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XVII. Geschichte als Formung
§§ 91-94.

Natura omnes fecit judices, paucos artifices.

Die Stellung der phänomenale-Wesenheit-aufzeigenden Geschichte zur Zusammenhang-schaffenden Wissenschaft ist die selbe, wie die der von Goethe gegen Newtons Farbenlehre bevorzugten ›Phänomenologie der Sinnenwelt‹ zur mathematischen Physik.

§ 91. Geschichte als allgemeine Gestaltenkunde.

Über die Möglichkeit universaler Charakterologie. Archiv f. System. Philosophie, 1917, 23. 4. Diese Arbeit erläutert die Stellung der Universalen Charakterologie (Allgem. Ahmungsseelenkunde) zur sogen. Phänomenologie und Gegenstandstheoretik.

σῶμα, σῆμα.

In Victor Hugos ›Glöckner von Notredame‹ findet sich ein schönes Gesicht. Dem fuchsschlauen Könige Ludwig IX. wird das erste gedruckte Buch überbracht. Indem er es gegen die Steinmasse des Liebfrauenmünsters hält, spricht er das hellseherische Wort: ›Dieses hier wird den Bau vernichten.‹

Man kann in der Tat die mächtigen Bauten der Vorwelt, die Säulen und Paläste Babylons, die Pyramiden der Ägypter, die Tempel Indiens, die massenhaften Bildnissäulen des späten Roms als die ursprünglichste Art von Geschichteschreibung betrachten, während die Möglichkeit, seine Gedanken auf bedrucktem Papier an die Folgegeschlechter zu übermitteln, unterdrücken mußte die Begier, sie in Stein und Erz einzuformen.

Dieser Zwiespalt deutet tief.

Jedes Wort muß als Ausdruckssymbol unmittelbaren Erlebens um so mehr verblassen, als es als Rechenmünze im Weltverkehr dem Verstande nutzbar wird. Nur in der Sprache als Seelenausdruck liegen urtümliche Regungen geborgen, welche man nicht mehr heraushört, wenn das Wort nicht als Gefühlsleib und Seelenlaut, sondern als Verständigungsmittel, auf ›Bedeutung‹ hin verwendet wird.

Der gleiche Widerstreit besteht zwischen Geschichte als Ausdruck und Geschichte als kausaler Wissenschaft.

Die ungeheure Masse unmittelbarer Ausdruckserscheinungen des Lebens, welche verflossene Menschengeschlechter aufhäuften in Bildern, Bauten, Waffen, Geräten, Trachten, Wissenschaften, Staatsverträgen, Gemeinschaftsformen, kurz in allem, was Überlieferung ist, kann als Lebensausdruck nicht erahmt werden, sobald sie unter dem Gesichtspunkt des kausalen Zusammenhangs wissenschaftlich verstellt und verstanden wird.

Wofern man aber nicht darauf ausgeht, das geschichtliche All als Gegenstandswelt für Nutzzwecke und Absichten zu betrachten, sondern es unmittelbar ahmend als Ausdruck gewesenen immergegenwärtigen Lebens erfaßt, bedarf es keiner künstlichen Unterstellung kausaler Ketten, keiner Erfindung von Zahlenmäßigkeit und Wellenbewegung des Geschehens, sondern jede Erscheinung unzerstückelt, nicht zerkleinernd, nicht starr, nicht gegenständlich, sondern einfältig hingegeben, oberflächlich betrachtet, enthüllt dem lebendigen Beschauer ihr Glück und ihre Träne.

So muß man denn versuchen, die Gebildemassen der Geschichte von seiten ihres Formenleibes zu bewältigen, nicht von seiten der wissenschaftlichen Ursächlichkeit. Geschichte wird dann zum Sondergebiet der von uns verkündeten Formenkunde, welche die Gestaltartung menschlicher Füße, Hände, Nasenformen, Schädelformen nicht minder umspannt als die der Blattformen und Blumenkelche, der Tiere einer jeden Landschaft in jeder Zeitspanne, die Volkstrachten, Hausgeräte, Familienbräuche, Gemeindeformen, kurz die gesamte Symbolik der Gestaltgebung und Gestalt; und zwar nicht nur als Physiognomik des ruhenden, sondern vor allem als Mimik bewegten Lebens. Geschichte in diesem Sinn hat die Aufgabe, sämtliche sichtbaren sinnlichen Erscheinungen jeder Zeit zu vergleichen und auf vereinfachende Urformen zurückzuführen, ähnlich wie Plato die Welt auf Ideen, Goethe auf Urphänomene hin erschaut.

Indem Geschichte nichts anderes sein will als Gestaltenkunde des Lebens (vermöge Mitahmens von Lebensformen), hört sie auf, Wissenschaft, entsprechend den Naturwissenschaften, zu sein. Sie sucht nicht, wie diese, nach der Wirklichkeit hinter Erscheinungen und nach Ursachzusammenhängen. Diese grade gelten ihr als etwas Mittelbares. Sie bleibt bei den Erscheinungen selber und betrachtet sie als Ausdruck jener Ideale, die das wechselnde Bewußtsein an der Wirklichkeit und als Wirklichkeit verwirklicht.

Indes beharrt sie nicht bei der immer unvergleichlichen, niemals zweimal vorhandenen Einzelerscheinung; sondern sie muß, da Geschichte eben nur Gedanke ist, notgedrungen vereinfachende Wesensurbilder aufzustellen unternehmen. Damit aber sinkt in Nichts zusammen das immerwiederkehrende Wahnbild naturgegebener Stufen und Wandelfolgen von Geschichte ( § 80).

Ein vollkommen neuer Begriff von Weltgeschichte tut sich vor uns auf. Die veraltete Vorstellung von Geschichte sieht Jahrtausende als unendlichen pragmatischen Bandwurm vor sich und hinter sich. Dieser Bandwurm immerwiederkehrender Schlächtereien und Katzbalgereien stößt von Zeit zu Zeit ein neues Gliedstück ab; das nennt man dann eine Epoche. Babylon, Ägypten, China, Indien, alles gilt vor unsrer ahnungslosen Maulwurfblindheit als bloße Vorbereitung und Vorschule für die bürgerlichen Staatsangelegenheiten unsres Kulturkreises; für die Bauten und Baustörungen in unserm preußisch-deutschen Maulwurfhügel und für seinen ›Weltkrieg‹, so daß im Geiste Darwins und Hegels die geschichtliche Entwicklung hinauskommt auf die offenbar endgültige Zeit aller Zeiten: die ›Jetztzeit‹.

Diese Vorstellung von Gradlinigkeit zusammenhängend kausalen Geschehens ist endgültig überwunden. Lebendig ist nichts als ewige Gegenwart, in welcher alle Formen, Bilder, Perioden, Gezeiten von Geschichte stets beieinander sind, so wie alle Jahreszeiten und Lebensalter auf Erden gleichzeitig währen.

Dem Immergegenwärtigem gegenüber ist Geschichte bloß Gedicht und Gedanke. Und mithin tot! Denn ihre vermeintlichen Stufen- und Wellengleichheitsgesetze sind Bindungen des Lebens im Bewußtsein, vermöge normativer Welt der Idee. Sie ist Sinngebung von nachhinein ( logificatio post festum). –

Damit stehen wir vor dem letzten Kern unsrer Untersuchung

Als Opfer der erst halbwahren Naturwissenschaft Goethes hängen die besten Deutschen an Goethes Irrtum: man könne Formtypen, Urphänomene, Zielanlagen aus der sinnlichen Erfahrung von Natur und Geschichte ablesen, während doch Formtypen, Urphänomene, Zielanlagen dem Geiste, nicht aber dem Elemente zugehören. Kant und Schiller, obwohl lebensferner, sahen klarer.

Die den Sinnen gegebene ›Wirklichkeit‹ ist bereits Verwirklichung von Zahl und Idee am Lebenselement vermöge Bewußtseins. Es ist daher wahrlich kein Wunder, daß jeder Tropf Zahlenmäßigkeiten, Lebensgezeiten, Rhythmenabläufe, Gleichheiten und Urbilder des Geschehens in der Geschichte entdeckt, da ja die ganze bewußtseinswirkliche Geschichte dank der Formelemente des Geistes da ist und jede neue Kultur nur das wieder aus Geschichte herausholt, was sie selber, Geschichte wissend und wirkend, ins Urelement des Lebens hineinschaut, indem ein richtunggebender Himmel formaler Geltungstatbestände vermittels Bewußtseins am Lebenselement teils wissenschaftlich-zurechtweisend, teils willenschaftlich-wertend verwirklicht wird. Möchten doch Geschichtsphilosophen endlich aufhören, die vier Jahreszeiten und die vier Lebensalter für Geschichte zu bemühen. Da Geschichte nach diesem Vorbild gedacht wird, wäre es wunderbar, wenn man den Wechsel von Werden und Vergehen in ihr nicht fände. Die geschichtliche Welt ist aber nur das tote Überbleibsel der Formgebungen des Menschenlebens. Es gilt für sie der Satz: semper idem, nunquam eodem modo. Man versuche anzugeben, worin z. B. die altgriechische, die amerikanische, die russische Kultur sich gleichen; man wird finden, daß jede unter der Weltschau der andern selbst anders wird.

Hüten wir uns aber wohl, die kausale Wissenschaft (nach Vorbilde der Physik) als das schlechthin Tote, Mechanische entgegenzusetzen der von menschlichen Sinnen angeschauten Wirklichkeit als dem schlechthin Lebendigen. Ein solcher Schnitt (wie auch Goethe ihn führt) ist falsch geführt! Denn das, was uns als geschichtliche Überlieferung vor Sinnen steht, das ist schon Verwirklichung von Idee und Ideal am Elementarischen durch den Menschen.

Wir werden daher beide Hauptpunkte: das Elementarische und das Mathematische, immer gleichzeitig an Wirklichkeit und als Wirklichkeit vorfinden. Strenges Festhalten an der Dreiweltenlehre führt uns durch den Irrgarten abendländischer Philosophie.

§ 92. Versöhnung von Wissenschaft und Kunst.

Ich entsinne mich eines Albumblattes, zu dem zwei deutsche Dichter, Joseph Viktor von Scheffel und Wilhelm Jordan, einen Beitrag schrieben. Der erste hatte folgenden Spruch verfaßt:

›Ein gutes Blatt Geschichte
Ist besser als tausend Gedichte.‹

Darunter schrieb der andere:

›Ich unterschreib es ohne Einspruch,
Doch wahr, Freund Scheffel, ist auch mein Spruch,
Daß Großes immer nur geschieht,
Wo vorgespielt ein großes Lied.
Was haben wir mit Ruhm errungen?
Was Schiller, Arndt uns vorgesungen.‹

In diesen Versen tut ein Gegensatz sich kund, dessen Versöhnung (Verwirklichung der Ideale in Geschichte, Auferhöhung von Wirklichkeit mittels Geschichte) das Ziel ist, für welches Geschichte und Dichtung einander ergänzen.

Aristoteles zuerst hat die beiden Gebiete (das Ersonnene und das Erfragte, de poet. c. 9) unterschieden, wobei er die tiefe Bemerkung macht, daß die Dichtung philosophischer sei als die Geschichte. In der Anwendung aber hat er die eigentliche geschichtliche Kleinarbeit begründet, für die er alle Tugenden selbstlosen Sammler- und Sichtertums, Arbeitsbeschränkung, Gewissenhaftigkeit, entsagende Zucht von sich und seinen Schülern fordert.

Es wäre sehr ungerecht, wollte man diese trockene, nüchterne Kärrnerarbeit verwerfen, weil bei ihr für Erkenntnis in der Tat nicht mehr herauskommt als die Einsicht:

›Daß überall die Menschen sich gequält,
Daß hie und da ein Glücklicher gewesen.‹

Die Kleinarbeit der Wissenschaft ist nötig; aber wahrlich nicht eines Lebens Ziel. Denn zum Lebensgarten wandelt sich die Totenkammer Geschichte nur dann, wenn die Phantasie dichterisch formender Geister ihre toten Blätter belebt. Geschichte ist Gedanke, mittels dessen der Mensch sich aus Natur erhebt; nicht Wissenswirklichkeit, welche nur mechanische Ursachen, d. h. Zufälle, kennt.

Alexander der Große und Cäsar, Gregor VII. und Luther, Perikles und Sokrates, alle Schicksale aller Geschöpfe leben nicht dank der Zeitbücher und Urkundensäle, sondern dank zahlloser Sagen, Gedichte, Märchen, zu denen sie Anlaß boten.

Das Verhältnis des Geschichtsschreibers zu den Dichtern gleicht dem der Philosophiegelehrten zu jenen schöpferischen Künstlerphilosophen, welche die Wissenschaft nicht verschmähen und ersticken, nein, als ihre beste erfüllende Rechtfertigung herbeiwünschen sollte.

Man darf daher getrost die eigentliche Geschichtsschreibung dichterischen Seelen überantworten, welche die Gabe besitzen, Vergangenheit, von deren Leben wir zuletzt nur wenig wissen und deren Kenntnis als bloßen Gewesenseins auch nicht wissens wert ist, nach sich selber neu zu verjüngen, womit nicht das widrige ›Modernisieren‹ gemeint ist, sondern die Neubeseelung dank erneuernder Liebeskraft immergegenwärtigen Lebens.

§ 93. Geschichte und Phantasie.

›Und daß die alte Schwiegermutter Weisheit
Das zarte Seelchen ja nicht beleid’ge.‹

Man erzähle einem unverdorbenen Gemüte von Krieg und Sieg. Es schaut die endlosen wimmernden Wüsten der Leichenfelder, die kotbedeckten Soldaten, Bäche voller Blut, verkohlte Roggenfelder, brennende Städte. Die wissenschaftliche Meinung und Sprechart dagegen verwandelt die natürlichen Gesichte in Buchstaben und Worte, deren tägliches Nachgesprochenwerden für die Vorstellungskraft des Geistes ebenso verödend ist, wie für die Schaukraft des Auges seine Gewöhnung an die verwaschenen Abbildungen der Bilderzeitschriften, die nichts-als-wirklichen Lichtbilder und Filme, welche der Natur ihre Farbe nehmen, wie Naturwissenschaft sie der Sonderzüge entkleidet.

Es ist unvermeidlich, daß das geschichtliche ›Wissen um‹ auf Kosten selbstschöpferischer Schaukraft sich verbreitert; daher große Phantasie-Begabungen keine weiten Gesichtskreise ertragen und fast immer in engumgrenzten Verhältnissen geboren werden und bleiben; wogegen diejenigen, welche viele Länder und Menschen kennen lernen oder große Weltkenntnis, Menschenerfahrung und Wissensreichtümer erwerben, unvermeidlich an ihrer Einbildungskraft Schaden leiden.

Grade die Kernfrage der Geschichte: Ist das auch wirklich?, ihre dauernde Einstellung auf Unterscheidungen von Wirklichkeit und Phantasie verschuldet die ungeheure Seelenerschöpfung, an der das nutzhaft rechnerisch gewordene, von unsinnigen Wissensmassen erdrückte Leben krankt. Aus dieser Phantasieverödung erklärt sich die grauenhafte Tatsache, daß alles tausendmal in Geschichte Dagewesene, alle Kriege, Staatsumwälzungen, Ächtungen, Verschwörungen in jedem neuen Geschlechte von neuem gelernt werden müssen, so daß die Kinder die Erfahrungen der Älteren niemals auszunützen vermögen.

Jede Zeit übernimmt von der andern nur die Zahl hingerichteter Heere, verbrannter Städte, in den Grund gebohrter Schiffe; jede glaubt, das sei gewesen und könne nicht wiederkommen, bis es in veränderter Form wieder da ist.

›Man löse doch in der Geschichte und Zeitung die so kurz und leicht hinschwindenden Laute ›Schlachtfeld‹, ›Belagerungen‹, ›hundert Wagen Verwundete‹, welche durch ihr ewiges, historisches Wiederkommen aus Gebilden zu Gemälden und dann zu Getöne geworden, einmal recht in ihre entsetzlichen Bestandteile auf, in die Schmerzen, die ein Wagen trägt und tiefer reißt, in einen Jammertag eines Verschmachtenden.‹ (Jean Paul, Levana, Bildung eines Fürsten V, 1.)

Die selben Menschen, welche ihre Wohnstätten bewimpeln, wenn sie in der Morgenzeitung lasen, daß ein Schützengraben mit zweitausend Muttersöhnen siegreich in die Luft gesprengt wurde, die selben könnten nicht vor eigenen Augen das Leiden einer Katze sehn, wenn ihr ein Knochen im Halse stecken blieb. Aber sie sehen ja gar nichts! So vergreiste und vereiste das Herzensleben ihrer Vorstellung, daß alles, was nicht unmittelbar ihnen vor Augen liegt und ihr eigenstes Ich angeht, so gut wie gar nicht für sie vorhanden ist. Daher denn auch die blutige Wirklichkeit des gestrigen Tages heute schon zum kitzelnden Schauspiel der Schauhäuser entartet. ...

Da das Gesetz der Darstellung den Inhalt modelt, so bildet der Geschichtschreiber die Wirklichkeit. Man kann ihn dem Maler vergleichen, welcher nicht das Gegenständliche nachahmt, sondern seinerseits bestimmt, was als Gegenstand und wie ein Gegenstand gesehen werden solle.

Jeder einflußreiche Maler lehrt altbekannte Gesichte neu sehen und zwingt vielleicht sein ganzes Volk, Formen, Farben, Eigenheiten wahrzunehmen, welche zwar immer da waren, aber nie zuvor grade so beachtet worden sind.

So begann Turner die englische Landschaft, Nebel, Wolke, Wind und Meer, so zu sehen, wie sie seither von vielen gesehen wurde. So schuf die Schule von Barbizon und die von Worpswede neue Gegenständlichkeit. Der gebildete Deutsche vermag keine Pappel am Grenzkreis zu sehen, ohne zu sagen: ›Ganz Böcklin‹, und keine Wiese mit Butterblumen, ohne zu rufen: ›Ganz Thoma‹. Er sieht durch das Auge seiner Maler, wie nach Swedenborgs Meinung die seligen Geister durch die Augen der Lebenden sehen.

Gleich den Malern wirken Geschichtsdichter. Sie erfinden nicht die Volksgeschichte, sondern halten sich an etwas Gegebenes. Aber sie betrachten doch alles Gegebene als fließend und haben im glücklichen Falle die Kraft, das ganze Volk zu einem bis dahin unerhörtem Schauen seiner alten Gesichte zu zwingen, indem sie bald eine bislang mißachtete Gruppe oder Person in den Vordergrund rücken, bald eine bis dahin einseitig beachtete auslöschen und mithin die Schnittflächen der Aufmerksamkeit stets ändern; nicht aus Laune, sondern wechselnder Überzeugung und veränderter Vorliebe gemäß.

Ein Dichter sagte, daß nie zwei Personen einander küssen, sondern stets zwei Urbilde einander suchen; und so könnte man sagen, daß nie zwei Völker Kriege führen und Frieden schließen, sondern stets zwei Urbilde, denn da nicht Geschichte aus bloßen Wirklichkeitsurteilen ohne Wertbetonung besteht, sondern in Haß und Liebe (Gegen- und Mit-ahmung) beständig Sinn, Vernunft, Gerechtigkeit, Fortschritt usw. erfinden muß, so kann nicht Wirklichkeitssinn zum Geschichtsschreiber machen, sondern nur die Einbildungskraft.

Man berichtet von einem Geschichtsschreiber, dem Abbé de Vertot, welcher eine Geschichte der Belagerung von Valette schrieb, daß, als ihm ganz neue Quellen und Grundlagen für dieses Werk angeboten wurden, er ruhig erwiderte: »mon siège est fait«; das mag dem Wissenschaftler als ein Mangel erscheinen, der Künstler im Geschichtsschreiber aber hat nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, an dem Störenden vorüberzugehn und zu dem ihm Fremdem gleich Buddha zu sprechen: »Das bin ich nicht, das gehört mir nicht, das ist nicht mein Selbst.«

Einbildungskraft allein vermag in mechanisch-kausierte Ketten von Gegebenheiten den allumspannenden, sinngebenden Zusammenhang hineinzuschauen, während die nichts als wirkliche Zeitgeschichte keinen Sinn offenbaren würde, sondern nur wechselndes Bedürfnis und Notstand. Auch der Ruhm und Erfolg entspringen Schöpfungsakten der Einbildung, insofern die idealen Sehnsüchte des Menschen (Verehrung, Ermutigung, Verklärung und Heiligung) sich anheften an einzelne Ereignisse und Personen, welche phantasieaufregende Gewalt besitzen.

Auf die Dauer können nur solche Tatbestände als Geschichte währen, an denen Dichter Freude haben. Ja man darf behaupten, daß noch niemand unvergessen blieb, an dessen Person nicht das Klatschgeschichtchen anknüpfen konnte. Nach einigen Jahrhunderten bleiben vielleicht nur die wenigen Phantasiezüge übrig; der übrige Inhalt von Geschichte vermodert in Büchergewölben.

So ist jede geschichtliche Persönlichkeit zur Hälfte Gebild der Phantasie. Kein Philologe, der Isokrates und Plato, kein Kunstgelehrter, der Giotto und Rembrandt zu kennen glaubt, vermöchte mit den im Fleische Wandelnden sich zu verständigen. Selbst die würdigste Menschlichkeit würde sang- und klanglos verwehn, wenn nicht phantasieaufregende Macht ihr innewohnte. Wird aber Einbildung rege, so rettet sie mit all dem Wertlosem und Zufälligem auch vieles wahrhaft Große zur Kunde der Nachwelt. Die Überlieferung bemächtigt sich der zu Geschichte geeigneten Stoffe. Die nachträgliche Untersuchung, was eigentlich ›historisch wirklich‹ war und was Einbildung umgestaltend hinzubrachte, ist so aussichtslos als unfruchtbar.

Es ist ›nicht historisch‹, daß Boccaccio aus Schmerz über Petrarcas Ende, Kleist an der Erniedrigung Deutschlands, Byron für Griechenlands Freiheit gestorben ist; aber dennoch ist es wahr. Nach Berichten älterer Historiker starb der jüngere Pitt mit den Worten: »England, mein England, wie verlasse ich Dich.« Lord Baconsfield aber stellte mit Mühe fest, daß er mit den Worten verschied: ›Ich könnte wohl noch eine Pastete essen.‹ Das mag ›historisch wirklich‹ sein, das andere aber ist wahrer.

Ein bezeichnendes Geständnis aus der Seele des Künstlers macht J. Burckhardt in seinen Vorträgen über Geschichte. Er spricht von großen Zeiten und meint, daß sie eigentlich nur Schöpfung der Einbildung seien. Denn unter großen Zeiten verstünde man solche, in denen vieles geschieht. Indem man Geschichte schreibt, strebt man unwillkürlich, schnell zu den Punkten zu gelangen, wo die Darstellung schwelgen kann. Die Zwischenzeiten ergebnisbunter Umwälzungen erscheinen kleiner, bürgerlicher:

›Summa: Wir nehmen uns Ignoranten interessant Erscheinendes für ein Glück, gegen das Langweilige als gegen ein Unglück.‹

Die Wertung der Geschichte nach großen und kleinen Zeiten kommt also nicht aus Natur der Sache, sondern aus der Darstellung. Sie ist so sinnlos, als wenn einer, der am Wechselfieber leidet, seine Krampfanfälle als seine bedeutenden, seine gewöhnlichen Zustände als seine unbedeutenden Tage der Nachwelt überliefern wollte. Man nennt in der Geschichte ›groß‹, was dynamisch und quantitativ eindrucksvoll ist, wobei also viel Geschrei, Pulver, Blut, bedrucktes Papier vergeudet ist. Würde aber hat nur der Einzelne, der freilich in bewegten Tagen Gelegenheit hat, hervorzutauchen.

Nicht bewußt der umgestaltenden Erdichtung, in dem Wahne, nichts zu tun als natürliche Strömungen sicherer Erfahrung festzustellen, erhöht und bewertet Geschichte das Sinnlose und gibt ihm geistigen Sinn und geistiges Ziel. Damit wird der Geschichtsschreiber zum heilenden Arzte am Menschengeschlecht. Er gibt dem großen Menschenameisenhaufen Bedeutung und steigert gleich dem Dichter Lebensgefühl und Selbstbewußtheit, indem alles Gleichgültige, Unbrauchbare, Heillose, Verneinende übersehen und vergessen wird und als Auszug des Wirklichgewesenen nur Kunde von großen Taten, schönen Begabungen, bewegten Schicksalen, vorbildlichen Lebensabläufen und herrlichen Seelen übrig bleibt. So scheint es zuletzt, als ob die ganze Erfahrungswelt sich danach dränge, ihren Dichter zu finden, als ob alles Werden und Wandeln darum eifre, vom beschreibendem und beurteilendem Gedenker aufgegriffen und ins Buch der Geschichte als Reingewinn ewig vorüberfließenden Lebens eingeschrieben zu sein.

Der Glaube, daß Helden waren und große Herzen schlugen, erweist sich dauernder als die zuletzt gleichgültige Wirklichkeit aller der Gauklerbühnen, Räuberhöhlen und Narrenhäuser. Ja, die Wirklichkeit, wie wir sie wahrnehmen, ist schon Verwirklichung unsres Glaubens am Elemente des Lebens. Sinnlose Gewalt scheint die Gegenwart zu spiegeln; doch getrost! auch unsere Leiden versinken

›Und wo rotes Blut geflossen,
Werden neue Rosen blühn.‹

§ 94. Geschichte und Eros.

›Nun aber bleibt Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.‹

Es wäre möglich, den Verlauf des Weltprozesses als einen Wettlauf zwischen Liebe und Erkenntnis zu denken, vergleichbar jenem Wettlauf des Hippomenes und der Atalante. Immer wenn Hippomenes die Atalante fast erreicht hat, so wirft sie ihm einen goldenen Apfel vor die Füße, und da er nicht widerstehen kann, die köstliche Gabe aufzuheben, so wird er Atalanten nie erreichen. Zu seinem und ihrem Glücke. Denn erreichte er sie, dann wäre mit dem Leiden des Wettlaufs und dem Glücke der Illusion das Leben zu Ende.

Erkenntnis und Wahrheit sind ihrem Wesen nach abbauend, insofern sie alles, was am Leben sinn- und wertvoll scheint, als Notergebnis und Notausgang der jeweiligen wirtschaftlichen Bedürfnisse und Anpassungen zu entschleiern vermögen. Für ihre entzaubernde Natur ist schon dies kennzeichnend, daß man unter ›Menschen‹- und ›Lebenskennern‹ solche Geister begreift, welche über das Nichtige (über Gemeinheit, Unbelehrbarkeit, Knechtschaffenheit, Stumpfheit und Notigkeit des Menschen) gut Bescheid wissen. Diese durchdringende Erkenntnis des schleierlos gewordenen Lebens kann nur aus Verkümmerung der menschlichen Einbildungskräfte oder aus immer neuer Enttäuschung fließen.

Die Geschichtsschreibung aber darf diesen erkennenden und daher wahnfreien Geist nicht dulden! Ihre Macht ist die Macht des Wähnens. Ihre Kraft ist eine der abbauenden Gewalt der Erkenntnis entgegengestemmte Gewalt der Liebe. Man kann und darf daher nur › cum ira et studio‹ Geschichte schreiben.

Wenn Erkenntnis und Wissen sprechen: ›Mache dir nichts vor. Sieh die Welt nüchtern. Es ist alles unnütz. Nichts hat Sinn!‹, dann kommt tröstend und mit linder Hand die Geschichte und flüstert: ›Das weiß ich. Und grade darum bin ich notwendig.‹

In einer nach Maßen der Sternenkunde nahen Zeit, in 17 Millionen Jahren, wird die Erde durch Abwärtsbewegung der Isothermen von den Polen zur Mittellinie unbewohnbar geworden sein. Die wärmezeugende Zusammenballung der Sonne muß ihren Höhepunkt bis dahin erreicht haben. Dann geht die Sonne in Rotglut über und wandelt sich aus einem selbstleuchtendem Körper in einen beleuchteten Wandelstern. Das Leben auf Erden, der Sauerstoffaustausch läßt nach und es tritt ein Zustand ein, wie wir ihn an der uns zugekehrten Seite des Mondes wahrnehmen. Wieder einige Zeit später wird die Erde in einen Schwarm zertrümmernder Steine zerfallen und in die Sonne stürzen, woselbst ihre Reste zu nebelartigen Gebilden sich verflüchten werden. Man kann mehr als eine Sonnenwelt wie die unsere in kosmische Nebel sich auflösen und aus den Nebeln wieder neue Sonnenwelten entstehen denken, (die Astronomie nimmt 40 Millionen Sonnensysteme gleich dem unseren an); zuletzt wird aber immer das Ziel der Geschichte völlig verloren gehen. War es der Mühe wert, von dieser Vergänglichkeit viel gesehen, viel von ihr gewußt zu haben? –

Ein Trost ist uns gewiß! Grade die schmerzlichste, enttäuschendste Erkenntnis ist Prüfstein für die Kraft der Liebe. Bemißt sich Erkenntniskraft an der Menge von ihr durchschauter Wahnbilder und Erdichtungen, so bewertet sich Lebens- oder Liebeskraft an der Fähigkeit aus alter Hoffnung Getrümmer immer neue Hoffnungsbilder und Erdichtungen neu erstehen zu lassen.

An jedem Lebensmorgen gilt es neu den Glauben für diesen Lebenstag zu zimmern. Enttäuscht, ernüchtert uns Wissenschaft? Her damit! Dann können wir an ihr erproben, wie stark die Macht unsrer Liebe sei.

Wenn daher die Erkenntnis zuletzt entschleiern, enthüllen, entgöttern muß, so ist die Fürsorge der als Willenschaft aller Wissenschaft weit enthobenen Geschichte: immer neue Schleier für götterlos gewordene Naturtatsächlichkeit zu weben, der Spinne vergleichbar, welche, wenn die erbarmungslose Scheuerfrau tausendmal ihr Netz zerstörte, dennoch an irgend einer andern Stelle das tote Holz neu mit silbernen Fäden zu überspielen versucht.

Führt geschichtliches Wissen in alexandrinischen Seelen just zur Abschwächung alles Aufschwungs, ja zur Lähmung alles Wollens und gilt das ›Bewundere nichts!‹ als Tugend der alles begreifenden Köpfe, so ist das der schlimmste Mißbrauch von Geschichte, welche entweder als Baumeisterin am Ideal oder überhaupt keine Geltung zu beanspruchen hat. Ja! jenem Wettlauf des Hippomenes und der Atalante vergleichbar ist der Wettstreit erkennender Wissenschaft und dichtender Willenschaft! Ist Wissenschaft so weit gekommen, die Willenschaft zu ergreifen und ergreifend am Weiterlaufe zu verhindern, dann hat die Willenschaft von neuem ihren goldenen Apfel auszuwerfen.

Der Geschichte kommt es gar nicht zu, nackte Tatsächlichkeiten festzustellen. Ihre Aufgabe ist es, als Hüterin des schönen Scheins und edlen Bildes die unheilige ernüchternde Erkenntnis unsres Wissens aufzuwägen. Um so mächtiger also naturwissenschaftliche Denk- und Verfahrungsart fortschreitet, um so kräftiger muß die auferhöhende Gegenkraft geschichtlichen Wollens angespannt werden: Fortschritt, Zusammenhang, Einheit in die zerstückelte, am Wissen erstarrende Welt hineinzuschauen, – Baugedanken, welche zwar niemals wirklich sind, aber alle Wirklichkeit zusammenbindend, wahrer sind als Naturwissen und Wirklichkeit. Diese Geschichtsauffassung steht jenseits von Pessimismus und Optimismus. Auch steht sie ferne einer abendländischen Philosophie, deren auftrumpfende Zweifelsucht gerne das Erdichtete der menschlichen Erkenntnis betont. Daß hinter Bewußtseinswirklichkeit der Geschichte nichts als Glaube, Hoffnung, Liebe oder kurz gesagt Willenschaft des Menschen steht, das eben betrachte ich als sinngebende Bedeutung des Lebens. Vorüberfließende Tatsächlichkeit ohne die Anbild-erbauenden Mächte des Gemüts wäre nichts als ein Fluß ohne Grenze und Bett. Schöpft aber der Geschichteschreiber, so gilt das Wort: ›Schöpft des Dichters reine Hand, Wasser wird sich ballen.‹

Goethe hat das kecke Wort gesprochen: ›Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an?‹, womit er sagen wollte, daß das Geliebte eigentlich nur Vorwand ist für die im Lieben sich selbstgenügende Kraft einer liebenden Seele. Ähnlich, meine ich, ist für die geschichte-bildende Gewalt des menschlichen Wollens die Erfahrungstatsächlichkeit der Geschehnisse bloßer Vorwand. Wie die Seele, welche liebt und glaubt, keineswegs nur das Geliebte und Geglaubte in seiner natürlichen Bedingtheit erfaßt, sondern mit dem Geliebten auch die Liebe liebend und im Glaubensgegenstande auch sich selbst und den Glauben selber festhaltend, der natürlichen Gestalt nur benötigt, um aus ihr, wie die deutsche Sprache schön sagt, ›sich etwas zu machen‹, so ist der Geschichtsglaube, durch welchen Völker und Völkergruppen in Liebe oder Haß Götter und Helden, (als Träger ihrer völkischen Tugenden und Verdienste), Bösewichter und Störenfriede, (als Büßer und Sündenböcke aller Fehlschläge erschaffen), ein Vorgang, durch den die dichtende Volksseele sich selber fühlt, trägt und hält; Hoffnung, Glauben, Liebe darlebend, wobei die Erfahrungs-tatsächlichkeit gleichsam nur als Steinbruch, als Farbenbrett des Malers, als ›Illusionsfassade‹ dient.

Darum gewinnt das Wirkliche als Geschichte eine Bündigkeit und Schönheit, welche die bloß natürliche Wirklichkeit nicht besitzt. Denn im unmittelbarem Geschehen, soweit nicht das Ich bewußten Wollens die Willkür und den Zufall ausscheidet, ist alles nur zufällig und willkürlich. Aber die natürliche Zufallswelt der Geschehnisse ist der Stoff, an welchem im Gestalten von Geschichte Bilder des Wollens verwirklicht, Ausheilungen und Wunscherfüllungen vollzogen werden.

Handlungen, Ereignisse, Personen, welche als Vertreter einer völkischen oder gemeindlichen Willensnotdurft ergriffen werden, treten damit aus der natürlichen Erfahrungswirklichkeit heraus und werden in eine mehr als nur wirkliche Welt und in einen mehr als nur natürlichen Weltzusammenhang hineingestellt. Sie werden erhoben in das Paradies und die Nachwelt der Geschichte.

Dies ist der Vorgang der Geschichtswerdung des Lebens durch den Menschen. Mögen also Geschichtstatsachen selbst durch Lüge, Täuschung und Betrug zustande gekommen sein, sind sie einmal zustande gekommen, so hängen sich Glaubensgesichte und Wertgefühle an das zu Geschichte gewordene Leben und beginnen es aufzuerhöhen, so wie der starke Haß und die starke Liebe ihren Gegenstand bejahend oder verneinend umwandeln und aufahmen. Für diese Auferstehung und Himmelfahrt nach dem irdischem Tode sind Himmel- und Höllenglaube ein Gleichnis.

Hier wieder abzubauen, die Bedingtheit, den Betrug, die Allzumenschlichkeit hinter Geschichte zu zeigen, ihre Helden des Ruhms zu entkleiden, ihre Stiefkinder zu verteidigen, die Überspannung des Glaubens zu entnüchtern und das Ideal als Lüge zu enthüllen, das ist das traurige Geschäft der ›Wissenschaft‹. Groß und schön aber ist es, grade in das Alltägliche das Erhabene, in die nüchterne Bürgerwelt Unsterbliches hineinzuschauen. Das vermag jene Liebe, von der ein Denker sagt, sie sei Mitleid mit verhüllten Göttern.


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