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non paranda nobis solum, sed fruenda sapientia.‹
Cicero.
Man ist davon überzeugt, daß Geschichte und Politik in einem besonders nahem Verhältnis zueinander stehen, sei es, daß man, wie der deutsche Geschichtsforscher K. L. Schlözer (1735-1809), die Geschichte als bloße Vorschule der Staatswissenschaften, die Politik aber als angewandte Geschichte erläutert, sei es, daß man, gleich dem englischen Geschichtsschreiber Freeman, umgekehrt alle Staats- und politische Wissenschaft in Geschichte einmünden und daher Politik nur als fortgesetzte Geschichte, Geschichte als Politik der Vergangenheit zu kennzeichnen unternimmt.
Dieser angeblichen Verwandtschaft von Politik und Geschichte widerstreitet es, daß Geschichte nur anschauliche, sozusagen bei bestimmtem Wetter und Wind eingetretene, in genau der gleichen Art sich nie wiederholende Begebenheiten darstellen kann, (für welche möglicherweise überhaupt keine allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten nachweisbar sind), während Staatskunde eine Wissenschaft mit allgemeingültigen Gesetzen, im Grundbegriff wenigstens auf zeitlose Wahrheit hinzielt.
Diese bloß betrachtende Natur der Politik wird vom üblichen Praktikerdünkel freilich bestritten. Sein Zauberwort lautet: Realpolitik. ›Die Realpolitik verfügt von Fall zu Fall.‹ ›Die Realpolitik ist Wissenschaft vom Möglichen.‹ ›Die Realpolitik muß sich die Entscheidungen vorbehalten‹, solche und ähnliche Binsenwahrheiten werden mit unendlichem Hochmut zu unendlichen Malen wiederholt.
Mit alle dem wird immer nur gesagt, daß Rechtbehalten und Sichdurchsetzen um jeden Preis den ganzen tatsächlichen Inhalt von Staatskunst ausmache. Nun kann aber keine Macht oder Gewalt angestrebt werden, ohne daß damit Gesetze geltend gemacht werden. Gesetze aber werden von auswertender Vernunft als richtig oder unrichtig beurteilt; darum ist nicht abzusehen, wie denn Politik es eigentlich anfangen sollte, nicht theoretisch zu verfahren. Wertaxiomatik S. 39, 87.
Kant schrieb 1793 eine spöttische Betrachtung über den Gemeinspruch: ›Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis‹, hinter welcher Redensart die kurzsichtige, immer auf Gegenwart beschränkte, unklare Theorie sich gegen gründliche und weitblickende zu verschanzen pflegt, indem sie eigentlich doppelte Vernunft erfordert, die eine für theoretische und die andere für praktische Leute, welche schließlich so praktisch werden, daß sie überhaupt nicht wissen, zu was sie denn praktisch sind.
Echte Staatskunst bedurfte stets der letzten gedanklichen Begründung, weswegen in den Rat und zur Herrschaft gern die Weisesten und Einsichtigsten, mindestens die Erfahrensten und Ältesten berufen wurden, (während man im Abendland von Angelegenheiten, die nicht-politisch sind, wohl zu sagen pflegt, sie seien Angelegenheiten mehr für Weise und Philosophen, woraus hervorzugehen scheint, daß diejenigen Angelegenheiten, die politisch sind, eben nicht für Weise und Philosophen taugen). Während ich dies schreibe, Juni 1916, äußert ein deutscher Politiker, Graf Reventlow, folgendes: ›Wir beten zu Gott, dem Herrn, daß wir in den nächsten dreißig Jahren in Deutschland nicht mehr das Wort ›Kulturmenschheit‹ zu hören bekommen, denn wir müssen Deutsche, nichts als Deutsche sein. Und wir wollen auch nichts von Philosophie mehr hören, denn wir sind ein Volk von Politikern.‹
Wenn in Preußen gelegentlich ein Minister oder Rat den Kant oder Fichte anführt, so warnt der Tagesschreiber, die Politik gerate in Gefahr philosophisch zu werden, und wenn die Praktiker, welche ›die Geschäfte der Nation‹ besorgen – (Advokaten, Literaten, Publizisten, Aktionäre, Bankiers, Parlamentarier usw.) –, sich recht etwas Schönes antun wollen, so versichern sie einander, daß sie keine Theoretiker seien, womit gesagt sein soll, daß sie den Schwindel verstünden. Auch sind von der Gegenseite her Europas ›Philosophen‹ (Professoren und Doktoren der Philosophie) ängstlich darum bemüht, nur um des Himmelswillen nicht praktisch genommen zu werden, sondern vielmehr: › rein‹. Reine Logik, reine Ethik, reine Praktik, reine Anschauung, das betreiben sie, mag die Erde darüber zugrunde gehen.
Eine der widerlichsten Armesünderreden dieser Geisteshaltung ist folgende: die zwischen Mensch und Mensch als unöffentlichen Personen gültige Ethik sei wohl recht schön und gut, höre aber zu gelten auf, sobald es sich um das Machtverhältnis von Völkern oder Staaten handele, was grade so sinnig klingt, wie wenn jemand sagen wollte: meine Anständigkeit besitze ich für meine legitime Ehefrau, bei meiner Maitresse dagegen bin ich unanständig.
Wenn Staatskunst nicht auf ethische Regelung des Menschenlebens hinauswill, dann weiß ich nicht, worauf sie hinauswill, und wenn nicht Ethik auf tatsächliche Staatskunst abzielt, dann weiß ich nicht, wozu sie überhaupt da ist. Wer aber behauptet, man könne Politik auf ›Lebenserfahrung‹ und ›Anschauung‹ aufbaun, der behauptet, man könne Häuser auf Wasser errichten, denn die lebendige Wandelwelt offenbart gar nichts an sittlichem Wert oder sittlicher Norm.
Man hat seit 1914 als geheiligten Gewährsmann für diesen angeblichen Unterschied der staatlichen und privaten Moralität Johann Gottlieb Fichte namhaft gemacht, hat eine deutsche Fichtegesellschaft gegründet, Fichtes Schrift von 1807 ›Über Macchiavelli als Schriftsteller und Stellen aus seinen Schriften‹ weit verbreitet und im Namen dieses berühmten Redners die ungeheure Verwirrung der Geister kräftig gemehrt.
Fichte, von der Natur mehr zum Anordnen und Befehligen als zum Schauen und Künden vorbestimmt, ebenso grobkörnigen als überstürzten Geistes, verkündet ein Durcheinander selbstgerechter Skrupellosigkeit und weltrichterlicher Überstrenge, immer neu beweisend, daß das Moralpredigen ebenso leicht ist, als es schwer ist, Moral zu begründen, und am schwersten, sie im entscheidenden Augenblick schlicht darzuleben. Für die traurige Lüge der politischen Wirklichkeit, die er nicht etwa nur als niederträchtige Tatsache feststellt, sondern eben auch als Ethiker zu rechtfertigen unternimmt, hält er sich gleichsam schadlos durch eine peinliche Überstiegenheit sittlicher Forderungen, die weder er selber klar eingelöst hat, noch überhaupt je ein Mensch einzulösen vermöchte. Versicherungen wie die, daß er lieber den Tod seines Weibes verschulden als ihr durch eine Lüge das Leben retten wolle, widerstreiten wunderlich der Versicherung, daß im politischen Leben jede Lüge erlaubtes Machtmittelchen sei. Dabei spricht und schreibt Fichte ein so abscheuliches und krüdes Deutsch, daß z. B. die ›Reden an die deutsche Nation‹ (1808), welche Napoleon aus Deutschland hinwegfegen sollten, getrost von Bonaparte selber hätten mitangehört werden können, ohne daß dieser je hätte merken können, um was es sich eigentlich handle. Man vergleiche Fichtes Besprechung von Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« (S. W. Bd. 3 S. 367) oder die »Grundlagen des Naturrechts« (S. W. Bd. 8 S. 427) mit den Reden und reime sich die offenkundigen Widersprüche. Vgl. in der Wertaxiomatik die Darlegung über Fichtes ›Kollision der Pflichten‹ S. 75.
Macaulay bemerkt in seinem Versuch über Macchiavelli: ›Allgemeine Grundsätze, wenn sie unanfechtbar moralisch sein wollen, können als kalligraphische Vorschriften für einen Waisenknaben dienen. ... Die Grundsätze der Politik sind so beschaffen, daß der gemeinste Räuber sich scheuen würde, sie seinem vertrautesten Spießgesellen auch nur anzudeuten‹ – aber wenn das tatsächliche Leben menschlicher Wolfsrudel brutal anarchisch ist, so ist damit nicht gesagt, daß der beurteilende Geist sich dabei zu beruhigen habe, ja diesen geschichtlichen Tatbestand als das Kluge, Gescheute, Praktische und Bekömmliche der Verdammnis durch auswertende Vernunft entziehen solle. Gebt die Freiheit erkennenden Urteils gegenüber dem factum brutum: Geschichte auf, gebt sie triumphierend oder höhnend auf, so ist die Naturgeschichte des Menschen die zuletzt gleichgültige Bosheitsangelegenheit von Milliarden futterneidischer, halb bedauerns-, halb untergangs-werter, einander ablösender Bestienhorden und ihr habt eben aufgehört, am Reiche der übervölkischen Geisteswelt zu bauen. Eine politische Moral freilich, die gibt es nicht; aber es gibt eine Politik, die als moralisch, und eine andere, die als unmoralisch einsichtig gemacht werden kann, da die Bündigkeit der Moral ein zeitloser Tatbestand der Vernunft, nicht aber der zeitlich-geschichtlichen Wirklichkeit ist.
Übrigens fordert Gerechtigkeit festzustellen, daß Macchiavelli an dem wüsten Mißbrauch seines Werkes durch Fichte unschuldig ist. Denn bei ihm findet sich nicht eine Zeile, welche die zu bestimmtem Zwecke und unter bestimmten Zeitverhältnissen anempfohlenen Maßregeln, als den idealen Inhalt politischer Vernunft erscheinen oder vermuten ließe, daß er Macht und Gewalt, welche zweifellos Grundlage aller natürlichen Beziehungen sind, für den Sinn und Zweck menschlicher Verbindungen gehalten habe. Das ist grade so, wie wenn man dem Erzieher an einem Magdalenenheim, welcher, um ethische Grundsätze überhaupt durchführen zu können, gelegentliche Stockprügel anempfiehlt, den Nachruf widmen wollte, sein sittlicher Grundsatz hieß: Prügele die Mädchen!
Solcher Mißbrauch des Nicolò Macchiavelli ist ebenso niederträchtig, wie der mit den Lehren und Schriften von Thomas Hobbes und David Hume betriebene, welche drei Denker, was Einsicht und Urteil über praktisches Weltleben anbetrifft, die drei schlechthin klügsten Menschen waren, die das Menschengeschlecht hervorbrachte.
›Unheilsam in der eigenen Haut wird allgemeines Wohl erwählt.‹
Buddha.
Einen tiefen Einblick in den allgemein-menschlichen Widerspruch gibt ein sicher beglaubigter und doch kaum glaublicher geschichtlicher Tatbestand, wie der folgende. 1848 haben die Sizilianer während der neapolitanischen Schreckenstage Menschenfleisch gegessen. Das Fleisch der gefallenen Franzosen wurde im Topfe gekocht und mit Pasta verzehrt; das geschah zu der selben Zeit, wo das gesamte Volk in hochherziger Aufwallung für ›Menschenrechte‹ und gegen die ›entwürdigende Einrichtung der Todesstrafe‹ einmütig sich einsetzte. (Es ist erst 70 Jahre her.)
Klare Köpfe haben ihr Mißtrauen gegen Logik, Recht, Sittlichkeit als geschichtlicher Kräfte stets ausgesprochen; am klarsten Talleyrand, dessen ganze Politik darin bestand, Ideale praktisch auszunutzen. So machte er den Wiener Kongreß 1815 zu einem Geschwätz über Prinzipien, welche alle andern ernst nahmen, er selber aber nur gebrauchte, um durch Verwirrung die Köpfe zu beherrschen. – Napoleon bezeichnet sogar die Bibel, die Veden und den Koran für politische Bücher. – Ludwig XI. sagt: »Wer nicht heucheln kann, kann nicht herrschen.« Und Macchiavelli: »Ein Fürst muß zugleich Löwe, Fuchs und Schlange sein.«
Aus der unendlichen Fülle von Beispielen für die Umwandlung von Idealen zu politischen Machtmitteln, sobald sie Triebkräfte der Geschichte werden, will ich nur zwei besonders lehrreiche herausgreifen.
1. Die Lehre Jesu stellte der Welt ein reines, zeitloses, ungeschichtliches Ideal vor Augen, mit welchem die wirtschaftliche Ohnmacht gegen die weltliche Gewalt des Cäsarismus sich wehrte. Aber dieses Ideal wurde selbst zur geschichtlichen Macht, und so konnte Konstantin i. J. 324 mit ihm eben das Imperium befestigen, welches verneint werden sollte. So wurde auch in Asien die durchaus machtfeindliche Lehre des auf alle politische Wirksamkeit verzichtenden Buddha schließlich zum staatlichen Machtmittel zur Beherrschung unglücklicher Völker. Genau wie beim Christentum ging der innere Verfall des Ideals parallel der geschichtlichen Blüte der Kirche.
2. Die neueste Zeit hat mit fast religiöser Inbrunst das demokratische Ideal ergriffen. Sobald aber dieses Selbstbestimmungs-Ideal geschichtliche Macht geworden sein wird, so wird jede Partei, möglicherweise sogar der Kapitalismus oder die Militärdiktatur, mit seiner Hilfe ihre Raubbegierden zu befriedigen verstehen. 1914-16 gaben England, Amerika und Frankreich den idealen Wahrspruch aus: Krieg für die Selbstbestimmung der Völker wider preußischen Militarismus. Zu diesem Zwecke verband sich die Entente mit – dem Zaren. Nun geschah 1917 das Wunder, daß die große russische Revolution mit dem Selbstbestimmungsrechte der Völker zum ersten Male wirklich Ernst machte. Sofort wandelte sich das Bündnis in Feindschaft, während die russische Demokratie ihre Stütze suchte an – Preußen. Welchen Mißbrauch des demokratischen Gedankens kann die Zukunft sehen!
Was also steckt hinter den Ideologien, an welche die Völker glauben und glauben müssen?
Vielleicht ist keines Volkes politische Geschichte so reich an erhabenen Lügen wie die deutsche. Die innere Geschichte unserer Stämme (Eindeutschung Böhmens, Aufteilung Polens, Angliederung Hannovers usw.) ist eine einzige Kette ideologisch gerechtfertigter Gewaltakte. Dagegen muß der englischen Politik nachgerühmt werden, daß sie weit nüchterner und nackter ist und keine anderen Rechtstitel erheuchelt als die der Not und der Gewalt (› by the law of necessity, by the power of the sword‹). Von der praktischen Seite gescheit ist daher die englische Nation dank ihrer klar bewußten Brutalität unter den Nationen die gesündeste, ähnlich wie der Kaufmannsstand unter den bürgerlichen Berufen der ehrlichste ist.
Die politische Heuchelei, wofür der Engländer das Wort cant braucht, äußert sich eben in der Maskierung aller menschlichen Nutz- und Profitgelüste mittelst Ideologien, z. B. in dem widerwärtigen Geschimpfe fast aller deutschen Professoren, die doch Kant mit gutem Grunde ›Kaufleute des Geistes‹ nennt, auf das ›Krämer- und Händlertum Englands‹. Schließlich ist ja der Händler auf der großen Maskerade des Lebens der einzige, welcher ehrlich eingesteht, was er will, während alle andern, nicht zum mindesten die Priester, Künstler und Lehrer, sich aus idealem Überschwang eine Maske machen.
In diesem Zusammenhange werde bemerkt, daß vor allem die noch jugendliche Wissenschaft der Nationalökonomie durch diese innere Verlogenheit gekennzeichnet ist, indem sie durchaus praktische Gegenstände in bloße Untersuchungsstoffe und theoretische Fragestellungen verwandelt, so daß man schließlich mit einer Theorie der Staatsfeindschaft Professor der Staatswissenschaften werden kann. (Beliebt es doch z. B. im Augenblick der Gelehrtenschaft mit Individualismus, Egotismus, Anarchismus ebenso Geschäfte zu machen, wie man um 1880 mit staatssozialistischen und kommunistischen Theorien Geschäfte machte); wenn aber ein ehrlicher, armer Teufel das in gesunde Tat umsetzen wollte, was der Professor theoretisch verkündet, so würde er dafür gelyncht. ... Unter der unendlichen Fülle von Beispielen für die Umwandlung von Idealen zu politischen Machtmitteln, sobald sie Triebkräfte der Geschichte werden, ragt eines ganz besonders hervor, ein allerschmerzlichstes, allerbeschämendstes: der großen sozialistischen Gedanken Mißkennung und Schändung, die im Augenblick, wo ich diese Seiten in den Druck gebe, in Deutschland im hellen Lichte steht.
In diesem Augenblicke nämlich (November 1918) besteht unter der gesamten Geldmacht und Bürgerwelt Europas und Amerikas eine zwar nirgend ausgesprochene aber doch stillschweigende, geheime Übereinkunft, nur ja um Gottes willen die junge Weltrevolution in der Wiege zu erdrosseln und gleichsam den vulkanischen Flammenausbruch eines neuen Menschengeschlechtes unter den Aschenbergen der ›praktischen Politik‹ noch rechtzeitig zur nützlichen Herdflamme für den bürgerlichen Hausgebrauch herabzudämpfen.
Ob die künftige ›Kulturwelt‹ monarchisch oder republikanisch, demokratisch oder sonstwie regiert wird, das ist der machthabenden Gesellschaft aller Länder vollkommen gleichgültig! Sie ist längst in allen Sätteln gerecht! Sie mausert sich, (wenn es sein muß, von heute auf morgen), aus Monarchisten in Republikaner, aus Patrioten in Pazifisten, aus Mystikern in Freidenker – oder auch umgekehrt! Echten Ernst kennt sie nur an einem Punkte: Wären die Herzen nicht kalt und hart wie das Gold, davor sie dienen, – August 1914 schon hätte ausbrechen müssen die große Weltwende, welche gegenwärtig nur ein Häuflein ehrwürdiger Schwärmer vergeblich zu ertrotzen unternimmt.
Nehmen wir doch einmal an, daß im August 1914 dem fürchterlichen Aufgebot der europäischen Regierungen zu wechselseitigem Morde das Hohngelächter freier, mündiger Völker geantwortet hätte, – statt des Weltkrieges wäre die Weltrevolution dagewesen. Und selbst wenn das werktätige Volk anderer Länder versagt und der Feind Deutschland überflutet hätte, nie wäre das Schicksal deutscher Reichsgeschichte so banal, so namenlos erbärmlich ausgelaufen, wie es nun auslaufen wird.
Betrachtet man das Getriebe der politischen Geschichte und ihrer falschen Ideologien von dem überragenden Standorte der Philosophie aus, so weiß man nicht, haben alle Parteien der Geschichte Recht, haben sie alle Unrecht. Es waren einmal zwei Ritter in einen unlöslichen Streit geraten.Als sie aber zum Richter gingen, da sagte dieser: ›Das ist ein schwieriger Gewissensstreit, wir müssen damit zum Papste gehn.‹ Der Papst hörte zunächst den ersten der beiden Ritter an, und als der geendet hatte, sagte er: ›Wenn man dich hört, so muß man sagen, du hast Recht.‹ Darauf begann der zweite zu reden, und nachdem der Papst ihn gehört hatte, sagte er: ›Jetzt muß ich gestehen, auch du hast Recht.‹ Da aber warf sich der Richter dazwischen und rief: ›Eure Heiligkeit werden doch zugeben, daß nicht beide Recht haben können.‹ Der Papst senkte sinnend das Haupt und erwiderte: ›Da hast du auch Recht.‹ – Man könnte vermuten, daß doch vielleicht beide Recht hatten oder beide Unrecht. Am wahrscheinlichsten aber ist, daß beide Recht und Unrecht hatten. So aber geht es mit allen politischen Parteien.
Das gegebene natürliche Menschenleben, ewig wechselndes Ergebnis der Not und des Zufalles, das dem Politiker als Vorwurf zur Gestaltung an hand theoretischer Ideale gegeben ist, ist nicht schon an sich selber logischer oder moralischer Natur; vielmehr werden noch die beiden letzten Menschen auf Erden dazu verflucht sein, Feinde bleiben zu müssen und noch die beiden letzten Staaten werden Raubstaaten sein; wollten sie es anders halten, so dürfte es ihnen ergehn wie dem indischen Könige Asoka, der an den Grenzen seines Reiches Inschriften gegen den Krieg befestigen ließ und damit einen Krieg heraufbeschwor. Logik und Ethik sind nicht von dieser Welt und wären gar nichts als bloße Luftgespinste, wenn nicht Macht dahinterstünde! Immer gilt für sie das vortreffliche Wort Napoleons: ›Man muß stark sein, um gut sein zu dürfen.‹ Mit tiefsinniger Ironie steht diese Einsicht hinter dem jüdischen Volkswort: ›Ein guter Mensch gehört an einen guten Ort‹, das heißt er kann sich nur begraben lassen, wenn er nichts ist als ›gut‹. Daher ist es eine große Verirrung zu glauben, daß Liebe, Güte, Schönheit aus sich selbst mächtig seien, daß das Große und Geniale ›sich schon von selber durchsetze‹, daß Wahrheit, Vernunft und Recht schließlich siegen müsse. Demgegenüber haben wir klar gezeigt, daß sich durchaus nicht an Werte ein Erfolg zu heften brauche, daß aber an Erfolg sich Werte anheften können ( § 23). Alle Schätze des Herzens und des Geistes sind zum klanglosen Untergang in Einsamkeit vorbestimmt; die höchsten Kräfte des Menschen haben überhaupt keine Möglichkeit, sich je zu erfüllen, ja werden überhaupt nicht bemerkt werden, außer in den ganz seltenen Fällen, wo eine Macht (sei es Geld, Rang, emportragendes Vorurteil, Aberglaube, Zufall) diese Werte ans Licht stellt. Der uralte Satz, daß Macht vor Recht gehe, ist ebenso selbstverständlich und wahr, wie der, daß die Menschenwelt ausschließlich auf Egoismus gründet.
Das normale Leben ist also durch und durch brutal. Wehe dem, der je es vergißt! Aber Ethik und Geist sind kein › normales Leben‹. Wie sie Notausgang menschlichen Leidens sind, so leiten sie schließlich das Leben zu Selbstaufhebung in Nirwana. Besonders die französische Sprache ist reich an scharfsichtigen Einblicken in die Irrgärten der Ideologie. Vortrefflich ist z. B. die bekannte Definition dessen, was Menschen unter Freiheit verstehen: ›la liberté c’est l’esclavage des autres.‹ – Als der Imperialismus die Devise schuf ›l’empire c’est la paix‹, wandelte der Volkswitz sie in das Wort ›l’empire c’est l’epée‹. Und wie hübsch sind die Wortwitze auf die Schlagwörter der Revolution. ›Vivre libre ou mourir‹ wandelte man in ›ventre libre ou mourir‹, und die Zeile der Marseillaise ›le jour de la gloire est arrivé‹ in ›le jour de boire est arrivé‹. Vgl. auch S. 127 Anm. – Das klügste Wort, das ich über Politik kenne, ist folgender Ausspruch des Talmud: ›Fällt der Stein auf den Krug, wehe dem Krug! Fällt der Krug auf den Stein, wehe dem Krug. Immer wehe dem Krug!‹
›Da wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist.‹
Also sprach Zarathustra.
Vom neuen Götzen.
Man kann die Frage aufwerfen, ob in der Geschichte der geistig Erkennende überhaupt politisch wirksam werden könne oder ob ihm nicht wesenszugehörig sei, überall die Politik der Befreiung anzustreben von dem, was man gemeinhin Politik nennt?
Unsere Antwort liegt auf der Hand.
Wenn Männer überlegenen Urteils, Frauen reinen Herzens jemals Einfluß erlangen könnten auf Staatsleitung, Volksvertretung, Behörden, Presse usw., dann wäre unverzeihlich, in unfruchtbarer Gegnerschaft oder philosophischer Selbstgenügsamkeit, den Verzicht zu leisten auf Mitgestaltung am Gemeinschaftsleben und die nur persönlich-seelische Lösung der alle bedrückenden Lebensfragen zum Grundsatz zu erheben. Denn dem Übel nicht Fehde ansagen, heißt es erschaffen. Wer hat denn das Zeitalter des großen Mordens gemacht? Alle, die ihm nicht von erster Stunde an (im August 1914) widerstanden! Alle, die im tiefsten Innern die Wahrheit zwar fühlen, aber sie niemals sagen, wann es gefährlich ist, Wahrheit zu sagen.
Nun aber fordert das, was man Politik nennt, den Ausschluß just der edelsten Seelenkräfte und Tugenden. Auf immer überrädert in politischer Geschichte der witzige, freche Kopf den tiefen, schlichten; auf immer der gewaltsame Denker den besonnenen, der Dogmatiker den Kritiker, der Volksaufwiegler den Wahrheitsager ( § 31). Darum kann der geistige Mensch nicht Politiker sein, ohne sich selber preiszugeben. Man erinnere sich an das im § 14 dargelegte Gesetz, wonach die Gemeinschaftsgeisteshaltung um so ärmer werden muß, je zahlreicher ihr eine Teilhaber- und Anhängerschaft zuwächst.
Will man die ganze Ausschußware der Schöpfung, den ganzen Markt der Eitelkeit und Verantwortungslosigkeit, alles Maul- und Faustheldentum der Völker sehn, so blicke man auf die jeweils öffentlichste Instanz: Parlamente, Presse, Kirche, Universität, Vereinswesen usw.; je breiter, je aktueller ihre Wirkung ist, um so gemeiner wird auch die von ihr hochgetragene und verbreitete Geistesart. Ja man kann Parlamentarismus, Klubbismus, Journalismus, Publizismus usw. wohl als notwendige Ventile der menschlichen Böswilligkeit und Borniertheit auffassen, Ventile, die man darum offenhalten muß, damit die allgemeinsten Instinkte wie Neidhaß, Ehrgeiz, Machtwille, Unzufriedenheit, (die selben, die in Kriegszeit wider den äußeren ›Feind‹ sich kehren), im sogenannten Geistesleben ihren möglichst friedfertig-unschädlichen Abfluß gewinnen.
Die edelste Regierungsform wäre zweifellos der eiserne Gewaltdruck eines alle anderen Gehirne überragenden Einzelgehirns. Bismarck kleidete diese Erkenntnis in die weisen Worte: ›Das beste Regierungssystem wäre die absolute Monarchie, wenn der Monarch nicht ein sterblicher Mensch wäre.‹ Er kommt damit hinaus auf das Ideal des Gottesstaates ... Die politische Weisheit des Konfuzius, der Kirchenväter, der buddhistischen Orden usw. versucht, der Masse das eigentliche Auswerten zu unterbinden und die Beurteilung einem kleinen Kreise Auserwählter, aber streng Verantwortlicher zuzuweisen, indem durch strengere Kastenzucht, peinliche Standesehren, Prüfungen, Zölibat, religiöse Übungen eine Ausschließlichkeit von führenden Geistern gezüchtet wird, der φύλακες des Plato, der Heiligen des Augustin. Dieser Versuch ist in der Wirklichkeit zwar überall mißbraucht oder entartet, dennoch leitet ihn das richtige Prinzip, denn der Mensch im Durchschnitt, verkümmernder Sklave der Notdurft, wartet im Grunde seines Herzens nur darauf, daß ein höherer oder stärkerer als er selber komme und ihm sage, was er denn nun eigentlich mit sich und seinem kurzen Leben anfangen solle. Er wird daher heute ›Es lebe der Volksstaat‹ und morgen ›Es lebe der Cäsar‹ schrein, wird jeder Kraftentfaltung anheimfallen, wird sich nach der Seite des jeweils stärkeren Druckes neigen und jeder Regierung gehorchen, die ihm panem et circenses Kartoffeln und Kientop. sichert. Er wird alles, aber auch alles ertragen und sich aufbürden lassen, wofern ihm der fromme Glaube erhalten bleibt, das müsse nun einmal so sein, denn so sei es Naturgesetz, Schicksal, Vorbestimmung, Gottes unergründlicher Ratschluß, historische Notwendigkeit. Und dem ist gut so! Denn fürchterlich wird der arme, notige Sklave erst dann, wenn er herausbekommen hat, daß es keine historischen Gesetze gibt (außer dem Gesetz seiner Dummheit), denn jetzt will er die Sache in die Hand nehmen; aber seine Dummheit ist unheilbar.
Was also soll der geistigere Mensch in politischer Geschichte? Er mag in seltenen Fällen stark genug sein, um die Menschen wider ihren Willen und ihre Einsicht zu ihrer eigensten Glückseligkeit zu benützen, in der Regel aber steht er völlig ohnmächtig gegenüber Gewalten, denen nie der Einzelmensch Selbstzweck, sondern nur Mittel ist für Irgendetwas. ... Von jeher war alle politische Moral, alle öffentliche Tugend, alle nur soziale Gerechtigkeit nur eine Verkleidung für Geschäftsabsichten und Hoffnungen auf Vorteil; ja die ganze soziale Ethik selber ist nichts als Glücks-, Nutz- und Machtgeschäft, und umgekehrt wird dort, wo ein gutes Geschäft abgeschlossen wurde, von hinterdrein die Sinngebung und Versinnlichung ( logificatio und dignificatio) nicht lange auf sich warten lassen. War denn der Krieg Amerikas gegen Spanien, war der Burenkrieg Englands, war der deutsch-chinesische Krieg bei Licht besehen, mehr als eine schnöde Nichtswürdigkeit? Waren Frankreichs Einfall in Marokko, Italiens in Libyen, Deutschlands in Belgien nicht richtige Räuberstücke? Ist Englands Herrschaft in China, Indien, Ägypten nicht eine lange Kette politischer Ruchlosigkeiten? Aber getrost! Wenn das Geschäft glückt, so ist es auch gerechtfertigt! ... Revolution, Konfusion, Reaktion – das ist der ewige Kreislauf der sogenannten Weltgeschichte! So war es, so ist es, so wird es bleiben bis der Zusammenprall der armen Erde die unglückselige Menschheit zur Ruhe bettet.
Welcher Denker könnte wohl daran zweifeln, daß die alten Revolutionsideale: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, daß die endgültige, folgerichtige Abrechnung mit dem weltbeherrschenden Kapitalismus, daß die volle Einheit und Gemeinsamkeit des Bodens und der Produktionsmittel für alle das einzig menschenwürdige Ziel jeglicher Politik sein sollte?!
Nun aber kann die Wirklichkeit des politischen Lebens immer nur bescheidene Abfindungen in der Richtung auf dieses letzte Ziel offenbaren. Denn sie hat es mit Menschen zu tun, das will sagen mit Wesen, welche herb und derb gesprochen, in drei Gruppen eingeteilt werden können: die erste kommt grade aus dem Zuchthaus, die zweite kommt morgen hinein, und die dritte hat Glück gehabt.
Man darf zudem nicht vergessen, daß das Historisch-Politische zweiten Ranges ist. Ob nämlich die Verfassung eines Staates imperialistisch oder republikanisch, konstitutionell oder syndikalistisch ist, das entscheidet nur darüber, welche Bevölkerungsgruppe die Machtmittel in Händen hat, (ob Soldaten, Priester, Bauern, Händler, Arbeiter); daß aber diese Machtmittelverteilung ›richtig‹ und ›gerecht‹ sei, das kann nie durch Interessenpolitik, (und alle praktische Politik verfolgt mit vollem Recht nur ein bestimmtes Interesse!), gewährleistet werden.
Die gesamte Zweckwirtschaft der sogenannt zivilisierten Völker, die ganze Arbeiter- und Kaufmannschaft, zu der auch die Arbeiter und Kaufleute des ›Geistes‹ gehören, ist insgeheim längst darüber klar: Kommen Revolutionen, so spielen wir eben das Spiel: ›Alle Bäumchen wechseln sich.‹ Alle Ungerechtigkeiten und Unrechtmäßigkeiten der wirtschaftlichen Unterschiede bleiben! Aber es findet eine große Umschichtung der Machtmittel statt, auf welche die alles-könnende und alles-ausnützende ›praktische Intelligenz‹, das heißt sämtliche Gewinnmacher, Glücksritter, Praktiker und Rechner der Erde im Nu und auf der Stelle sich einrichten werden. Dabei rufen sie: ›Freie Bahn dem Tüchtigen!‹ Aber was besagt das, solange man unter ›tüchtig‹ und ›Tüchtigkeit‹ nichts versteht als den Besitz derjenigen Tugenden, welche in einer Welt allgemeiner Gesinnungslumperei zum Erfolge, zum Anerkanntwerden und Sichdurchsetzen verhelfen. Ach! die Erde hat schon zahllose politisch-historische Umwälzungen erlebt, alle unter dem Drucke der Not, des Hungers oder der Bajonette. Wann erlebt sie die große Revolution unter dem Drucke der verwandelten menschlichen Herzen?
Man kann erwidern, daß eine politik feindliche Geschichtsanschauung wohl eine gute ›Philosophie‹ (für pflanzenhaft dahinlebende Bettelmönche oder kouponabschneidende Junggesellen), nie aber die ›sozialpädagogische‹ Lösung verspreche für diejenigen Lebensnöte, welche die arme, große, sich fortzeugende, um Nahrung und Freude besorgte Masse so schwer und so unheilbar seit je und immerdar bedrücken.
Was aber beweist das? Es beweist nur, daß man den Gesichtspunkt der politischen Förderlichkeit von vornherein zum Maßstab der Wahrheit machte. Vgl. in der Wertaxiomatik die wichtige Notiz über das Verhältnis von Leben und Wert S. 112 f.
›Der Staat geht dabei zugrunde.‹ – Ist die Existenz des Staates das zweifellos wünschenswerte Geschichtsziel?
›Das Menschengeschlecht hört zu bestehen auf.‹ – Ist die Existenz des Menschengeschlechtes die um jeden Preis festzuhaltende Norm der Erkenntnis?
›An solchen Anschauungen ist Athen, ist Rom, ist das Reich Alexanders untergegangen.‹ – Handelt es sich für Menschen darum, daß Athen, Rom, das Reich Alexanders oder sonst ein Geschichtsgebilde durchaus bestehen bleibe? Nein! Die entscheidende Frage lautet: ›Ist der Mensch vor oder nach dem Untergang von Athen, Rom, Deutschland, England, Rußland usw. glücklicher, besser, gesunder, reicher, freier geworden?‹ Das gilt auch für den unsinnigen historisch-politischen Aberglauben, daß Völkerwachstum, Menschenmehrung, Geburtenüberschuß ohne weiters der erstrebenswerte Reichtum der Nation sei, wobei man die Einzelexistenz als funktionellen Nutzfaktor in die bis zum Fetischismus verehrte staatliche Präzisionsmaschinerie einstellt. (Wertaxiomatik S. 107 f.)
Es besteht nun einmal die unvermeidliche und ganz unheilbare Gegensätzlichkeit zwischen den im Ich wurzelnden, eigenbezüglichen, religiösen und ästhetischen Einstellungen und den moralischen, sozialen, politischen, die das Einzel-Ich zuletzt zum Opfer objektiver Wertsphäre machen. Die seelischen Grundlagen behandelt unsre Ahmungspsychologie. Ein sehr lehrreiches Beispiel dieses uralten Gegensatzes sieht man in Asien am Gegensatze des Laotse und Confutse.
Die Auflösung dieser Gegensätzlichkeit kann nur die sein, daß das umfassendste Ich eben auch als letztes Ziel von Politik zu betrachten ist, so daß nicht der Mensch Material für Staatengeschichte, sondern Staatengeschichte der Mutterboden für das zu höchst entwickelte Ich ist, als welches nicht bloß Träger von Kulturen, sondern die naturgewordene letzte Blüte der Kultur und mithin die Kultur selber ist. Nur so kann der Anspruch des Lebens gegenüber der Selbstherrlichkeit objektiver Wertforderungen gewahrt werden.
Dieser unsrer Auffassung liegt es freilich ganz ferne, die ästhetische Selbstsucht, die religiöse Tatlosigkeit, das mystisch-kontemplative Hindämmern und die genießerische Bequemlichkeit von Luxus- und Elite-klassen (welche Art ›besondere Menschen‹ übrigens in der Regel grade Redeblumen wie ›soziale Arbeit‹, ›tätiger Geist, ›Ethik‹ usw. im Munde führen) theoretisch zu rechtfertigen. Übrigens ist für die Mönchsethik der Zustand reiner Kontemplation grade die letzterreichbare Willensaktivität.
Unser A und O ist nicht ein erfahrbares Ich! Sondern nur dies wird behauptet, daß alles politische und historische Leben völlig sinnlos wäre, wenn es nicht an die höchste Erfüllung im Einzel-Ich eingestellt würde, deren Verwirklichung eben nur auf dem Wege weitester Politisierung und Sozialisierung zu erwarten steht.
Gesetzt also, ein Staatengefüge, eine Nation träfe der Fluch, daß grade ihre freien und großen Seelen verkrüppeln, verbiegen, verkümmern müßten, so würde die glänzendste Weltherrschaft und Machtentfaltung dieser Volkheit dennoch nur ein Unglück sein.
Ich mag in diesem Zusammenhange nicht reden von alle dem Leiden, das die Edelsten und Reinsten, welche Deutschland hervorbrachte, an ihrem Vaterlande erlitten haben; mußten sie sich doch freuen, wenn ihnen nur das nackte Leben im Dunkel gedrückter und untergeordneter Lebensstufen gegönnt ward und wenn man sie nicht grade zu Tode geärgert oder zu Tode gehungert hat. Und wenn sie in diesem Kampf um bloße Erlaubnis, Selbstzusein, sich nicht aufrieben, sondern in einigen seltenen Fällen, wie man bezeichnenderweise sagt, ›sich durchsetzten‹, so haben sie mit Aufgebote eines ganzen Lebens nicht mehr erreicht, als was zu der Zeit, wo sie begannen, gerechterweise sie nie hätten entbehren dürfen.
Es hieße die Erfahrungs-Natur der Erdenwelt und ihrer Geschöpfe vollkommen verkennen, wollte man Werte und Ideale, welche menschliche Vernunft aufrichtet, (indem sie mittelst ihrer das Lebendige zu Wirklichkeit umdenkt und den endlosen Lebenswerdedurst der Erdgeschöpfe am Geiste stillt und vernichtet), so betrachten, als wären sie selbst aus Naturbedürfnis ableitbar oder im Natürlichen gegeben.
Die Natur ist Hunger (Tanach !) Nichts anderes! Will man also den natürlichen Menschen packen, so packe man ihn beim Nahrungstrieb oder allenfalls beim erweiterten Nahrungs-, dem Geschlechtstriebe. Der gemeine Mensch hat Ehrfurcht vor dem Verhungern, sonst aber verehrt er gar nichts! Denn alles andere ist nur ein durch Angst und Zwang mählich auf dem Leben aufgetürmter idealer Oberbau, der wieder zusammenstürzt im Augenblick, wo Angst und Zwang, Kirche und Staat preisgegeben werden. In einer Raubtier- und Räuberwelt nützen die Weisheits- und Entsagungstugenden niemandem, sondern einzig die heroischen Tugenden des Krieges und des Kriegers. Niemand mache sich vor, daß christliche, brahmanische, buddhistische Ethik jemals praktisch politische Wirkung haben können. Sie sind, wie alles Höchste, vollkommen unpolitisch. Und werden in alle Ewigkeit vollkommen unpolitisch bleiben.
Man muß also wissen, ob man in der furchtbaren Welt der Not und des Neides bis zum Ende ausdauern will. Und will man es, so muß man seinen Mann stehn.
Nun aber bricht aus dieser Welt des Krieges aller gegen alle als ihre eigene Voll-Endung ihre eigene Verneinung hervor.
Eine brahmanische Legende gibt dafür ein tiefsinniges Gleichnis. Der weiseste Brahmane liegt schwer leidend in Todesnot. Da kommt Indra und spricht: ›Du kannst dein Ich retten, wenn du wünschest, daß statt deiner dein Feind leide.‹ ›So nimm das verworfenste Geschöpf als Stellvertreter,‹ bittet der Brahmane. Indra wählt die Giftschlange. Als aber der Heilige die Schlange leiden sieht, ruft er: ›Wähle ein Geringeres zum Stellvertreter.‹ Indra wählt nun das niederste Insekt. Aber auch dieses Mal ruft der Heilige, als er des Insektes Leiden sieht: ›Wähle ein noch Geringeres.‹ Und so wird die ganze Kette der untersten niedrigsten Lebensstufen durchgenommen, aber immer wieder erkennt der Heilige, daß er selber unerlöst bleiben muß, solange noch irgendetwas um seinetwillen leidet. So spricht er zuletzt das schlichte Gebet des Brahmanen: ›Mögen alle Wesen schmerzfrei sein.‹ Da ruft Indra: ›Steige zu mir empor, sonst zwingst du mich zu dir hernieder.‹
In dieser Legende ist der einzig mögliche Imperativ aller Ethik niedergelegt, die Forderung: Mindere das Leiden! Schopenhauer formuliert das oberste Gesetz aller echten Moral so: ›Du sollst nicht wollen‹; da aber wollen bei ihm so viel wie leben ist, so heißt das, ›du sollst nicht leben‹.
Man kann die gesamte politische Vernunft des Menschengeschlechts als eine gegen die Not und das Leiden geschaffene Zurüstung betrachten, womit denn freilich gesagt ist, daß das Ziel aller Politik und Geschichte zuletzt eben nur – Erlösung von Politik und Geschichte sein kann.
Wir haben den hier dargelegten Grundgedanken (den Kern der ›Philosophie der Not‹) wiederholt an einem bestimmten Gleichnis erläutert. Schopenhauer, Wagner, Nietzsche c. VIII. Es sei hier noch einmal wiedergegeben.
Man hat festgestellt, daß die Bildung der Perle im Gewebe der Muschel durch eine gefährdende Milbe veranlaßt wird, indem der selbe Krankheitsprozeß, der die Perle entstehen läßt, auch dazu dient, die Muschel von ihrem Krankheitserreger zu befreien. Ein zweites Gleichnis für diesen systematischen Kerngedanken bietet die physiologische Tatsache, daß die Atmung, also der gesamte Lebensprozeß, durch Bildung der tödlichen Kohlensäure unterhalten wird, welche ebenfalls als todbringender Eindringling betrachtet werden kann, den der Organismus ausscheiden muß, so daß der selbe Apparat, der dazu dient, ihn aus dem Körper zu entfernen, andrerseits grade dem Vorhandensein des Fremdstoffes seine Entstehung verdankt. ... Ich gebe endlich für meinen systematischen Hauptgedanken noch ein drittes Gleichnis. Die beste Birnensorte, la duchesse, wird dadurch gewonnen, daß man dem Stamm oberhalb der Wurzel schwere Verletzungen beibringt. Das veranlaßt ihn zu erhöhter Saftbildung, die sich in den Früchten sammelt. Sobald die Früchte abgenommen werden, geht der Baum ein.
Was besagt dieses Gleichnis?
Wenn die gesamte wertbildende Arbeit irdischer Vernunft auf Überwindung von Lebenshemmungen hinauskommt, so ist andrerseits das Leiden und die Hemmung selber die auslösende Ursache alle der wertebildenden Arbeit, so daß man sagen kann, daß die Bewußtseinswirklichkeit zwar aus der Not des Lebenselementes gespeist, gleichwohl in der Erlösung von dieser Not ihr Ziel besitze, dessen Erreichung mithin auch das Erlöschen der Bewußtseinswirklichkeit selber wäre. Wo immer Wert im Leben erwacht, da beginnt schon die Lebensminderung. Der Brahmanismus, die größte aller Lebensreligionen ward zur Wertreligion Buddhas, und damit zum Grenzfall der Lebensverneinung. Sokrates führt die Ethik ins Griechentum ein und das Griechentum stirbt. (III c. XVII)
Giovanni Battista Vicos › Principi di una scienza nuova d’intorno alla commune natura della nazioni‹ vom Jahre 1725 war wohl das erste Buch, welches die Lehre vom notwendigen Zusammenhang in der Geschichte als wissenschaftliche Überzeugung vortrug.
Vicos Kerngedanke war der: daß alle Geschichte, von Natur aus, gesetzmäßige und rhythmische Abfolgen und durch diese hindurch Verfalls- und Blütezeiten, Alter- und Jugendkulturen der Völker offenbare.
Auf diesem Gedanken baute Montesquieu seine ›Betrachtungen über die Größe der Römer und ihren Verfall‹ (1734) und Voltaire seinen ›Versuch über die Sitten und den Geist der Völker‹ (1756). Ihnen folgten die nicht minder einflußreichen Betrachtungen der Bossuet, Duclos, Volney und Condorcet, bis der Gipfel alle dieser Lehren vom ›Historischen Fortschritt‹ von der Geschichtsphilosophie Auguste Comtes erreicht wurde, deren Drei-Stufen-Gesetz (1847) mit grotesker Komik drei ihrem Wesen nach verschiedene Einstellungen zur Welt, die mythische, die metaphysische und die positive, als drei einander in der Zeit ablösende und explizite verdrängende Stufen der Entwicklung verkündete, von denen die letzte endlich in der herrlichen ›Jetztzeit‹ erreicht worden sei. Man könnte meinen, daß die Drei-Stufen-Betrachtung in einer logischen Vorform begründet sei, denn immer wieder tritt sie auf, bei Turgot, bei Saint-Simon, bei Comte, bei Vico, bei Herder, bei Hegel, bei Schelling, Krause und Baader.
Diesen geschichtsphilosophischen Werken der Franzosen gesellten sich manche verwandte Schriften der Engländer, unter denen besonders Buckles Geschichte der Civilisation in England (1860) und Leckys ›Geschichte des Geistes der Aufklärung‹ (1865) noch heute ihre wohlverdiente Wirkung bewahrten.
In diesen englischen Geschichtswerken lebte und webte der selbe Gedanke des Fortschritts, welcher in den Naturwissenschaften, an die Namen Darwin und Spencer anknüpfend, von 1860 bis 1900 die allbekannten und gerühmten Hypothesen über Abstammung und Stufenfolge der Pflanzen und Tiere gezeitigt hat.
Auch in Deutschland hatten Lessings ›Erziehung des Menschengeschlechtes‹ (1780) und Herders ›Ideen zur Geschichte der Menschheit‹ (1784) den Entwicklungsgedanken zum Gemeinplatz der Geister gemacht und seither blühte der Glaube an Sinn und Wert im sinnlichen Lebensspiel: Natur und Geschichte.
Gewisse ›Kulturideale‹ gingen, während des 19. Jahrhunderts, mit dem Geschichts- und Fortschrittsaberglauben Hand in Hand.
Berauscht von nützlichen Findungen und Erfindungen, Leistungen der Technik und Aufschwüngen der Gewalt, von ungeheuren Völkervermehrungen berauscht, räumte Europa das Schwergewicht christlicher Symbole und religiöser Mythen beiseite bis auf einen Glauben, den Glauben an ›Historischen Fortschritt‹: Vom Plattwurm zu den Stachelhäutern, von Stachelhäutern zu Tintenfischen, von Tintenfischen zu Kriechtieren, vom Kriechtier über das Schnabeltier zu den berühmten Professoren und Zivilisationsliteraten in Amerika, England und Deutschland, welche sich in die neuen Götter der Erde zu wandeln im Begriffe standen. Dieser Glaube (Deszendenztheorie, Evolutionslehre, Selektionsgesetz, Anpassungsprinzip) beherrschte die Weltanschauung der letzten Geschlechter. Welche Wunder hat er gewirkt?
Das Lebendige auslaugend, bis als toter Ertrag die sachliche Kette von Ursache und Wirkung übrig bleibt, setzte Europa die Welt der gedachten Geschehnisse und der objektiven Werte an Stelle unfaßlich-elementaren Lebens, die Orientierung im Lebenselemente mit dem Leben selber vertauschend und viel darauf haltend, daß man nun die sogenannte objektive Wirklichkeit oder Wahrheit hinter der Welt der bloßen Erscheinung endgültig gefunden habe. Denn der wissenschaftliche Mensch, Logiker und Mechanist, entwöhnte sich des einmaligen nur in Vision gegenwärtigen Lebens und vertauschte Lebendiges mit jener verblaßteren Nutzungswelt der ›Gegenstände‹, die wir Ursachen von Sinnenschein nennen und die doch nichts sind als unsres Sinnenscheins blutleerere Wiederspiegelung. ›Europa und Asien S. 88 f.
An Stelle zeitloser Dauer traten nun mechanische Reihen der Zeit. Das Wissen über ... wurde mit Leben selber verwirrt, und in endloser Folge erschien eine Kette beherrschter Bewußtseinswirklichkeit am Leitfaden: Ursache-Wirkung, sei es in Raum, sei es in Zeit aneinandergereiht. Das ist der Menschheit gewaltige Wirklichkeitswelt, gewaltige Bewußtseinswirklichkeit, auf Kraftersparnis aufgebaut, auf ›Willen zur Macht‹.
Europa hat die fruchtbarste aller Ideen: den Fortschritt, zu einem realen in der Zeit verlaufenden Vorgang der Geschichte verbogen.
Europa vertauschte ein Ideal mit Erfahrungstatbeständen und wähnte die menschlichen Wünsche aus Wirklichkeit bestätigen zu können, aus Wirklichkeit, die doch vom Wunsche – gewebt wird!
Das letzte Denken des asiatischen wie des antiken Menschen dachte die auch das Leben hinter der in Raum, Zeit und Ursächlichkeit erscheinenden Bewußtseins- und Willenswirklichkeit umfassende Substanz als zeitlos beharrend unwandelbares Sein. τὸ ὂν γένεσιν οὐκ ἔχον.
Erst die Neuzeit, die man das Zeitalter der Entdeckung des Menschen genannt hat, wurzelte in dem Bestreben, in das Unwandelbare die auf Menschen zugespitzte, im Menschen gipfelnde Entwicklung hineinzutragen und nur in Zeitform denkbare Vorgänge (Wille, Energie, Bewußtsein usw.) in den metaphysischen Urgrund einzubaun.
Schon das Mittelalter schwärmte für den Gott, der sich der Welt einverleibte, um aus ihr heraus sich selbst gebären und im Haupte des Menschen vom Stoffe befreien zu können. Und wie damit schon der Sinn (Logos) im natürlichem Geschehnis auch der tatlos-duldenden Menschenwelt innewohnend schien, so versicherte die Philosophie des 18. Jahrhunderts, in Deutschland an die Namen Wolff und Leibniz anknüpfend, daß der ›Weltprozeß‹ voller Ordnung, ja ein richtiger Aufstieg zum Geiste und Gotte hin sei.
Die Erbin dieser uralt rationalen optimistischen Metaphysik wurde der Hegelsche Historizismus, der Darwinische Evolutionismus, sowie die Weltanschauung der Physik, welche die Rechenmünze der Mechanik, die wir Wirklichkeit nennen, mit dem formend schöpferischem Leben und beides, Leben und Wirklichkeit, mit dem dritten raum- und zeitlosem Bezirke Wahrheit untermengt. Demgegenüber galt es neue Scheidung und Unterscheidung. Denn wir erlitten den Zusammenbruch der abendländischen Fortschrittswirtschaft und Entwicklungsphilosophie.
Wer die Jahre 1914 bis 1918 wachen Sinnes erlebt hat, der weiß, was er künftig von Entwicklung und Fortschritt in Natur und Geschichte zu halten hat.
Äußerte sich ein Abflauen und Ermatten gestaltender neuausbauender Lebenskraft des Abendlandes in dem Wahn, Idee sei entwirkt, Illusion sei unnütz, wenn sie nicht reale Tatsache, sondern Forderung zu Tat offenbare?
Oder wird erst Fortschritt und Entwicklung erblühn, wenn Entwicklung und Fortschritt aufgehört haben, natürliche und historische Gegebenheit zu sein?
Eine neue Art Geschichtsschreibung und Geschichteschreiber ertagt uns.
Man pflegte bisher Gegenwart aus Vergangenheit zu deuten, ja man wünschte sogar das mühevolle und ans Kleine verlorene Durchstöbern aller Vergangenheiten damit zu rechtfertigen, daß man nur dank des ›historischen Studiums‹ die Zukunft vorausschauen und die kommenden ›Entwicklungen‹ und ›Fortschritte‹ des ›Menschengeschlechtes‹ richtig beurteilen könne (wofür Auguste Comtes flache Formel › voir pour prévoir‹ besonders kennzeichnend ist); – wir aber wünschen gar nicht diese vergangenheitslüsterne oder zukunftdeuterische Geschichte, denn wir sehen eine Geschichtswissenschaft voraus, die nichts mehr ist und nichts mehr sein will als ewige Gegenwart und alles Vergangene nur noch begreift als einen Mythos, den das immer-gegenwärtige Leben mit seinem Blute beseelt, wie Odysseus die Schatten der Unterwelt. Diese Geschichtsschreibung sagt nicht mehr platt-zuversichtlich: ›So war es!‹, aber sie sagt reinen Gewissens und stolz fordernd: ›So soll es gewesen sein.‹ Denn das Lebensgegenwärtige ist nicht nur – o tiefe Wahrheit! –- immer ein Erbe, ein Kind, eine Frucht der Vergangenheit (ihr glückliches oder unseliges Ergebnis), sondern auch das Umgekehrte ist wahr, daß die Geschichte der Vergangenheit der Gegenwärtigen Erbe und Frucht ist, die Wiederspiegelung und Rechtfertigung ihres Lebens, ihr Sinn und ihr Unsinn, die Verlegung ihrer Tugenden und Werte auf die Ebene der Zeit, so wie in China, wenn ein Mann geadelt wird, zugleich seine verstorbenen Vorfahren in den Adelsstand kommen. Sind wir groß, so haben wir auch große Vergangenheiten und können von unserm Überreichtum ganze Jahrhunderte zehren lassen, denn es gibt nichts Kleines; erscheint uns das Gewesene klein, so gebricht es uns an Kraft der Liebe und Selbstliebe.
So ist also nicht nur die vergangene Geschichte die Vorbedingung der gegenwärtigen, sondern das Immergegenwärtige ist Vorbedingung für die Geburt und Neugeburt der immer wieder umgebauten, umgeschauten Vergangenheit. Auch die Vergangenheit ist somit nichts als Gegenwart, wie die ganze leuchtende Welt der Farben in nichts versinken müßte, wenn kein Auge da wäre, um zu sehen. Es ist nicht nur die gegenwärtige Geschichte die Keimzelle einer künftigen, nein, es ist auch die Zukunft, das will sagen der Aufriß zum ferneren Leben der Erde, der Grund dafür, daß die Gegenwart das ist, was sie ist; niemand kann größer werden, als seine Ideale es verstatten.
Hat man dieses große Geheimnis des Enkel- und Ahne- und Selbst-Seins zugleich und in einem, erst einmal durchschaut, dann versinkt der ganze Trug der gradlinigen Ursachszusammenhänge und Entwicklungsketten von ›Kultur‹ oder von ›Kulturen‹.
Jede dieser vermeintlichen Kulturen wird immer wieder neu und anders unter dem Auge jeder folgenden, unter dem Auge der Liebe oder des Zorns, der Verwandtschaft, Ehrfurcht, Hingabe, des Zweifels oder des alles betastenden Verstandes; neu und anders im Gedächtnis des begeistert Eingeweihten oder des draußen stehenden Kritikers, und gewiß sind an Tatsachen und Menschen der Geschichte noch ungeheure und fast fabelhafte Neugestaltungen, Umprägungen, Zurechtlegungen, Religions- und Mythenbildungen möglich (aus Liebe, aus Stolz, aus Rausch, aus Bildnerkraft und Dichterschaufreude oder auch aus dem Scharfblick des Neides, der Bedürftigkeit, der Sehnsucht), von denen wir mit unsrer lächerlichen, einen politischen Maulwurfshügel rechtfertigenden Wirklichkeitswissenschaft, genannt ›Weltgeschichte‹, noch gar nichts ahnen. Sie schlafen noch wie Dornröschen die vergangenen Zonen und Zeiten hinter tausendjährigen Rosenhecken und der Kuß des Prinzen kann sie zum Leben lösen. Denn es war nicht ein Hellas, ein Rom, ein Weimar, ein Boston, sondern von aller Geschichte gilt Schillers Wort, daß sie sich nie begeben hat und – immer. Es sind die selben Kräfte der Seele, welche Religion erdichten und Geschichte; immer wieder gestalten sie des Menschen Götter und Teufel, und dem Reichsten wird am meisten gegeben. Alles Wirkliche möchte zu Wahrheit, alle Natur zum Mythos werden. Denn das ist das Höchste, was der Mensch auf Erden erreichen kann, daß ein anderer ähnlicher ihm nachleben und in seinen hinterbliebenen Lebensspuren sich selber suchen und wiederfinden und ehren wird. Da wird er denn seinen Glauben und seine Sehnsucht, seine Enttäuschungen, Nöte und Verzweiflungen, Hoffnungen und Aufschwünge wie in einem Spiegel erblicken und an das Gedächtnis längst versunkenen Daseins knüpfen und somit das immer bruchstückhaft zurückgelassene und unerfüllte, weil unerfüllbare Erdenleben als Geschichte zu Ende dichten, gleichgültige Wirklichkeit in stetsgültige Wahrheit wandelnd. ›Seht,‹ so scheint jede hinterbliebene Wesensspur zuzurufen, ›hier ist der Ton und die Melodie zu tausend Gedichten, denkt und gedenkt mich zur Vollendung.‹
Hier enden die geschichtskritischen und geschichtspsychologischen Untersuchungen. Es bleibt übrig die Würdigung von Geschichte als einer außer- und übernatürlichen, den Gewalten des Glaubens verschwisterten Lebensmacht.