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Gruß den Gefangenen

1923

 

Meine Brüder, licht schimmernden Brüder Ihr,
Wolke, Wasser, Winde der Luft,
Augen der Erde, klein Getier,
Leichte Falter aus Tau und Duft.
Hinter steinerner Mauern Fesselpein
Schwand mein Leben kettenkrank.
Ihr truget Traum und Schönheit hinein
Habet Dank, habet Dank.

 

Kameraden! Eine kleine blaue Blume habt Ihr mir gesandt. Die erste Blume, welche in Niederschönenfeld, bei Rain am Lech, in Baiern, auf dem Festungshofe gewachsen ist.

Für eine kurze Lichtstunde entlassen aus des Grabes steinernem Verließ, erspähten Eure jungen Augen, – Deine Gustav Klingelhöfer oder Deine Ernst Toller, – die bescheidene Winterblume unter Gerüll von Bauschutt, überdeckt mit Schnee.

Da hat einer von Euch gesagt: »Die schicken wir an Theodor Lessing.« Denn in langen Kerkerjahren seid Ihr meine Leser geworden, die ersten und vielleicht die einzigen; aber kein Denker hatte jemals bessere.

Ihr habt richtig herausgefühlt: Der gehört Uns. Uns, der eingekäfigten deutschen Jugend!

 

An diesem grämlichen Wintermorgen also, ist Euer Brief bei mir in Hannover angekommen. Ich fand in ihm eingepreßt die kleine Frühlingsbotin und betrachte sie nun mit frommer Scheu.

Ja! wir alle sind zu früh aus der Erde hervorgebrochen, jung und übermütig, unter Gerüll von Bauschutt, überdeckt mit Schnee.

Wir werden sterbengehn, bevor Deutschland wieder in Rosen steht und werden nicht miterleben die heißen Julinächte, welche unsrer Heimat Saaten segnen.

Revolutionäre? Ja! Aber auch die echten konservativen. Denn wir wahren ursprungsnahe Natur inmitten der verbildeten, angeglichenen Kulturmenschheit, wie die blaue Blume brechend durch Schutthaufen eines Gefängnishofes.

 

Ich habe die zerknitterte Blume in heißes Wasser gelegt. Da hat sie sich aufgeschlossen. Und nun, während ich in der Hinterstube des lauten Großstadthauses an meinem Arbeitstisch sitze und der Blick hinausfällt auf die Mauern und Schlote, nun steht sie vor mir und verhaucht in den kahlen Tag einen feinen leisen Duft.

Was kündest Du, Blume der Gefangenen?

Gern möchte ich Dein menschlicher Sprachmund sein. Wer da mir kein anderer Ausdruck verliehen ist als abstrakte Begriffe philosophischen Denkens, so muß ich eben versuchen, die Gedankenschatten einzufangen, die Schatten jenes Lebens, welches Du blaues Osterblümchen atmest und schweigst.

 

Man sagt: »Blumen sind Träume der Erde.« Das ist wahr. Wahr im allereigentlichsten Sinne.

Die Gestaltenwandelwelt – (Indiens brâhma-vidya) – wird vom chthonischen Element hervorgeträumt.

Es gibt keine »Wirklichkeit in Raum und Seit«, deren Ursprung nicht Träume wären. Und umgekehrt müssen Traumbilder beständig anpochen an die eherne Pforte zur Wirklichkeit.

Schatten drängen ans Erdenherz. Sie wollen Blut trinken, um mit Menschenstimme reden zu können.

In der Scholle Gefängniszelle liegt der Keim. Muß nicht Alles, was sichtbar und als Gestalt aus ihm hervortritt, schon bildhaft und als Bild in ihm vorgeträumt liegen?

Die Eichel, trocken, starr, gelblich, birgt in sich den Eichbaum. Im unscheinbaren Weizenkorne träumt das menschennährende Getreidefeld. Im farblosen Kerker des Eis schläft des Vogels befreiende Schwinge und befreiter Gesang. Sperre die unscheinbare Raupe, welche von Blatt zu Blatt kriecht (wie Seele von Geschlecht zu Geschlecht, von Gestalt zu Gestalt), in ein Notgefängnis, sofort verpuppt sie sich und wird unsichtbar, um, sobald die erste glückliche Sonnenstunde naht, in neuer Gestalt davonzufliegen, ein ätherleichter farbentraumwunderschöner Schmetterling.

 

Die Weisheit Platos prägte für dieses ebenso Klare wie Geheime ein Menschenwort; das Wort: Idee. In deutscher Sprache bedeutet es: Gesicht oder Bild.

Vom Bereiche der Bilde oder Gesichte lehrte Plato, daß es weder zu suchen sei im Raume noch in der Zeit. Es könne somit auch nicht gefunden werden in der Wirklichkeit des Bewußtseins, in zeiträumlicher Bewegungswelt. Wesenheiten (Ideen) seien weder räumlich (physikalisch) noch zeitlich (historisch) wirklich.

Dennoch besitzen wir Menschen ein Vermögen, diese unwirkliche Sphäre wahr zu nehmen. Wir nennen dieses Vernehmen: die »Vernunft«. Ihr danken wir den Flug in den Himmel des Raum- und Zeitlosen.

Von diesem Fluge ins Reich der Utopie behält unser Herz eine Sehnsucht zurück. Plato nennt sie: Eros.

Dieser Eros zwingt uns, das Geistiggeschaute in Erde und Erdenstoff zu wandeln.

Uns befeuert Sehnsucht nach Verwirklichung.

Alles was wir Wirklichkeit nennen, (also die ganze Bewußtseinswelt in Raum und Zeit) ist: Verwirklichen, Verwerklichen, Verdinglichen, Vergegenständlichen, Feststellen, Festlegen der »Ideenwelt« zu einer zweiten künstlichen Welt, eben unsrer Wirklichkeit menschlicher Werke, Werte und Worte.

Diese unsre Menschenwelt samt Sonne, Mond und Sternen ist somit nichts als eine mechanische Syntese von Leben und Idee und mithin nichts als ein polares Spiegelbild des Bewußtseinsjenseitigen, in welchem jenseits von Raum, Zeit und Bewegung, Idee und Leben organisch Eines sind.

So erklärte Plato das schöpferische Geheimnis.

Mit tiefem Gleichnis verglich er die »Welt« dem Tanz der Schatten, welche an die Wand unsrer Gefängniszelle fallen von Lichtwesen, deren Leben außerhalb und jenseit unsrer Zelle wächst und west.

Die Schatten, deren Träume wir sind, sind Bilder unserer Seelenheimat. Unser Heimweh. Unser Fernweh. Unsre ewige Gegenwart. Dies wäre das Geheimnis:

Aus dem Lebenselement ist (dank Not und Notwendigkeit) hervorgebrochen: Menschliches Bewußtsein.

Innerhalb des Bewußtseins und in Prägeformen des Bewußtseins (als Bewegung, Bewegungsträger und Raumzeitlichkeit) spiegelt sich das Sein im »Bestehen« einer Welt ...

Was also ist »Welt«?

Verwirklichung von Ideen am Lebenselement.

Leben-Wirklichkeit-Wahrheit sind drei immer getrennte Sphären. Unser ist: Wirklichkeit!

 

Alle Geschlechter der Menschen haben an diesem Rätsel herumgeraten. Einem Rätsel, das keines ist.

In der Schule Platos galt das Reich der Bilde als immerwesende, niewirkende Seinswelt hinter dem Wirklichen.

Aber schon in der wirklichkeitszugewandteren Schule des Aristoteles wurde die Wesenswelt hinein- und hinabgezogen in die Ebene geschichtlich-zeitlichen Wirklichseins.

Nun galten Ideen als zeugende Bildauftriebe der Natur.

Noch ein paar Jahrhunderte später, (unter dem Kreuz des naturvergeistigenden, naturvermenschlichenden Christentumes), waren die Bilder Geist geworden.

Augustin nannte sie Kanones oder Nonnen. Die Bilder des Lebens waren nun Ideale der Vernunft, also des menschlichen Selbst.

Wild tobte Meinungsstreit.

Für die Einen waren sie zeitlose Larven des Seins. Für die Anderen waren sie abstrakte Begriffe.

Für Plotin zahllose sich selber schauende Götter. Für Augustin Postulate aus dem einen und einigem Geiste Gottes. Alles dieses nannte man: Reich der Idee!

Dieses Ideenreich war für die Einen vor aller Erfahrung, für die Anderen nur aus und dank der Erfahrung und für die Dritten nur im Erlebnis des Erfahrend wirklich.

Die Idee war bald das Eine, bald das Andere. Oft das Eine und Andere zugleich.

Damit rühre ich an den Kern eines ungeheuren Menschheitsbetruges.

 

Unsere Tage haben den Betrug vollendet.

Der Mensch Europas und Amerikas, der sogenannte Kultur- oder Bildungsmensch verfestigte die große Selbsttäuschung: Seine eigene, die menschliche Ideenwelt, diese durchaus logisch-etische Welt, sei wesenseines mit der ewiglebendigen Gegenwart von Gestalt.

Wo immer wir heute die Worte Idee, Gestalt, Gebild, Bild hören, da ist gemeint irgendein begriffliches Schauen und Anschauen. Seit Descartes siegte dieser den Menschen zum Kosmos und das Kosmos zum Menschen verwandelnde, halb größenwahnsinnige Selbstbetrug.

Der Kern dieses Betruges ist der Wahn: Leben sei im Denken! Bewußtsein (Bewußtseinsvorgänge oder -inhalte) seien lebendig! Mithin sei Lebendiges vorstellbar als »Bewegung« oder als »Geschehnis« in der Zeit. Mithin könne der Mensch sachliche Wert- und Rangstufen erklimmen und das eine Naturwesen »höherstehn« als das andere. Indem aber Rangstufen erklommen werden wie Plattformen einer Pyramide, wird es möglich, daß die »objektive Höhe der Entwicklung« nicht das mindeste mehr bezeugt für das Sein und Leben ihrer »Träger«.

 

Ich will einige Beispiele anführen für den traumlosen, lebensfernen Mißbrauch, welchen die »Kultur« treibt mit Eidos und Idee.

Wir finden diesen Mißbrauch in Deutschland besonders dort, wo der Geist Hegels noch lebendig ist, der Totengräber unsres Mythos. Hegel nämlich vertauschte die menschliche Orientierung über Lebendiges mit dem Lebendigen selbst; das bewegungslos Seiende mit der zeitlich historischen Geschehensfolge. Er benannte den »Reinen Geist« (also die inhaltleerste, toteste Abstraktion) mit dem alten Worte: Idee.

Diesen deutschen Gespenstertanz zu scheuchen war ich lebenslang bemüht. Treu meinem Lehrer: Schopenhauer.

Heute siegte dieser selbstgerechte Wahn der Bildungsmenschheit: Leben sei lineares Kontinuum in der Zeit; nach Art der aufsteigenden Pyramide oder der gleitenden Spirale. Da entscheidet freilich nicht mehr das Sein, sondern: Die Stufe!

Der Wiedererwecker Hegels, Oswald Spengler, behandelt (gleich all unsern Völker- und Staatstheoretikern), Kulturen als wären sie Organismen und verwirrt Gestaltenwelt mit Fortschrittsgeschichte, ohne gewissenhaft zu fragen, wo denn eigentlich der Leib von Kultur sinnfällig blüht und stirbt?

Ja freilich! Es ist leicht, diese vor mir stehende blaue Blume einen Organismus zu nennen und Deutschland gleichfalls einen Organismus zu nennen; aber auch der unkritischste Kopf müßte klarsehn, daß Völker, Staaten, Kulturen nie im selben Sinne wie Pflanzen oder Tiere Gestalten des Lebens sind.

Viel toller treibt den Unfug jene, unsere deutsche Universität despotisierende, akademische Philosophie, welche grundsätzlich mytische Symbole mit Begrifflichkeit untermengt.

Man redet von Phänomen, von Phänomenologie. Was meint man damit?

Nicht diese lebendige Blume ist Phänomen. Nein! Das Wahrnehmen, das Denken, das Empfinden ihrer!

Man schwätzt von Anschaun, Anschauung, Intuition, Unmittelbarkeit. Was meint man damit?

Haarspaltend dialektische Begriffezerlegerei! Definieren, Arithmetisieren, Fest-Stellen, womit irdische Sprache alles lebendige Wachstum abtöten und das Psychische zum Psychologischen gerinnen lassen muß.

Die Grabsteine und Graburnen gewesenen Lebens, nein! Inschriften auf diesen Steinen und Urnen werden vorgeführt unter falschen Flaggen als: Wesensschau und Lebensschau.

 

Noch klarer, noch schärfer kann ich den großen Betrug begreiflich machen. Ich brauche nur hinzuweisen auf die moderne Wissenschaft vom Leben, auf die sogenannte Biologie.

Diese Wissenschaft offenbart klärlich, daß Lebendiges, sobald wir es denken, sich uns darstellen muß als eine Art Bewegung in der Zeit. Also als Mechanik. – Nicht immer tritt diese Mechanik so brav und ehrlich auf, wie z. B. bei August Weismann, welcher das Leben scheulos zusammengesetzt denkt aus Atomen und Unteratomen, welche er »Iden« nennt.

Auch der lebensnächste, bildevollste unsrer Denker, Friedrich Nietzsche, hat aus dem Kerker: Moderne Wissenschaft nicht herausgefunden.

Er wandelte Dionysos in Dynamik.

Wie charakterisiert er Leben?

Leben ist ihm etwas Bewegtes, Bewegendes. Eine ungeheuerliche Energie. Wille zur Macht, Kraft des Sichaneignens, des Herrwerdens und Sichselbstdarwirkens.

Ja er führt sogar »Werte« zurück auf Wachstumsquanten und möchte Qualitäten zahlenmäßig ergreifen.

Und doch ist grade dies der Todesweg!

Niemals ist Leben: Bewegung. Niemals zeitlich. Niemals zerlegbar oder zusammensetzbar. Niemals im Denken faßlich. Aber es träumt ewig gegenwärtig in dieser blauen Blume ...

 

Grauenhaft, o vollends grauenhaft, wenn die seit Jahrtausenden in die Sackgasse: »Geist« hineingepeinigte Willensmenschheit das völlig stille keusche Leben verwechselt mit Willensenergieen oder Leidenschaftlichkeiten, wenn sie formale und formende Kräfte gleichsetzt schöpferischer Gestalt.

Ein solcher Geistgläubiger, Otto Weininger, hat die Kant-Fichtesche Rabulistik, ja all Das, was man in Deutschland Idealismus nennt bis zum Irrsinn auf die Spitze getrieben. Ihm ward die unermeßliche Fantasie, die Wandelwelt von Gestalt zu einer leibgewordenen etisch-logischen Dialektik. Das Leben zur Moral.

Ein nicht minder Künstlicher, Jakob Wassermann, hat sogar Artefakte mit lebender Gestalt, wie Dich, Blume zusammengenannt, in einen Topf werfend: Formen, Gestalten, Ideen, Ideale, Normen, Fiktionen, Begriffe.

Man merkt diese geheime Verwechslung von Makulatur und Leben meistens daran, daß alle diese armen Sünder Leben predigen und grade Das, was des Menschen Würde macht: Intellekt, Wissenschaft, Kritik geflissentlich mißachten.

Immer wieder wird man erinnert an jene Anekdote aus dem Leben Darwins. Der große Naturforscher galt als Englands bester Mann neben Thomas Carlyle. Gemeinsame Jünger arbeiteten daran, Englands größten Naturforscher mit Englands größtem Philosophen zusammenzubringen. Darwin entschloß sich, Carlyle zu besuchen. »Wie ist es gewesen?« fragte man ihn. »Ein unerträglicher Mensch«, sagte Darwin, »drei Stunden lang habe ich dagesessen und er redete auf mich ein: über die ›Macht des heiligen Schweigens‹« ...

 

Aber auf einem Gebiete lebt doch noch ehrliche Unmittelbarkeit des Lebens. Auf dem Gebiete strengster Unwirklichkeit. Auf dem Gebiete reiner Theorie.

 

Theoria ... Auch dies Wort bedeutet Gesicht oder Schau der Welt. Ein Zeichen dafür, daß Menschensprache völlig angewiesen ist auf das Auge. Die Gabe des Sehers, des wirklichkeitentrückten Erschauers der »reinen Unbilde« benannte die Vorwelt: Theorie.

Das hängt zusammen mit dem Worte: Theoi, Götter. Ferner auch mit dem Worte: Theater, Schaubühne. – Die Weltschau, darin Götter hinter der Welt in Ekstase sichtbar werden, auch diese Weltschau ist: Theorie ... Denkt darüber nach, Ihr jungen Dichter!

Das Vermögen der Götter- und Wesensschau, die theoretische Vernunft, ist des Menschen zeitloses oder wie man gerne sagt »göttliches« Teil.

Aber nur grade so weit verschafft unser Vermögen der Idee und der Ideale uns Zugang zum »Reiche der Mütter« als wir zu entraten vermögen der Mithülfe Mephistos, jenes Dämons, dem nur Verstand und Wille zu eigen sind.

Dieser kann, (Goethes »Faust« gibt dies Gleichnis), uns wohl den Schlüssel geben zum »Reich der Mütter«. Jedoch hinabsteigen kann nur unser Geisteswesen selber.

Darauf baut ja Gott bei seiner Wette mit dem Teufel. Er kann getrost diese Welt mitsamt der Menschenseele allen Spielen des Teufels überlassen. Er braucht sich nicht einzumischen. Gott vertraut auf den Menschen. Denn der Mensch trägt in sich ein Stück des Göttlichen, Utopischen. Aber der Teufel (dem die Welt gehört) spürt und achtet das nicht. Er fühlt gar nicht, daß dieses Unwirkliche schließlich das Wirklichste bleibt.

»Das sind ja Utopieen« sagt der Teufel. So lautet noch heute sein Lieblingswort auf Erden.

 

Wahr ist es, im eigentlichsten Sinne wahr, daß wir alle nichts sind als Einkörperung der Träume. Kinder der Göttin Fancy, der Fantasie.

Die Welt träumt sich selbst. Sie ist sich auswirkende Traummacht.

Nur wie eine kleine wache Insel, umspült von unermeßlicher Traumsee, so ist das Wachbewußtsein und seine zeiträumliche Wirklichkeit für kurze Spanne hervorgestiegen aus der dunklen utopischen Flut.

Wenn der Schlaf kommt, wenn von mir absinkt mein Ich, wenn die stummen Bilder steigen, dann ist mir, als sei alles Lüge was wir am Tage wollen und denken. Wir drehn uns um Dinge, welche in zehntausend Jahren nicht mehr dasind. Wahr aber ist das Reich der Nacht. Und wenn wir das Lebendige »Gott« nennen, dann bist Du, kleine Blume, gottesnäher als mein Geist mit all seiner Logik und Ethik, diesen Sackgassen und Abwegen des Lebens.

 

Dieses ist die erste Verkündigung der kleinen blauen Leberblume: »Ich bin Auswirkung eines Traums. Ich bin Leib der Utopie. Mich sendete das Leben empor, und es schickten mich zu Dir jene Männer, die man in Baiern, in der Festung Niederschönenfelde, seit langen Jahren in Käfigen eingesperrt hält, weil sie die Seele der Utopie zu erlösen trachteten aus ihrem Käfig« ...

Ungeheure Traummacht des Lebens! Wirf eine Scherbe, eine Schale von Dir. Morgen ist sie übersponnen von Algen, Moosen, Pilzen, Mikroben. Es gibt nichts Totes. Wo immer Gelegenheit ist, treibt Traummacht hervor die Gestalt. Es gibt keine Stufenfolge. Alle Stufen blühn, alle Folgen mit und nebeneinander. Was im Menschen schafft, ordnet, richtet, baut, das ist nur ein allerschwächster Abglanz dieser dichtenden Traumlust.

 

Warum aber, Blume, bliebst Du nicht in zeit-raumlosem Dunkel? Warum dieser Durst nach Verwirklichung im Licht? Was will dieser Schein? Wozu Erscheinung und Schönheit?

Ein uraltes dorisches Chorlied beginnt:

»Schönheit will Liebe.«

Wir kennen diesen Gedanken aus Platos Erbe. Die Frage nach dem Sinn der Verwirklichung löst Plato durch den Hinweis, daß alles Schöne eben nur darum da ist, weil es zeugende Liebeskräfte zu entfesseln vermag. Hinter der Bilderwandelwelt der Erscheinungen brennt der zeugende, erlösende, im Zeugen erlösende, in der Erlösung zeugende Eros ...

 

Fühlt Ihr die tiefe Ostermythe von dem aus dem Erdengrab ewig neu auferstehendem Heiland?

Die kleine Blume der Gefangenen löst das Osterrätsel. Ihr Schweigen wächst hervor aus dem tiefsten Mythos germanischer Vorzeit ...

Höret:

 

Gerda, die Erdenjungfrau, – die Brunhild der Heldensage, das Dornröschen des Märchens – ist gefangengelegt worden von den furchtbaren Mächten der Finsternis. Die überklugen Eisriesen, die Jöturn halten sie geknebelt. Aber insgeheim lebt sie fort, träumt sie fort; träumt von Erlösung.

Und die Sehnsuchtsträume, die in ihr brennen, die sich erlösen und verwirklichen könnten in blühenden Gärten und großen Wäldern, in Blumen, Auen, gesegnetem Korn, nie können sie sich ausblühn, nie sich erfüllen, so lange auf Erden die klugen Jöturn herrschen und der Messias fern ist.

Da bleibt für Gerda nur Eines. Sie muß ihm ein Zeichen geben.

Sie sammelt also alle lebenzeugenden Kräfte ihres Schooßes und wandelt sie in geistige Kraft. Und dieses geistige Fluidum läßt sie leuchten als ein Fanal über allen Völkern und Landen.

Das ist das Nordlicht!

 

Urschauer bricht aus diesem Mythos, Urseele ist darin. Die zahllosen Farben des Nordlichts, blaue, rotgoldene, silbernweiße, violette, braune, – (auch die Physik deutet sie als Phänomene des Erdmagnetismus) – die Vorwelt sah in ihnen Liebeskräfte. Sehnsüchtig emporgereckte Arme der geknebelten, gefangenen Erdgöttin, welche ausstrahlen läßt den Stoff zu alle den Blumengärten, die unerweckt in ihrem Schooße schlummern, damit Baldur, der Frühlingsgott, – der Siegfried der Sage –, zurückkehre aus den glücklicheren Sonnenländern und sie befreie; zerschlagend mit seinem Schwerte, dem Sonnenstrahl, die Eisketten der Jöturn.

Daß ihm ein Zeichen werde, dazu glüht Nordlichtschein über der Erde.

 

»Ich liebe Dich« ruft es. »Ich sehne mich. Komm Erlöser, küsse Deine Kinder auf. Sieh her. So werden sie blühn. So könnten sie blühn. Wenn nur Du in meinem Schooße sie erwecktest zum Licht«.

Baldur sieht das Fanal der Schönheit. Es winkt und lockt aus dem Lande der Hellen und Blonden. Es sind die Farben seiner Söhne.

 

Wie die Farben des Nordlichts Spiegelbilder sind für die Blumen der Erde, so etwa ist Das, was wir als Idee schauen, Spiegelbild eines Seienden.

Wir denken als Ideal, was die Erde zu erfüllen sich sehnt. Was uns als Idee verlockt, ist geistige Vorwegnahme jenes Reiches, welches kommen will und kommen wird, sofern nur Wir kommen zu ihm und seine Schönheit lieben.

Was die schauende Theorie, Klingelhöfer, was das Theater, Toller, verhüllt: das Reich der Ideen und Ideale, das ist das selbe Licht, welches lebendig blüht in Gestaltenform, wofern Liebe es auslöst. Und was ich als Mensch denke, Du kleine Blume blühst und schweigst es als Leben ...

Das also wäre die zweite Verkündigung der Gefangenenblume aus Niederschönenfeld.

 

Bald ist Ostern. Der Wunderglaube der Menschen ahnt dunkel das unendlich Einfache. Den Zusammenhang von Geist und Leben. Die Verwandtschaft von Schönheit und Liebe ... Von dem alten Mythos, welcher in Farben des Nordlichts die in der Erde schlummernden Blumenträume sah, welche am Himmel glühn als Sehnsuchtssignale an den erlösenden Lebensgott, von diesem Symbol ist auch uns noch eine Spur übrig geblieben.

In den Gärten, die noch kahl sind, verstecken wir Ostereier. Für unsere Kinder. Bunte farbige schillernde Eier. Die Kleinen suchen sie in den Tagen, wo die größeren eingesegnet werden im neubeginnlichen Lebensfrühling.

Auch das Ei ist wie die eisüberkrustete Erde ein Grab und eine Zelle. Auch im Ei sehnt und träumt, wie in der Gefangenenzelle, Lebendiges nach Erlösung. Am Feste der Auferstehung aber, da malen wir gläubig hoffend die schönen, freudigen Farben und Lichter auf die harte Schale. Unser Osterglaube weiß, daß das Grab zerspringt und der schwere Stein wie durch Wunder beiseite gewälzt wird, und daß der Gekreuzigte erlöst, erlösend gen Himmel fliegt.

 

Habe ich nun alle Deine Lieblichkeit eingewortet und vermenschlicht, kleine blaue Blume vom Festungshofe?

Schmerzlich senkst Du die Blättchen. Dein kaum erhobenes Köpfchen ist schon welk und müd. Du stirbst mit diesem Frühlingstage.

Du willst noch ein Drittes anvertrauen bevor Du sterben gehst.

Ich sprach von der Osterblumen Schönheit und erlöstem Duft. Ich sprach vom Wesen der Liebe und dem Drang des Lebens zur Freude. Nun mahnst Du mich: Vergiß nicht das Evangelium des Schmerzes.

Vergiß nicht, daß diese ganze Traumwelt in Raum und Zeit und all ihre Schönheit nur der Notausgang ist eines in die Enge getriebenen Lebens.

Vergiß nicht, daß mit der Sprengung der Kerker und dem Ende der Jöturn auch schon dahinfällt die Kraft der schönheitzeugenden Sehnsucht, welche lebewilligen Traum umwandelt in Wille und Geist.

 

Merkwürdig! Da bricht aus der im Tage sterbenden Blume ein drittes Gleichnis. Das stellt sich neben das Flammengleichnis der Natur, die Tänze des Nordlichts und neben das künstliche und bewußte Farbenspiel unsres Menschenhoffens und unsrer Menschensehnsucht, wenn wir unsern Kindern Eier färben.

Dies dritte Gleichnis scheint zwischen den beiden andern in der Mitte zu stehn: Das Farbenspiel im Wechsel der Jahreszeiten. Das Farbenspiel, wenn im Herbst die Erdenjungfrau wieder dahinsinkt, wenn der Wald noch ein Mal aufflammend, vereint alle Paletten des ganzen Jahres, wenn das Gefieder der Vögel, die Kelche der um die Schmetterlinge werbenden und Fortpflanzung fordernden Blüten, ja wenn die Felle und Pelze der Tiere erstrahlen in allen Farben des Kampfes, des Hasses, der Liebe, des Todes ...

Auf den Schlemmertafeln der römischen Kapitalisten, bei den Festorgien einer sterbereifen Ausbeuter- und Erdausnutzergesellschaft, zur Zeit des beginnenden Christentums trieb man einst ein merkwürdiges Spiel.

Der Schönheitszauber, mit welchem absinkendes Leben gleichsam noch ein Mal Liebe und Erbarmen umwirbt, wurde zum Genusse der ahnungslos unfromm gewordenen Kulturgesellschaft.

Es gibt ein kleines lanzettförmiges Fischlein, die Meerbarbe, welches man durch Stechen und Reizen, Betasten und Quälen dazu bringen kann, sich in Farbentanzen zu vergeuden.

Das gequälte Geschöpf erschillert in immer anderen Farben bis es schließlich nicht mehr kann und allmählich verblassend in immer abstrakteres Grau verlaufend, sich zu Tode erschöpfte.

Ich habe Eure Bücher und Briefe, Gedanken und Werke gelesen, Kameraden im Zuchthaus in Niederschönenfeld.

Ich weiß um das Wesen des Geistes.

Vergönne, daß ich Dich küsse, Blume, als küßte meine Ehrfurcht in Dir alle Demut, alle Einfalt, alles Schweigen, alle Unschuld der Erde, die wir töten mit Geist und Werk.

Mir brauchst Du nichts mehr zu sagen.

Auch ich hab's gelebt.

Wie Ihr.

Wie Du.


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