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Die beiden Kategorien der Geschichte, die bisher von uns betrachtet worden sind, nämlich Identität (›das historische Subjekt‹, ›die imaginären Kräfte‹) und Kausalität (›die historische Motivation‹) sind Geschichts- und Naturwissenschaften gemeinsam.
Auch in den Naturwissenschaften muß stets ein Träger mitgedacht werden, an welchem Vorgang, Bewegung, Zeitfolge vorgeht oder abläuft; und zwar wäre es vollkommen unmöglich, das eine ohne das andere zu denken, etwa eine › reine Tätigkeit‹ ohne Gegenstand, oder Gegenstände und Substanzen ohne Funktionen. Nur ein Vorurteil gegen das, was man in Europa ›Dualismus‹ nennt und für monistische und pantheistische Phantasmen, hat, alle Dämme der Erkenntniskritik durchbrechend, die beiden untrennbaren Kategorien Substanz und Funktion (Identität und Kausalität) auseinander gerissen und allerlei unbewußte Metaphysiker, die sich auf Bekämpfung dessen, was sie Metaphysik nennen, viel zugute tun, in der ›Jetztzeit‹ zu Ehren gebracht.
Diese unbewußten Metaphysiker philosopheln nun seither von Vorgängen ohne Vorgangträger; von Prozessen, Funktionen, funktionalen Beziehungen, Aktivitäten, welche sozusagen im luftleeren Raum hängen, von Bewegungen, Aktionen, Taten (Worten, die besonders seit Fichtes Geschichtsorakelei sehr beliebt sind und in der deutschen Philosophie nie ohne Pathos gebraucht werden), ohne daß man weiß, was denn nun eigentlich lebt, tutet und tatet und woran denn eigentlich ›Bewegung‹ vorgehn solle.
Hierher gehören die ›psychischen Akte‹ ohne psychisches Substrat, die ›seelischen Vorgänge‹ ohne Vorhandensein einer Seele, von denen Wilhelm Wundt fabelt oder die Fabeleien Wilhelm Ostwalds von ›reiner Energetik ohne Energie‹ und von ›energetischen Prozessen ohne Substanz‹; nicht minder endlich die schiefe ›Aktivitätstheorie‹ Ernst Machs und ihr Gerede von psychischen Akten ohne Ich. ... Solche Geister verstiegen sich aus Abneigung wider alles Denken von Substanz und Substrat zu wahren Ungeheuerlichkeiten. ...
Diesen Modelehren gegenüber halten wir nun daran fest, daß mit jeder Bewegung auch ein Etwas gedacht wird, das sich bewegt oder woran Bewegung vorgeht, und daß dementsprechend auch in der Geschichtswissenschaft zugleich mit der geschichtlichen Kausalität auch ein historisches Subjekt gedacht wird und daß nie das eine ohne das andere gedacht werden kann.
Zu diesem einen Substantivum der Geschichte treten dann freilich viele Substantiva zweiter und dritter Ordnung (die ich § 13–15 die ›imaginären Kräfte‹ genannt habe), als weitere Modi der einen Kategorie: historisches Subjekt; so auch sind in der Naturwissenschaft sogenannte Naturkräfte nur Modi des einen apriorischen Begriffs ›die Natur‹; und diese Parallele ließe sich leicht ins einzelne ausführen, denn, wie man der Natur Kräfte und diesen Fähigkeiten, Eigenschaften, Anlagen usw. zuschreibt, so läßt man das geschichtliche Subjekt in immer neue Untersubjekte zerfallen, als da sind: Staaten und Völker, Parteien und Sekten, Kirchen und Verbände, allesamt kategorial und niemals als Inhalt von Geschichte gegeben.
›Gott aber sprach: Du wirst nie mein Angesicht erblicken, sondern wirst mich sehen, wenn ich vorübergewandelt bin.‹
2 Mose 33.
Das Verhältnis von Vorgang und Vorgangträger ist in allen mechanischen, d. h. einer mathematischen Übermächtigung und Formulierung zugänglichen Wissenschaften derart, daß ein Substanzielles gedacht wird, an welchem Bewegung in Form einer Funktion abläuft; überall dort aber, wo Leben erfaßt werden soll, da versagt der mechanistische Gedanke des Vorgangträgers und der an ihm ablaufenden Funktion. Denn Mechanik und damit Wissenschaft überhaupt ist das Mittel zur Übermächtigung des Lebens, d. h. zur Orientierung über ...; die Wiedergabe des Lebendigen selber aber ist der Wissenschaft gänzlich versagt. Die Geschichtswissenschaft steht dem Ideal des exakten Wissens daher im selben Maße fern, als es zuletzt unmöglich ist, geschichtliche Vorgänge restlos als Vorgänge zu denken, die an geschichtlichen Subjekten (handle es sich nun um Volksgruppen oder Einzelpersonen) vorgehn, denn die Subjekte der Geschichte sind in der Geschichte selbst lebendig, oder anders gesagt: der historische Prozeß an sich erschöpft sich in seinem Selbstlebendigsein und ist nicht etwa noch außerhalb seiner.
Zur klaren Verbildlichung des in Rede stehenden Verhältnisses möge man an das Gleichnis einer Lawine denken, welche einen steilen Abgrund ins Unendliche hinabrollt, dabei beständig sich umwandelnd, d. h. immer neue und andere Stoffmassen in sich aufnehmend und das, was sie zuvor war, mit diesem neuen Stoffe durchdringend. Was also ist die bleibende Substanz dieser Lawine? An welchem Subjekt geht der Vorgang vor? ... Nach Analogie dieser Lawine, die in rastloser Bewegung aus beständig neuen Stoffen gebildet wird (in jedem Zeitintegral eine andere, alles Neuaufgenommene sofort mit der gesamten Masse ihres Stoffes durchdringend und diese gesamte Masse beständig verändernd), nach dieser Analogie denke man das Ansich der Geschichte.
Man kann somit keineswegs behaupten, daß Zeit und Zeitfolge am historischen Sein ablaufen (so wie eine Welle an einem Felsen abläuft), da ja die Zeit und alle Zeitfolge an sich Zustände im historischen Sein oder besser gesagt des historischen Seins und jederzeit ganz in ihm beschlossen sind. Darum eben entzieht ein lebendiger Vorgang des Wachstums oder Sich-Abwandelns sich jeder mechanistischen Formulierung. Das aber heißt: Die Unmittelbarkeit lebendiger Vorgänge widersteht durchaus der wissenschaftlichen Übermächtigung. Die Geschichte als Wissenschaft ist eben nicht unmittelbare Offenbarung, sondern nur reflektives Analogon gelebten Lebens.
Nur dort, wo man innerhalb des Lebendigen orientieren will, kann man im strengen Sinn wissenschaftlich verfahren, d. h. mit einem Bereich durchaus hypothetischer gedanklicher Symbole rechnen. Das Lebendige selber und jegliche Übersetzung von Erlebnis in die Form geglaubter Bewußtseinswirklichkeit enthält dagegen ein unauflösbar irrationales oder besser gesagt arationales Element. Darum nennt man den Teil der Naturwissenschaft, der niemals Wissenschaft (im strengen Sinne) werden kann, im Deutschen sehr fein Natur geschichte; mag im übrigen die Grenze zwischen prähistorischer und historischer Geschichte, Geschichte menschlicher Kulturen oder Geschichte von Naturgebilden noch so notwendig und wesentlich sein.
Man gebraucht für den hier in Rede stehenden, allem Leben im Gegensatz zum Mechanisch-Toten eigentümlichen Tatbestand ein seit lange vielgemißbrauchtes Wort, nämlich das Wort: Entwicklung.
Geschichte, im eigentlichen Sinn, kann nur ein Etwas besitzen, das sich zu entfalten, d. h. aus sich selbst oder seinem Wesen heraus sich zu entwickeln vermag. Daher spricht man nur in übertragenem Sinn, z. B. von der Geschichte eines Felsblockes, indem man alles das aufzählt, was im Laufe der Jahrhunderte an dem Felsen und in seiner Umgebung vor sich ging, während dieser selber doch unverändert dalag und keine Geschichte hatte. Dagegen sagt man z. B. mit Recht ›Bücher haben ihre Geschichte‹, denn man meint mit Geschichte eines Buches keineswegs etwa mechanische Vorgänge an Einband, Papier, Drucklettern usw., sondern das Schicksal der Gedanken, die durch die mechanische Sphäre der Lettern hindurch fortwirken, gleich hinter dem Stoff fortzeugenden lebendigen Kräften. Jederzeit können die Gedanken eines von keinem verstandenen Buches wieder Leben werden, gleich dem in der Pyramide verschlossenen Samenkorn, das nach tausend Jahren in geeignetes Erdreich gelangt.
Bei jedem Entwicklungsvorgang aber muß jeder folgende Zustand als schon im Anfangszustand vorangelegt mitgedacht werden oder anders gesagt: alle Entwicklung ist zielstrebig. Die Geschichte enthält somit in keiner andern Weise Sinn, als wie Leben überhaupt einen Sinn in sich enthält; dadurch nämlich, daß ein blühendes, wachsendes, sich veränderndes und ins Weite fortwirkendes zu neuen Wandlungen sich abwandelndes Wesen darin gedacht und erfühlt wird; der einzige Punkt aber, wo dieses blühende, wachsende, sich verändernde, ins Weite fortwirkende, zu neuen Wandlungen sich abwandelnde Wesen ergriffen werden und die einzige Analogie, nach der es gedacht werden kann, ist das eigene lebendige Ich des Denkenden!
Auf diesen Mittelpunkt führen alle Strahlen; nach Anbild des lebendigen Ich wird Geschichte gedacht und geschrieben. Jede Geschichte! Die Geschichte eines Buches oder eines Volkes, eines Grashalms oder eines Kristalls, einer Seite oder eines Erdteils. Die idiomorphe Einsfühlung des Gegenstandes und des ihn Beschreibenden ist in der Geschichtsschreibung ebenso unvermeidbar, als es unvermeidbar ist, daß ein Künstler, und sei er tatsächlich wie Homer, in dem Gegenstande, den er gestaltet, auch zugleich sein Ich niederlegt. Darum sagen die Italiener sogar von dem trockensten aller Historiker, dem Angelo de Constantio, der 53 Lebensjahre an einer › storia del regno di Napoli‹ verschrieb, er habe mit unsichtbarer Tinte zwischen die Blätter der Reichsgeschichte seine eigene geschrieben.
Nun aber scheint es mir wichtig, das Lebendige an sich, welches man geschichtliches Element nennen mag, von dem Festgestelltwerden seiner selbst aufs klarste zu unterscheiden. So wenig die von uns als wirklich festgestellte Daseinswelt in Raum und Zeit schon unmittelbar absolutes Leben ist, so wenig kann Geschichte als Feststellung der historischen Wissenschaften eines sein mit dem geschichtlichen Lebensvorgang selber. Das Verhältnis von Erleben geschichtlicher Inhalte zum Feststellen ihres Inhalts bedarf weit ausführlicherer und zarterer Analysis, als ich in dieser Schrift vornehmen kann. Hier genügt es aber, darauf hinzuweisen, daß eine höchst eigentümliche Durchdringung seelischer Erlebnisse mit dem Bewußtmachen ihrer selbst vermöge der Sprache von dem Augenblick an, wo der Mensch nicht mehr ahmend in seiner Umgebung lebt und webt, sondern bewußt-losgelöst ihr gegenübersteht, von jedermann als Grundtatsache alles Seelenlebens bemerkt werden muß, sobald er nur auf die Natur seiner Erlebnisse achtet. Das Erlebnis als Erleben und als konstatiertes Erleben sind ganz offenbar zweierlei. Sie können nicht nur, sondern müssen unterschieden werden!
Daher wende ich mich aufs bestimmteste gegen jegliche Schule in der Philosophie (segle sie nun unter dem Namen einer Psychologie, deskriptiver und empirischer Art, oder unter dem einer Phänomenologie oder sonst eines Intuitionismus), welche vorgibt, unmittelbare Erfahrungen aufweisen und Lebenstatsachen, die als solche eben doch nichts anderes als Leben sind, sozusagen auf den Tisch des Hauses legen zu können. Überall dort, wo das vielbeliebte Wort ›rein‹ uns begegnet (reine Logik, reine Ethik, reine Anschauung usw.), da sollen wir vorsichtig werden und eine Unreinheit des Denkens argwöhnen dürfen. Jene Spitzfindigkeiten ›reiner Wesensanalysen‹, ›eidetischer Erkenntnisse‹, ›essentialer Gesetzmäßigkeiten der Phänomene, ohne Rücksicht auf Wirklichkeit und Wirklichsein‹ mögen an den Universitäten der Gegenwart unschädlich und in allen Ehren blühen, solange sie nichts als die platonischen Unterhaltungen gewiß außerordentlich logischer, außerordentlich methodischer, ungeheuer wissenschaftlicher Gehirne sein wollen. Aber aufs klarste und gar nicht scharf genug muß alle Scholastik bekämpft werden, die den Wahn stützt, man habe unmittelbar und intuitiv die Erlebnisse, ja das Lebendige selbst beim Wickel, während man das dürre Holz rationaler Begriffe spaltet. Erlebnisse als solche sind reine Gegenwart, vollkommen unfaßlich und bewußtseinstranszendent. Dagegen ist die gesamte Welt menschlichen Bewußtseins als Aufweisung von Erlebnis bereits ein Um- und Verstellen des Erlebens selber, was keineswegs ausschließt, daß in jedem Erlebnis, soweit es bewußt ist, schon der Akt der Bearbeitung oder Gestaltung darinnensteckt. Es kann aber nur verwirren, daß moderne Schulhäupter im selben Maße, als sie bloße Surrogate für Leben bieten, die dreifarbige Fahne: Leben-Anschauung-Erfahrung auf die Dächer ihrer Häuser auszuhängen lieben, hinter deren dicken Mauern ihre Schulweisheit in einer Welt logischer Phantasmen atmet, eine bloße Angelegenheit der Schule und der Schulung. Es ist sehr leicht, in theoretischen Welten herrgöttlich sich bewegen und sehr schwer, lebendiges Leben gedanklich zu bewältigen, nur den Niederschlag eigensten Lebens hinterlegend. Der große europäische Krieg hat aufs klarste bewiesen, was Begriffsphilosophie, die inmitten von Völkerbrand und Menschenmord, und wahrscheinlich auch noch beim Untergang der Erde hinter geschlossenen Fenstern über Geschichte, Logik, Ethik, Sinn und Entwicklung spekuliert, schließlich wert ist. Vgl. z. B. die Äußerungen von Cohen, Husserl, Simmel, Rickert usw. Europa und Asien‹ S. 52.
mens von mentiri, lügen.
Geschichtlicher Zusammenhang, Überblick, Entwicklung, Sinn kann somit nur dort sein, wo Erlebnisse schon historisch geworden sind, d. h. wo wir nicht mehr in ihnen darinnen stecken, sondern sie bereits festgestellt, d. h. umstellend von uns selber abgestellt haben.
Daher pflegt denn auch bei jedem überwältigenden Ereignis, wie bei großen Verlusten, Todesfällen, harten Schicksalsschlägen usw. sofort eine ungeheuer gesteigerte Bewußtseinsarbeit einzusetzen, welche nicht rastet, bis sie das Unfaßliche ›faßlich‹ gemacht und verstanden, d. h. zum Zweck der Einfügung in ein schon bestehendes Gewohnheitssystem verstellt hat.
Kann das nun auf keinerlei andere Weise bemerkstelligt werden, d. h. fällt eine historische Wahrnehmung vollkommen aus allen uns zugänglichen Zusammenhängen heraus, so besteht in uns die Tendenz, sie eben nicht wahrzunehmen; es tritt Abkapselung des Fremdstoffes ein, ähnlich wie Bakterien, die auf keine andere Weise angeglichen werden können, im Körpergewebe isolierte Inselchen bilden. Die Geschichte als Selbstbewußtsein eines ganzes Volkes arbeitet genau nach den gleichen psychologischen Gesetzen, nach denen das Bewußtsein des einzelnen seine Geschichte gestaltet; sie verstellt alles, was den Zusammenhang und das Ideal des Zusammenhangs durchbricht, solange, bis es in den Zusammenhang einpaßt und läßt dagegen alles, was auf keine andere Weise logisch verwebt werden kann, abgekapselt und auf sich beruhend beiseite liegen. Vgl. Buch II § 41.
Somit werden wir, von nachhinein gesehen, jede historische Tatsachenreihe, sie möge sein, wie immer sie sei, indem wir sie als historische Tatsache anerkennen, auch schon zielstrebig begründet finden. Das ist eine elementare Tatsache der Erkenntniskritik der Geschichte. Da nun aber Historiker Erkenntniskritik für ihre Wissenschaft verpönen, so können sie ungestört in alle Ewigkeit Sinn, Entwicklung, Ziel, Vernunft, notwendige Epochen, Übergangszeiten, Blütezeiten, Verfallszeiten, Stufengesetze, rhythmische Perioden, Gleichzeitigkeiten, Korrespondenzen, sinnreiche Parallelen in der Geschichte finden, soviel es immer ihnen beliebt. Sie können Volk, Nation, Staat, Gesellschaft, ja das ganze Menschengeschlecht nach Vorbild eines Organismus behandeln, ohne je zu erfragen, wo denn eigentlich die greifbare Gestalt dieses Organismus gesucht werden solle. Sie können von ›Entwicklung‹ dieser vermeintlichen historischen Organismen reden, ohne je darüber klar zu werden, daß sie sich in lauter Analogien und Vermenschlichungen bewegen. Da ist nicht einer, der die unbewußte Komik einer Sentenz, wie z. B. der folgenden, die ich aufs Gradewohl einem der berühmtesten deutschen Historiker entnehme, herausfühlt:
›Welch ein Glück ist es doch, daß die Einigung des deutschen Volkes nicht schon 1629 durch Wallenstein oder 1631 durch Gustav Adolf geglückt ist, denn sie hätte damals nicht so vollkommen erfolgen können, wie sie bei dem nun wirklich gewordenen Verlaufe der deutschen Geschichte in den Jahren 1870 und 1914 sich vollzogen hat.‹
Einem anderen berühmten Geschichtswerk entnehme ich folgende Sätze:
›Daß Papst Nikolaus V den Bau der Peterskirche nicht durchführen konnte, war ein kulturgeschichtliches Glück, denn so wurde er von Bramante und Michelangelo viel großartiger vollendet. ... Daß die griechischen Skulpturen und Malereien uns verloren gingen, gedieh uns zum Segen, denn sonst hätten Lionardo, Michelangelo, Rafael, Tizian und Correggio nicht schaffen können, ohne von Griechenland erdrückt zu werden.‹
Ich schlage aufs Gradewohl eines der in diesem Augenblick vor mir liegenden historischen Werke auf und schreibe den ersten Satz hierher, auf den mein Auge fällt:
›Frankreich wurde in der Schlacht bei Azincourt von 9000 überflüssigen Adeligen, Grafen, Herzögen und Prinzen befreit und England während des dreißigjährigen Rosenkrieges von mehr als 80 Prinzen und Verwandten der Plantagenet. Da jedoch die Grenzregulierungen fast alle durchgeführt waren, so war dieser Überfluß an Herren nicht mehr nötig und das Zeitalter der geselligen Bürgerlichkeit konnte nun hervortreten.‹
Das Wesen solcher historisch-teleologischen Sätze ist immer das gleiche: ein Zustand oder Inhalt, der nach Urteil des Historikers für nützlich oder wünschenswert zu gelten hat, wird zum vorläufigen Endpunkt einer historischen Entwicklungskette gemacht, auf welchen Punkt hin man die Ereignisse daher hinorientieren und hingruppieren muß.
Wem dieser ungeheure Selbstbetrug aller Geschichteschreibenden beim historischen Studium bisher niemals aufging, der wird wenigstens bei Sinngebungen wie der folgenden stutzig werden:
›Im Jahre 1882 flog durch vulkanische Eruption die Südseeinsel Krakatao in die Luft, wobei viele hunderttausend Menschen von der Flutwelle getötet wurden. Eine Riesenwolke feinen Staubes blieb in der Luft, umkreiste mehrmals die Erde und brachte die tiefen, farbigen Dämmerungserscheinungen hervor, die von jener Zeit bis Mitte der neunziger Jahre in der ganzen Welt sichtbar waren. Es ist uns heute klar geworden, daß die Farbenwolken des Krakatao in innigster Beziehung stehen zu den neuen Malerfarben, den bunten Werten, den Neobildern, den Nuancen dieser Jahre.‹
Immer wieder staune ich, daß Geschichtsbaumeister, welche bewußten Willen, unbewußte Vernunft, logischen Zusammenhang in der Weltgeschichte entdecken (und damit die trivialste aller metaphysischen Trivialitäten umschreiben, daß die Welt vom Bewußtsein als Einheit aufgefaßt wird und gar nicht anders aufgefaßt werden kann), sich so ganz und gar keine Rechenschaft geben über die Vorwertungen, an Hand deren sie historische Geschehnisse aneinanderreihend normieren.
Wenn ein Historiker oder Geschichtsphilosoph schon a priori weiß und überzeugt ist, daß z. B. das Bestehen des Deutschen Reichs oder das lutherische Christentum oder die Logoslehre Hegels oder sonst etwas ein Wert und der Höhepunkt einer Entwicklung ist, dann ist’s eben kinderleicht, alle nur möglichen Geschehnisse der Vorwelt auf diesen Höhepunkt hin zu orientieren.
Gleichzeitigkeiten, Parallelen und Korrespondenzen werden überall wahrgenommen, wo man das Sinnsystem, auf das man alle Ereignisse bezieht (eben das Sinnsystem des eigenen Ich), naiv voraussetzt als das Resultat einer Geschichte. Im Grunde aber lehrt diese doch nichts, als was der sie Schreibende und die, die ihm glauben, nach Lebenshorizont, Wille und Absicht für Wesen sind und worauf sie Wert legen.
Die Wertakzente fallen schon ganz anders aus, je nachdem z. B. die einen einen wirtschaftlichen oder politischen, die andern einen geistigen oder kulturellen Gesichtspunkt an Geschichte heranbringen. So hat z. B. Frankreich unter Napoleon I eine furchtbare politische Übergewalt über ganz Europa besessen, während Deutschland just um die selbe Zeit, wo Napoleon es zerstückelte und ins Joch spannte, in geistiger Hinsicht die schönste und erhebendste Zeit seiner Vergangenheit erlebte. Als 1870 die politische Übergewalt an Deutschland überging, da war Frankreich an geistiger Kultur ihm so überlegen, daß ein Franzose mit Recht schreiben konnte, bei Sedan sei Goethe, bei Metz sei Kant gefallen. Die jüdische Geschichte erlebte den Prophetismus in Zeiten des Niedergangs, die griechische ihre klassischen Geister in Zeiten politischer Ohnmacht, ja der eigentliche Glanz und die große Wirkung der griechischen Kultur ist nur dem Umstand zu danken, daß Hellas dem barbarischen Makedonien zur Beute fiel. England war um die selbe Zeit, wo es Shakespeare erzeugte, die bedrohteste Macht in Europa. Soll also Entwicklung angenommen werden, so muß der Historiker zunächst wissen, in welcher Hinsicht ein Sinn in der Geschichte zu suchen sei, da der Sinn in der einen Hinsicht recht wohl Unsinn in einer ganz anderen Hinsicht sein kann.
Lesen wir eine Geschichte der französischen Revolution, so ist es ungemein billig, aus der Lage der Bauern, der Stimmung in den Städten, der Entartung des Bürgergeistes, den Schuldverhältnissen, der Geldwirtschaft, der Verschwendung des Hofes von nachhinein klarzustellen, warum alles genau so kommen mußte, wie es dann gekommen ist. Studieren wir jedoch unter Ausschaltung all unsres nachträglichen Besserwissens die Literatur jenes Zeitalters (die Werke der zeitgenössischen Denker, wie die Rousseaus und Voltaires, Reiseberichte und Memoiren wie Karamsins Reisen in Frankreich 1789-90 oder die Reise des Artur Young durch die französische Provinz 1789), so merken wir durchaus nicht, daß die Entwicklung just diesen Weg einschlagen mußte und nicht etwa auch ganz andere Bahnen hätte nehmen können.
Warum denn weiß, da man doch alles für sinnvoll-notwendig hält, kein einziger in diesem Augenblick, wie Europa in zehn Jahren aussehen wird? Warum haben auch die Klügsten im Augenblick (Januar 1916) viele hunderte verschiedene Meinungen und Ansichten von dem, was in zehn Jahren wirklich sein wird, dieselben Klugen, die im Januar 1926 allesamt ganz genau wissen und beweisen werden, warum alles genau so kam und kommen mußte, wie es dann eben gekommen sein wird.
Von nachhinein ist der Brand der Bastille am 14. Juli 1789 der Beginn der französischen Revolution. Während sie aber brannte, hat weder Ludwig XVI noch sonst ein Zeitgenosse sich sonderlich darüber aufgeregt. – Liest man die Bücher der Historiker, dann sollte man meinen, Columbus sei vor Johann von Portugal mit der Bitte getreten: ›Geben Sie mir ein Schiff, denn ich will Amerika entdecken‹, und Maximilian I sei eines Abends im Mittelalter zu Bette gegangen, um am andern Morgen sich erstaunt in der Neuzeit wieder vorzufinden. Es entspricht diesem teleologischen Wertgesichtspunkt der Historiker, wenn man von Sinn, Ziel, Aufgabe, Entwicklung in der Geschichte redet, z. B. von den Aufgaben der Völkerwanderung, der historischen Mission des Attila, der geschichtlichen Notwendigkeit Alexanders, der weltgeschichtlichen Sendung Bonapartes; ferner von sogenannten Entwicklungsstufen der Geschichte, deren keine übersprungen werden könne, von Übergangszeiten, ja überhaupt von Epochen, Etappen und historischen Perioden. Auch die Dreistufengesetze und Entwicklungsgedanken von Lessing, Herder und Comte gehören zu diesen Vorurteilen.
Das beste Symbol der Geschichte scheint mir jene Zuckerfabrik bei Souchez in Flandern zu sein, die während des Krieges 1914 bis 1916 fünfzigmal den Deutschen von den Franzosen und ebenso oft diesen wieder von den Deutschen abgenommen wurde, wobei jedesmal einige hundert Menschen getötet und verstümmelt worden sind und jedesmal die Überlebenden mit Pauken und Trompeten einen Sieg feierten, das einemal hüben, das anderemal drüben; während doch schließlich alles beim alten blieb und nur der Anfang zu neuen Kämpfen gegeben war. Im übrigen war die ganze Angelegenheit, abgesehen von dem Wert, den die Beteiligten ihr beilegten, nicht wichtiger als ein Knabenspiel. Bei jedem Blatt Geschichte und am meisten bei den sogenannten großen und heroischen Zeiten umschwebt uns das tiefwahre Wort Montesquieus: heureux le peuple, dont l’histoire est ennuyeuse. Diese sinnlose Hölle nie endenwollender Machtwechselstreitigkeiten, dieser unaufhörliche Kampf aller gegen alle, auf den eine so riesige Summe von Kraft und Talent, Arbeit und Wert vergeudet wird, daß der zehnte Teil dieser Energien in den Dienst des Geistes gestellt, genügen würde, um die Erde zum Paradiese zu wandeln ... wann endet diese Qual? Welch eine Art Gott sollte sich wohl offenbaren durch diese nie abreißenden Greuelketten der Schlachten- und Schlächternamen, der Räubereien und Räuberhauptleute, der Schinder und Rinder, der Betrogenen und betrogenen Betrüger, der ehrgeizigen Rhetoren und glücklichen Soldaten, welche allesamt, gleich der unglücklichen Erde, immer nur um sich selber drehn und schnellgeboren, schnellvergessen der gedankenlos dahinlebenden Welt Helden heißen, wofern sie die Macht erlangen, wofern sie Erfolg haben. Der Wert dieser sogenannten Weltgeschichte ist der als Stoffsammlung für Novellenschreiber und Enthusiasten zu dienen; im übrigen könnte der ganze historische Plunder ins Feuer wandern und die arme Seele würde eratmen, wenn für wenige hohe Menschen gleich Buddha oder Jesus der ganze Wust der europäischen Archive und Bibliotheken, samt allen Techniken und Könnereien der Schöngeister und Formalisten zum Teufel ginge. Aber Europa wird weitere Makulatur aufspeichern und die letzte leuchtende Seele, sei es in Menschenblut ertränken, sei es ersticken, unterm Aschenberge bedeutender Bücher. Der einzige Trost liegt darin, daß wie im Raume Körper um so berechenbarer und gesetzmäßiger werden, je weiter sie von uns entfernt sind, so die Geschichte um so sinnvoller wird, je weiter die Erinnerung an das unmittelbare Erlebnis verblaßt. Zuletzt wird alles zum Schauspiel.
Wie aber steht es um die übervernünftige Lenkung der Geschicke durch das Unbewußte, um die große Vernunft der Dinge, höher als alle Menschenweisheit, um den Pulsschlag rhythmischer Ordnung in allem kosmischen Geschehen?
Diese Begriffe der deutschen Metaphysik verfehlen den Kern der vorstehenden Darlegung.
Der Kern unsrer Erkenntniskritik der Geschichte ist der Nachweis, daß es dem Menschengeiste unmöglich wäre, geschichtliche Wirklichkeiten ohne Sinn vorzustellen, weil Bewußtseins-Wirklichkeit schon Gestaltet-sein in sich schließt.
Sprechen wir aber nicht von historischer Wirklichkeit und Daseinswelt, sondern vom Lebendigen in seiner Unmittelbarkeit (vom Unbewußten, Absoluten, An-sich-selberseienden), so führen wir das Menschwort Sinn nur anmaßlich und enggeistig im Munde.
Hegels ›Alle Geschichte ist vernünftig‹, Leibnizens ›Geschichte ist Offenbarung des Geistes‹, Hartmanns ›Das historische Geschehen ist die Selbstdarlebung der unbewußten Vernunft‹, Darwins ›Die Geschichte beweist die Auslese des Besseren‹ ( selection of the fittest), alle diese und viele verwandte Sätze enthalten entweder nichts als eine leere Selbstverständlichkeit (nämlich: Es kann im All der Dinge nur bestehen, was als miteinander verträglich und zusammen-denkbar eben – besteht.); – oder aber: Sie erschielen und erschleichen einen lieben Gott, eine sittliche Weltordnung, eine nirgendwo verbürgte Einheit von Idee und Leben.
Das Vorhandensein von Naturgesetzen steckt eben im Vorhandensein von Natur und das Konstatieren einer Weltordnung wiederholt nur die Konstatierung der Welt selber.
›Nachträgliche Sinngebung des Unsinnigen‹, – so benannten wir die Geschichte! Nun aber erscheint es noch wesentlich, einem möglichen Mißverständnisse vorbeugend, eine doppelte Bedeutung des Wortes Sinn zu unterscheiden. Einmal die Bedeutung von Ordnung (Rhythmus) und sodann die Bedeutung von Wert (Bedeutsamkeit).
Gesetzt die Geschichte hätte auch an sich, losgelöst von Wertinteressen der Menschen, einen metaphysischen Sinn, so umschlösse dieser Sinn doch keinerlei Bedeutsamkeiten oder Werte. Vielmehr wäre es gewiß, daß das Element des geschichtlichen Lebens nicht schon von sich aus jene Bedeutungen in sich trägt, welche bewußtes Beurteilen oder Bewerten in das Seinselement gleichsam erst hineinbaut. Eine Zusammenverträglichkeit, Harmonie oder Rhythmik des in der Geschichte sich verwirklichenden Lebens hätte nichts mit Sinn, d. h. mit Wertordnungen zu tun und läge jenseits der Frage, ob das, was vermöge einer Ordnung zu leben fähig ist, nun auch wert wäre, gelebt zu werden.
Der der Metaphysik zugehörige Gedanke, daß das Seinselement der Geschichte schon rhythmischen Gang und Puls in sich umschlösse, könnte doch diese gesetz- oder zahlenmäßige Ordnung des geschichtlichen Lebens nicht als Wertordnung begreiflich machen. Es wäre freilich denkbar, daß ein nicht nur empirisch, sondern absolut gesetzmäßiger Wandel des Sterbens und Entstehens alle Sonnen und Welten umgriffe, den Kreislauf der Gestirne wie den Kreislauf der irdischen Herzen; aber was besagte das? Ein solcher ›Sinn‹ hinter allem historischen Leben bliebe dennoch sinnlos und seine absolute Ordnung wäre ohne Würde und Wert. Mag es immerhin sein, daß jedes in die Geschichte der Erde hineingeborene Naturwesen nach grausam unerbittlichen Gesetzen seines Daseins Pfade vollenden muß! Zu diesem grausamen Verhängnis der Erde gehörte bisher auch der Glaube an ›unerbittliches Verhängnis‹, jener Geschichtsglaube, welcher sich der sinnlosen Logik blinder Schicksalsfügungen lieber wehrlos anvertraut, als daß er sich besönne auf die bescheidenen Wertgebote der Vernunft, die der Geist doch eben nicht in Natur, Erfahrung, Geschichte, geschichtlichem und natürlichem Leben, sondern einzig allein in seinem eigenen wertsetzenden Gewissen vorfindet. Das Wort ›Mensch‹ aber bedeutet im Sanskrit: der messende.
Seit Kants Vernunftkritik lastet auf deutscher Philosophie ein dürftiger Schematismus. Hier: empirische Erscheinungswelt der Geschichte. Dort: das absolute Sein in abstrakter Reinheit. Auf der einen Seite: Geschichte als Bewußtseinswirklichkeit (d. h. die durch Bewußtseinsschablone wie Raum, Zeit, Kausalität hindurchgepinselte ›Wirklichkeitswelt‹). Auf der anderen Seite: das unerkennbare Ansich, in welches man alle erdenklichen Normen und Werte hineingeheimnist.
Dem gegenüber galt es, drei Sphären gegeneinander abzugrenzen.
1. die des alogischen Lebenselements der Geschichte ( vitalité),
2. die der menschlich-gedachten Bewußtseinswirklichkeit Geschichte (réalité),
3. die der Normen oder Werte (vérité), an Hand deren das ausmessende Bewußtsein das Lebenselement zu ›historischer Wirklichkeit‹ umdenkt.
Einige wenige neubeginnliche Geister haben diesen Gegensatz: Lebenselement – Bewußtseinswirklichkeit scharf und klar mit schöner Gradheit und edler Schlichtheit schon erfühlt. Nicht aber auch den andern: Bewußtseinswirklichkeit – Ideal.
Unsere Aufgabe war es, nach beiden Seiten die Grenze aller geschichtlichen Wirklichkeit und Geschichtschreibung zu umreißen.
Zertrümmert dabei der alte Glaube an natürliche Entwicklung, Fortschritt, immanente Wertordnung, Gott, göttliche Fügung in der Geschichte, um so besser! Alles Heil der Zukunft erwarten wir von Zertrümmerung des Geschichtswahns.
Nur der Mensch, dem letzter Trost, letzte Zuflucht entzogen ward, dem nichts übrig bleibt als das nackte, hoffnungslose Lebensgefühl seines einmaligen und kurzen Jetzt und Hier und die Gewißheit, daß nach bloß-natürlichen Gesetzen Mücke und Ameise, Wassertropfen und Kiesel genau so nichtig, genau so wichtig sind wie sein eigenes, in Unendlichkeit verlorenes geschichtliches Dasein, nur der Mensch ohne Krücke und Brücke und ohne andern Sinn des Lebens als jenen, den er selber ins Leben hineinverwirklicht, kann das Schicksal der Erde in die Hand nehmen. Statt von blinder Naturordnung Wertverwirklichungen zu erwarten und Gerechtigkeit den Sternen abzufordern, beginnt er schmerzgeweckt und notgestachelt das sinnloschaotische Element unbeugsamer Zufallsgewalten im Sinn ideeller Wertnormen nach Kräften zu gestalten, sei es, daß er im Geiste von Hellas mitten ins Chaos die umhegten kleinen Gärten Epikurs einbaut, sei es, daß er im tieferen Geiste Indiens das Lebendige am Geiste sich vollenden, im Geiste sterben lehrt.
Damit erst beginnt (in ganz neuem Sinn) das Leben Geschichte zu haben.