen Strauß mitnehmen von unserm Feld.«

»Da werdet Ihr ihn behalten müssen; denn ich habe keinen Schatz.«

Die Mädchen lachten hell auf, als ob das un [71]möglich sei, und die Wirthstochter fragte: »Wie alt seid Ihr denn?«

»Ich bin bald zwanzig Jahre.«

»Und noch keinen Schatz! Das ist Sünd und Schande,« rief Marie; »fragt 'mal den Freifelder Friedrich hier, wie viel Schätze der schon gehabt hat, und ist doch nur vier Jahre älter als Ihr.«

»Was weißt Du davon?« fragte Friedrich ärgerlich.

»Nichts mehr, als was Alle erzählen, und was Du selbst Allen erzählst, die's nur hören wollen.«

»Und was erzählt er denn?« fragte Anton.

»Wie ihm alle Mädel nachgelaufen sind in Berlin, damals, wie er unter den Garden gewesen ist, und wie sie ihn Alle hätten haben wollen und Alle mit ihm gehen, so viel und so schön er sie gemocht hätte, weil sie gehört hätten, daß er des Erbschulzen Jüngster ist, und Vater und Mutter alle Kasten voll haben. Seitdem denkt er, wenn er nur pfeift, müssen sie angeflogen kommen von allen Ecken und Kanten, und darum wirft er sich so in die Brust.«

Die Mädchen lachten wieder, auch Margarethe und der Bruder lachten, selbst der Freifelder schien den Spaß nicht ungern zu hören und meinte: »Fliegt [72] Mancher hoch, der bloß gelockt sein will und nachher gern festsitzt im Nest am Futterkasten.«

»Ja Mancher schon, aber lange nicht Jeder! Pfeife und Pfeife ist ein Unterschied, und zum Locken und zum Kommen gehören hier zu Lande allemal zwei, in Berlin mags anders sein.«

»Jeder Vogel fliegt gern zu Nest,« meinte Kunz; »das ist dort nicht anders als hier.«

»Ins Nest schon, aber nicht in den Bauer,« entgegnete Marie mit einem Blick auf Friedrich, und der Vater, der offenbar den jungen Menschen begünstigte, meinte, wenn man im Bauer sein Nest bauen könnte, sei's noch sicherer als im freien Felde. Indeß er sowohl als Margarethe und Friedrich schienen Mariens neckisches Wesen gern zu sehen und für ein gutes Zeichen zu halten, so daß der Letztere, als die Andern ein paar Schritte vorausgegangen waren, es wagte, sie um die Taille zu fassen und an sich heranzuziehen. Aber Marie stieß ihn mit Heftigkeit zurück und sagte: »Bilde Dir nur nicht ein, daß ich von Denen bin, die kommen, wenn Du pfeifst; ich denke nicht daran und hab's Dir oft genug gesagt, daß Du mich gehen lassen sollst. Nimm Dir eine von den Stadtmamsellen, die Dir nachlaufen, oder nimm [73] Dir meinen Vater, der Dich mag, und laß mich ungeschoren.«

Damit wendete sie sich von ihm ab und Anton zu, der neben der Wirthstochter einhergegangen war, und Friedrich ging zu dem Alten, in sich hineinlächelnd, wie Einer, der seiner Sache über jeden Zweifel sicher ist. Auch Kunz war heiterer und gesprächiger denn sonst.

Als die Wirthstochter an einer Ecke des Wegs stehen blieb, um zur Mutter zurückzukehren, und Anton bat, mit ihrer Freundschaft wiederzukommen, wenn sie die andere Woche frisches Brot haben würden, rief der Hofbauer ihr, als sie dann fortging, die Worte nach: »Und merk' Dir's Mädel, früh ins Nest, sitzt man fest.«

Dann wanderten sie fort. Während Kunz mit dem Freifelder von Acker und Haus sprach, gingen die drei Uebrigen schweigend einher, bis mit einem Male ein Gegenstand ihre Aufmerksamkeit fesselte. Mitten in der Landstraße, zwischen den Feldern, stand ein grobgezimmerter Kinderwagen. Ein dickes, jähriges Kind lag darin in tiefem Schlaf. Die Leute, die ihn bis hierher gezogen, hatten ihn stehen lassen und waren fortgegangen. Man konnte kein heilige [74]res Bild tiefen Friedens sehen, als dieses schlafende, einsame Kind in der abenddämmernden Gegend, in der nur leise schwirrende Grillen und das dumpfe Schnarren der Drossel sein Wiegenlied sangen. Marie trat hinzu, den kleinen Wagen aus dem Wege fort, unter den Schutz des hohen Korns zu fahren. Dabei kniete sie nieder, das Kind zu bedecken und küßte es leise. Der Kleine schlug die Augen auf und machte ein Schnippchen mit dem Munde, als wolle er weinen; wie er aber Marien erblickte, wurde er freundlich und streckte ihr die Händchen entgegen, während sich doch seine Augenlider wieder schlossen und er offenbar aufs Neue einschlummerte.

»Wie das schläft!« sprach sie, zu Anton gewendet. »Ich habe sie so lieb die Kinder!«

»Und ich Dich!« sagte er er so leise, daß nur ihr Ohr es erreichte. Beide wurden glühend roth. Marie wendete das Gesicht ab und gab ihm doch die Hand.

Er hatte nicht den Muth, sie zu drücken oder zu halten und ließ sie gleich wieder los. Wie eine Madonna war sie ihm erschienen, als sie neben dem Kinde gekniet hatte, wie eine Madonna, die, umstrahlt von dem sanften Hauche jungfräulicher Mütterlichkeit, vor dem Kinde anbetet, das sie geboren [75] hat. Er hätte selbst hinknien mögen vor sie, und ein Kind zu haben, ein Kind Mariens sein zu nennen, schien dem Jünglinge, dem solcher Wunsch bisher ganz fern gelegen, das höchste Glück des Lebens. Mit der hellaufleuchtenden Liebe für das Weib dämmerte schnell die Ahnung der Aelternliebe in ihm empor.

Erregt, freudebebend, als habe er das wichtigste Ereigniß erlebt, so langte er schweigend an des Mädchens Seite vor der Wohnung ihres Vaters an, bei dem sie sich trennten.


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