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Dem Subjekt der Geschichte, an welchem der Geschichteschreiber in großer vermenschlichender Ichübertragung zusammenhängende Folgen der Schicksale ablaufen läßt (ähnlich wie ein Naturforscher die Natur, die Wirklichkeit, die Welt zu betrachten wähnt), gesellt sich eine weitere Fülle engerer und personalerer Unterschiebungen, die man den Fiktionen von Naturkräften (wie Schwerkraft Elektrizität Wärme usw.) zu vergleichen hat.
Aus klarer Nähe betrachtet verläuft die Weltgeschichte, soweit sie nicht Autobiographie (und übrigens auch als solche nichts als Selbstentlastung und Selbstgestaltung ist) an Wirklichkeiten, welche eben durchaus nicht wirklich sind. Denn Körperschaften, Seiten, Gruppen, Parteien, Völker, Städte, Nationen, Staaten usw. sind ja nicht anders wirklich, wie ein Regiment, welches heute aus anderen Soldaten zusammengesetzt ist denn gestern, und morgen aus anderen denn heute, und doch eben seine Geschichte hat, welche fortdauert, wenn nichts von allen diesen Leuten übrig blieb als ein Fetzen Fahne, ein Name, eine Ziffer. – ... Es läßt sich zunächst leicht einsehen, daß für die eingebildeten Instanzen, wie Staat, Gesellschaft, Volk usw., jenes allgemeine Wertgesetz gelten muß, nach welchem Bedeutung, Aufmerksamkeit, Wert, Interesse im selben Maße absinkt, als neue gleichartige Glieder einer Wertgruppe zuwachsen. Die Geschichte einer kleinen Sekte, Partei oder Gruppe mag wichtig, wertvoll und interesseerregend sein; eine ›Geschichte der Menschheit‹ aber kann nur entweder Geschichte aus Geschichten oder die hohlste aller Windblasen werden. Überhaupt wird die Geschichte im selben Maße gleichgültig, als sie von den besonderen und persönlichen Einzelereignissen absieht, um im Sinne Hegels oder Schellings (im Gegensatz zu ›bloßer Historie‹) geschichtsphilosophisch zu werden. Als Bilderflucht wertvoller und wichtiger Einzelschicksale ist Geschichte immer erfreulich, belebend und begeisternd; als philosophische Konstruktion von allerlei höchst allgemeinen Zusammenhängen kann sie nie aus dem Zirkeltanz blutgetränkter Jahres- und Ortsdaten, langweiliger Schriftsätze und eintöniger Machtwechselzufälle unter meist recht unbedeutenden und oft ganz erbärmlichen Geburts- und Standesvorberechtigten herauskommen, wofür mit bestem Recht Montaignes Wort gelten muß: ›Die meisten pragmatischen Geschichtstatsachen sind Farcen.‹
Wie in einer Schulklasse der Lehrer nicht nach der Fassungskraft des mittleren Durchschnitts, sondern so unterrichten muß, daß auch der am mindesten Begabte ihn noch eben zu verstehen und mitzukommen vermag (so daß also recht eigentlich der am schwächsten Begabte die Lehrweise bestimmt); oder wie in der Landwirtschaft die Regel gilt, daß bei unrichtiger Zusammensetzung der Düngemittel, die man auf den Acker bringt, der Ertrag sich nicht nach dem für den Boden vorteilhaftesten, sondern nach dem schädlichsten Bestandteil richtet, so kommt ganz allgemein jede Werthaltung ab imo zustande. So soll nach der Lehre österreichischer Nationalökonomen auch der Preis nicht vom Durchschnittsmarktpreise der Ware, sondern vom billigsten Hersteller her geregelt werden.
Gäbe es somit wie die Philosophen orakeln, einen ›objektiven Geist‹, als empirischen Träger von Völkerschicksalen und Massenereignissen, dann müßte dieser ›objektive Geist‹ jedenfalls inhaltloser sein, als selbst der mittlere Durchschnittsmensch. Jedenfalls könnte z. B. der ›objektive Geist‹ der deutschen Geschichte durchaus nicht gehalt- und inhaltreicher sein als die einzelnen Spitzen dieser Geschichte, z. B. als die individuellen Personen Kants, Friedrichs des Großen, Goethes, Schopenhauers, Nietzsches; vielmehr: alle Gesinnungen, Motive, Entäußerungen einer Gruppe als Gruppe sind so gewöhnlich und so gemein, daß jeder einzelne innerhalb der Gruppe in der Regel reifer und tiefer ist als die Gruppe als Ganzes. Hierfür gilt das bekannte Sprichwort: › Senator Romanus bonus vir, senatus Romanus mala bestia‹ und das deutsche Volkswort: ›Einer ist ein Mensch, mehrere sind Leute, viele sind Viecher.‹
Ja, man könnte mit Recht behaupten, daß die Sonderrechte und Bevorzugungen jeder Gruppe als Gruppe einzig dadurch gerechtfertigt werden, daß diese Sonderrechte erst den Boden schaffen, auf welchem einzigallein geschichtlich-bedeutende, geniale oder doch in irgendeiner Weise die gemeine Menschheit überragende Einzelpersönlichkeiten wachsen können. So würden Vorrechte des Adels oder der Fürstenhäuser nur dann gerechtfertigt sein, wenn sich erweisen ließe, daß einzig eine solche Kastenzucht den gemeinen Menschenwuchs überragende Persönlichkeiten hie und da möglich macht, die auf andere Weise eben nicht zustande kommen können. Nur unter diesem Gesichtspunkt läßt sich die Auffassung der Geschichte als einer Familienchronik bevorrechteter Geschlechter, eben der sogenannten Großen dieser Welt durchführen und aufrechterhalten. Es ist dann aber nicht die führende Gesellschaftsschicht als solche historisch bestimmend. Sondern der große und bedeutende Einzelne rechtfertigt und trägt den Kreis, dem er zugehört, und kanonisiert die Gesellschaft aus der er hervorbricht.
Und somit wird Geschichte, wie immer man sie darstellen mag, zuletzt auf große Einzelschicksale und Einzelpersönlichkeiten hin gerichtet sein müssen.
Spielt man aber die ›generellen Instanzen‹ aus, so steckt darin Schwäche, Unfähigkeit, Begrenztheit und Angst. Denn alle objektiven Instanzen sind zunächst nur als Bollwerke gegen Macht und Eigenheit, Laune und Willkür des immer gefährlichen starken Einzelindividuums aufzufassen, nicht nur des verbrecherischen, sondern überhaupt des reformatorischen. Das Objektive, das ist der Durchschnitt. Denn der Durchschnitt verschanzt das persönliche Gewissen hinter letztlich leere Abstraktionen, wie Staat, Gesellschaft, Nation, Vaterland usw. Hierfür gilt das ungemein wahre Wort eines erfahrenen Staatsmanns:
›Alle Menschen sind froh, wenn eine Instanz da ist, die ihnen sagt, was sie mit sich machen sollen. In zweifelhaften, aber entscheidenden Lagen der Selbstverantwortung entbunden zu werden, das wirkt wie das Aufhören der Seekrankheit.‹
In der Tat gehört es zu den Lebensbedürfnissen aller unfreien und gedankenlosen Massenwesen, daß ihnen die Gruppe, in der und mit der sie leben und von der sie alle ihre Wertungen und Ehren beziehen, im entscheidenden Augenblicke die Verantwortungen abnimmt, welche vor einer bloß personalen Ethik (und eine andere gibt es nicht) nie der Einzelne als Einzelner zu tragen vermöchte. So verhält es sich z. B. mit der Beseitigung, ja Heiligsprechung aller atavistischen und bestialen Antriebe in Revolutionen, Kriegen, Massenaufständen, Revolten. Die statistische Tatsache, daß in Krisenzeiten der Geschichte die Anzahl der Verbrechen und Verbrecher abnimmt, erklärt sich keineswegs (wie z. B. J. Burckhardt sehr naiv behauptet) daraus, daß in solchen ›großen Zeiten‹ die Menschen edler und bessergesinnt werden, sondern einzig daraus, daß der Staat, die Gruppe, die Nation die Verantwortung für viele Verbrechen übernimmt und eine Anzahl tierischer und verbrecherischer Antriebe plötzlich im Dienst eines ›objektiven Zwecks‹ erlaubt, ja heiliggesprochen sind.
So werden wir, lebendige Einzelmenschen aus Fleisch und Blut, von früh auf eingestellt in das große Riesenreich der imaginären Gespenster: als da sind Gesellschaft, Behörde, Staat und Kirche, Kaste und Gruppe und alle die unbarmherzigen und rein imaginären Abstrakta: das Recht, das Gesetz, die Schule, die gute Sache, die Majestät, der Mensch, die Ehre, die Ehe, das Gemeinwohl, die Ordnung, die Wissenschaft, die Familie, das Vaterland usw. Innerhalb dieser eingebildeten Gewalten wird jeder lebendige Einzelmensch, auch der beste, im Namen von Irgendetwas zum Spürhund und Teufel wider jeden anderen lebendigen Einzelmenschen erzogen, so daß das menschliche Einzelleben just als Triumph von lauter Idealen schließlich eine höchst reale Hölle ist.
Diese Kritik an den ›imaginären Kräften‹, die doch eben nur vermöge unserer Einbildung Kräfte und vermöge des Gehorsams Gewalten sind, gilt nun freilich wohlgemerkt nur vom Standpunkt nüchternen Wirklichkeitdenkens. Sie wendet sich gegen Realitäten, die keine sind. Gegen Abstrakta, Gespenster! Aber behauptet damit nun keineswegs, daß sie nun gar nichts seien.
So wie ein Chorgesang vieler Menschen, vielleicht brüchiger und unheiliger Menschen schöner und reiner sein kann als jeder Singende, oder wie ein gotischer Dom frommer und heiliger sein kann als alle, die an ihm bauten, so kann Geschichte als Menschentat und -ziel Höheres und Wertvolleres enthalten als alle Wirklichkeit. Und was Geschichte als vermeintliche Wirklichkeitswissenschaft durch unsere Erkenntniskritik endgültig verlieren wird, das wird der Geschichte als Auferbauung am Ideale zugute kommen.