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Feind im Land?

1923

Drei Stunden hatten die Sirenen durch den herben Mai geheult. In die Nacht der Gruben und Stollen trugen sie die Kunde: »Die feindliche Okkupationsarmee ist im Anmarsch auf Dollarkamp. Sie will den Tribut erpressen, den unser besiegtes Land nicht zahlen kann.«

Drüben auf der ungeheuren Kuppel des Volkshauses, einer Stiftung des großen alten Tünnes, des heimischen Erz- und Eisenkönigs, wehte schon schwarz die Flagge der Republik. Und aus den dunklen Erdlöchern, bewaffnet bloß mit Haue und Schlagaxt, stiegen ins graue Licht der Ebene die schwarzen Kumpels und sammelten sich zu Hunderttausenden aus dem Blachfeld. Dort warteten schon ihre Frauen und Kinder, die Greise, die Arbeitslosen und die vielen Krüppel und Kranken aus dem verlorenen Krieg. Sie standen stumm wie zu einer Totenfeier gegen den Wald, der in Wind und Kälte wieder die ersten neuen Blätter getrieben hatte.

Aus der Ferne, wo blau durch schlotumrauchtes Hügelland der Fluß bricht, die Ruhr, aus der Ferne hörte man Signale. Von dort nahte Marschall Boche de Trocadero, der »eherne Sieger von Fatinitza«. Seine Infanterie hatte Befehl, rund um Dollarkamp einen drei Stunden weiten Kordon zu ziehen, damit im Rücken der wehrlosen Menge, gestützt durch Wald und Hügelland, aufgefahren würden die großen Mörser der Artillerie. Nur von Norden her hatte man einen Weg zum Volkshause freigehalten. Denn dort sollte an diesem Tage die Völkergeschick entscheidende Tagung stattfinden und der das Land verknechtende Vertrag von Falfiloques von den Staatsmännern der beiden Nationen noch einmal durchberaten werden ... Während in dem Hallenbau unter der Riesenkuppel die Blüte Europas wartete auf den Einzug des Marschalls, stand draußen in dem grauen Morgen, eingekeilt zwischen die rings von Hügeln drohenden Geschütze und ohne daß sie es recht wußte, von den langsam vorrückenden Truppen schon in der Ferne umkreist: die dunkle Masse der Proletarier, dumpf und stumm. Sie standen seit sechs Uhr morgens, wartend, daß einer komme, der ihnen sage, was sie nun beginnen sollten, zu verständnisloser Ohnmacht verdammt. Und doch lohte in ihnen der gebundene Stolz eines Volkes. Sprang diese Löwin empor, wo blieb die Macht der Bajonette? ...

»Tünnes soll sprechen! Tünnes soll sprechen!« ... ging es von Mund zu Mund. »Baldur, der junge, nicht der große Alte.«

Und da stand er schon auf der obersten Stufe der breiten Freitreppe, die an der Hinterseite des Volkshauses, unter der großen Altane, in die Ebene hinab läuft. Im weiten Felde um das freistehende Haus konnte man von überall her ihn sehen: den Erben ungezählter Milliarden, den Sprossen jener Geldherrscherkaste, welche aus Bauern- und Arbeiterblut dieser Scholle emporgestiegen, Geschlecht nach Geschlecht heraufgeklommen war zur Übermächtigung Europas, ja der ganzen zivilisierten Welt. – Da stand er: breit, blond, gesund, gepflegt, ein vollkommener Mann! – Er reckte den Arm gegen den grauen Frühlingshimmel und begann:

»Brüder! Ihr wißt, daß wir im Kampf gegen die halbe Erde unterlegen sind. Ihr wißt, daß sie uns gepreßt haben zu dem schändlichen Vertrag von Falsiloques. Wir können die aufgedrungenen Tribute nicht bezahlen. Nun kommen sie und nehmen uns die schwarze Erde. Unsere Kohle, unser Erz. Ich weiß: Kapital und Arbeit sind feind. Es läuft keine Brücke zwischen Besitz und Sehnsucht. Hier aber streck ich Euch entgegen flehende Hände. So wie dort der Wald Euch wieder entgegenstreckt blütenwillige Knospen. Laßt uns Brüder sein!«

Die Arme fuhren hart empor. Sein starker Körper bebte. Ihn würgten die Worte.

Da, mit gewaltigem Schwung sprang ein bleicher junger Mensch die Treppenstufen hinan. Schmal und wie eine dunkle Flamme flackerte er neben dem schönen blonden Jüngling. Und mit einer einzigen symbolischen Bewegung alles zusammenfassend, was in ihm vorging, ergriff er die Rechte des alten Feindes, legte seinen Arm ihm um den Hals und sagte: Bruder!

Männer reckten die Köpfe. Frauen huben die Kinder. Alle wollten das Wunder sehn. Denn das Wunder, ja das Wunder war gekommen. Das Haupt der Völkisch-Nationalen und der Prophet des Kommunismus hatten sich verbunden. Dies war Jens Liebrecht, der noch nie die Sache des Elends verriet.

Der Blonde stutzte.

War das ein politischer Schachzug der Kommunisten?

»Liebst Du so die Heimat?« (Zögernd kam die Frage.)

Und der andere erwiderte: »Ich liebe sie.«

»Du bist ein braver Kerl!« sagte der Blonde.

Und der Schwarze: »Nein Du

Die Sonne des Frühlings, noch ohne Feuer, strahlte über das Feld und segnete das Land und seine Kinder. Über Dollarcamp, von hunderttausend noterprobten Menschen gesungen, klang zum Himmel das Vaterlandslied: »Ja, wir lieben, lieben unser Land.« –

Indessen vollendete die feindliche Infanterie, entlang Wäldern und Hügeln heimlich die Umkreisung, und dahinter fuhr Artillerie die Geschütze auf. Als aber die Soldaten näherrückend die Massen vaterlandentflammter Arbeiter erblickten, gingen sie nicht mehr vor, sondern faßten Posto und riefen: »Bleibt besonnen, Kameraden! Wir werden nicht schießen. Auch wir sind Proletarier.«

Die Arbeiter lachten. Von Mund zu Mund, wie ein heiliger Schwur, lief ein einziges Wort: Generalstreik.

 

Marschall Michel Boche de Trocadero eröffnete derweil im großen Kuppelsaal die welthistorische Tragödie.

Unter der mit zwanzig Orden besäten goldstrahlenden Uniform lachte sein altes braves Soldatenherz. Da hatte er sie ja alle beisammen! Geduckt unter die Botmäßigkeit der ehernen Faust! – Aufgereiht in lederne Klubsessel saßen vor ihm, gehorsam wie Rekruten seiner Armee: Deutschlands berühmte Schwätzer, Maulhelden, Federfuchser, Stubenhocker, Bücherschreiber, Händler, Rechner, Schacherer, Theoretiker!

Was waren das hier für elende Zivilisten? ...

Das Parlament saß in zwei Gruppen einander gegenüber. Ähnlich wie bei einer Schulandacht die guten Jungens den Saal füllen. Ihre Lehrer aber sitzen vor ihnen auf erhöhter Estrade. Oder wie im deutschen Reichstag der Bundesrat seinen Platz erhält auf der Empore, gegenüber den Parlamentariern. –

In der Mitte der Estrade ragte eine Rednerbühne. Vor dieser Bühne stand der mit grünem Flaus überzogene Verhandlungstisch für den Marschall.

Der Saal war angenehm durchwärmt. Die Luft zwielichtdurchspielt. Es brannten schon am Morgen die großen elektrischen Birnen. Aber zugleich fiel durch die schwerverhangenen Fenster ein Strahl des die kahle Ebene durchflutenden Mailichts.

An der Seite des Marschalls saß Faussecocheur, der Talleyrand unserer Zeit.

Sein immer lächelndes Fuchsgesicht beugte sich zum Ohre des Marschalls, indem er hineinflüsterte die Namen und Steckbriefe der ringsum sich bewegenden, sitzenden, Notizen machenden Patrioten.

»Bemerken Sie, Marschall, dort den kleinen Finsteren. Das ist der alte Tünnes; der reichste Mann im Lande.«

Marschall Boche sah in ein paar dunkle, schwermütig lauernde Augen. Er dachte an Michelangelos Gesicht, das er irgendwo einmal gesehen hatte. Dann fielen ihm ein: die funkelnden Lichter eines sprungbereiten schwarzen Jaguars.

»Der gepflegte Herr daneben, Marschall: das ist der berühmte Pupp von Kohlen. Typ: preußischer Gardeleutnant. Ohne Vorurteil. Lebensberuf: Schwiegersohn. Weibliche Linie: Königstreue Oberregierungs- und Landräte mit zu viel Töchtern. Kleine Mittel, große Titel. Rechts daneben blond und dick: Thiessen. Im Freundeskreis genannt: Kanonenthiessen. Große Bombe. Schweres Kaliber. Verzwickte Familie. Zu viel Galle. Patrioten. Hand auf 'em Herzen. Vieux jeu. – Dahinter alles große Bank und Finanz! Habestein, Gewinner, Plutussohn, Gould, Guldner, Franken, Märker, Rais, Thaler und Pfund ... alles gangbare Münzsorten.« ...

Dem Sitze des Marschalls gegenüber in der ersten Reihe des Parterre hatte man einen vergoldeten Ehrensessel gepflanzt. Darin vergraben saß im blauen Überrock, vergleichbar einem dicken mit Wasserstoff aufgefüllten Ballon: der Reichspräsident, dem die schwere Aufgabe zufiel, mit zweihundert Pfund Lebendgewicht das ausgemergelte Vaterland zu repräsentieren. Staatsbeamte, Würdenträger, Politiker und Parteiführer reihten sich hinter seinem Thronsessel. Sie saßen da wie die dem Grab entstiegenen armen Sünder im Tal Josaphat, wenn die Posaune tönt am Tage des Gerichts.

Marschall Boche schwoll das Herz. Hier thronte ja Er. An Gottes Statt. Und schweifte sein strategisches Auge grad hinaus und hinweg über die Köpfe der armen Sünder, oh! auch da lachte sein eroberungsgewohntes braves Herz. Denn drüben in dem molligen Sammtnest, welches aus alten Tagen den Namen »Kaiserloge« führte, von drüben äugte die Damenwelt durch Operngläser. Auf ihn, auf ihn, den sie haßten, – ah! den sie liebten. –

Um den Kuppelsaal lief eine Spiegelgallerie,

Vor den Spiegelwänden, die das künstliche Licht der elektrischen Flammen reflektirten, saßen auf Tribünen, rechts und links: die lebendigen Spiegel dieser Welt: die Insassen der Konversationslexika, die geladenen »Repräsentanten der Kultur«: Schriftsteller, Gelehrte, Dichter. Sie saßen da wie Glossen, die der Weltgeist schreibt an den Rand der Geschichte, nein! wie gespenstische Lichter, aufgesteckt um einen schwarzen Abgrund. Sie reihten sich an einander wie drohende Hieroglyphen, welche Boches einfaches Soldatenherz nicht zu lesen verstand.

Aus der langen Reihe der mystischen Hieroglyphen ragte links ein dünnes dekadentes Ausrufungszeichen. Das war der Dichter Männe, der Shakespeare der Luxussanatorien.

Ihm gegenüber auf der rechten Tribüne, anzusehen wie ein in der Sonne bürgerlichen Wohlergehns schmächtig aufgegangenes niedliches Harmonienüllchen, hing sein jüngerer Bruder, zubenannt »das Wimmerlottchen«.

Die beiden Brüder kamen aus Lübeck. Aus der Stadt, wo das raffinirteste deutsche Zuckerwerk, das Marzipan hergestellt wird. Als sie geboren wurden, hatte ihre Mama sie nicht in reines Linnen, sondern sogleich in nobelstes Büttenpapier, (in Romanliteratur aus dem Verlage von Semmi Fischer in Berlin und Kurt Wolff in Leipzig) einwickeln lassen. Der wackre Vater aber hatte gesagt: »Wenn's Kapital reicht sollen unsre tüchtigen Jungens »Dichter« studieren.« Da begannen sie sogleich die Windeln lyrisch zu füllen. Und durch lange treue Übung waren sie zuletzt kulturelle Orakelquellen der Nation geworden.

Um die beiden kulturellen Orakelquellen der Nation herum sahen alle, welche des Landes Kultur unter den Füßen hatten. Alle »Kulturvertreter.« Und da die beiden führenden Brüder, der rundliche Konvex- und der magere Konkav-Spiegel jeder immer das Gegenbild des andern zu werfen bestrebt waren, so hatten sich rechts hinter Tomi die Klassiker und Stilisten aber links hinter Heini die Romantiker und Radikalen der Nation zusammengefunden.

»Welche Affen!« dachte Boche de Trocadero. »Sie liefern dem Bürgertum den holden Zeitvertreib seines Müßiggangs und seiner Langenweile. Sie laufen ehrgeizig hinter der Zeit her und halten sich für die Polsterne der Ewigkeit. Kommt ein Bonaparte, dann rasseln sie kriegerisch. Blüht aber päpstlich ein Gregor, dann himmeln sie fromm. Das nennen sie Entwicklung. Sie sind Gips, Stuck, Fassade, vergoldetes Ornament am Bau der Geschichte. In der Welt aber herrscht die Macht. Und die Macht, das bin Ich! Ich! Boche, der eherne Marschall!«

Nur einen im Saale fürchtete der eherne Marschall, oder besser gesagt – (denn ein Boche de Trocadero fürchtet weder Hölle noch Teufel) –: Einer war ihm unheimlich.

Das war ein kleiner magerer glatzköpfiger Herr mit harmlosen Gesicht, der in der äußersten Ecke des Saales saß und von Zeit zu Zeit abgehackte Worte oder Zahlen in ein Schallrohr hineinwarf.

Dieser rätselhafte Mensch war Mannheimer, der Inhaber von Mandelsüß & Co., der großen nationalen Bankfirma. Wohl niemals hatte Jemand seine Gedanken ergründet. Er saß im Winkel wie die Schicksalsweberin, die Norne, welche alle Fäden in Händen hält. Denn je nachdem dieser Mann kreditierte oder Kredit verweigerte, konnten Königreiche oder Republiken, Kriege oder Revolutionen in Szene gesetzt werden. Aber obwohl seinem scharfen Ohre sicherlich kein Wort der Verhandlung entging, saß er doch hier, als wenn er nicht mit dazu gehöre und als wenn ihm sämtliche Berühmtheiten vorne auf den Hochsitzen wie oben auf den Zuschauerbänken vollkommen gleichgültig seien. Und in der Tat! Sie alle waren dem kleinen Mannheimer vollkommen gleichgültig. Er saß seelenruhig an seinem Fernsprecher und spie Zahlen. Es handelte sich dabei um ein nur für seine Vertrauten verständliches Zeichensystem, überall belauschten Vertrauensmänner die Buchstaben und Zahlen, welche nach einem bestimmten Schlüssel in Silben und Sätze umgedeutet wurden. So empfing das Heer abhängiger Banken Mannheimers Befehle, welche Papiere am Weltmarkt zu kaufen oder zu verkaufen seien. Denn aus jeder Schwankung der Weltgeschichte kombinierte sein ewig rechnender Verstand sofort das Soll und Haben der Wirtschaft, und alle die großen Schicksale der Menschheit beschäftigten ihn nur als Anregung zu immer neuen erdübermächtigenden Schiebungen.

Marschall Boche fühlte geheimes Grauen vor einem Manne, der mit einer immerkalten Zigarre im Munde, in einer Ecke sitzt und Worte in ein Telephon wirft. Hier endete die Macht des Welteroberers. Hier saß der Satan Geist. Er hatte die Gestalt des kleinen Mannheimer angenommen und veranstaltete durchs Telephon Revolutionen oder Kriege, mit mystischer Logik lenkend das Schicksal der Welt ...

 

Es schien nun angebracht, daß das Reichsoberhaupt mit ein paar passenden Worten die Eröffnungsphrasen des Marschalls erwidere. –

Guschen Ehrlich war ein kreuzbraver Mann; aber er gehörte zur schweren Masse der Erde.

Als seine Partei nach dem verlorenen Kriege dank der großen Revolution zur Regierung kam, da hatte es sich herausgestellt, daß sie keinen besaß, der die zum Herrscherstuhl notwendigen Eigenschaften in genügendem Maße aufwies. Denn jene ungeheure Pyramide von Sitzgelegenheiten, welche man: »der Staat« nennt, wird von einem merkwürdigem Gesetz geregelt, nach welchem das Gehirngewicht in umgekehrtem Verhältnis zum Gesamtkörpergewicht zu- oder abnehmen muß, je nachdem sich die betreffende Sitzgelegenheit näher der Spitze oder näher der Basis der Pyramide befindet.

Oder, (um einfacher und klarer zu reden): Schwere Gehirne haben das Bestreben, ihre Träger wie Blei nach unten, leichte Gehirne haben das Bestreben, ihre Eigner wie Kork nach oben hin zu tragen. Und so wird der oberste Sitz der Stuhlpyramide am zweckmäßigsten besetzt durch »massive Körper mit relativ leichter Gehirnmasse«.

Dieses Gesetz, (das sogenannte Mach-Einstein'sche Axiom) begründet die Berechtigung, ja die Notwendigkeit der monarchischen Staatsform. Denn nur eine lange Inzucht kann in den edelsten Geschlechtern des Landes allmählich solche zum Herrschersitz vorbestimmte Persönlichkeiten hervorzüchten.

Daher kam die durch die Revolution emporgetragene Partei in größeste Verlegenheit. Denn sie hatte keinen für den Herrscherthron geeigneten Mann, da all ihre Parteimitglieder (infolge der geistauslösenden Leidensgeschichte des Volkes) schon zu »intellektuell« geworden waren.

Weil man aber durchaus einen haben mußte, der allen Volksgenossen sowohl ansehnlich als geistesunverdächtig genug erschien, so beschloß man, in der wichtigen Frage des Staatsoberhaupts, die Parteimitglieder von Elias Müller, einem bewährten Göttinger Experimentalpsychologen wiegen und messen zu lassen.

Müller hatte bei Guschen Ehrlich den »Mach-Einsteinschen Eignungsindex mit dem größten Näherungswerte« Formel verkörpert gefunden. »Fast schon ein Hohenzoller«, hatte Müller gesagt, und da hatte man denn Guschen zum Präsidenten gemacht.

Und weil er ein herzensguter Mann war und nahe beim Wasser baute, so begann er seine Erlasse an das Volk gerne mit dem zeitgemäßen Satze: »In dieser schwersten Stunde meines Lebens« und endete mit folgender Wendung: »Bedenken Sie, meine Herren, daß wir vor der Weltgeschichte die Verantwortung tragen für alle noch ungeborenen Geschlechter.« – Kein Politiker kümmerte sich um seine Reden, kein Minister hörte sie bis zu Ende. Aber man wußte allgemein, daß dieses Register notwendig gezogen werden müsse auf der lyrischen Orgel des Volksgemüts. Einer mußte eben als tragische Muse des ausgemergelten Vaterlandes dienen, und dazu eignete sich keiner so gut wie Guschen Ehrlich ...

 

Indessen man den Reichspräsidenten aufsteigen ließ als einen blauen Ballon, der allmählich aufgefüllt wird mit frischen Wasserstoffgasen, indessen also Guschen begann: »In dieser schwersten Stunde meines Lebens«, begab sich der jüngere Tünnes, der blonde Liebling der Nation, zu Emil Blender, dem Außenminister, und bat um eine kurze Unterredung.

Diese Unterredung fand statt in einem der kleinen Seitenzimmer des Volkshauses.

»Nehmen Sie Platz, lieber Doktor« sagte der Außenminister. Er war ein angenehmer und gemütlicher Mann. Der untere Teil seines Gesichtes glich einer Weidetrift der Humanität, aber der obere einem Kohlenbergwerk der Gerissenheit.

»Lieber Blender«, begann Tünnes, »ich komme aus Dollarcamp von der Versammlung der Proletarier. Das Benehmen der Kommunisten schlägt allen Gewohnheiten des Klassenkampfes ins Gesicht. Der Arbeiterführer Liebrecht benahm sich heute Morgen so ausschweifend vaterländisch, daß ich eine Tücke des Proletariats befürchte. Denken Sie mal das Äußerste: Die durch uns vaterländisch entflammten Arbeitermassen beschließen, wirklich Ernst zu machen. Unsre Lage könnte dadurch entsetzlich werden.«

Der Außenminister lächelte. Über der Weidetrift der Humanität erglänzte ein satter Sonnenaufgang.

»Tja, mein lieber Tünnes«, sagte er, »Sie mögen ein großer Organisator der Industrie sein; aber Sie sind kein Politiker. Merkten Sie denn nichts? Was Sie soeben mit dem jungen Liebrecht erlebt haben, das war ein abgekartetes Spiel. Wir selber haben die Komödie inszenirt. Wir haben die Arbeiterschaft des Landes um das Volkshaus zusammengezogen, damit sie dort ausharre während des ganzen Verlaufs der Verhandlung. Wir haben zweitausend regierungstreue Anarchisten als Spitzel unter die Masse verteilt und sie verpflichtet, immerfort die Marseillaise zu singen. Mein lieber Tünnes, Sie haben keine Ahnung von der Macht der Musik auf das Menschenherz. Wir erregen eine durch das ganze Land sich verbreitende Vaterlandspsychose, lassen das Proletariat mit Arbeitsverweigerung drohn, bis den Soldaten Angst und Bange wird, und pressen dann unter dem Schwert des Damokles für uns so viel Erleichterung heraus, als nur irgend möglich. Liebrecht lassen Sie nur gewähren. Wir halten ihn fest an der Strippe. Wenn er uns mit Patriotismus lästig fällt, dann blasen wir eben ab. Wir verbreiten einfach, er habe den Klassenkampf verraten und sei von der Regierung gekauft.« –

Der große alte Tünnes, welcher durch alle Räume streifte und nach politischen Tips aushorchte, stand während dieses Gesprächs neben seinem Sohne. Immer ärgerte ihn die warmherzige Gerissenheit des Außenministers und die höhnische Gleichgültigkeit Mannheimers. Diese beiden hielt er für die schlimmsten Feinde einer »gesunden nationalen Politik«. Aber gewöhnt, seine Gefühle zu verbergen, tat er, als ob er mit seinem Sohne streite, und schimpfte Baldur derbe herunter, doch immer so, daß der Außenminister alle diese Worte hören mußte:

»Jeder Tag Generalstreik ist Sünde an der Nation. Die Produktion von Gütern ist die vitale Kraft des Landes. Exportwege, Kolonieen, Schiffe und Eisenbahnen sind die Nerven des sozialen Organismus. Industrie ist unser Herz, unser Mark, unser Blut! Feiern wir, dann können wir nicht bezahlen. Bezahlen wir nicht, so fordern wir Gewalt heraus. Wir müssen arbeiten, arbeiten, arbeiten! Zwölf Stunden, zwanzig Stunden! Arbeiten! Das nur kann uns retten.«

Emil Blender, der Außenminister, tat, als ob er nichts höre. Er stand auf, begab sich in den Saal auf die Estrade, betrat die Rednertribüne, entfaltete viele Papiere und begann die Rede.

 

Nach Guschen Ehrlichs Säuseln im tiefen Bierbaß klang Blenders heller Tenor wie eine feine stählerne Klinge, welche die Luft durchsaust und zum Zweikampf auffordert.

»Meine Herrn, ich komme, um Sie zu warnen. Sie alle kennen die Geschichte der Bartholomäusnacht. Auch unser Volk könnte einmal dem fremden Eindringling solche Schreckensnacht bereiten. Es gibt eine Gewalt, gegen die auch die stärksten Kanonen unwirksam werden. Sie heißt: Volksverzweiflung! Fünfzig Prozent können wir leisten. Nehmen Sie sechzig Prozent, dann sind wir Heloten. Unser Volk erträgt nicht das aufgedrungene Joch des Helotentums. Soll es von Ihnen das Äußerste erdulden, so wird es auch zur letzten Waffe greifen: Generalstreik

Bei diesem Worte verfärbten sich Politiker und Militärs. Auch der Marschall zwirbelte nervös an seinem kleinen schwarzen Schnauzbart.

Nur die Industriellen der feindlichen Nation lächelten. Auf ihren Gesichtern stand mit unverschämter Deutlichkeit zu lesen: »Ihr werdet nicht den Ast absägen, auf dem wir alle sitzen.«

Da geschah etwas Erstaunliches. Aus der letzten Ecke hinterm Telephon, grell wie ein Messer, das über Stein kratzt, tönte hervor die Stimme des kleinen Mannheimer: »Wir sind keine Händler!«

Darauf setzte er sich und warf wieder mystische Worte ins Telephon.

Jetzt erblaßten auch die Industriellen.

Die Bankiers flüsterten einander zu: »Merken Sie sich den Tip. Er macht in Baisse.« »Unsinn«, sagten andere. Er macht künstliche Baisse«.

Wahrhaft erschrocken war der große alte Tünnes.

Zwischen ihm und Faussecocheur hatte eine Vorbesprechung stattgefunden. Sie hatten gemeinsam die großen Schlachtfelder besichtigt und dann in Monte Carlo ausgemacht, was heute bei der großen Verhandlung von den Staatsmännern der beiden Nationen beschlossen werden solle. Mannheimers Verhalten durchkreuzte all ihre Pläne.

»Der verfluchte Jude«, flüsterte der große Alte seinem mitsachverständigem Landesfeinde ins Ohr, »erst spielt er den Konservativen, dann verdirbt er uns am Weltmarkt das nationale Geschäft.«

»Mein Lieber«, lächelte Faussecocheur liebenswürdig, »das ging gegen Sie. Er haßt Ihre Völkisch-Nationalen.«

»Sie irren mein Bester«, gab Tünnes zurück. »Gegen Sie war es gemünzt. Es sollte heißen: Die Großindustrie kann nichts machen ohne internationales Kapital.«

»Ja, die Industrie«, entgegnete Faussecocheur (und der andere konnte nicht herausbekommen, ob das Ernst sei oder Ironie), »die Industrie ist immer national. Das Bankgeschäft aber ist vorurteilslos. Wir alle sind Ritter des Vaterlandes. » Costels« sagen wir in Paris: Das Vaterland ist unser geliebter Suppentopf. La marmite sagen wir in Paris.«

 

Im Saal entstand jetzt eine wilde Unruh. In den Gängen, auf den Galerien, in den Seitengemächern bildeten sich plaudernde Gruppen. Es hieß, daß die Haltung des Proletariats für die Versammlung bedrohlich geworden sei. Die erlesene Garde des Marschalls, welche in zwei Reihen aufgestellt, mit gefälltem Bajonett die Zugänge besetzte, meldete, daß es schwer werde, die Masse in gebotener Entfernung vom Hause abzuhalten.

Plötzlich brauste über die zehn Kilometer weite Haide wie Gewitter der Gesang der Marseillaise. Man konnte im Saal sich nicht mehr verstehn. Man war gezwungen, dem fernen Lärme zuzuhören. In das allgemeine beklommene Schweigen ereignete sich etwas noch Bedenklicheres. Eine Fensterscheibe klirrte. Ein Stein, von weither geschleudert, fiel nieder vor dem Platze des Marschalls. Tintenfässer und Aschenbecher flogen in die Höhe. Manche glänzende Uniform war mit Tinte bespritzt.

Von draußen klangen Stimmen. Dann erschollen brausende Hochs. Man unterschied den Namen: Liebrecht. »Hoch Liebrecht!« rief das Volk.

Die Würdenträger der Nation, voran Guschen Ehrlich, neben ihm der Kanzler Kuno Reißer, der Kultusminister Sepp Schwarbel, der Kriegsminister Stach v. Stachelbart und der Außenminister Emil Blender traten hinaus auf die Altane.

Schwarz von riesigen Menschenschaaren war die Haide, so weit der Blick reicht. Man sah Fahnen und Tafeln mit Inschriften: »Fort mit dem Feinde!« »Hoch der Generalstreik!«

Beim Erscheinen der Regierung begannen die Nächststehenden zu singen, und der Gesang pflanzte sich in die hintere Ebene fort. Dann wurde gerufen: Hoch Liebrecht! Viele Stimmen forderten: Tünnes soll reden. Und wieder trat Baldur, wie ein siegreicher froher Gott vor die Menschenmasse:

»Brüder! Genossen! Landsleute! Keine Unbesonnenheit in der Weltgeschick entscheidenden Stunde. Wir sind von Waffen umstellt. (Hier schollen empörte Pfui- Rufe.) Aber wir werden auch in dieser Stunde uns als Männer bewähren.« ( Bravo! tönten die Stimmen von unten herauf.) ...

Aus der Masse mehrten sich die Zurufe: »Hoch der Kommunismus!«

Ein Arbeiter in blauer Bluse stieg auf eine Tonne und begann zum Altane hinauf zu reden. Seine unklare Rede (man wußte nicht, anempfahl sie nationale oder internationale Einigkeit) gipfelte in der Forderung: Jens Liebrecht müsse angehört werden. Liebrecht solle als Vertreter des arbeitenden Volkes an den Verhandlungen teilnehmen.

»Gut«, rief man von der Altane zurück. »Schickt Euren Liebrecht!«

Und der junge Tünnes, die Hand aufs Herz gedrückt, erwiderte dem Blusenmanne: »In dieser Stunde gibt es keine Unterschiede der Partei. Wir alle sind Brüder. Schickt den von Euch gewählten Vertreter in den Vorsaal. Er soll mir sagen, was die Arbeiterschaft von unserer Regierung fordert.«

Da brauste über Dollarcamp der freudige Takt der Marseillaise. Und (merkwürdig!) auch die Gardesoldaten sangen mit. – –

 

Während so die Regierung mit dem Volke in Fühlung trat und die Patrioten sich untereinander verständigten, führte drinnen im Saale Marschall Boche ein geheimes Gespräch mit Faussecocheur.

Der Talleyrand unsrer Zeit beugte sein fuchsschlaues Spitzbartgesicht vergnügt zum Ohre des Marschalls und flüsterte:

»Gestehn Sie, Marschall, die Regie hat vortrefflich gearbeitet. Sogar der Steinwurf ist gelungen. Die ganze Ebene, zwei Meilen weit, wimmelt von Volk. Sie sind umstellt von Kanonen. Wie jagen sie auseinander, sobald wir wollen. Wir haben 2000 militärfromme Sozialisten als Spitzel verteilt, welche verpflichtet sind, immerfort zu rufen: »Hoch der Generalstreik!« Wir haben 500 Millionen Mark aus den Kassen der Reichsbank requirirt. Wir verwenden dieses Geld zur Unterstützung einheimischer Reformatoren. Mehrere Dutzend trauerten als bisher verkannte Genies in der Landesirrenanstalt zu Düsseldorf. Wir haben sie befreit. 500 Millionen zur Propaganda der Menschheitsverbesserung ist eine ganz nette Summe. Man könnte dafür jede beliebige Staatsform haben. Jetzt stellen wir die Regierung unter das Damoklesschwert der Revolution und erpressen in dieser Lage, was immer wir begehren.« –

Dem einfachen Soldatenverstand des Marschalls leuchtete ein, mit welchen Trümpfen seine Politiker arbeiteten.

Putschgefahr, doppelte Regierung, Ausspielen der kommunistischen Arbeitermasse gegen die nationale Verteidigung, dadurch Schwächung der Stoßkraft der Nation, vielleicht Bürgerkrieg, Revolution, woraus dann der ins Land widerrechtlich eingedrungene Gegner die edelsten Motive gewann, um vor aller Welt seine Übergriffe darzustellen als Wohltaten gegen die Zivilisation.

Marschall Boche sah sich schon in bengalischer Beleuchtung als Retter Europas.

Neugierig aber war er auf das Erscheinen des kommunistischen Abgeordneten. Daß man diesen Proleten ausspielen müsse gegen die Völkisch-Nationalen, stand von vornherein fest. Er hatte für einen Mann, der ihm das Land in die Hand spielte, die zärtlichsten Gefühle.

 

Im Vorsaal, zwischen den Sandsteinsäulen, stand wartend Jens Liebrecht. Sein ernstes Gesicht war zerfetzt von Kämpfen der Arbeit. Seine Gestalt zart und schlank. Er schien noch sehr jung zu sein, aber durch frühes Leiden frühe gereift. Seine Kleidung war sauber, aber sehr abgetragen und ärmlich. Er sah aus wie ein verfeinerter Mensch, den das Schicksal hinabgeweht hat, tief in die Gruben des Proletariats.

Ohne Umstände trat er auf den blonden Tünnes zu und, als wenn zwei völlig miteinander einverstandene Verschworene sich über ihren Plan verständigten, flüsterte er ihm ins Ohr:

»Es ist alles bereit. Die Hochöfen werden verschüttet. Die Wehre des Ruhrstromes reißen wir ein. Dann fluten die Wasser in die Schächte. Kein Stollen kann befahren werden. Sie finden auch keine Belegschaft. Holen sie fremde Arbeiter ins Land, dann sabotieren wir. Wir werden arm, aber frei!«

Der andere blickte fassungslos. Dann stammelte er: »Was heißt denn das? Was wollen Sie eigentlich?«

»Höre!« flüsterte der Schwarze. »15 Billionen Mark beträgt die Schuld des Landes. Genau so groß ist das Vermögen Deines Vaters. Wir beide können also das Vaterland retten. Opfere Deinen Besitz, dann hält das Volk durch und sei es auf Jahre.«

Da durchfuhr den Milliardärsprossen ein jäher Schreck des Erkennens. War dieser Mensch da ein Schwärmer? Ein Irrsinniger? Nein! Ein Rechner, ein Meisterrechner! Oder das Werkzeug von Meisterrechnern, welche klüger waren als alle Politiker der Versammlung. Und er, Baldur Tünnes, das reiche vaterländische Gemüt, mein Gott, was hatte er getan! Vor Hunderttausenden, angesichts der ganzen Arbeiterschaft, hatte er diesen Burschen umarmt und Bruder genannt.

Man hatte ihn zu kompromittieren gewußt, indem man einen Menschen vorschickte, welcher scheinbar die internationale Partei verriet an das Vaterland und gerade dadurch das Vaterland auslieferte an die Partei.

Und mit tiefem Abscheu sprudelte aus ihm hervor: »Ja! Ihr seid Rechner! Kommt unter dem Druck der Feindeswaffen die Revolution, dann sind wir wehrlos. Vortrefflich! Wieviel hast Du von Marschall Boche genommen?«

Liebrecht zupfte an seinem abgetragenen Rock. Er schien gar nicht beleidigt.

»Höre!« sagte er.

»Ich habe von unsern Vorfahren gelesen, daß die Frauen mit den goldenen Flechten ihrer Haare die Männer festgebunden haben an Wagenburgen. Keiner sollte sich fortschleichen können. Sie wollten alle gemeinsam sterben, wenn sie nicht gemeinsam siegen konnten.« ...

»Hören Sie auf!« schrie Tünnes ungeduldig. »So viel habt Ihr doch in Euren Parteischulen begriffen, daß heute jedes Land verflochten ist in die Weltwirtschaft. Man macht keine praktische Politik mit rhetorischen Mitteln, die der Propaganda dienen. Gut! nehmen wir einmal an, wir zerstörten unsre Werke und Werte, um sie dem Feinde zu entziehn. Würde man in uns nationale Helden sehn? Nein! Wir wären die Totengräber Europas. Wenn unsre völkisch Gesinnten nicht besonnen sind, so werden die Patrioten der fremden Länder uns zur Besinnung bringen. Sie werden wenig Verständnis haben für einen Akt der Selbstzerstörung. In gewissen Augenblicken nur Patriot sein, heißt kein Patriot sein. In gewissen Augenblicken kein Patriot sein, ist Forderung des Patriotismus.«

Da trat der andere einen Schritt zurück. In seiner Miene fror unbändiger Stolz. Wie ein Richtbeil fielen die eiskalten Worte: »Ich bemerke, Sie stehen auf internationalem Standpunkt. Sie können nicht los von den Voraussetzungen des Klassenkampfes. Aber wirklich! In diesem Augenblick verfangen nicht marxistische Phrasen. Jetzt handelt es sich nicht um Volkswirtschaft. Jetzt handelt es sich um Deutschlands Seele.« ...

 

Man sieht auf Jahrmärkten Drehscheiben, auf die sich große und kleine Kinder setzen zu dem eigenartigen Vergnügen, sich bald nach links und bald nach rechts herüber und hinüber schaukeln zu lassen. Den beiden ward zumute, als schaukelten sie auf einem Wippbrett. Sie merkten, daß jeder sich hineinverfangen hatte in das Phrasengarn der falschen Partei. Sie waren Kämpfer, die sich gegenseitig ihre Waffen stahlen. Starr blickten sie einander an. Der junge Tünnes erschrak. Diese schwarzen unheimlichen Augen schienen ihm ins Innerste zu bohren. Aber als der gesellschaftlich Gewandtere hatte er sogleich die Kraft, den gordischen Knoten zu durchhauen.

»Ihre Weltanschauung machen Sie mit Ihrem Gewissen aus. Das bekümmert uns nicht. Wir, das will sagen, alle wahrhaft vaterländisch und völkisch Fühlenden, sind nicht gewillt, das Vaterland hinzuopfern für Experimente und Utopien.«

»Gut!« sagte der andere. »Nun höre ich wieder die Tonart, die ich kenne und an die man mich gewöhnt hat. Auch ich kann kurz sein. Draußen stehen 300 000 Arbeiter. Ich rede als ihr Abgesandter. Wir geben eine Stunde Bedenkzeit. Ist binnen einer Stunde nicht der Generalstreik beschlossen, dann treten wir aus eigener Kraft in den Ausstand.«

»Das heißt Staatsstreich.«

»Nein! Es heißt: Vaterlandsverteidigung.«

Sie maßen sich mit den Blicken. Eisig, kalt, voller Verachtung.

»Also Bruderkrieg?« keuchte Tünnes.

»Ihr wollt's.«

»Garantieren Sie für eine Stunde Ruhe?«

»Die Arbeiterschaft wird Ordnung halten.«

»Warten Sie also eine Stunde. Ich gehe in den Saal und unterbreite Ihre Vorschläge der Regierung.«

»Und ich zu meinen Leuten. In einer Stunde fragen wir an.«

 

Als der junge Tünnes in den Saal unter die große Kuppel zurücktrat, fand er die Versammlung aufgelöst in hundert zappelnde, schreiende, gestikulierende Gruppen und Grüppchen. Noch war nicht zu verstehn, was all diese Gruppen eigentlich wollten. Was war geschehn?

Der Marschall wünschte Befehle und Verhaltungsmaßregeln an die Offiziere und Unteroffiziere seiner Truppe zu senden, da stellte sich heraus, daß die Telephonleitungen zerschnitten seien. Er wollte Ordonnanzen abschicken, da erklärten die rings um das Haus liegenden Arbeiter, daß sie niemanden hindurchlassen und die Gefilde von Dollarcamp nicht räumen würden.

Man hatte sich also ineinander festgebissen. Man saß eingeschachtelt. Das Volk war von zwei Seiten mit Soldaten umstellt. Aber seinerseits umstellte es das Volkshaus. Ohne Blutvergießen durch die eng eingekeilte Masse durchzukommen war unmöglich. Mit den etwa eine Stunde entfernt stehenden Vorposten gab es keine Verbindung mehr. Gebrauchte man Gewalt, so überrannte die Menge das Parlament, in welchem die Edelgeister Europas beisammen saßen ...

Die Parteien im Saale waren emsig beschäftigt, einander gegenseitig die verfahrene Situation Schuld zu geben. Alle hatten mit dem Feuer gespielt, alle den Versuch gemacht, an der kochenden Volksseele ein nahrhaftes Süppchen zu brauen. Und nun drohte das Feuer sie alle zu verschlingen. Faussecocheur, als Vertreter der Okkupationsarmee, stellte mit dem Gestus ungeheurer Entrüstung fest, daß eine Reihe von Regierungsspitzeln abgefangen seien, welche aussagten, daß die einheimische Verwaltung selber sie bezahlte, damit sie unter den Arbeitern Stimmung machten für den Generalstreik. Aber eine noch größere Sensation entstand, als der Außenminister sich erhob und seelenruhig nachwies, daß offenbar Herr Faussecocheur sich an eine falsche Adresse wandte, daß von Seiten der Okkupationsbehörde nicht weniger als 5000 Spitzel besoldet würden, welche seit morgens 4 Uhr daran gearbeitet hätten, das unglückliche Land zum Generalstreik aufzureizen, ja, daß sogar die um das Haus herumgestellten Gardesoldaten kommunistisch vergiftet seien und daran mitarbeiteten, das Volk in Verwirrung zu bringen, damit der Feind Grund bekäme, seine durchaus widerrechtliche Invasion vor ganz Europa als Politik der Ordnung zu frisieren.

Beide Parteien aber entlasteten sich wiederum damit, daß sie nachwiesen, überhaupt keinen Vorteil vom Generalstreik zu haben, durch den ja einzig und allein die Macht der roten Internationale gestärkt und die Herrschaft der Straße über das arme Land, ja über Europa heraufbeschworen würde.

 

Es schien, als ob der Knoten der europäischen Politik in dieser Stunde zu einem völlig unlöslichem Wirrwarr sich verhedderte.

Die Parteien hatten ihre Programme vertauscht. Sie spielten das Spiel: »Alle Bäumchen wechseln sich«. Die Nationalen hatten sich als Kommunisten, die Kommunisten als Patrioten, die Fremden, indem sie das Land in Revolutionsgefahr hetzten, als Behüter vor Revolutionsgefahr verkleidet. Keiner sah mehr klar. Nur darin stimmten alle überein, daß die Kommunisten, indem sie die vaterländische Maske vorbanden, die günstigste Gelegenheit zum Verfassungssturze ausnutzten.

Wenn aber die Politiker nicht klar sahen, so sahen um so klarer die Generalstäbler.

Wer herrschte in diesem Augenblick? Gerade diejenigen, die man zu beherrschen wünschte. Gerade diejenigen, zu deren Verknechtung die ganzen Maßregeln der Invasion getroffen waren: das zwischen Mörsern eingeklemmte Arbeitsvolk.

Zum Glück denkt und weiß ja dieses Volk gar nichts! Wer wie, wenn es in dieser Stunde einmal die Lage begriff? Die gesamte Regierung und keineswegs nur die eigene Regierung, nein, die leitenden Polsterne des Weltteils, ja der zivilisierten Erde, jene paar tausend Gehirne, welche das Salz der Welt bilden, hier waren sie zusammengebannt auf einem Fleck, wie vielleicht noch nie zuvor in der ganzen Geschichte.

Marschall Boche de Trocadero beriet mit Adjutanten und Stabsoffizieren die strategische Lage. Zehn Divisionen lagen rundum auf die Höhen verteilt in einem Umkreis von vier Stunden. Erreichbar war ihrer keine. Um das Haus standen tausend Mann Garde. Einem Ansturm großer Massen waren sie trotz ihrer Waffe nicht gewachsen. Unternahmen die Offiziere oder Unteroffiziere im Hinterland irgend etwas auf eigene Faust, blieben sie nicht friedlich stehen, dort wo sie standen, so drohte die Katastrophe. Gingen die Truppen voran oder wurde geschossen, ja entstand auch nur der Schein einer feindseligen Haltung der fremden Truppe oder der Schein einer Lebensgefahr für die auf der Haide versammelten Arbeiter, so drang die zu Revolution und Arbeitsverweigerung aufgeputschte Menge, dreihunderttausend Menschen, nirgends Auswege sehend, gegen das Volkshaus vor. Im Nu wurde das Haus gestürmt. Alles wurde kurz und klein geschlagen, alles zerquetscht. Für die Masse war es ja ein Leichtes, wenn nicht die eigene autoritätlos gewordene Regierung, so doch sicher die Vertreter der feindlichen Nation gefangen zu nehmen und niederzuschlagen. Ja, die Menge, richtig geleitet, konnte die im Volkshaus wie in einer Falle sitzenden Berühmtheiten als Geißeln betrachten. Sie konnte aus eigener Macht mit den Soldaten verhandeln und erklären: »Wenn ein feindseliger Akt unternommen wird und Ihr auf unsere Wünsche nicht eingeht, so werden Eure Geißeln einfach abgeschossen.«

Natürlich würde dann auch die Menge dran glauben müssen. Die Soldaten würden den Platz säubern, ja vielleicht das ganze Volk zusammenkartätschen. Aber was nützte das den Koryphäen Europas? Europas Koryphäen gingen inzwischen hops.

 

»Eine ungemütliche Lage«, sagte Marschall Boche de Trocadero.

»Ihre durchdringende Intelligenz, Marschall«, erwiderte Faussecocheur, »trifft auch dieses Mal das Wort der Situation. Es ist richtig, wir sitzen hier in der Kreide. Jeder sitzt in der Grube, die er für den anderen bereitgehalten hat. Indessen habe ich doch eine Hoffnung. Das ist die Feigheit unsrer Armee.«

Der Marschall wollte aufbrausen. »Ich muß doch bitten. Feigheit! Bei Soldaten, die unter der Ehre meines Kommandos stehn.«

»Mein lieber Marschall«, sagte Faussecocheur, »beten Sie zum Herrn der Heerscharen um die Feigheit unsrer glorreichen Armee. Das günstigste wäre, wenn alle desertierten. Das würde unser Leben retten. Aber denken Sie mal das Gräßliche: Wenn all unsre Landsleute Helden wären wie Sie! Oder wenn sie so gute Patrioten wären wie hier zu Land die Kommunisten. In diesem Falle reizen sich die Menschen mit Schimpfworten. Sie stehen in der Haide viel zu dicht beieinander. Sie treten sich auf die Füße. Im Verlaufe eines langen Tages beginnen ohne Schlaf und Nahrung auch die frömmsten Menschen kollerig zu werden. Der Himmel ist wolkenlos. Es kommt kein Regen. Man hat nichts zu tun. Solche Dinge machen Weltgeschichte. Stellen Sie sich vor: Die Menschen auf Stunden weit lungern untätig herum. Sie singen, sie trinken, sie halten Reden. Sie vergiften sich mit Patriotismus. Plötzlich fällt irgendwo ein Schuß. Das genügt. Die Panik ist da! Wie Schafe drängt nun alles voran. Stundenweit alles aufs Volkshaus los. Sie und ich müssen dran glauben. Nur eine Rettung seh ich: Wir müssen Kommunisten werden. Ich halte es für ein Glück, daß unsre Truppe angewiesen ist, kommunistische Gefühle zu hegen. Wir wollen mal annehmen, unsre Soldaten singen dem Tagesbefehl gemäß fleißig die Marseillaise. Soldaten sind keine Politiker. Man darf also (Sie verzeihen die harte Bemerkung) noch mit unverfälschten Gefühlen der Volkspsyche rechnen. Die Erfahrung lehrt, daß es nichtpolitischen Menschen schwer fällt, eine Rolle zu spielen, ohne echt zu werden. Singen die Leute eine Stunde lang patriotisch, so fühlen sie patriotisch. Lassen wir sie eine Stunde lang kommunistisch singen, so fühlen sie sich als Kommunisten. Ich aber wünsche, daß die ganze Welt kommunistisch fühlt. Das heißt: eigentlich wünsche ich es auch nicht. Denn die patriotische Rücksichtslosigkeit der kommunistischen Arbeiterschaft übersteigt alle Grenzen des berechtigten völkischen Empfindens. Diesen Volksklassen mangelt die gute Kinderstube. Daher können sie nie Maß halten. Wenn der Arbeiter sich eine Apfelsine kauft, so kauft er zwölf Apfelsinen. Übrigens haben wir zum Glück in der Armee wenig Patrioten. Die besten sind aus Marokko.«

 

Während Marschall Boche und Faussecocheur auf diese Weise konferierten, saß hinten in der letzten Ecke ein wahrhaft Glücklicher. Er schien im ganzen Saale der Einzige zu sein, der trotz aller Gefahr die vorzüglichste Laune bewahrte. Das war Mannheimer, der Inhaber der großen nationalen Bankfirma Mandelsüß & Co.

Mannheimer saß immer noch in seinem Winkel. Sein Fernsprecher war zerstört. Er konnte keine mystischen Zeichen mehr hineinschütten. Aber das schien ihm gar nicht leidvoll zu sein. Er genoß eine der seltenen Mußestunden eines Lebens, in welchem jede müßige Minute eine Milliarde kostet. Aus Gewohnheit rechnete er weiter. Aber im wesentlichen beschäftigte er sich damit, die erkaltete Zigarre in der Rechten haltend, aufklärende Schlagworte in die umstehenden Gruppen hineinzubrummeln. Man konnte nicht ahnen, ob er sich über den Betrieb lustig mache, oder ob es ihm heiliger Ernst sei. Beides war möglich. Seine wie rostiges Eisen kratzende Stimme gab von Zeit zu Zeit Orakel zum besten, wie etwa dieses:

»Zweierlei ist heute, ist immer notwendig. Es ist das Eine, was nottut. Erstens: Echtes Christentum und allgemeine Bruderliebe. Zweitens: Vaterland und nationale Ehre. Unser Standpunkt vereinigt beides. Er ist der christlich-nationale. Jesus, meine Zuversicht! O Vaterland, Du herrlich Land, Du Land der alten Treue!«

»Hören Sie auf!« schrie sein Todfeind, der große alte Tünnes. »Sie machen unsre Politiker nervös.«

 

Der junge Tünnes schritt durch den Saal. Er drängte zur Rednerbühne. Kaum sah man, wie er winkend, taschentuchschwenkend, Arme reckend, auf der Rednerbühne stund, so wurde alles mäuschenstill.

Die Gruppen lösten sich auf. Aus den Gängen, den Seitenzimmern, von den Tribünen schlichen alle zurück auf ihre Plätze. Ungeheure, verhaltene Spannung zitterte über den Herzen. Jedes Kubikzentimeter Raum war mit Spannung geladen.

Der junge Tünnes begann mit keuchendem Atem: »Das Haus ist umstellt. Die Kommunisten fordern Generalstreik. Die Garde scheint mit den Arbeiterführern zu fraternisieren. Man gibt uns eine Stunde Zeit. Ist bis dahin nicht Generalstreik genehmigt, so übernimmt die Kommunistische Partei die Verteidigung des Landes.«

Auf den Tribünen und im Saal erfolgten wilde Zurufe.

Man rief: Oho! Hört! Hört!

»Das ist Euer Werk!« schrieen wütend die einheimischen Industriellen den auswärtigen zu. Aber diese riefen zurück: »Erwiesenermaßen das Eure!«

Der junge Tünnes ließ den ersten Sturm vertoben. Dann redete er weiter, atemlos, sprunghaft, abgehackt:

»Meine Herren! Ich beschwöre Sie. Wir sind Genossen auf sinkendem Schiff. Wir stehn im Kampf gegen das Chaos. Jetzt handelt es sich um dieses: Soll die Straße herrschen oder die Ordnung? Wie stellt sich die Regierung? Welche Sicherheit gibt uns der Marschall? Wir haben eine Stunde Zeit zur Beratung.«

Er konnte nicht weitersprechen. Wieder unterbrach ihn der allgemeine Sturm.

Einige im Saale schrieen: »Unerhört!« Andere: »Unsre Patrioten benehmen sich wie Bolschewisten.« Andere: »Unsre Kommunisten sind Patrioten.«

Alles überschrie sich. Endlich schwebte wieder Tünnes Stimme über den wogenden Wassern.

»Ich höre Klage und Anklage. Dazu ist keine Zeit. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich kein Spartakist bin. Aber ich habe an die Vaterlandsliebe auch der Kommunisten geglaubt. Ich habe einen ihrer Arbeiterführer heute Bruder genannt. Das war verkehrt. Das halsen sie uns auf. Es ist wahr. Aber konnte ich voraussehn, daß die Kommunisten die Situation mißbrauchen würden, um den Terror zu errichten?«

Die Politiker lachten.

Aus dem Parterre tönte ein lebensfröhlicher Bariton: »Kunststück! No ne!« ...

Dies war die Stimme des Führers der Demokraten, des liebenswürdigen Freiherrn von Habebald.

Er leitete ein Bankgeschäft und hatte die Gewohnheit, zu jüdeln.

»Lachhaft!« rief man von den Tribünen. Alles war heilfroh, einen Sündenbock gefunden zu haben.

Emil Blender, der Außenminister, wußte auch sofort dieses Ventil für die allgemeine moralische Entrüstung aufzuklappen.

»Tja, sehn Sie, Herr Doktor Tünnes«, sagte er, »das kommt davon, wenn eine Partei Politik treibt auf eigene Faust ohne Wissen der Regierung. Nun muß die Regierung die Suppe ausessen, die die Nationale Volkspartei eingebrockt hat.«

»Tableau!« rief der vergnügte Freiherr.

Der ältere Tünnes, der große alte, welcher seinen Sohn gern bei jeder Gelegenheit grob schuriegelte, aber sogleich in Harnisch geriet, wenn das von fremder Seite geschah, pflanzte sich (obwohl er den taktischen Fehler durchschaute), vor seinen Sohn hin und erwiderte mit Schärfe: »Wenn in des Vaterlandes schwerster Stunde zwei Volksgenossen einander Bruder nennen, so kann niemand darin etwas Verkehrtes finden. Unsre Partei glaubte an die Vaterlandsliebe der andern. Man hat uns betrogen. Nun müssen wir einen Kampf kämpfen nach zwei Fronten. Wir müssen gemeinsam mit dem inneren Feind gegen den äußeren Feind kämpfen. Aber gemeinsam mit dem äußeren gegen den inneren.«

»In der Tat«, rief Faussecocheur, »wir können hier ja den Rebus lösen: Wo ist der Feind?«

Die Verlegenheit war allgemein.

Marschall Boche ließ mit drei mächtigen Glocken Ruhe läuten.

Inzwischen besprach er sich mit Faussecocheur.

»Mein werter Marschall«, sagte Faussecocheur, »machen Sie diesen Idioten recht bange, aber lassen Sie es um Himmels willen nicht zur Krise kommen. Geben Sie diesen Kaffern das Gefühl, daß eine ernste Gefahr droht. Und gleichzeitig das andere Gefühl, daß Sie und Sie allein in jeder Gefahr die Sicherheit verbürgen. Die Welt läuft immer nach Seite der Sicherheiten. Hat man keine, dann muß man eben so tun.«

 

Endlich trat Ruhe ein. Der Marschall konnte sich wieder vernehmbar machen. Er sprach:

»Hochansehnliche Versammlung! Man muß als Soldat auch mit Haltung zu sterben verstehn. Aber seien Sie ohne Sorge. Unsre treue Armee ist von unzweifelhaftem Patriotismus beseelt. Sie wird, von vaterländischem Geiste getragen, auch das fremde Land vor Revolution zu beschützen wissen. Ja! Wir beschützen Sie! Wir verwalten Europas Recht und Ordnung. Aber wir müssen binnen einer Stunde dem streikenden Proletariat einen beruhigenden Bescheid erteilen. Steht die Regierung hinter dem Generalstreik oder erklärt sie, ihn zu mißbilligen? Was uns betrifft, als Vertreter der Okkupationsbehörde, so können wir unsre Meinung kurz zusammenfassen. Billigt die Regierung den Generalstreik, so werden wir die Regierung verhaften und für Arbeit und Ordnung in Ihrem Lande Sorge tragen. Billigt die Regierung den Generalstreik nicht, so billigen doch wir ihn und lassen die aufgeregten Massen nach Hause gehn mit dem Bescheid, daß die Regierung den Generalstreik gebilligt habe. Diese Maßregel mag etwas ungewöhnlich erscheinen. Aber können Sie mir etwa einen andern Weg zeigen, wie man eine Nation, welche uns belagert, dazu bringt, nach Hause zu gehn?«

Die Verlegenheit gelangte nun auf den Gipfel.

»Wünscht noch jemand das Wort?« fragte Faussecocheur.

Guschen Ehrlich, da er doch die oberste Regierung war, fühlte sich verpflichtet, auch etwas zu sagen. Er pumpte also die Pneumatik ein wenig auf, stieg empor und begann: »In dieser schwersten Stunde meines Lebens«, ... aber die um ihn Herumsitzenden drückten ihn in den vergoldeten Ehrensessel zurück und sagten: »Das geht nicht, Exzellenz. Jetzt ist's Ernst; jetzt muß politisch geredet werden. Lassen Sie Kuno Reißer oder Emil Blender die Sache schmeißen.«

 

So sackte denn der blaue Ballon wieder zusammen, ließ seine Luft ab und versank in seinen Ehrensessel. Aber schlank und elegant, ganz das Bild ausgekühlter und abgeklärter Männlichkeit, stieg Emil Blender empor, nahm aus der rechten Augenhöhle ein Einglas, blies ein Stäubchen herunter, entnahm dann mit großer Umständlichkeit seiner Brusttasche ein seidenes Taschentuch, begann, das Lorgnon graziös zwischen zwei Fingern haltend, des Glases spiegelnde Fläche sorgfältig blank zu putzen und sprach, während er nur dieser Tätigkeit zugewandt schien, im leichten Plaudertone das Folgende:

»Meine Herren! Die Situation ist für den Politiker so klar und einfach wie nur möglich. Sie entspricht unsern Wünschen und Erwartungen. Will die Mehrzahl des Volkes, so lange der Feind im Lande steht, nicht arbeiten – (und das scheint ja wohl der Fall zu sein) –, so billigen wir dieses Verhalten, geben aber den Herrn auswärtigen Militärs, Sachverständigen und Politikern ernstlich zu bedenken, daß in diesem Falle keinerlei Garantie für ihr Leben von uns übernommen werden kann. Als Mensch und als Christ wünsche ich Ihnen von ganzer Seele, daß Sie, meine Herren, noch einmal lebend aus diesem Saale herauskommen. Vorläufig aber ... das Volkshaus, ich hab es immer beklagt ..., hat eine ungenügende Anzahl von Toiletten – es ist schrecklich: Sie haben die Ruhr und alles ist besetzt –, tja, meine Herren ... Sie müssen wohl peinlicherweise sitzen bleiben und von uns einige Lehren entgegennehmen. Ich brauche diese Lehren nicht in Worte zu fassen. Die Stimme des Volks, nicht wahr?, ... die von draußen so vernehmlich in Ihr Ohr fallende, spricht statt meiner: »Niemals werden Sie uns mit Gewalt zwingen, für Ihre Kasse zu arbeiten! Niemals! Daß Sie von einem Volke, welches fest gewillt ist, lieber seine Produktion zu zerstören, als für Sie, meine Herren, zu frohnden, gar nichts erlangen, sozusagen: nichts erpressen können, das dürfte doch wohl Ihnen allen endlich begreiflich geworden sein. So mache ich denn in letzter Stunde einen Vorschlag zur Güte.«

Hier setzte Blender sein Monokel wieder auf und machte eine lange bedeutungsschwere Pause. Endlich aber fuhr er fort:

»Die Okkupationsarmee verläßt das Land. Ihr Abzug wird sofort der Bevölkerung bekanntgegeben. Damit verschwindet der Anlaß zum Generalstreik, und den Kommunisten ist das patriotische Wasser abgegraben. Als Entgelt dafür bieten wir nach Abzug der Truppe 33 &frac13;, na, sagen wir 40 Prozent nationalen Reingewinn. Das ist in Anbetracht der veränderten Umstände für Sie ein ganz nettes Geschäft ...«

 

Sofort erhob sich Faussecocheur, liebenswürdig, unbefangen und noch viel kühler und gleichgültiger als der Außenminister.

»Meine hochverehrten Herren«, so begann er, »wir sitzen allerdings in einer Zwickmühle, welche des Reizes der Originalität nicht völlig entbehrt.«

Plötzlich unterbrach er sich und schien an dem goldenen Crayon, mit welchem er während des Sprechens Figuren und Striche auf das Papier malte, irgendeine Unordnung zu bemerken. Mit Umständlichkeit entnahm er seiner Weste ein kleines Etui mit Graphitstiftchen und befestigte, währenddeß er in seiner Rede fortfuhr, einen Stift in seinem Crayon, wobei es den Anschein hatte, als ob einzig diese Tätigkeit seine Aufmerksamkeit beschäftigte, dagegen das, was er leichthin sprach, ihm im Grunde völlig gleichgültig sei.

»Ja, meine Verehrten, man könnte die gegenwärtige Situation sogar pikant nennen. Sie gleicht der Lage von zwei Händlern auf einem Pulverfaß, welches sogleich auffliegen wird. Man kann es also Ihnen, meine Herren, nicht verdenken, daß Sie die Gelegenheit noch schnell zu einem vorteilhaftem Abschlusse auszunutzen versuchen. Indessen verkennen Sie doch wohl das Parallelogramm der Kräfte. Für Sie, nicht für uns, besteht die Alternative: Spartakus oder Rettung der nationalen Industrie. Für Sie, nicht für uns, lautet die Frage: Chaos oder Stabilisierung der Valuta. Wir unsrerseits können den Herren von der kommunistischen Weltliga, die die Gelegenheit für gekommen erachten, die so viel beredete Weltrevolution nunmehr aufzurollen, unsre herzlichen Sympathien nicht vorenthalten; selbst dann nicht, wenn wir auf Grund unsrer reiferen politischen Erfahrung den Optimismus oder die Utopie nicht teilen, welche an die internationale Vereinigung des Gesamtproletariats der Erde glaubt. Wir können unsre Sympathien nicht vorenthalten. Aus zwei Gründen nicht. Erstens darum, weil gerade unsre Nation und sie allein auf Erden stets die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hochgehalten hat. Zweitens, weil uns in diesem Augenblick sogar nach Seite des völkisch-nationalen Empfindens hin das Verhalten der Herren von der internationalen Liga nicht minder begreiflich und menschlich sympathisch berührt wie die Sorge der besitzenden und bürgerlichen Parteien um die Erhaltung der wirtschaftlichen Güter und der industriellen Konkurrenzfähigkeit Ihrer Nation. Der Vorschlag des Herrn Außenministers, mit etwas zu viel seelischen Echauffements vorgetragen, um politisch diskutabel zu sein, setzt uns, wofern er wirklich ernst gemeint gewesen sein sollte, in ein etwas peinliches Erstaunen. Es war keineswegs unsre Absicht, Ihre werte Regierung mit der Ausarbeitung positiver Vorschläge zu bemühen. Zu bestimmen, welche Repartationen oder Quotitäten an unsre Kassen abzuführen sind, das dürfte ausschließlich als die Pflicht unsrer eigenen Steuerkommissionen zu gelten haben. Und wir dürfen erwarten, daß diese nach bestem Ermessen ihrer Pflicht nachkommen werden. Vorläufig steht hier eine andere Frage zur Lösung. Will Ihre Regierung den geforderten Generalstreik der Arbeit proklamieren oder nicht? Ob Sie wollen oder nicht, in beiden Fällen, so fürchte ich, werden wir nicht lange mehr der für uns so angenehmen Notwendigkeit ausgesetzt sein, mit Ihnen, meine Herren, als mit dieses Landes Regierung zu verhandeln. Ob die Führer der neuen Regierung sich ebenso unpolitisch und einseitig patriotisch unsern auf Konsolidierung Europas abzielenden Bemühungen verschließen werden, bleibt eben abzuwarten ...«

 

Wieder bangte durch den Saal die hilfloseste Verlegenheit. Plötzlich knatterte Mannheimers Stimme aus dem Winkel: »Mandelsüß Co. finanziert Generalstreik

Also doch!

Nun war's entschieden!

Die Industriellen blickten fassungslos!

Die Bankiers saßen entgeistert!

Alle überschlugen im Augenblick die Aktien und Obligationen der nationalen Wirtschaft. Keine Frage: Schon in diesem Augenblick standen sämtliche Industriepapiere unter pari.

Der große alte Tünnes konnte sich nicht mehr halten.

Zuerst Blender! Nun auch Mannheimer! So war es also wahr, daß das nationale Bankgeschäft die vaterländische Industrie ermordet.

Er, Tünnes, hatte als ein Patriot viele Milliarden in nationalen Werften, in Kuxen, in sicheren Industriezweigen investiert. Er besaß 148 Tageszeitungen jeglicher Richtung. Er besaß 50 Korrespondenzbüros. 20 Telegraphenagenturen. 24 Stationen für drahtlose Telegraphie. 5 ozeanische Kabel.

Manches Kapital hatte er rechtzeitig verschoben. Aber ist denn das wohl Gerechtigkeit, daß die vaterländische Industrie dafür büßen muß, wenn sie nicht alles Kapital außer Landes verschiebt?

 

Der große Alte sprang empor. Ein gereizter schwarzer Jaguar.

»Meine Herren«, schrie er, »Männer, denen unsres Landes Treue nicht im Blute liegt – (Bravo! rief man von den Tribünen), vaterlandslose Gesellen haben es leicht, hier die Patrioten zu mimen. Für den internationalen Kommunismus ist Vaterlandsliebe ein Spekulationswert. Uns aber, denen das ganze nationale Reichsgeschäft auf die Schultern gebürdet ist, uns, die wir als Männer des praktischen Lebens inmitten der Wirtschaft stehn, uns ist die Solidarität des Welthandels eine Erfahrungstatsache und das völkische Interesse und die Vertretung der Reichsfirma ein greifbar technischer Wert. Ja, ich sage es Ihnen frei heraus: Hier steht auf der einen Seite der unverantwortliche Geist der Zersetzung, auf der andern Seite die gesunde organische Evolution Europas. Wenn ich aber vaterlandsfeindliche Zurufe, die mir im Ohre gellen, auf ihre Herkunft prüfe, so kann ich mir nicht ganz verhehlen, daß einen guten Teil der Schuld an einem Siege der destruktiven Tendenzen auch die Freimaurer und Juden tragen ...«

»Und die Radfahrer«, schrie Mannheimer aus seiner Ecke.

»Wieso grade die Radfahrer?« fragte Tünnes etwas stutzig werdend.

»Wieso grade die Juden?« erwiderte Mannheimer.

Aus dem Parterre ertönte der lebensfröhliche Bariton des Demokratenführers: »Na und wenn schon!«

Schluß! schrie man auf den Tribünen.

Guschen Ehrlichs ungeheurer Bierbaß, wie Gott über allem schwebend, rief dazwischen: »Zur Geschäftsordnung!«

 

Es war aber keine Ordnung mehr zu halten.

Vergebens drohte Marschall Boche, die 30 im Saale anwesenden Schutzpolizisten auf die Spiegelgalerie zu senden und jeden Intellektuellen in den Bauch boxen, aufs Schienbein treten, ja abschießen zu lassen, wenn er sich in die Verhandlungen einmische. So viel hatten die europäischen Koryphäen auf der Spiegelgalerie schon begriffen: Herauswerfen konnte man sie nicht.

Es war aber keiner unter ihnen, der nicht die sogenannten Kulturprobleme gelöst hatte. Sie drehten sich ja alle um jene wohlbekannten, schon mit der Muttermilch eingesogenen Gegenspiele der Sprache. Wie zum Beispiel: Mechanisch und Organisch, Staat und Volk, International und National. Und um dergleichen angenehme Dialektik mehr.

Jeder besaß als Steckenpferd eine großzügige kosmische Synthese und brannte darauf, den Zeitgenossen vorzureiten, wie die Menschheit wohl zu retten sei.

 

Kosmogonische Hoffnungsjünglinge und orphische Stiljungfrauen aus dem »Kreise derer um Männe« waren längst darüber einig geworden, daß Wimmerlotte in der Schicksalsstunde seiner Nation gehört werden müsse.

Noch niemals hatte Tomi einer Pflicht gegen die Nation, von der er lebte, sich entzogen. So hatte er beispielsweise (da ihm die Teilnahme an Schlachten ärztlicherseits nicht gestattet war) – zum großen Kriege gelegentlich eines Wohltätigkeitsbazars beigesteuert: das Bild seiner Villa in Berchtesgaden mit der eigenhändigen Unterschrift: »Wir hoffen um des Heldengeistes willen, daß der Krieg sieben Jahre dauern möge.«

Tomi hatte sich sein Leben lang auf »sympathische Persönlichkeit« trainiert. Er lehnte daher zunächst stolz bescheiden ab. Schließlich aber, auf allgemeines Verlangen, leistete er dennoch Folge.

Die Telomonen der Artistik huben ihn nunmehr auf ihre Schultern. Die Doriden und Tritonen der Poesie tuteten auf ihren Taschenkämmen, Hausschlüsseln und Zigarettenspitzen. Sie stiegen in die Arena und setzten ihn auf die Rednerbühne.

Da stand er. Man schob ihm eine plüschene Fußbank unter, damit er »sympathische Persönlichkeit« besser markiren könne. Er nahm zunächst ein Schlückchen Himbeerlimonade. Dann zog er das mitgebrachte Manuskript aus dem Smoking.

Nun trat atemlose Stille ein. Die Selbstachtung der Nation und die Würde der Kultur geboten, daß man in diesem Schicksalsaugenblick eine nationale Orakelquelle zu Strudel kommen lasse.

 

Und Tomi las ab: »Betrachtungen eines Unpolitischen,« S. 83, 175, 191 f.

»Gewissenhaftigkeit, eine sittlich-artistische Eigenschaft, der ich 150 Auflagen zu verdanken habe, Gewissenhaftigkeit veranlaßt mich, als einen Einsamen und Öffentlichen, der die Literarisierung, Psychologisierung und Artistisierung der Nation mit treuem Handwerkerernste sich angelegen sein ließ, die individualistische Distanzierung des Ich zugunsten politischen Interessements zu durchbrechen. Denn Kunst ist ja nicht anderes als tönend gewordene Etik. Ich bin kein Monokeljunker; ich sehe nicht aus wie ein vor Brutalität laut lachender weißer Riese. Gesittung ist die Sphäre, in der ich atme. Mein Sinn für Eleganz ist urbanen Ursprungs; er ist Kultur und nicht internationale Zivilisation wie im Falle des eleganten Bourgeois. Mein Sinn für Solidität ist derselben Herkunft. Und noch mein Instinktanspruch auf Würde und behaglichen Überfluß der materiellen Lebensführung hat ältere Rechte und ist eines anderen Sinnes als die Üppigkeit der nationalen Bourgeoisie.

Eine politische Handlung zu begehen, die vor die Flintenläufe führen kann, sollte nur der sich befugt und berufen glauben, der einigermaßen sicher ist, angesichts der Flintenläufe nicht ohnmächtig zu werden.

Bin ich sicher?

Wohl kenne ich an mir die Neigung, eine vielleicht unmännliche Bereitschaft, boshafte Stilisierungen meines Wesens mir zu eigen zu machen und »Ja« dazu zu sagen. Aber ich bin ein Dichter. Und so wie Ich, so sind Wir eben. Wir Dichter. Von geltungswilligem Schwächlingstum. Tief, rührend, abgefeimt, perfid, voller Gefühl, verschlagen, etwas feige, ein klein bischen sehnsüchtig und neidisch auf das blonde gesunde Leben, welches zu brutal ist, um uns voll zu verstehen; fragwürdig, aber voller Achtung für alles Sein und Sosein, sogar für meinen Hund, für einen Trambahnschaffner, für mein Dienstmädchen.

Sehn sie doch eine Muschel an, meine Herrn, leuchtend von perlmutterner Schönheit. Was steckt darin? Eine kleine schleimige knochenlose Qualle. Sie hat kein Skelett. Darum baut sie sich ein Skelett. – Sehn Sie sich an den laternentragenden, den welterhellenden Johanniswurm! Professor Freud hat es uns gelehrt: Sein Leuchten ist Phänomen der Sublimierung des Geschlechtstriebes. Er ist im übrigen nur ein schmutziger kleiner Wurm. So lebt der Dichter in der Sphäre des Werks. Ganz anders ist der Zivilisationsliterat. Wie ist er? Der Zivilisationsliterat ist politisch, persönlich, allokutorisch, radikal, humanitär und im üblen Sinne edel!« ...

 

Europas Höhenmenschen – (Politiker, Soldaten, Industrielle, Bankiers) – alle blickten erstaunt.

Sie begriffen von alle diesen Sentenzen nur eines: daß man als Dichter eben einer besonderen Menschensorte zugehören müsse, und ahnten dunkel ihre eigene Minderwertigkeit.

Aber auf der Spiegelgallerie hatte man die zarten Bosheiten Tomis bereits verstanden. Die phrygischen Damen aus dem Kreise des älteren Männe zückten bereits rächende Haarnadeln und riefen empört, angehörs solcher Verwundung müsse nun auch Männe-Shakespeare sich sogleich verteidigen.

Tomi aber las erbarmungslos zu Ende: »Heute handelt es sich um den Unterschied von Masse und Volk, – welcher dem Unterschied entspricht von Individuum und Persönlichkeit, Zivilisation und Kultur, sozialem und metaphysischem Leben. Kommunismus ist Geist der Gesellschaft; Geist aber ist Haß! Seele dagegen ist Liebe! Und Vaterland: Seele der Gemeinschaft.«

Kaum hatte er geendet, so schmetterte zum Staunen des Parlaments Männe-Shakespeare folgende Worte in den Saal:

»Dieses alles ist ja Unsinn! Es ist genau umgekehrt! Nationalismus ist Seele der Gesellschaft; Kommunismus ist der Geist der Gemeinschaft.«

 

Nun brachen alle Schleusen.

Ein Prinzipienaustausch war herausgefordert.

Überall im Saale bildeten sich Gruppen.

Dialektische, phänomenologische, sozialistische, expressionistische, antroposophische, neureligiöse. Man begann die »Probleme und Konflikte der modernen Kultur« allseitig zu lösen.

Von einer Schar adeliger Kultdamen umringt, legte Deutschlands Gangeshofer der Philosophie, Graf Klinglingling, Selbstsucher aus Darmstadt, aufs klarste dar, daß die allen Zwistigkeiten zugrunde liegende Antithese: »Hie national – Hie international« zuletzt hinauslaufe auf die polar gespaltene Welteinheit selber, deren Polarität jedoch eben nur als Bewußtseinstatbestand Geltung habe, jedoch zeitlos, im Zustande »kosmischer Schauung« überwunden und mit allen irgendwie denkbaren Standpunkten in Einklang gebracht werden könne.

Dem entgegen trat der gigantische Erbe Hegels, der Begriffswüstling Späneschnitzler, indem er bestritt, daß es überhaupt eine Geschichte gäbe. Diese sei vielmehr »nur fiktiv« und müsse ersetzt werden durch eine Goethes Pflanzenlehre nachzubildende Morphologie von 28 Kulturseelen. Unter diesen sei die europäische grade angelangt im Abendstadium ihres Sonnenuntergangs. Aber das Kennzeichen unsres Kulturtodes sei kein »schwächlicher Pessimismus«, sondern jenes »weltbejahend gesunde Tatmenschentum«, wie man es beobachten könne an Cecil Rhodes, dem großen alten Tünnes und an einem Dritten, den zu nennen, die Bescheidenheit ihm verbiete. –

 

Inzwischen waren drei Viertelstunden verstrichen.

Noch blieben zehn Minuten. Konnte man bis dahin den draußen Harrenden keine Auskunft geben, so war der Kladderadatsch unvermeidlich.

Der junge Tünnes, der große Alte, Marschall Boche, Guschen, Emil Blender, alle waren redlich bemüht, wieder Ordnung herzustellen. Aber alles schien vergeblich.

Die Intellektuellen wüteten unerbittlich.

Endlich verfiel Faussecocheur auf einen rettenden Gedanken. Er ließ die großen Feuerlöschschläuche, die an den Kranen der Wasserleitungen befestigt waren, in den Saal ziehen und rücksichtslos gegen die Intellektuellen spielen.

Das endlich fruchtete.

Man schrie auf den Tribünen: »Aufhören! Nicht weiter spritzen!«

Und in die nunmehr eintretende Stille drang ein Ruf, ausgestoßen vom dicken Thießen, genannt Kanonenthießen, welcher Ruf in die todbedrohte Landschaft einschlug wie ein Blitz; nämlich das eine Wort: Gewinnbeteiligung.

Alle praktisch politischen Männer sahen einander an. Das war ja eine von Gott selber eingegebene natürliche Offenbarung, welche eine Möglichkeit des Auswegs anzeigte.

Faussecocheur erhob sich und sagte: Wir bitten Herrn Thießen um positive Vorschläge.

Darauf sagte Thießen Folgendes:

33 &frac13; Akaaaavau. (Dies bedeutet: Allgemeiner kommunistisch-anarchistisch-antinational-apolitischer Arbeiter-Verband.)

33 &frac13; Oerka. (Dies bedeutet: Occupations-Eintreibungs-Requisitions-Ausschuß.)

33 &frac13; Avikage. (Dies bedeutet: Allgemeine vaterländisch internationale Kanonen-Aktiengesellschaft.)

Auf diese Rede hin entstand sinnendes Schweigen. Endlich meldete sich Kuno Reißer. Er stellte den Antrag, den Arbeiterführer Liebrecht in den Aufsichtsrat der Avikage zu wählen.

Der große Alte beugte sich zum Ohr des mitsachverständigen Erbfeinds und sagte: »Da wird er bald einsehn, daß man die Menschheit nicht mit Utopien heilt.«

»Richtig, lieber Kollege«, lächelte Faussecocheur aufs freundlichste, »aber das Geschäft machen wir« ...

Marschall Boche befahl nun: »Wir bitten Herrn Liebrecht einzutreten. Das Parlament will ihn hören.«

 

Man nehme einen Inselbewohner der australischen Südsee, entführe ihn im Luftschiff aus seinem Gauginschen Palmenhain und setze ihn nieder in Newyork auf dem Brodway, dann dürften ungefähr ähnliche Gefühle über ihn kommen, wie sie Jens Liebrecht fühlte, als er plötzlich unter die Beherrscher dieser Erde trat.

Man erwartete ihn am Portal. Als er den Saal durchschritt, sprangen die Menschen von den Sitzen und stellten sich auf die Fußspitzen. Jeder wollte ihn sehen. Wie ein vom Monde herabgefallenes Mondkalb betrat er die Rednertribüne.

Guschen Ehrlich wollte beginnen: »In dieser schwersten Stunde meines Lebens«; aber rücksichtslos derbe, riß der große Alte das Wort an sich.

»Liebrecht«, rief er, »in dieser Stunde sollen Sie das Vaterland retten. Hören Sie mich, Liebrecht, ich habe Ihren Vater gekannt, meinen treuen Mitarbeiter in einer meiner Gruben. Bewahren Sie unser Land vor Blutvergießen. Wirken Sie nicht zugunsten der Feinde. Wir beschwören Sie! Verweigerung der Arbeit wäre Zerstörung der heimischen Industrie. Also Staatsbankerott, also Selbstmord. Retten Sie das Land.«

Sofort nahm auch Faussecocheur das Wort, scheinbar schwer empört:

»Herr Liebrecht«, rief er, »bevor Sie diesem Herrn da gebührend antworten, gestatten Sie mir, obwohl ich Vertreter bin einer Ihnen widerstrebenden Nation, daß ich diese Art Kuhhandel gebührend zurückweise. Wenn Sie, meine Herrn, immer noch nicht im eigenen Lande es gelernt haben, so erfahren Sie zum ersten Male aus dem Munde eines freien Geistes fremder Nation: Auch der Kommunist hat Ehre! Auch der Kommunist hat Vaterland! Auch der Kommunist hat Ideale! Unser verehrter Marschall Boche de Trocadero, der Sieger von Fatinitza, wird auch die Herrn Kommunisten der fremden Nation zu beschützen wissen vor dem Schmutz, mit dem Sie sie bewerfen einzig darum, weil diese Herrn hochherzige Patrioten sind. Wir wünschen keine Revolution. Wir wünschen die Harmonie Europas. Aber wir sind überzeugt, die Herren Liebrecht und Boche, welche nunmehr zusammen verhandeln, werden sich einzig leiten lassen von den Idealen der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit.«

 

Was ging in Jens Liebrecht, dem kommunistischen Agitator, in diesen Augenblicken vor?

Er stand auf der Rednerbühne wie auf einer Klippe im brandenden Ozean; stier, nichts hörend, mit weltverlorenen Blicken. Er stand da, die Fäuste verkrampft, das Gesicht zur Fratze verzerrt, ganz in sich zusammengesunken, unfähig, irgend etwas zu begreifen.

Plötzlich, als wenn der Starrkrampf in Tobsucht sich löste, außer aller Fassung, rasend und von wildem Ekel geschüttelt, schrie er in den Saal hinaus ein einziges Wort: Schweinehunde!

Dann wiederholte er noch einmal leiser, als wenn er das Gesagte vor sich selber bestätigen müsse: »Ja, es sind Schweinehunde.«

Die Wirkung war unbeschreiblich. Sie übertraf sogar die Wirkung jenes plötzlichen Wassergusses aus den großen Gummischläuchen.

Zuerst saß man starr vor Verwunderung. Dann fuchtelten Fäuste. Viele Stimmen schrieen: »Werft ihn raus! Unverschämter Prolet! Flegel!«

Dann besann man sich, daß man keinerlei Macht besäße.

Dieser junge Rüpel war ja abgesandt von dreihunderttausend Menschen, welche das Volkshaus belagerten. Sie konnten Europas Höhengeister, sobald sie wollten, hinwegfegen. Dieser Tölpel allein konnte den Zusammenbruch verhindern.

In die allgemeine Verwirrung hinein tönte Mannheimers Stimme. Er hupfte freudebesessen von einem Bein aufs andere und rief: »Bravo! Ich bin ganz der Ansicht des Herrn Liebrecht.«

 

Faussecocheur, Boche, Blender, der große Alte, alle blickten einander an. Endlich begann es zu tagen. Sie wußten nun Bescheid. Der Zusammenhang der Ereignisse fing an, völlig klar zu werden.

Mannheimer und dieser proletarische Binke arbeiteten unter einer Decke. Man konnte diesen beiden nichts anhaben. Nicht einmal, wenn sie den unverschämtesten Mißbrauch mit ihrer Macht trieben.

»Sehn Sie, lieber Faussecocheur«, sagte Boche (und seine Augen blickten verschleiert melancholisch), »hier haben Sie den Beweis, wie verderblich es ist, wenn der Mensch Autokrat wird. Sie und ich, wir vertreten das Rechtsprinzip. Wenn sich aber diese zwei Schufte, das internationale Geld und der internationale Pöbel mit einander verbinden, ja, wo bleiben dann die Ideale des Menschengeschlechts? Die Weltgeschichte ist furchtbar. Man könnte den Glauben an Gott verlieren.«

 

Jens Liebrecht stand auf der Rednerbühne als ein Bild des Jammers.

Er sah vor sich das Meer böser Menschengesichter. Aus jedem wie spähende Fernrohre auf sich gerichtet ein Paar mißgünstig übelwillige Augen. Darüber schwebte eine ungewisse Wolke Dampf und Staub. Über alle hin flutete gelbes Licht.

Der Tag senkte sich zum Spätnachmittag. Die Säulen der Tribüne warfen schon lange bläuliche Schatten. Von weither hörte man das Raunen eines Wasserfalls. Das waren die auf Dollarcamp versammelten Arbeiterschaaren. Er sah und dachte nichts Klarbestimmtes, über allem, was er erlebte, lag undurchdringlich dicker Nebel.

Bilderfetzen tanzten in seinem Kopfe. Wie man von Ertrinkenden sagt, daß sich alle Ereignisse ihres Lebenslaufs in eine Sekunde zusammendrängen, so lag, geballt zu wirrem Knäuel, sein ganzes Leben plötzlich vor ihm: ein Träumedickicht, durch welches kein erhellender Lichtstrahl dringen kann.

Er sah das mit roten Ziegeln bedeckte Haus. Dahinter den dürftigen Nutzgarten mit zwei Apfelbäumen. Tagesscharf sah er die Weißdornhecke um das Grundstück. Die wilden Röschen wuchern darin. Hinter dem Garten liegt die Kalkgrube. Daneben Haufen gelblichen Sands. Darin bauen Kinder Burgen mit Türmen. Dann kommen Kartoffel- und Rübenfelder. Die Knaben machen Stoppelfeuer. Es ist Herbst. Die Drachen steigen im Wind.

Dies war sein Jungensparadies. Vor zwei Tagen war es von einrückenden Spahis angezündet worden.

Er sah ein junges Frauenbild. Rosen der Schwindsucht auf den frühverblühenden Wangen: die jung gestorbene Mutter. Dann der Vater. Verkrümmt, verkümmert, verdrückt unter schwerer Arbeit.

Kohlenbergwerke wuchsen empor. Bild um Bild. Tief unter Tage.

Metallische Gänge durchschneiden das taube Gestein. Läger und Flötze von Kohle und Erz kriechen dahin: mächtige in Gebirgen lauernde Vorzeitdrachen. Ihnen nach jagen gierig spürende Schlangen: Schürfstollen und Schächte. In der Hand das Gezähe: Schlägel und Schrämspieß wimmeln die menschlichen Ameisen durch die Zeche. Die Gesichter vergraut und fahl. Augen halb blind. Schwere Wetter, toddrohende, belauern die Teufe. Förderwagen, die Hunde, rasseln vom schwarzen Grubensaal zu Grubensaal. Gräßliche kohlschwarze Seen, Augen der Hölle, spiegeln künstliche Lichte an Felsenwänden. Meilenweit ferne atmet die gute treue Lunge: die Wettermaschine. Grubenlämpchen huschen umher. Glühkäfer im Laub. Sie dienen den zerquälten Tieren, den verbrauchten Menschen.

Er sah Fabriken, Maschinensäle, Eisenwalzwerke, Hüttenwerke, Schlote und Essen.

Hebeln, Kurbeln, Göpeln, Haspeln, Winden, Wellräder, Laufräder, Tritträder.

Zarte Kinder, schwächliche Frauen, zermüdete Greise.

Schaar um Schaar, Geschlecht auf Geschlecht: Mißbraucht, vernutzt, abgesperrt von Sonnenlicht und Sternenlicht. Zu Schrauben und Rädern geworden, numeriert, ersetzbar, einer durch den andern.

An Webstühlen, Kratzen, Schermaschinen, Schraffiermaschinen, Kalandern, Werkzeugmaschinen.

Gewiß! sie haben nicht eben zu hungern und zu frieren. Gewiß! sie entschädigen sich in langen Freistunden durch Genüsse des Tiers. Sie haben Kneipe und Kientopp. Sie sind die Nutznießer der Zivilisation. Freie Arbeitnehmer. Die Büßer in der Zuchthauszelle, die Wölfinnen der Trottoire, die Lumpen im Rinnstein leiden schlimmer Elend. Aber betrogen werden alle. Um die Schönheit, um die Seele!

Ihm summten im Gehirne die großen Lügen der erdübermächtigenden Lebensvernutzer: »Ihr arbeitet acht Stunden, dann seid Ihr frei. Wir aber, wir denken, rechnen, organisieren, kombinieren. Immer! Unaufhörlich!«

Ja, gewiß! Auf Konferenzen, wie dieser hier, in Ledersessel lehnend, Zigarren rauchend. In den großen Hallen der Banken und Börsen. In Bädern, Hotels, Parlamentssälen. In Speisesälen der Dampfschiffe und Luxuszüge. Überall das Geschäft, das Raisonnement, verbindend mit dem Genusse der Erde. Mit Schonung des Leibes. Weltgeschichte machend inter pocula ... Und wer hat Euch geheißen, die ganze Erde für Menschenzwecke zu verwirtschaften?

Wirre Ahnungen durchstrudelten ihn, daß man in dieser Versammlung nie und nimmer ihn würde verstehen können.

Durch seinen Kopf fuhrwerkten die rednerischen Übungen der Parteischule. Die dialektischen Phrasen der europäischen Theorie. Aber an seinen weltverlorenen Augen vorbei, eine endlose Karawane, ohne Heil, ohne Hülfe, zogen die versachlichten, verzwecklichten, verdinglichten Seelen der Erde.

Träume, einer den andern durchkriechend, eine lichtlose Wildnis.

Und sie alle wählten ihn zum Sprachrohr und sortierten, daß nun seine Stimme werde zur Stimme ihrer Schmerzen. Und doch war er weltunerfahren, ungeschickt, gedankenfern.

Immer war er verurteilt gewesen zum Indereckestehen: abgedrängt, angefremdet, übergangen. Bis er in Feindschaft geraten war zur ganzen »menschlichen Gesellschaft«.

Nichts war ihm klar. Nichts glaubte er. Alles war ja doch »so ganz anders«.

Er hatte den Wunsch, seinem Vaterlande zu dienen. Aber zerstörte er damit nicht die Ziele seiner Partei? Und wenn er der Partei diente, stemmte er sich nicht gegen das Heil des Landes?

Ihm war zu Sinne, als wenn plötzlich und unerwartet alle Schleusen seiner Seele geöffnet würden. Nun stürzten sie hervor die lange gesammelten aufgespeicherten Gewässer: alle Qualen seiner einsamen Existenz. Zum Schweigen bestimmt, in dieser Zufallsstunde sollte sie reden und sich erfüllend verbluten. –

 

Jens Liebrecht sprach:

»Sie sitzen hier im Saale und schachern um den Schweiß und um das Blut der Völker. Wenn es Ihnen paßt, dann rufen Sie: »Kinder auf! Sterbt Heldentode! Das Vaterland ist in Gefahr!«

Was ist das: »Vaterland?« Ihre Schlösser und Villen voll von Teppichen und Bildern? Ihre Zinsen, Renten, Coupons, Dividenden? die das arme große Lastpferd, eingeschirrt in die Zäune der Überlieferung, wieder einmal aus dem Feuer holt??

August 1914.

Wissen Sie noch, wie damals die Parole lautete?

Unsere arme Heimat, die Perle der Manneszucht, das Herz der Erde, der Sitte Unterpfand, unsere heilige Heimat ist umstellt. Von allen beneidet, geknebelt.

Was wollten Sie damals? Reich werden, große Geschäfte machen, Länder annektieren, Macht erweitern!

Wie war das Bild Europas? Fünf Hunde liegen angekettet neben einander. Jeder gierig, mißtrauisch, neidisch, bange vor dem andern. Werft einen Knochen hin! Sofort liegen sie sich in den Haaren und zerren sich blutig.

Gut! Das mag Weltgeschichte sein. Aber verdient das unsre Aufschwünge, unsre Schwüre? Starben wir darum Heldentode?

Und nun? Ist es nicht, als wolle das Schicksal die Probe machen auf die Echtheit unsrer Seelen?

Es ist wirklich genau so gekommen, wie Sie damals logen. Jetzt, ja, in diesem Augenblicke hätte es guten Sinn zu fordern: Freiheit oder Tod!

Warum denn gehen wir nicht in den Tod? Warum wagen wir nicht das Äußerste? Sie sagen: Das wäre »unpolitisch«. Dabei wäre nichts zu gewinnen. Also der Profit allein heiligt die Kriege? Erfolg rechtfertigt, Mißerfolg setzt ins Unrecht? Wollt ich doch: Wir schlössen uns jetzt in das Heiligtum unserer Volkheit und brennten uns lieber auf, als daß wir uns selbst verlören. Aber Euer Blut ist kalt, Euer Herz stumm. So wird in dieser Stunde des Vaterlands verstoßener Sohn sein einzig treuer sein und die Heimat retten.« ...

 

Ungeheurer Jubel brach los. Tribünen, Estrade, Politiker, Industrielle, sogar die Vertreter der feindlichen Mächte waren ehrlich hingerissen. Alle tobten Beifall. Von den Logen winkten die Damen mit parfümierten Tüchern. Die Journalisten liefen an die Fenster und riefen: »Liebrecht hat gesprochen. Liebrecht organisiert die Nationalverteidigung.«

Die Arbeitermassen draußen setzten den Ruf fort. »Hoch Liebrecht«. Abwechselnd sangen sie die Marseillaise und das Vaterlandslied ...

 

Wie eine Schaar von Mühlen, deren Riesenräder imstande sind, auch die schwersten Wackersteine oder Granitblöcke zu Sand zu zerkleinern, so saßen die Gehirne Europas rund um den Abgrund des Riesensaales.

Und sogleich begann die geistige Verarbeitung des Gehörten.

Die Spiegel reflektierten. Die Zungen formulierten. Die Gehirne werteten aus. Die Kultur urteilte. Sie war schon dabei, auch aus diesem »Erlebnis« Literatur zu machen. Man versuchte, alles historisch zu entwirken.

In der alten Kaiserloge sagte die Gräfin Perponcher zur Geheimrätin Prinzheimer: »Meine liebe Prinzheimer, er macht keine schlechte Figur, dieser junge Arbeiter; er ist gewiß aus besserer Familie.« Und die Prinzheimer, ihre rotgefärbten Locken ordnend, erwiderte liebenswürdig: »Ich werde Sie mit einander bekannt machen. Ich lade ihn zu meinem jour!«

Auf der Spiegelgalerie der Prominenten bat der Vorstand des Schriftstellervereins »Pointe« Männe-Shakespeare um eine »Formel zur Zeitgeschichte«.

Und Männe-Shakespeare formulierte so:

»Der junge Mensch ist herzlich, wenn auch nicht intelligent. Einzelnes war ein noch nicht völlig verdautes Zitat aus Rousseau; aber eine starke persönliche Note ist unverkennbar.«

Nachdem Wimmerlotte dieses Urteil erfahren hatte, edelformulierte Wimmerlotte, seinerseits folgendermaßen: »Der undifferenzierte Mensch kann die Atmosphärilien seines Milieu nie ganz abstreifen, darum gelangt er auch nicht zur repräsentativen, für alle evidenten Gültigkeit. Politik ist eine objektive Kunst. Künstler sein heißt sich trainieren. Auch meineSeele ist in allererster Linie die Seele eines Soldaten. Darum hüte ich mich, mein Werk von europäischer Gültigkeit durch die immerhin dubiose Privat-Persönlichkeit allzu ungenießbar zu machen.«

So sagte Wimmerlotte. (Er war literarisch. Wo andere gehen, da schreitet er. Und wenn andere sich das Gesicht waschen, er: badet sein Antlitz) ...

 

Im allgemeinen herrschte nach Liebrechts Rede die angenehmste Stimmung allgemeinen Wohlwollens. Jenes freundliche Wohlgefallen, welches jeder bestandenen Kraftprobe begegnet und an jeden zweifellosen Erfolg sich zu heften pflegt.

Man befand diesen jungen Mann zwar noch etwas grün, und von brutaler Unreife, aber immerhin war er ein Talent, worauf sich wohl Etwas gründen ließ. Vielleicht ein Aktienunternehmen, ein Journal, ein Verlagsgeschäft, eine neue »Richtung«, ein Kulturbetrieb. Gewiß, er hatte »Schweinehunde« gesagt; das war nicht schön; aber man bezog das immer auf die anderen, und jeder freute sich, daß die anderen Eines ausgewischt bekamen.

Klinglingling, Darmstadts in erfreulicher Gottesnähe lebender Lebenssucher, meinte sogar, die naive Rede dieses Mannes aus dem Volke habe die Verhandlung »endlich auf ein kulturelles Niveau gebracht«, während der willensstärkere preußisch-soziale Schnitzelmacher dem entgegenhielt, daß der Arbeiter in zu hohem Maße »Gebildetsein« markiert und für einen Tatmenschen nicht kraftvoll genug gesprochen habe. Die beiden führenden Denker vertraten eben die einander ewig entgegengesetzten »Richtungen«. Das hatte wohl darin seinen Grund, daß Klinglingling, ähnlich wie Peer Gynt immer nur »Er Selbst« war aber in der ganzen Welt gut zuhörte, während Späneschnitzler ähnlich wie Wilhelm der Zweite, überhaupt nicht zuhören konnte, sondern die ganze Erde durchreisend, immer nur selber redete.

Jedenfalls war man sicher, daß der Kommunist Macht hatte (was schon die Anrede »Schweinehunde« bewies), und daß man also mit ihm rechnen müßte. (Um ihn dann als Sturmbock gegen die andere Partei verwenden zu können.)

 

Ganz merkwürdig war die Wirkung von Liebrechts Jungfernrede auf unsere nationale Industrie.

Im Rücken des Reichspräsidenten (der nun vollständig leergepumpt schien) saßen Pupp von Kohlen, Tünnes und Kanonenthiessen.

Sie sahen einander in die treuen blauen deutschen Augen und drückten einander ihre edlen vaterländischen Hände.

Sie verstanden sich. Es gab keine Redlichkeit, keine Treue mehr auf dieser Welt. Hier vollzog sich der ungeheuerlichste Trick der Geschichte. Das Proletariat gelangte obenauf, indem es als Larve und Maske vorband das Abbild ihrer eigenen ehrlichen Gesichter.

»Wahrhaftig, lieber Tünnes«, so sagte Kanonenthiessen, »wenn der Mensch einen reineren Gummikragen anhätte und das E. K. I auf der Brust trüge, dann würde ich beinah glauben, ich sähe Sie selber aus jüngeren Jahren.«

»Gott, ja, Thiessen«, seufzte der große Alte, »was wären wir beide für ein Paar Prachtkommunisten geworden. Sie wissen ja, was wir tun könnten, wenn wir nur tun dürften. Und dies eben ist ja das Unsinnige: Die Kommunisten spielen sich auf als Patrioten, weil sie nicht ahnen, welche Qualen wir leiden, indem wir unsern Patriotismus mäßigen. Glauben Sie mir, Thiessen, ich wäre imstand, mit diesen meinen eigenen Händen Faussecocheur zu erwürgen, das Schwein. Und was fordert von mir die Vaterlandsliebe? Daß ich ihm meine Zigarren anbiete. Daß ich ihn über Kognakmarken unterhalte. Daß ich ihn »Herr Kollege« nenne, während er mich betrügt.« –

»Wenn ich nur wüßte«, sagte Pupp von Kohlen tief und gedankenvoll, »ob der Kerl alles das wirklich glaubt, was er uns da hersagt?« –

Tünnes, als ein gewiegter Menschenkenner meinte: »Ich halte den jungen Mann für vollkommen harmlos. Sehn Sie, lieber Pupp, wenn man schon so lange in der Politik wirkt wie Thiessen und ich, dann weiß man nicht mehr so genau, wieviel von dem, was man sagt, man nun selber glaubt oder nicht glaubt. Aber die Ungebildeten verderben die gesunde Politik, indem sie immer selber glauben, sie glaubten das, was sie glauben.«

»Ich meine man«, flüsterte Thiessen zurück, »wir müssen als gebildete Männer noch feiner unterscheiden, lieber Tünnes. Eine Meinung äußert man. Eine glaubt man zu haben. Von einer sagt man, daß man an sie glaube. Eine hat man. Hat man vielleicht wirklich eine?«

 

Unsere herzensreinen einheimischen Industriekönige hätten den Erbfeind minder blutdürstig hingerichtet, wenn sie hätten ahnen können, wie Liebrechts kommunistische Vaterlandsrede auf Boche und Faussecocheur einwirkte.

»Was mir am meisten imponiert«, sagte Boche, »das ist die Anrede. Es ist doch merkwürdig, daß er Sie und mich ganz richtig Schweinehunde nannte. Ich fürchte daher, daß auch Er einer ist.«

Faussecocheur erwiderte:

»Ich sehe doch auch jetzt noch einige Hoffnungsstrahlen. Ich glaube, er ist ein ehrlicher Patriot. Daraus ist zu entnehmen, daß er zu haben ist. Im übrigen scheint mir eine Diversion der Gefühle notwendig. Ich habe den Grundsatz, jedes Ideal durch ein anderes Ideal zu kontrekarieren. Wozu erfand denn der Mensch die Kultur? Auch Religion hat Existenzberechtigung. Es ist etwas Herrliches um die Suggestion. Zu Zeiten der Hungersnot wird die ganze Nation ein Volk von Fressern. Warum? Weil alle Aufmerksamkeit einseitig auf die Frage gerichtet ist: Wie werde ich satt? Infolgedessen essen sie mehr als je. So sind die Dinge immer Das, was wir denken. Gedanken sind eine Kraft. Ich bin Idealist. Ich glaube an die Macht der Idee. Ich werde mich an Monsignore Nitti wenden, als den Vertreter des heiligen Stuhles.« ...

 

Indessen Faussecocheur sich zu Monsignore Nitti begab, trat das nationale Kabinett, Guschen Ehrlich an der Spitze, im Seitenzimmer zu einer Beratung zusammen, um die Richtlinien festzulegen, welche man den Kommunisten gegenüber einhalten wolle.

Keiner der Versammelten durchschaute besser die Hintergedanken der Kommunisten als Emil Bender. Er begriff, warum Liebrechts Rede absichtlich so dunkel und blumig-allgemein gehalten war. Auch er bewunderte das provozirende »Schweinehunde«. Und als ein Mann, der keine Angelegenheit der Welt anders empfinden, deuten und begreifen konnte als »politisch«, überschlug er bereits hüben und drüben die Aussichten eines Staatsstreichs.

Keinen Augenblick war ihm der Gedanke gekommen, daß dieser wagehalsige Spieler nur den albernen Gefühlen seines albernen Privatherzens Luft mache. Nein! Das war der Gerissenste der Gerissenen. Der verstand sich auf Weltgeschichte.

Ganz anders war die Auffassung Guschen Ehrlichs. »Meine Herrn«, sagte er, »nun haben ja die Herrn Kommunisten die nationale Propaganda, die wir für den Generalstreik machen, doch ernst genommen, und die vaterländische Begeisterung im Volke durchkreuzt unser Erfurter Programm.«

»Exzellenz«, erwiderte Kanzler Kuno, »Sie mißverstehen die Raffinements der europäischen Politik. Die Kommunisten haben durchschaut, daß wir das nicht wollen können, was zu wollen wir doch vorgeben müssen. Nun wollen sie uns dazu zwingen, das ehrlich wollen zu müssen, was wir nur aus Politik bisher gewollt haben. Sie tun daher so, als ob sie daran glauben, daß wir ehrlich wollen, und zwingen uns dadurch, das, was wir nicht wollen können, nun dennoch wirklich ehrlich zu wollen.«

»Das ist eine Gemeinheit«, sagte Guschen.

Der Kultusminister Sepp Schmuser führte Folgendes aus:

»Es ist eine bekannte Tatsache, daß ein Mensch, welcher uns betrügen will, niemals bemerkt, wenn wir ihn betrügen. Kennen Sie, meine Herren, die Geschichte von den beiden polnische Juden, welche so daran gewöhnt sind, einander etwas vorzulügen, daß sie sich am leichtesten beschwindeln, wenn sie einander mal die Wahrheit sagen? Einmal trafen sich die beiden auf dem Bahnhof in Warschau. »Wohin fährst Du?« fragt der eine Konkurrent den andern. Der erwidert: »Nach Krakau«. – »Nun«, denkt der andere, »Du wirst mir gerade auf die Nase binden, wohin Du fährst. Er fährt nicht nach Krakau; da nehme ich Krakau«. – Nachher aber treffen sie sich wirklich beide in dem selben Zuge, welcher nach Krakau fährt. Empört ruft der Betrogene seinem Konkurrenten zu: »Du fährst ja wirklich nach Krakau. Warum lügst Du?«

So ungefähr ist hier das Verhältnis der roten Internationale zu uns ehrlichen Patrioten. Es ist vollkommen begreiflich, daß der Kommunismus den Augenblick benützt, wo der Patriotismus waffenlos ist, um ihn patriotisch zu überschreien und nun womöglich in vaterländische Heldentode hineinzuhetzen. Es bleibt uns Patrioten daher nichts übrig, als kommunistisch zu werden, um zu verhindern, daß die Feinde kommunistisch werden, um dann in lauter Kommunismus unsern Patriotismus zu ersäufen.«

»Meine Herrn«, sagte der Kriegsminister Stach von Stachelbart: »Kommunist Liebrecht ist Puppe von Drahtziehern hinter Szene. Frägt sich, von welchen? Glaube meinerseits: Völkisch-nationale Partei subventioniert Rummel. Will Verhandlung in Länge ziehn.« ...

Schließlich einigte sich das Kabinett dahin, man müsse nach zwei Fronten arbeiten.

Erstens dem Feinde gegenüber: das nationale Gewissen darstellen. Zweitens zur kommunistischen Partei vorsichtig eine Brücke schlagen, weil diese ja doch in kürzester Zeit zur Regierung kommen könne.

 

Mit dieser Entschließung begab sich das Kabinett in den Saal zurück. Emil Blender bestieg den Katheder und folgendermaßen begann er auf die Antrittsrede des Kommunisten zu erwidern:

»Meine Herrn! Der Herr Vorredner hat uns eine der nur allzu wohlbekannten allgemein philosophischen Programmreden der kommunistischen Partei gehalten. Wir wollen hier nicht rechten über Fragen des Stils und des guten Geschmackes. Ausdrücke wie »Schweinehunde« dürften bisher in der Gesellschaft der erwähltesten Geister Europas nicht ganz der üblichen Kultur entsprechen. Aber vielleicht kommt jetzt eine neue Kultur. Oder besser gar keine.«

(Bravo! tönte es von der Tribüne rechts.)

»Es liegt uns gleichwohl vollkommen fern, die Berechtigung der vernommenen Anklagen zu verkennen. Wir begreifen wohl die Vaterlandsgefühle unserer landsmännischen Kommunisten. Wir teilen, meine Herrn, diese Gefühle. Und dies sei Ihnen meine Herrn, die von ihren Chassepots und Kanonen abgedrängt, hier verlegenerweise unter Druck sitzen, ein warnendes Menetekel. Unsere in zehn Landschaften und 28 politische Parteien zerspaltene Nation ist in diesem Augenblick vollkommen einig in ihrem wesentlichen Bedürfnisse

(Bravo! tönte es von der Tribüne links.)

»Aber vergessen wollen wir auch nicht den anderen Teil des kommunistischen Programms: den großen Gedanken der christlichen Heilswahrheit. Die Hauptsache ist, daß wir den draußen harrenden Massen eine befriedigende Antwort geben, damit sie nach Hause gehen und wir endlich aus dem Saale können.«

(Bravo! tönte es jetzt auch von den Stühlen der Landesfeinde.)

 

Da geschah etwas Überraschendes. Boche stand auf und sagte mit der ehrlichen Schlichtheit einer frommen Soldatenseele: »Lasset uns beten!«

Monsignore Nitti, der Kardinal, stand schon da in violetter Stola. Zwei Bischöfe begleiteten ihn. Chorknaben schaukelten eine Ampel. Der Saal duftete nach Weihrauch.

Nitti begann:

»Brüder und Schwestern in Christo Jesu, der für alle Völker unter Pontius Pilatus gestorben ist den Tod des Lammes. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Lasset uns in dieser Stunde, darinnen der Tod schwebet über uns und die neue Epoche der Menschheit begann, lasset uns in dieser Stunde der Entscheidung anrufen Herre Jesum, auf daß ER uns erleuchte.«

Der große alte Tünnes fluchte, Kanonenthiessen fluchte, Pupp fluchte, die Politiker, die Bankiers, die Industriellen fluchten; »diese Schufte« dachte auch Emil Blender, der Außenminister, aber sie falteten alle die Hände und beteten wütend am Vaterunser, während die Auswärtigen ein freches Grinsen zur Schau stellten, denn sie bemerkten wohl die kluge Machenschaft Faussecocheurs, der mit Hülfe von Ideen wieder einmal die Situation rettete und die von den Kommunisten aufgewühlten nationalen Ideale durch ein paar passendere Gegenideale »kontrekarierte«.

Die Hände über dem Bauch gefaltet, behaglich wie das reine Gewissen, verdrehte Faussecocheur seine geschlitzten Schweinsäuglein.

Monsignore Nitti erhob das Kreuz und segnete die Versammlung.

Auf der Tribüne links sagte Heini: »Kitschig.« (Das war er einer freigeistigen Vergangenheit schuldig.)

Aber da Tomi diese Ansicht voraus wußte, so sagte er seinerseits zu den ihn umgebenden literarischen Epheben: »Dies war ein weihevoller Augenblick. Ich glaubte schon immer an das Occulte.« – – –

 

In der Orestie des Ässchylos, als Ödipus, blind, alt, von den Göttern verlassen, vor dem Abgrunde steht, dahinein die Sphinx stürzte, da bricht er kopfschüttelnd erstaunt vor dem Schicksal in die Worte aus:

»Und also kam ich unbewußt, wohin ich kam.«

Genau so ward Jens Liebrecht zu Mute, indem er in den Abgrund des Saales starrte, ohne zu begreifen, warum der Beifall ihn emportrug, während er doch nur seinen Haß, seine Galle, seine Rache gegen die Welt verströmte.

Wie war denn das alles gekommen?

Um sechs Uhr früh, hatte er sich, mit drei Scheiben Graubrot und einem Zipfel Wurst in der Tasche, am Waldrand aufgestellt.

Fünf Stunden lang hatte er dort gestanden unter Frauen, Greisen und Krüppeln.

Fantastische Gestalten erschienen und redeten. »Die vaterländische Verteidigung muß organisiert werden!« Immer wieder fiel das Wort: »Generalstreik!« Die Masse, stets geneigt zu edlen Gefühlen, sang vaterländische Lieder. Er aber widerstand. Denn noch nie war er untreu geworden dem Ideal der übervölkischen ›Solidarität der Arbeit‹.

Volksbegeisterung aber ist wie eine Influenza. Man mag sich noch so lange davor schützen, schließlich kriegt man doch auch seinen Schnupfen.

Er dachte an den Heckengarten und die Apfelbäume. Vor drei Tagen hatten sie seine Jugend verbrannt. Er empfand jähes Weh.

Dann redete der junge Tünnes. Den liebten sie alle.

Da stieg in ihm hoch etwas Nieerlebtes. Vielleicht das Blut alter Geschlechter. Vielleicht die Seele der Scholle selbst.

Kurz: er war vorgestürzt und hatte den politischen Gegner umarmt, Bruder den Bruder.

Das Volk hatte gejubelt und sie beide emporgetragen. Darauf war er hingeeilt zu den Führern seiner Partei und hatte ihnen einen Plan dargelegt, die Werke, die Maschinen, die Stollen zu zerstören, um den Feind zum Abzug zu nötigen.

Das alles war so unpolitisch, ja so albern wie möglich. Die Verwicklung der Lage aber hatte es gefügt, daß grade dieser Plan seine Partei und ihn selbst an die Spitze brachte.

Nun aber, wo er nach oben getragen war, sah er klar und scharf, daß sein patriotisches Verhalten ein Irrtum war.

Vortrefflich als politischer Schachzug, wurde alles zum Irrsinn, wofern es Wahrheit blieb. Er hatte erwartet, zwei Nationen im Ringkampf zu finden. Nun sah er nichts als konkurrierende Händlergruppen, Klasse gegen Klasse. Ob er aber die Kastanien aus dem Feuer holte für Herrn Tünnes oder für Herrn Boche, das blieb sich ja wohl gleich.

 

Zum ersten Male in seinem Leben fühlte Jens Liebrecht, daß das gesamte Wesen der Öffentlichkeit nichts ist als: Theater.

Keiner glaubt an die Gefühle des andern. Keiner an eigene Gefühle. Alle aber spielen und zwingen daher auch den andern zum Spielertum. Leben aber wird im Spiele der Bühne ›so ganz anders‹. Der Regen auf dem Theater näßt nicht. Der Wald wächst nicht. Der Blitz entzündet kein Haus.

Sie sagen ›Menschheit‹ ... aber kein lebendiger Mensch ist gemeint. Sie sagen ›Vaterland‹ ..., aber das ist nicht der Apfelbaum, aus dessen Zweigen unsre Jugend ihr Fernweh pflückte.

Sie lieben und hassen. Ist es Lüge? Schon die Frage wohl wäre töricht. Denn fühlt etwa der Schauspieler, was er spielt? Oder fühlt er es etwa nicht? ...

 

Noch tiefer peinigte Jens Liebrecht eine andere Frage. War er zu gradlinig für die Welt? War die Welt zu gradlinig für ihn?

Dieses letztere schien ihm wahrscheinlicher zu sein. Die Leute alle waren ja auf Zwecke aufgezogen, wie Blumen auf Draht. Und somit zu einfach für die Allfalt des Lebens.

Eine Waffe haben sie, damit machen und erreichen sie alles. Das ist, was sie Geschichte nennen. Wirklichkeit, Geschichte, Zeit ... dieses alles schien ihm wie eine Mechanik. Der Mensch ist das sachlich gewordene Tier. Schon indem er lebt, macht er das Erleben dingfest. Immer sehn sie sich bei allem im Spiegel. Während die Schlacht geschlagen wird, wird sie schon gefilmt, und die am Morgen empfangene Wunde, kannst du am Abend im Kino begutachten. So morden sie mit ihrer Geschichte ihr Leben.

Käme ein Moses, der das Volk verfluchen und sein Werk zertrümmern würde, sie würden zu ihrem eignem Untergange Bravo klatschen, in der Gewißheit, daß sie dadurch in die Hand fielen ihm, der das Todesurteil an ihnen vollstrecken könnte.

Käme Gott noch einmal zur Erde, um sich als Mensch für Menschen zu opfern – oh! welch ein Geschäft würden sie machen mit den Eintrittskarten zu seiner Hinrichtung. Sie würden eine Kultur, ein Buch, eine Kirche darauf gründen. Ein Theater. Alles und jedes: Theater!

Was wollen sie eigentlich mit letztem Ernste? Du lieber Himmel! Einig sind sie sich wohl nur in Einem: »Wein ist besser als Bier und Sekt ist besser als Wein.« Und er, Jens Liebrecht, war nun auch hereingefallen. Auf den großen ideologischen Schwindel.

Hier stand er als der Sieger. Ach, ein tieftrauriger Sieger! Nie fühlte er sich betrogener, nie geprellter. Und nie hatte er sich selber so tief verachtet. Denn er war Verräter an den Verfehmten dieser Erde. Kein Sieger. Verräter.

Er spie auf Vaterland. Ihn ekelte Vaterland. Er wollte kein Vaterland.

 

Und indem ein ungeheurer kalter Ekel wie Eisbad ihn umspülte, glomm und klomm wie Lava aus ihm heraus eine vollkommen fremde Stimme. Das war nicht mehr seines Blutes Stimme. Das war die Stimme seiner Enttäuschung, seiner Erkenntnis.

Er schrie in den Saal:

»War da eine Pflanze, die mußte im Dunkel wachsen. Auch sie hätte blühen können. Auch sie barg die Möglichkeit zu den süßen Düften der Erde. Aber man sagte: Du gehörst nicht mit aufs Gartenbeet. In den Keller mit Dir. Und so erwuchs sie im Keller. Aber jede Pflanze muß hin zum Licht. Daher trieb sie immer wieder die weißen langen Schößlinge, die kranken Finger der Sehnsucht, bis sie wieder einmal Fenster und Sonne erreichte. Dann schnitt man ihr die blassen Blätter wieder herunter. Schließlich kam sie doch bis ans Fenster. Da zeugte sie sterbend ihre späte zarte Blüte und gab bescheidenen Duft.

Das war heute morgen! Da hab ich das rettende Fenster erreicht und zum ersten Male Ja gesagt.

Denn nicht das Blut zwingt uns. Verneiner zu sein. Ihr erst, Ihr, machtet mich zum Verneiner.

Denn gesundes Leben wehrt sich. Gesundes Leben, wenn man es schlägt, schlägt zurück. Nun gebt mir Glauben! Ihr Führenden des Landes, gebt mir Glauben!

Was wollen wir den Verratenen draußen sagen? Raus aus dem Lande mit dem Feind! Oder alles, was ich gewollt habe, war Täuschung. Ich rufe heute, was ich gestern rief:

Nieder mit der Gesellschaft Europas. Sie ist todesreif. Entscheidet

 

Er schwieg! Die Wirkung seiner Rede war etwa so, wie wenn in Berlin auf der Börse mittags 12 Uhr der Vogel Phönix erscheinen und den dort versammelten Kommerzienräten den Mythos von der Sonnenseele vorsingen würde.

Politiker, Bankiers, Damenwelt, Intellektuelle, Militärs, alle starrten ratlos. Aber diese Ratlosigkeit dauerte doch nur wenige Minuten. Dann dröhnte wieder – ungeheurer Beifall.

Am zufriedensten war der Außenminister.

»Sehn Sie«, sagte er zu Kuno Reißer, »das ist einer der geschicktesten Politiker unter allen, die mir begegnet sind. Sein natürlicher Gestus ist die dämlichste Einfalt. Er arbeitet mit dem bekannten Boukett ideologischer Redensarten und pflückt die Rosinen der volkstümlichen Sentenz. Aber dabei verfolgt er Schritt für Schritt seinen praktischen Zweck und benutzt die Gelegenheit, um uns alle nach Möglichkeit in Verwirrung zu setzen. Nur bei mir verfängt das nicht. Ich sehe klar bestätigt, was ich sogleich gedacht habe. Die Patriotenaufmachung war eben Komödie. Die Partei hat diesen Weg gewählt, um sich hier einzuschwärzen. Run sitzt der Mann im Sattel und versucht bereits das Programm zu wechseln. Er läßt sich den Rückweg zum alten Prinzip offen. Er wird im rechten Augenblick wieder Kommunist.«

»Ja«, sagte Kuno Reißer, »alle Politik ist die richtige Mitte zwischen Extremen. Dumme Leute taumeln, kluge balancieren.«

» Wir aber«, fügte Blender hinzu, »wir verkünden jetzt auf vier Wochen: Generalstreik. Dann geht es erst einmal Boche und Faussecocheur an den Kragen: den Eindringlingen, den Bluthunden, den Schweinen.«

 

Wieder hätten unsre seelenvollen einheimischen Staatsmänner minder schrecklich unsre Erbfeinde gehaßt, wenn sie das Gespräch hätten belauschen können, welches Faussecocheur mit seinem Freunde Boche pflog.

»Ich bleibe dabei«, sagte Faussecocheur, »der Mensch ist ein Patri-, um nicht gleich zu sagen ein Idi-ot. Glauben Sie, Marschall, Kommunismus ist nur Sache der Intelligenz. Intelligenz aber ist Unnatur. Die Menschen sind von Natur Patrioten. Darum kann man mit ihnen rechnen

Der Außenminister bat wieder ums Wort. Blender begann:

»Nach den mannhaften Sätzen unsres Kameraden Liebrecht hat die Regierung Folgendes zu sagen: Die im Dunkel geborne Pflanze, – (um das liebenswürdige Gleichnis des Vorredners aufzugreifen) -, blüht nun im vollen Sonnenlichte des Erfolges. Wir freuen uns darüber! Den guten Glauben unsrer Kommunisten an den heroischen Widerstand der Regierung werden wir nicht enttäuschen. Wir erklären den Generalstreik für das ganze Gebiet der Ruhr, so lange als der Feind im Lande steht: der äußere Feind. Innere Feinde kennen wir nicht mehr. Die charaktervolle Persönlichkeit des Führer der internationalen Kommunistenpartei verbürgt uns, daß wir alle Kräfte voll und ganz und unentwegt zusammenhalten in gemeinsamer Front wider Fremdherrschaft« – – –

 

Hätte in diesem Augenblicke Jens Liebrecht sich ruhig auf seine Erziehungsflächen gesetzt, um des weiteren das Maul zu halten, so wäre er zweifellos auch eine der »führenden Persönlichkeiten Europas« geworden und hätte, dank mancher Gaben und Fähigkeiten, seinem Volke oder seiner Partei, ganz nach Wahl, dienen können. Aber nun machte er aus kaum zu entwirrenden Privatgefühlen so viel Unsinn, daß der weitere Hergang der Dinge wohl kaum jemals zu enträtseln ist.

Die Hauptsache war wohl, daß er sich sehr schämte. Er geriet in die Lage eines Mannes, dem alles gelingt, weil man alles, was er sagt und tut, vollständig mißversteht. Aus einem Strudel widerstreitender Gefühle – (Wut, Zorn, Verachtung, Mitleid, Verantwortung, Erstaunen, Schmerz, Gelächter) – tauchte immer wieder eine nagende Selbstanklage auf: »Du bist schuldig vor Deinem Gewissen«. Und halb aus Verachtungsrausch, der sich selbst und das ganze Vaterland in die Luft sprengt, halb aus dem Bewußtsein, nun wirklich von sich selber das Äußerste fordern zu müssen, begann er noch einmal zu reden, er wußte selbst nicht, ob mit seines Herzens Stimme, ob mit jener fremden Stimme der Bücher.

 

Sie reden immer vom »Feind im Lande!« Ja! Wir haben den Feind im Land! Hier sitzen um mich die erlesenen Führer unsres Erdteils. Hier seh ich die leuchtenden Gestirne der Welt.«

(»Bravo!« riefen von der Tribüne rechts die Epheben Wimmerlottes, links die Korybanten Männe-Shakespeares aber warnten: Pst!)

Und mit einem großen Gestus den ganzen Saal umfassend, schrie er:

»Dies ist der Feind im Land!«

(Oho! rief einer auf der Tribüne der Intellektuellen.)

»Dies alles, ja, dies ist der Feind im Land!«

(Jetzt ertönte aus den hinteren Stuhlreihen für den Redner schon gefährlich werdend der Ruf: Quatsch nich, Wilhelm! Einige begannen zu lachen.)

Liebrecht fuhr fort:

» Feind im Land ..., das ist Ihre verdammte Klugheit, Ihr Geist, Ihre Wirtschaft, Ihre Politik.

Feind im Land ..., das ist der Mensch, der den Menschen bevormundet. Bevormundet kraft seiner Bildung, seiner Technik, seines Wissens, seines Könnens.

Feind im Land ..., das ist der Mensch, der die Seele der Erde tötet. – Wodurch tötet der Mensch die Seele der Erde? Dadurch, daß er sie zu Werk macht. Dadurch, daß er sie zu Geist macht. Dadurch, daß er sie umwandelt in Sache und Ding, in Raum und Zeit, in Geschichte und Fortschritt. Dadurch, daß er sie verzweckt und vermünzt. Wo habt Ihr Eure Seele? Welches Werk, das Ihr zeugt, zeugt für Euer Sein? Wo wird Element hinübergerettet in Sphäre des Worts?

Feind im Land ..., das ist der Mensch, der der Gottnatur aufdrängt die Normen und Ideale, den toten Wahnsinn der Vernunft.

Feind im Land ..., das ist der Mensch, welcher Menschen erziehen, Welt verbessern, Menschheit emporheben will. Denn das alles ist Selbstgerechtigkeit, Ichsucht, Machtwille, Schwindel.

Feind ist der Dünkel, der sich in Demut hüllt, denn gerade der Dünkel hüllt sich in Demut, kniet hin und spricht: »Gott erleuchte uns!«

Feind ist der Geist, daran die Einfalt stirbt; er mordet Blumenwelten und Tiergeschlechter der Erde.

In dieser Stunde hab ich begriffen: Ich stehe vor Euch als ein rechter Dummkopf.«

(»Sehr richtig!« rief man von der Galerie; andere warnten: Pst!)

»Ja«, meine Herren, »ich bin ein Dummkopf. Ein Mensch aus der Masse. Ein Prolet. Ich verstehe Sie nicht!«

(»›Na also‹ sprach Zarathustra«, tönte ein höhnischer Zwischenruf. Andere riefen: »Ausquatschen lassen!«)

»Oder vielmehr: Ich verstehe Sie doch; aber Sie verstehen mich nicht. Denn Sie sind zu klug.«

(Jetzt begann allgemeines Gelächter.)

»Ganz gewiß! Zu klug! Überlegen an Kunst, Geist, Politik, Kultur!«

(Plötzlich hörte man den immerfröhlichen Bariton des Demokratenführers. Der Freiherr rief: »Meschugge is Trumpf!«)

Unbeirrbar fuhr der Redende fort:

»Ich weiß ganz genau, was Sie von mir denken. Sie denken: Ich sei verrückt

(Alles lachte. Blender aber flüsterte Tünnes ins Ohr: »Der Mensch ist entweder wirklich verrückt oder der gerissenste Politiker aller Zeiten.« – Tünnes erwiderte: »Vielleicht beides!«)

»Meine Herren! Sie werden mich sogleich wieder für vernünftig halten. Ein Zeichen von mir und die Menge stürmt.

Dreihunderttausend! Kanonen unerreichbar! Soldaten desertieren! Das Volk hat Geschütze! Meine Herren, bereiten Sie sich zum Tode! Gleich brennt's! Europa fliegt in die Luft!«

Da brach seine Stimme ...

 

Einige Minuten hindurch fror gräßliches Schweigen durch den Saal. Keiner rührte ein Glied vor Grauen. Sie saßen stur und starr. Dann kam Bewegung in die Masse. Man sprach wirr durcheinander. Über einige Gesichter lief höhnisch ein Schmunzeln. Andre sahen das Schmunzeln und nahmen es auf. Das Lachen wirkte ansteckend wie die Angst. Angst und Lachen rangen über den Köpfen der Menge einen Wettkampf. Und plötzlich war die Todesangst zerplatzt wie eine Luftblase. Das befreiende Lachen lief siegreich durchs ganze Haus ...

 

Der Unsinn des Geschwätzes lag auf der Hand! Was wollte dieser Mensch? Zweierlei war möglich. Der Mann war entweder verrückt oder der Satan in Person.

Aber nein! ... Noch ein Drittes konnte alles Erlebte erklärlich machen. Er war eine literarische Persönlichkeit. Vielleicht ein Schüler von Alfred Kerr, von Bernhard Shaw, von Carl Sternheim, von Theodor Lessing. Man brauchte nur anzunehmen, daß alles ein Stück interessante Literatur sei. Dann wurde alles einfach und natürlich. –

Der einzige, der die Sache noch moralisch mißverstand, war der kleine Mannheimer. Seine Schartenstimme gellte durch den Saal: »So sieht die Wahrheit aus!«

»No – no«, rief man von den Tribünen und lachte ...

 

Zum Glück begannen die Wackersteinmühlen des Geistes alsbald wieder ihre rastlos kleinkriegende, alles ins rechte Lot bringende Tätigkeit.

Die Marginalglossen der Weltgeschichte formulierten bereits wieder kulturelle Urteile. Die Spiegel reflektierten. Die Windräder klapperten. Die Wasserschaufeln rauschten, oberschlächtig und unterschlächtig. Das Getreide wurde backfähiges Mehl. Katarakte des Worts strömten. Die Gehirne vermittelten die »richtige Orientierung«. –

In der Kaiserloge sagte die Perponcher zur Prinzheimer: »Der junge Mann ist etwas zu subjektiv, aber nicht unsympathisch«, und die Prinzheimer, ihre rote Nasenspitze pudernd, meinte: »Er wird in meinem Salon über seine Weltanschauung eine conférence geben«.

Wimmerlotte ließ sich folgendermaßen vernehmen:

»Die Rede über das »alienistische Prinzip« schien mir immerhin intim. Er markiert die expressionistische Selbstvergeudung des seelischen Exhibitionismus. Aber man merkt unschwer: Auch er ist Artist. Also ein Mensch mit weniger politischem als literarischem Ehrgeiz.«

Nachdem Männe-Shakespeare die historische Einstellung seines Gegenpols erfahren hatte, äußerte er seinerseits:

»Ich vermisse den großen Schrei ..., man wird mich verstehen in Kreisen, die in Betracht kommen, wenn ich sage: Hier fehlt die unmittelbare blutschänderische Dämonie des Wälsungenblutes: zu viel bürgerliche Ideologie. Es gibt einen echten Radikalismus. Es gibt einen unechten Radikalismus. Ich meinerseits würde mich aufhängen im Gezweige der Weltesche Ygdrasil, an dem Tage, wo ich entdecken müßte, daß in Deutschland ein noch radikalerer Geist lebt als ich es bin. Ich werde über den echten Radikalismus demnächst einen Essay schreiben. Den werde ich drucken lassen in der »Neuen Deutschen Rundschau«. Sodann werde ich mein Werk zu volkstümlichen Eintrittspreisen dem Proletariate vorlesen im vaterländischen Damenklubb: »Befreundete Helden. 1914.«

 

Wenn somit die Kulturellen (auf dem Umwege über die Literatur) einige Zugänge und Erklärungen für das höchst übergeschnappte unkonventionelle Verhalten des aus dem Häuschen geratenen Kommunistenhäuptlings fanden, so standen doch die Industriellen staunend davor wie die Ochsen vor dem Berge.

»Verstehn Sie den Klamauk?« fragte Kanonenthiessen. »Wat will 'en der Kirl?«

»Wat hei wull?« antwortete der große Alte. » Weltrevolution

Der Freiherr von Habebald, welcher das hörte, sagte: »Nebbich!«

(Seine Partei ist eben das Zünglein an der Wage. Sie hat es daher immer leicht, bei einer solchen politischen Einseitigkeit zu lächeln.)

Sogar Emil Blender war nachgerade doch etwas unsicher geworden. »Ich argwöhne« (so äußerte er sich zum Kanzler Reißer), »daß hier politische Absichten befolgt werden, welche sogar für mich undurchdringlich sind. Immerhin scheint es mir, daß dieses Individuum sich in einer Weise auf Dummheit und Schafigkeit hinausspielt, die schon zu Unnatur geworden ist.«

Der Kultusminister meinte: »Kennen Sie, lieber Blender, wohl die Schule des Dada? Die modernste dadaistische Politik wirft die propagandistischen Mittel der älteren Schulen übern Haufen. Die gute alte Tradition des Völkergeschäfts und die alte gute diplomatische Kameral- und Kabinetts-Kunst gilt heute gar nichts mehr. Man arbeitet nur noch mit 'em Jefühl. Aber ist nicht vielleicht der Mann verrückt

»Immerhin Politiker«, sagte Blender nachdenklich ...

Faussecocheur urteilte entgegengesetzt.

»Meine Menschenkenntnis«, sagte er zu Boche, »trügt mich nie. Ich sage Ihnen, dieses Subjekt ist sogar zum Patriotismus zu naiv. Das ist ein primitives Schaf. Ein sanfter Idiot, einzig brauchbar für ein Bibelkränzchen, für den christlichen Jünglingsverein oder für die Heilsarmee.«

 

Sehr verwickelt waren die Urteile der einheimischen Philosophen.

Schnitzelmacher sagte:

»Ich als Psychologe halte die ganze Angelegenheit für wahnsinnig, muß dabei aber einen doppelten Wahnsinn zu unterscheiden bitten. Nämlich den gespielten, vorgetäuschten von dem sozusagen naturgemäßen. Die Sache ist einfach. Bereits bei Shakespeare spielt Hamlet den Wahnsinnigen, ohne daß damit bewiesen wäre, daß er nicht auch wirklich einer ist, indem man grundsätzlich die Maske der Dummheit vornimmt zu dem Zwecke, seine wirkliche Dummheit zu verdecken.

Bemerken Sie nun Zweierlei. Erstens: Die Politik der Kommunisten ist teils gespielter, teils wirklicher Unsinn. Insofern der Unsinn gespielt ist, ist er zweckmäßig, also Sinn. Dagegen ist naiver Unsinn als Wahnsinn irrational. Zweitens: Das menschheitliche Erlebnis der bewußtseinsgehäusedurchbrechenden Tiefenerstreckung ins Irrationale, das heißt ins Mystisch-Metaphysische ist das Erlebnis der Angst. Somit kann ich sagen: Soweit der wirkliche Unsinn den gewollten Unsinn überwuchert, offenbart sich in dem Verhalten dieses Proletariers eine gewisse Angst. Was folgt daraus? Es folgt daraus, daß er nicht ein Mutmensch ist. Es folgt daraus, daß er nicht ein Tatmensch ist. Die Renaissance des Tatmenschentums aber ist aus wissenschaftlichen Gründen historisch fällig. Er wird sie uns nicht bringen. Das tut Cecil Rhodes. Das tut Tünnes. Das tun andere, denen es niemals ermangelt an Dreistigkeit der Behauptung.«

Darauf sagte Graf Klinglingling, der seinstrunkene Lebenssucher von Darmstadt:

»Lieber Kollege! Die mit Recht so allgemein beliebte Antithese: Hie Natur – Hier Kultur; Hie Seele – Hie Geist, diese uns zum Schreiben vieler philosophischer Bücher befähigende allgemeine Polarität besteht doch nur, soweit der Rhythmus des Irrationalen sich als Bewußtsein zeiträumlich selbsterfaßt, während jenseits der Harmoniewelt des Bewußtseins der Gegensatz: Sinn – Unsinn jeden Sinn, ich könnte auch sagen, seinen Unsinn verliert. Und so glaube ich: man muß Liebrecht nehmen nicht platonisch-phänomenologisch, wie Sie, lieber Späneschnitzler, sondern als dieses einmalige in keinerlei »Typus« oder »Idee« einzugliedernde lebendige Erlebnis der Zeit. Denn nur des lebendigen Lebens lebendigstes Leben ist des lebevoll lebigen Lebens lebendiger Sinn

 

Gerade begann Späneschnitzler eine Erwiderung: »Handeln, handeln, handeln!« ... als etwas eintrat, was alle Gesichter kreidebleich färbte, aller Kniee schlottern machte und aller Münder verstummen ließ.

Der unbegreifliche Mensch auf der Estrade hielt seelenruhig einen rätselhaften Gegenstand über sein Haupt und zeigte ihn der Versammlung.

Es war eine Bombe.

Alle erkannten es nun deutlich.

Er schwang sie und rief:

»Hoch die Weltrevolution!«

Halb klang es wie Jauchzen, halb wie Schmerzensschrei.

»Weltmorgen tagt, über uns grüne das neue Geschlecht.« ...

Alles erstarrte. Im Nu übersahen sämtliche Politiker den Zusammenhang. Sowjetrußland, Amerika, Indien, China, Australien, das ganze Proletariat der Erde stand dahinter. Die immer verkündete Stunde der Weltrevolution, unversehens war sie gekommen.

Faussecocheur war der einzige, der immer noch zweifelte.

»Schnell, Marschall«, flüsterte er, »kriechen wir unter die Stühle. Découvrez le communisme et vous verrez le patriidiotisme.« –

 

Kaum hatte die Erstarrung sich gelegt, so brach die Panik los.

Man wollte aus den Türen. Man wollte aus den Fenstern herausspringen. Vor den Türen und vor den Fenstern standen schwarze Menschenmassen. Alle Ausgänge waren versperrt; das Haus dicht umlagert. Die Schutztruppe leistete keinen Widerstand. Das Volk umbrandete die Mauern. Man hörte von allen Seiten drohende Stimmen.

Die Damen auf den Tribünen kreischten und fielen in Ohnmacht.

Auf der Galerie links lag der jüngere Männe. Die besten Chirurgen der Nation hielten ihm Opodeldok unter die Nase. Rechts lag der ältere Männe. Denn so sehr die Weltanschauungen der beiden Brüder sich bestritten, ihre Seelen waren kosmisch Eines. Sie stimmten darin überein, daß beide kein Pulver riechen konnten. Ein Umstand aber belastete ihr Ende mit ergreifend echter Tragik: Ihre von zu vielen Meisterwerken unsrer Literatur ausgemünzten Gehirne suchten verzweifelt aber vergeblich nach einem »letzten Wort«, welches in die Literaturgeschichte übergehen könne ...

 

In diesem verhängnisvollen Augenblick offenbarte nur ein Einziger im Saale einen guten rettenden Instinkt.

Guschen war es!

Guschen rettete ihnen allen das Leben.

Denn zu Landesvätern taugen nur einfache Naturen. Allein im Bileamsesel vermag Gott noch menschlich und wie ein Mensch zu sprechen.

Guschen stand auf, ging sachte auf Liebrecht und sagte:

»In dieser schwersten Stunde meines Lebens überlasse ich mein Amt Ihnen ... Mögen Sie – (dies fügte er nur aus assoziativer Gewohnheit hinzu) –, mögen Sie bedenken, daß wir vor der Weltgeschichte die Verantwortung tragen für alle ungeborenen Geschlechter.«

Damit schob er die gefährliche Bombe in die große Tasche seines blauen Überziehers.

Der Alb war gebannt.

Die Menschen beruhigten sich. Sogar die beiden Männe wurden noch einmal der Kultur und der Kulturmenschheit zurückgegeben ...

Nun aber kommen Ereignisse, so wirr, so bunt, so rätselhaft, daß es nicht mehr möglich ist, sie in zeitlichlogischer Folge aneinander zu reihen. Vielmehr muß ich den Leser bitten, genau zu bedenken, daß alles, was der Historiker als zeitliche Folge aufreiht, in Wirklichkeit oft ineinander geballt liegt in einer einzigen kurzen Sekunde.

Wie ging die Sache vor sich? Wie war es doch?

Kaum hatte das Publikum des Saales sich notdürftig beruhigt, da hörte man einen gräßlichen Wutschrei, ausgestoßen vom Marschall Boche de Trocadero. Mit blaurotem Gesicht sprang der Marschall umher und schrie: »Hunde, das sollt Ihr mir büßen! Hunde, das sollt Ihr mir büßen!«

Ein plötzlicher Anfall von Tollwut schien seinen starken Geist verfinstert zu haben.

Neben ihm auf dem Boden wälzte sich Guschen Ehrlich.

Boche war, auf den Rat Faussecocheurs, beim Anblick der Bombe unter einen Ledersessel gekrochen. In dieser Stellung hatte er gesehn, wie Guschen die Bombe an sich nahm, und hatte gehört, daß Guschen aus eigener Machtvollkommenheit Jens Liebrecht zum Reichsoberhaupt ernannte. Da er die Sprache nicht genau verstand und in seinem gradlinigem Kopfe ohnehin die Tagesereignisse sich zu verwirren begannen, so glaubte er sich betrogen und wähnte, daß alles Erlebte eine abgekartete Sache gewesen sei, ja, er argwöhnte, daß Guschen die Regierung des Landes an sich reißen wolle. Kurz: Boche ließ sich aus der Erregung der Situation verleiten, ungeheure Beleidigungen gegen Guschen hervorzustrudeln. Nun war Guschen zwar kein Politiker, aber die Klinge, die er schlug, war nicht von Pappe. Zudem weiß man, welche Selbstgefühle ein Mann entwickelt, wenn er eine Bombe in der Tasche hat. Kurz und gut: Guschen brüllte ebenfalls los und haute Boche eine kräftige Ohrfeige herunter. Und im Nu begann die ungeheure vaterländische Spannung, die seit früher Morgenstunde über all diesen überreizten wildgemachten Menschen lagerte, sich gräßlich zu entladen. Ein ohrenzerreißender Lärm, allgemeine Katzbalgerei brach los. Mit Worten. Leider aber auch mit Fäusten.

Das alles (wie gesagt) war nur Vorgang einer Sekunde.

 

In dieser gleichen Sekunde entfalteten sich auch außerhalb des Saales gewaltsame, wilde und kaum von hinterher noch klarzumachende Ereignisse.

Unter den Massen auf Dollarcamp hatten sich merkwürdige Gerüchte verbreitet. Es hieß, die Kommunisten hätten durch Staatsstreich die Regierung gestürzt. Die Weltrevolution sei im Volkshause proklamiert worden. Liebrecht sei an Guschens Stelle zum Diktator des Proletariats erwählt.

Man hatte Fenster eingeworfen und Türen eingedrückt. Man hatte schließlich Treppen und Gänge des Volkshauses erstürmt und besetzt. Die kleine Menge Gardesoldaten leistete kaum noch Widerstand. Das Volk war schon im Hause. Von außen begehrten neue Massen Eintritt und drängten nach. Allen voran zog eine Deputation der kommunistischen Arbeiterschaft. Diese hatte den Auftrag, im Namen des arbeitenden Volkes Beweise einzufordern für die Aufhebung des Vertrages von Falsiloques und für den Abmarsch der feindlichen Okkupationsarmee.

Diese Deputierten sprengten die große Eichentüre. Sie gelangten bis zum Saale in dem Augenblick, wo Guschen und der Marschall Boche einander in die Haare geraten waren.

Faussecocheur, im Nu die veränderte Situation übersehend, wußte den verhängnisvollen Eindruck, den die Deputation der Arbeiter erhalten konnte, noch dadurch schnell zu bemänteln, daß er auf einen Stuhl stieg und mit Riesenkräften die Marseillaise anstimmte.

Die Politiker, die Gefahr erkennend, halfen ihm von allen Seiten. Sie zogen ihre Taschentücher, winkten über die Köpfe der Versammelten hinweg den Arbeitern freudig entgegen und begannen sofort lebende Bilder der Brüderlichkeit zu stellen.

Der große alte Tünnes hatte die bewunderswerte Geistesgegenwart, zu rufen: »Hoch lebe der Achtstundentag!«

Kanonenthiessen in seiner Herzensangst begann das Lied: »Blut muß fließen, Blut muß fließen; nieder mit die Hunde von das Kapital!«

 

Die Arbeiter benahmen sich angesichts des allgemeinen Tohuwabohu etwas begriffsstutzig. Aber den rasenden Anstrengungen aller Einsichtigen gelang es, die patriotische Wut und Nervosität überzuführen in die dionysischen Ekstasen einer mehr sozial getönten Begeisterung, so daß manche Leute nicht mehr recht wußten, ob sie sich nationalistisch verprügeln oder kommunistisch verbrüdern wollten.

Eines begriffen alle: Der Tod schwebte über der Versammlung. Sie waren verloren, wenn das Proletariat nicht beruhigt würde. Alles kam darauf an, den eindringenden Proleten Gewißheit zu verschaffen, daß ihre Wünsche erfüllt seien! ...

Man sah geballte Massen Volkes durch Türen und Fenster quellen.

»Kinder«, rief man, »bleibt doch hübsch draußen. Wir kommen lieber zu Euch hinaus. Wir feiern alle, da draußen in der schönen Natur, das Frühlingsfest der Revolution. Den Beginn der neuen Weltära.«

Der jüngere Tünnes bewährte sich wieder als der blonde Liebling der Nation. Er küßte die Deputierten des Kommunismus reihum und schob sie dann durch die Türe wieder nach draußen.

 

Guschen und Boche wurden fast mit Gewalt auf die große Altane hinausgedrängt. Das Parlament forderte, daß sie als Vertreter der beiden Nationen sich vereint der Arbeiterschaft zeigen sollten. Man drang in sie, daß sie im Angesichte der Volksmasse sich umarmen und küssen möchten.

Schon stellten die Photographen ihre Kameras. Die Vertreter der Ufa, der großen internationalen Kinogesellschaft, schickten sich an, den weltgeschichtlichen Vorgang zu filmen.

Es zeigte sich denn auch, daß die Politiker die Volksseele richtig beurteilten. Die rasende Menge beruhigte sich, als die bekannten Größen der europäischen Politik auf den Balkon hinaustraten und Beweise für die Beilegung aller nationalen Gegensätze in rührenden und tiefergreifenden Bildern der Bevölkerung vor Augen brachten.

Boche und Guschen benahmen sich freilich wie ein paar hartmäulige junge Fohlen, die sich durchaus nicht der politischen Notwendigkeit fügen und das Halfter der Staatsraison auferlegen lassen wollen. Sie zierten sich ein Langes und Breites.

»Bitte, fangen Sie an!« flüsterte Boche giftig. Guschen, der am liebsten die Bombe geschleudert und Boche erwürgt hätte, gab tiefverstimmt zurück: »Mein Herr, ich küsse Sie nur mit Restriktion«. Er empfand diese Stunde wirklich als die schwerste seines Lebens.

Aber schließlich, da es denn sein mußte, umarmte das Reichsoberhaupt den feindlichen General. Das Volk aber stand in Andacht. Die verarbeiteten Männer entblößten das Haupt. Die sorgengewöhnten Mütter huben ihre Kinder empor, damit sie die weltgeschichtliche Stunde nie vergäßen.

»Au«, sagte Boche, »Ihr Bart kratzt, mein Herr, erteilen Sie gefälligst Ihre Bruderküsse etwas weniger brünstig.«

(Hinterher behauptete Guschen, daß Boche ihn während der Umarmung gekniffen habe, und dies sei ein Beweis von Falschheit. Boche dagegen behauptete, Guschen sei zu dick, und man könne nicht ordentlich an ihn heran.

So bewarfen sich die Vertreter der Geschichte bedauerlicherweise mit Schmähungen, während das Volk im Lichte der sinkenden Sonne das Schauspiel der Versöhnung zweier edler Kulturen genoß.)

 

Nach Guschen und dem Marschall trat der große alte Tünnes auf die Altane und als sein Gegenpart Faussecocheur. Denn jedermann im Volke wußte, daß diese beiden Männer den Wirtschaftsvertrag von Monte Carlo zusammen ausgeheckt und die richtige Verteilung der Erdöl- und Petroleumquellen, der Kohlen und Erze miteinander vereinbart hatten, wovon ja doch die Kultur- und Heldengeschichte dieser Welt zuletzt abhängt.

Faussecocheur rief: »Hoch lebe der Achtstundentag!« und zeigte dabei auf Tünnes, als wenn diesem allein das Verdienst an der Einführung des Achtstundentages zukomme, worauf Tünnes diese Höflichkeit erwidernd, seinerseits rief: »Hoch die Politik des Rechtes und der Ehrlichkeit!« und dabei auf Faussecocheur zeigte.

Faussecocheur legte vertraulich seinen Ann um den kraftvollen Nacken des großen Alten und kitzelte ihm zärtlich im Kragen, worauf Tünnes Faussecocheurs dicken Kopf nahm und, sein Gesicht an das Ohr drückend, leise hineinhauchte: »Faussecocheur, Sie sind ein Lump«, worauf Faussecocheur elegisch erwiderte: »Da werden Sie Recht haben, Tünnes.«

Das Volk jauchzte zur Altane hinauf. Und wie schrieb unser edler deutscher Dichter Walter Bloem so schön von dieser Stunde?

»Das sinkende Rot der Maiensonne spiegelte sich im Nasse der Perlen, emporgeweint aus Herzenstiefen deutscher Jünglinge und Jungfrauen. Klio aber, die Muse im purpurblutigen Gewand, schlug eine neue Seite auf im Schicksalsbuche der Menschheit und schrieb über das neue Blatt mit ehernem Griffel: › Die Wiedergeburt Europas.‹« –

Dann verlangte das Volk Emil Blender, den Außenminister, und Sepp Schwarbel, den Kultusminister, zu sehn.

Blender war bereit. Aber auch er sollte Brüderlichkeitsbeweise liefern. Er wählte sich Mannheimer zum Gegenspieler und bat diesen, mit auf den Balkon hinauszutreten. Mannheimer aber nahm das schämig auf und sagte:

»Ich komme mir vor wie beim Kotillon die liebreizendste Dame, die von allen Seiten Sträußchen empfängt. Ich weiß nicht, warum wählen alle gerade mich. Wählen Sie doch einen Würdigeren. Ich habe schon Kuno Reißer zugesagt.«

Blender aber bestand darauf, daß es just Mannheimer sein müsse. Wenn überhaupt schon mal die alberne Küsserei vorm Volke gespielt werden solle, dann sei ihm Mannheimer immerhin am sympathischsten.

So hatte denn das Volk das seltene Schauspiel, zu sehen, wie das nationale Bankgeschäft in Gestalt Mannheimers und die nationale Politik in Gestalt Blenders einander küßten. Nur war Mannheimer, selbst bei dieser Gelegenheit, nicht zu bewegen, seine Zigarre aus dem Munde zu nehmen.

Danach rief das Volk gebieterisch die Namen Jens Liebrecht und Baldur Tünnes. Aber Liebrecht war nirgends aufzufinden. Und dieser Umstand hätte die staatsrettende Aktion beinahe durchkreuzt. Baldur trat allein hinaus und sagte dem Volke, daß Liebrecht mit Vorbereitungen für die »Diktatur des Proletariates« viel zu beschäftigt sei, um im Augenblick erscheinen zu können. Es gelang ihm denn auch, die gefährlichste Klippe, das Nichterscheinen Liebrechts, mit Rosen zu verdecken, zumal noch viele andere Berühmtheiten, inländische wie ausländische, vor das Volk traten und ihm lebende Bilder der Erlösung und Versöhnung vor Augen stellten.

So traten denn in dieser Stunde sämtliche Führer Europas zu Pazifismus und Kommunismus hinüber. Es blieb ihnen auch nichts andres übrig. Denn was sollten sie tun, angesichts der drohenden Gefahr, vom revolutionären Mob zertreten oder aufgeknüpft zu werden?

 

Nachdem somit der Wiederaufbau Europas auf dem Wege der kommunistischen Volksherrschaft Tatsache geworden war, beschlossen auch die Intellektuellen, »dem Rufe der Neuzeit Folge zu leisten« und den linken und rechten Flügel des Geistes, in Gestalt von Männe-Shakespeare und Männe-Wimmerlotte, miteinander zu versöhnen.

Nach längeren Verhandlungen zeigte sich auch das literarische Brüderpaar bereit, im Angesichte der Nation einen Kuß zu zelebrieren und dadurch den Beginn der neuen Kulturepoche für die ›Neue deutsche Rundschau‹, Meyers Konversationslexikon und die Literaturgeschichte von Gundelsinger sichtbarlich anzuzeigen.

Ein jeder geleitet von seinem Kulturkreis (Tomi von venedischen Epheben, Heini von venerischen Mänaden) bewegten sie sich, nachdem sie lange vor den dahinter befindlichen Spiegeln ihre Krawatte geordnet, von den Galerien rechts und links feierlich zur Altane hinüber, stellten sich (im Profil) vor das Gold und Rot der sinkenden Frühjahrssonne und schmückten einander durch den weihenden Kuß. Tomi – (er hatte sich inzwischen zum freideutschen Republikaner fortentwickelt) – formulierte den Akt folgendermaßen: »So erblühe fortan auf nationaler Grundlage der Verschiedenheiten unsres Blutes das geistige Einheitsziel des allgemeinen internationalen Vernunftstaates.« Heini aber (dessen Entwicklung nunmehr bei einem gemäßigten Nationalismus angelangt war) entgegnete feurig: »Umgekehrt! Auf der einheitlichen Grundlage des internationalen Geistes errichten wir die Nationalstaaten der dem Blute nach persönlich Differenzierten.«

 

Dieser Tag übertraf den 4. August 1789 und den 4. August 1914. Das sind die beiden herrlichsten Tage der Weltgeschichte.

Im August 1789 beschlossen die Menschen, Weltbürger zu werden. Im August 1914 beschlossen sie das Gegenteil.

Heute war der Mensch alles auf einmal: vaterländisch, kommunistisch, bolschewistisch, individualistisch. Demokrat, Aristokrat und was Ihr sonst wollt. Und nicht nur der Adel, sondern sogar die (Sozialismus genannte) Besser-Verdiene- und Lohn-Demokratie verzichtete auf all ihre Prärogative.

Freiherr von Habebald trat als Erster vor das Volk und erklärte, daß er seinen Adel künftig ablegen und sich begnügen wolle mit dem schlichten Namen ›Cohn‹.

So war denn alles gelungen. Das Volk beruhigt. Die Gefahr beseitigt. Die Stimmung der auf Dollarcamp lagernden proletarischen Menschenmasse schlug allmählich um. Ein norddeutsches Schützenfest, eine süddeutsche Vogel- oder Oktoberwiese, eine rheinische Kirmeß schien fröhlich sich entfalten zu wollen.

 

Da entstand neue Verlegenheit.

Die siegreichen Kommunisten stellten bestimmte Anforderungen. Sie weigerten sich, die Belagerung des Volkshauses und die Umzingelung der Kulturträger früher aufzugeben, ehe nicht folgende vier Forderungen unzweideutig erfüllt seien.

Erstens: Die Versammlung solle sofort beschließen die Räumung des Landes von der fremden Okkupationsarmee. Dieser Beschluß solle schriftlich festgelegt und dem Volke mitgeteilt werden. Zweitens: Die Verbindung mit den zehn Divisionen der Okkupationsarmee solle so lange abgeschnitten bleiben, bis Marschall Boche und Faussecocheur die Entwaffnung der Soldaten und die Übergabe der Geschütze an das Volk verfügt hätten. Drittens: Die Abgesandten der Kommunisten sollten der Verhandlung beiwohnen, die unter der Leitung von Jens Liebrecht sogleich stattfinden müsse. Wenn aber kein befriedigender Abschluß zu erzielen sei, dann müsse viertens augenblicklich die ›Diktatur des Proletariats‹ durchgeführt werden.

Was war da zu machen?

Man hatte sich so festgelegt, daß die Komödie des kommunistischen Menschheitsfrühlings fortgespielt werden mußte, so lange bis es den Lümmeln beliebte, nach Hause zu gehn und sich schlafen zu legen. Wenn die Götter dieser Welt nicht den Weg zu ihren Kanonen frei haben, dann sind sie entgöttert. Sie waren nichts mehr als Geißeln in der Hand des Proletariats. Mit dem mußten sie sich wohl oder übel verbrüdern. Und nur eine Hoffnung hielt stand: daß auch proletarische Führer lieber Zigarren rauchen als Blut vergießen.

Man rechnete jetzt allgemein auf die Gutmütigkeit Liebrechts. Man überließ ihm das Steuer des gänzlich verfahrenen Staatsschiffs. Jeder war heilfroh, in dieser Stunde keine Verantwortung tragen zu brauchen.

»Machen wir das lyrische Bählamm zum Diktator«, sagte Faussecocheur zu Tünnes. »Er wird den Wölfen befehlen, künftig Klee zu fressen. On ne sort jamais impunément de son caractère. Der Jüngling ist uns recht ungefährlich. Er ist moralisch verkommen. Ich meine damit: verkommen infolge von Moral. Huldigen wir also immerhin der Ethik. Die Tugend ist ein Weib. Je mehr man ihr nachfolgt, um so schneller wird man sie los. Die Hauptsache ist, daß wir aus dem verdammten Stall herauskommen.«

 

Aber wo war Liebrecht? Verschwunden, verduftet, fortgespült! Grade so rätselhaft unvermittelt, wie er am Morgen aufgetaucht war.

Guschen Ehrlich, welcher notgedrungen vorerst wieder in den Präsidentenehrensessel zurückkletterte, sagte verbittert: »Ich finde, das ist von Liebrecht die größte Gemeinheit.«

Man sandte Boten aus, um Liebrecht zu suchen. Sie hatten den Auftrag, ihn durch Bitten oder Gewalt, tot oder lebend, in den Saal zurückzuschaffen. Denn das Volk war nun einmal nur mit diesem Namen zu beherrschen. Er sollte die Versammelten endlich aus ihrer unfreiwilligen Gefangenschaft erlösen.

Im übrigen begann man, so gut es gehn wollte, im Beisein der kommunistischen Vertrauensmänner aufs neue staatsrechtlich zu verhandeln. –

 

Die Sachlage hatte sich verschoben. Während zuvor jede Partei das draußen zusammengerottete Volk ausspielte gegen die andere Partei, um unter diesem Druck möglichst viel für sich selber herauszuschlagen, waren nunmehr alle stillschweigend darin einig, daß man zunächst aus dem gräßlichen Saale mit heiler Haut herauskommen und darum den Mob mit befriedigendem Ergebnisse nach Hause schicken müsse. Dieser allgemeine Wunsch erzeugte im ganzen Raume unter Freund und Feind eine versöhnliche, sympathische und echt brüderliche Stimmung.

Die Politiker versuchten zugunsten des allen gemeinsamen Zweckes einander in die Hände zu arbeiten. Faussecocheur stellte Anträge durch Tünnes; Tünnes stellte Anträge durch Faussecocheur.

Zuerst beantragte Tünnes (also eigentlich Faussecocheur), daß die Bodenreform durchgeführt werden müsse. Als Erstes solle ganz Dollarcamp, das Volkshaus, die Gruben, die Fabriken und die Hüttenwerke sofort zum Gemeineigentum erklärt werden. Zu diesem Gemeineigentum gehörten auch die riesigen unter dem Volkshaus befindlichen Weinkellereien, in denen der alte Tünnes seine edlen Schätze an Rhein- und Moselweinen, an alten Kognaks und köstlichen burgundischen Rotweinen aufbewahrte. Die Schlüssel zu den Weinkellern wurden sofort an die kommunistische Partei ausgeliefert. Einige Vertrauensmänner begaben sich an Ort und Stelle, um das neue Gemeinschaftseigentum in Augenschein zu nehmen. Keiner außer Tünnes übersah die tiefe Hinterlist dieses Faussecocheurschen Einfalls. Mit süß-saurem Gesicht stellte Tünnes den Antrag (der ja einer riesigen Schenkung gleichkam), und mit geheimer Wut nahm er den Dank der Beschenkten entgegen. Und das kann man Tünnes nachempfinden. Denn auch mir würde nichts auf Erden bitterer sein als der Zwang, meinen Weinkeller zum Nationaleigentum erklären zu müssen, weil meine Feinde mich damit ärgern wollen.

Zu zweit beantragte Faussecocheur (also eigentlich Tünnes, welcher hoffte, auf diesem Wege sich an Faussecocheur rächen zu können), daß die Paragraphen des neuen Völkervertrages sofort in Kommissionen beraten und dann den Kommunisten zur Redaktion und Genehmigung vorzulegen seien ...

Die Gedanken der ganzen Gesellschaft drehten sich aber in Wahrheit immer nur um Eines: Wie bringen wir Truppen an das Volkshaus heran? Wie zerstreuen wir die Binken draußen in alle vier Winde?

Der geschichtliche Zusammenhang der Ereignisse war inzwischen sehr verwickelt geworden, so verwickelt, daß kein menschlicher Scharfsinn die Kausalketten mehr zu überschauen vermöchte. Vor allem ungelöst blieb das Rätsel: Liebrecht! Wer war dieser Mensch? Was hatte er gewollt? War er Patriot oder Kommunist? Wer waren die Hintermänner, die ihn zur rechten Zeit auftreten und nun wieder zu rechter Zeit verschwinden ließen?

 

Da Weltgeschichte eine für meinen Verstand zu verwickelte Wissenschaft ist, so habe ich mich an Herrn Erich Marcks, einen Historiker in Berlin gewandt und ihn gebeten, in seinem Historischen Seminar den Fall aufklären zu lassen.

Der unvergleichliche Scharfsinn unserer deutschen Historikerschule hat mir denn auch einen Ariadnefaden durch das Labyrinth in die Hand gegeben. Ich glaube mich nicht berechtigt, die Auffassung des deutschen Historikers dem verehrten Leser vorenthalten zu dürfen.

Herr Erich Marcks schreibt mir nämlich Folgendes:

»Es wird Ihnen, heißverehrter Mann, bekannt sein, daß die Schlacht bei Waterloo nicht von Blücher oder Wellington, sondern von dem Wiener Bankier Rotschild gewonnen worden ist. Rotschild trank während der Schlacht in der ›Goldenen Gans‹ zu Brüssel eine Tasse Kaffee und ließ sich durch seinen Gewährsmann über den Verlauf der Sache auf dem Laufenden halten. So erfuhr er eine halbe Stunde früher als andere Sterbliche, daß Napoleon keine Aussicht mehr habe, die Schlacht zu gewinnen. Sofort ließ er an der Börse die Nachricht verbreiten, daß Napoleon gesiegt habe. Gleichzeitig benachrichtigte er durch verabredete Chiffren sein Bankhaus, daß die deutschen und englischen Staatspapiere aufzukaufen seien, welche damals für einen Bettel zu haben waren, während die französischen Papiere ins Unermeßliche stiegen. Nach Schluß der Börse, eine Stunde später, war die Nachricht da, daß Bonaparte besiegt sei. Die eben noch wertlosen Papiere waren nun zur sichersten Geldanlage geworden. Die Schlacht war für Rotschild gewonnen durch eine viel einfachere Taktik als die Napoleons. Das war einer der schönsten Siege der Geschichte. Und doch bedeutet er wenig im Vergleich zu dem Riesensiege des kleinen Mannheimer.

Rekapitulieren Sie doch, geschätzter Kollege, noch ein Mal den Verlauf der Ereignisse und achten Sie auf das Benehmen Mannheimers.

Alle Parteien hatten mit Generalstreik gespielt. Jede benützte den Generalstreik der Arbeiter als Waffe. Das merkte Mannheimer. Daher setzte auch er alles auf diese eine Karte. Aber während allen anderen das Spiel über den Kopf gewachsen war, hatte Mannheimer das Spiel gewonnen. Dank einer sehr einfachen Methode.

Nachdem er, in seinem Winkel abseits sitzend, seine Ziffernaufträge an die ihm unterstellten Banken ausgegeben hatte, ließ er die Telephonleitungen durchschneiden und beraubte dadurch das von seinen eigenen Kanonen bedrohte Parlament jeder Kommunikation mit der Außenwelt. Während nun alle in Todesgefahr schwebten oder zu schweben glaubten (worüber er, der die Fäden in der Hand hielt, sich billig amüsieren konnte), war in der ganzen Welt bereits der Entschluß der Arbeitseinstellung auf die Dauer der feindlichen Invasion bekannt geworden. Ob nun künftig diese Arbeitseinstellung Wirklichkeit wurde oder nicht, das blieb für Mannheimers Berechnungen ja gleich. Tatsache war, daß die Aktien und Obligationen der einheimischen Industrieen im Augenblick wertlos waren, daß das vaterländische Geld am Weltmarkt nichts mehr galt, und daß alle diese billig gewordenen Aktien, Obligationen und Devisen für ein Garnichts aufgekauft wurden durch Mannheimers Agenten. Und zwar (das war für sein Herz die schönste Genugtuung), ohne daß auch andere Bankiers an der Beute Anteil hatten, weil ja, als Mandelsüß & Co. den Generalstreik finanzierte, diese Wendung der Dinge nicht mehr in der Außenwelt bekanntwerden und nicht mehr das Weltgeschäft beeinflussen konnte. Die gesamte einheimische Industrie gehörte also Mannheimer. Im günstigsten Augenblick, den er selber hinterlistig heraufbeschwor, hatte er alle Verpflichtungs- und Anteilscheine aufgekauft. – Was aber sollte Liebrecht in diesem Spiele? Wenn man nicht vorzieht anzunehmen, daß Liebrecht und Mannheimer unter einer Decke steckten und sich in die Beute teilten, so muß man wohl annehmen, daß Liebrecht nur eine Puppe, eine Marionette Mannheimers gewesen ist.

Mannheimer ließ diesen unklaren, politisch unsicheren Fantasten und Gefühlsmenschen so lange tanzen und zappeln, bis er nicht mehr nötig war und von der Bühne wieder verschwinden konnte ... Die kommunistische Weltära hat also Mannheimer durchs Telephon gemacht. Er läßt sie nun eine Zeitlang sich austoben. Grade so lange als es für seine Transaktionen und Schiebungen nötig ist. Dann aber läßt er Europa wieder zum gewohnten Reichsgeschäft zurückkehren, befreit von unnötigen Ideologien. Wahrscheinlich verwandelt er Deutschland in einen Bund von 25 autonomen Landschaftsstaaten. Er beruft sich dabei auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, auf das alte Stammesbewußtsein oder ähnlichen Schwindel und fährt dann im Auto nach Adlon oder Kempinski, zum Abendessen.

Dieser Zusammenhang (so beschließt der große deutsche Historiker seine lichtvolle Darlegung) beweist, daß Kapitalismus und Sozialismus, daß Kommunisten und Expropriatöre an einem Strange ziehen, wobei wir, die deutschen Professoren immer das Nachsehen haben.« ...

 

Ich glaube, daß diese Darstellung des Hergangs vollkommen klar und lückenlos ist.

Sie wäre auch sicherlich von unsern künftigen Rankes und Treitschkes übernommen worden und ins Bewußtsein der Oberlehrer und somit in die Schulbücher unserer Nation übergegangen (also zu jener ›Nachträglichen Sinngebung des Sinnlosen‹ geworden, welche man ›Weltgeschichte‹ nennt), wenn nicht ein ganz neuer Umschwung der Dinge eingetreten wäre, welcher den Zusammenhang bei jenem weltgeschichtlichen Akte überhaupt nicht mehr deutbar macht und ihn sogar für mich (der ich doch diese unmögliche und allen Traditionen ins Gesicht schlagende Geschichte erstunken und erlogen habe) in undurchdringliches Dunkel verhüllt.

Es handelt sich wieder einmal um Bismarcks berühmte ›Imponderabilien‹.

Es handelt sich um unbegreifliche Vorgänge in der Seele des übergeschnappten Kommunistenhäuptlings Jens Liebrecht. Dieser Mensch, der aus ehrlichem Patriotismus den Sieg der Kommunistischen Partei herbeigeführt hatte, war nämlich jetzt, wo seine Partei doch den Sieg errungen hatte, aus Gewissensbedenken von ihr abgefallen und zur Vaterländischen Volkspartei übergetreten. Dies kam so:

Als der allgemeine Verbrüderungstaumel einsetzte, als unter dem Drucke des Terrors alle einander abküßten, indeß sie doch am liebsten einander erdrosselt hätten, da glaubte Jens Liebrecht, die Verwirklichung jener Utopien vor Augen zu haben, denen er lebenslang nachgestrebt hatte.

Götter! Bewahret uns vor der Erfüllung unserer Ideale! Mögen die Frauen, die wir lieben, uns nie erhören. Mögen die Fortschritte, die wir erstreben, Träume bleiben. Nehmen wir an, die Erde wandelte sich in das Reich Gottes. Welche Langeweile! Alle Menschen Brüder, alle frei, alle gleich. Entsetzlich! Nicht zum aushalten!

Das also war die gewünschte Menschheitsverbrüderung? Ja! So mußte sie aussehen, denn wie sollten Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen jemals herbeigeführt werden, wenn nicht auf dem Wege der Gewalt und der Bedrohung? Die Menschen lieben einander nicht, lieben sich selber nicht. Unter dem Drucke der Not, wenn es gilt sterben oder zusammenstehen, lassen sich Menschen versöhnen. Sonst nimmermehr!

Ihm schwindelte! Dachte denn niemand mehr an die Heimat? War er unter allen der einzige Patriot? Wie liefen die Fäden? Menschen, welche die »nationalen Interessen« vertraten, handelten und fühlten dem Volke gegenüber international. Das Proletariat aber, welches den »internationalen Schutz der Ausgebeuteten« anstreben muß, kam nicht los von vaterländischen Gefühlen. Man konnte also weder an Grundsätze der anderen glauben noch an eigene Grundsätze. Dies war ein Höllensabbath! Nur ein Wunsch beseelte ihn: Hinaus an die frische Luft! Den Irrsinn im Rücken haben! Die gesunden Sterne sehen!

 

Man wird es mir schwerlich glauben, und doch verhielt es sich so: In dem Augenblick, wo Liebrecht zum Diktator ausgerufen wurde, hatte er alle Ziele über Bord geworfen. Jetzt wo er den Erfolg hatte, schämte er sich des Erfolges. Ihm ward sein ganzes Leben völlig schnuppe.

Es war ihm gelungen, aus den Menschenmassen heraus auf eine einsame Stelle des Gefildes zu gelangen. Dort kroch er in einen Strauch. Hier sah und suchte ihn niemand. Er legte sich auf den kalten Erdboden und betrachtete die langsam am Abendhimmel heraufkommenden Lichtflecke.

Wunderlich stand es um seine Seele. Wo war sein revolutionärer Trotz geblieben? Wo seine Wut, sein Haß, seine Galle?

Er war gelöscht. Und wie gelöschter Zorn nichts anderes ist als aufkeimende Liebe, so erkannte er (gleich dem alttestamentalischem Gotte, der die Menschenkinder abwechselnd austilgt und liebt), daß seine ganze Kampfstellung zur Welt und sein revolutionärer Fanatismus eigentlich nichts anderes gewesen war als – ein bedauerlicher Mangel an Gleichgültigkeit.

Ja! er war erkrankt an zu viel Liebe für die unbeträchtliche Welt. Er sorgte sich völlig unnötig um Menschheit und ihr dämliches Geschick.

Gleichwie Dornen, an denen man sich blutig reißt, nichts anderes sind als mißgebildete Knospen, (Knospen, deren natürliche Bestimmung doch gewesen wäre, zu blühen und zu duften, die aber in der Not der Kälte und Lebensbedrohung sich umwandeln mußten in spitzige Waffen), ach! so war wohl auch sein Geist und seine Moral, ja vielleicht aller Geist und alle Moral nie etwas anderes als: verdrängte Schönheit und verletzte Liebe. Ja, er liebte! Jetzt, wo es keinen Sinn mehr hatte, gegen die bestehende Gesellschaft anzukämpfen und offene Türen einzurennen; jetzt wo die Führer Europas seinen Namen ausriefen als den ihres Diktators; jetzt wo der kluge Selbsterhaltungsinstinkt einer todesreifen Gesellschaft ihren Vernichter und Richter zum Herrn machte über ihr Leben und Sterben (ähnlich wie wehrlos gewordene Köter sich durch demütiges Unterwerfen erretten, wenn sie einen nicht mehr anbellen und in die Waden beißen können); jetzt erkannte er, daß er nicht gekommen war, um zu zerstören, nein! um zu schenken und sich selbst dahinzugeben.

Denn warum doch lüstete es ihn vor Minuten, die allvernichtende Bombe zu schleudern? Nur weil die Welt nicht trinken wollte den dargebotenen Kelch seines Herzens.

Nun aber unterwarf sich ja ihr Wille dem seinen. Und so wurde er verantwortlich. Und schon machte sich an ihm geltend das Gesetz, daß alle Führer immer denen folgen, welche sie anzuführen gedenken.

Aber noch Tieferes erfuhr sein gelöschter Zorn (denn Liebe ist scharfäugiger als der scharfäugigste Haß): er begehrte nicht, Führer der Menschheit zu sein. Er nicht! Ja der bloße Wunsch, die Welt lenken zu wollen, erschien ihm wie eine dunkle Schuld; eben die Schuld aller logischen oder moralischen Forderungen, hinter denen ja doch nur der Machtwille mäkelnder Menschenvernunft brennt.

Gut! die Welt war miserabel. Gut! Es wäre besser, es gäbe überhaupt keine Welt. Aber da sie nun mal war, so konnte sie eben nicht anders sein. Oder sie wäre überhaupt nicht.

Alle waren unschuldig an ihrer unsäglichen Dummheit, unsäglichen Selbstgerechtigkeit. Alle: Große Kinder. Verdorbene Kinder. Durch Kultur und Wissenschaft, Bildung und Geist verpfuschte, in eine Sackgasse geratene Kinder. Aber dennoch Kinder. Liebe Kinder, arme Kinder!

Und all sein Groll gegen die Mäkler und Mächler drinnen im Volkshause war verflogen. Sie schienen ihm nur dumm zu sein. Aus lauter Schlauheit dumm! Die natürlichen Dummköpfe: Christus, Buddha, Franziskus waren viel klüger. Die nahmen sich selber nicht so wichtig.

Er bemitleidete den wüsten Haufen von Schlange, Schmetterling, Nachtigall, Kröte, Raubtier, Nagetier, Fuchs und Schaf. Jede Menschenseele war ja der ganze zoologische Garten. Und wie sie doch alle immer nur ihr armes Menschenich umkreisen! Himmelfern jenem Spiel welches alles wichtig nimmt und alles nichtig, welches sich selbst und alle auslacht: ohne Gift, ohne Bosheit ...

Eine fantastische Vorstellung seiner Knabenjahre tauchte wieder auf. Wenn er müde von der Arbeit, verschmutzt, überangestrengt, aber das Herz voller Träume über die lebenbrausenden Boulevards ging, wenn er nachblickte – begehrlich, ingrimmig, verächtlich – den schönen eleganten Frauen, die an ihm vorüber schwebten, ach, da hatte er in der Fantasie sie alle entkleidet: diese zierlichen Kulturpüppchen. Herab Eure duftigen Schleier! Euren Schmuck herab! Euer Pelzwerk, Hermelin und Nerz! Fort die farbig berauschenden Mieder und Blusen! Die Federn, Bänder und Spitzen! Herab die seidenen, zartdurchbrochenen Strümpfe! Die knisternden Röckchen und Höschen herab! Da steht sie schon zitternd im linnenen Hemde. Hemd herunter!! – Was ist darin? Was steckt dahinter? ... Heiliger Brimbonillus! Wie mitleidsbedürftig, wie naturlos, du armes nacktes Kulturpüppchen, in deiner albinoweißen Blässe, in deiner hundeschnauzkalten Blondheit. Welcher große Schneider hat dich gemacht, welcher Tapezierer?

Ja, er träumte davon, daß alle Leute nackt dastünden, ihrer Kleider und Häuser beraubt, ihrer Gehäuse, Dachsbauten, Futterale. Wer ertrüge den Anblick von so viel Verkümmerung? Von so viel Mißnatur?

Menschen, werft die Welt der Werke und Worte hinter Euch. Legt Eure Gewänder ab. Sie sind nicht Eure Haut. Sie sind Eure Panzer. Und nun Ihr Kulturgranden seh ich Euer nacktes Armseelchen. Ach, du heiliger Illusorius, so ferne noch von den Göttern und nicht einmal: rechte gesunde Erdentiere.

Und mit einer ungeheuren Sachlichkeit, fast jenseits der in Subjekt und Objekt gespaltenen menschlichen Bewußtseinswelt sich selber ebenso abgestorben wie dem Getrubel und Gewusel der Weltgeschichte, in einem Gefühl fast seligen, von seltsamer Süße erfüllten Schwebens, gleichsam ein schon abgeschiedener auferstandener Gott, der aus Himmelshöhe niederschaut auf der Erde Ameisengewimmel, nicht mehr wollend, nicht mehr wertend, nicht mehr urteilend, sondern in seltsam unbegrenzter Liebe mitfühlend und lächelnd, so erlebte der wenige Tage später verstorbene Jens Liebrecht eine letzte nicht mehr auswertbare und für Menschen nicht begreifliche Klarheit.

 

Jens Liebrecht war kein Kämpfer. Er war nur Liebender. Und wodurch erweist sich Liebe?

Es ist ihr Zwang, daß sie die Waffe abkehrt vom Geliebten und nur noch richten kann gegen – sich selbst, daß sie opfernd sich entblößt: »Stecht zu, wenn Ihr könnt und müßt. Ich biete mein Blut freiwillig, damit Ihr nicht gewaltsam mir es nehmt.«

Drei Menschen treiben auf einem Kahn in unermeßlicher See. Sie verhungern. Jeder schielt zum andern und denkt: »Könnt ich Dich totschlagen.« Da spricht der Ehrlichste »Hier, schlagt diesen meinen Arm ab. Nährt Euch. Ich kenne Euch. Ich will nicht geschont sein.« Werden sie es können? – O ja ... Sie können ...

Und es war ihm, als ob sein guter Schutzengel, seines Lebens Genius neben ihm sei, über allem schwebend und flüsternd:

»Leben und Tod ... ist gar nicht so wichtig. Weltgeschichte ... ist ja gar nicht so wichtig! Menschheitsfortschritt ... ist ja gar nicht so wichtig! Kultur, Philosophie, Wissenschaft ... ist alles ja gar nicht so wichtig! Kommunismus ... ist Quatsch! Patriotismus ... ist noch größerer Quatsch! Volk, Staat, Politik, Geschichte, Logik, Moral ... ist ja alles man Quatsch! Sie sagen Liebe und bekommen immer bösere Augen. Rette Deine Seele!« ...

Und da begann wieder seine Seele zu sprechen, jene selbe Seele, die vor einigen Stunden so töricht gewesen war, den geschulten Politiker der Parteischule fortzureißen zum unüberlegten Kusse des Todfeinds. – Todfeinds? Nein! Sie waren keine Reflex- und Spiegelmenschen. Sie mußten einander lieben. Denn hinter alle ihren Gegensätzen flutete die gleiche lebendige Woge des Mutes.

Seine Seele fühlte er wachsen und großwerden weit über persönliches Wollen und Wissen hinaus, wie das Bild einer verlorenen Ferne, aus der wir hervorquellen, zu der wir zurücksinken.

Da wußte er plötzlich: Er hatte Heimat, und alle diese Menschen der Staaten und Vaterländer waren heimatlos. So trieb es ihn, die purpurne Frucht seines Lebens hinzuwerfen, sie zu opfern im Augenblick der Ernte.

Diejenigen, welche an diesem Abend Jens Liebrecht, den kurz darauf verstorbenen, ins Volkshaus haben zurückkehren sehen, überall begrüßt als Bringer einer schöneren Zukunft und als Retter der Nation, diejenigen, die ihn eintreten und zur Rednerbühne schreiten sahn, haben ausgesagt, niemals eine ähnliche Verwandlung an einem Menschen beobachtet zu haben.

Leuchtend, klar, ohne Verlegenheit, ohne Kampfhaltung, so sei er, ganz das Gegenteil seines ersten Erscheinens, durch die Volksmenge gegangen. –

Sein Wiedererscheinen weckte kaum Verwunderung. Alle Vorgänge des Tages waren so traumhaft unbegreiflich, daß man kaum noch Rechenschaft sich gab bei dem ewigen Wechsel der Situation. Man schwebte in einer merkwürdigen Stimmung ungewißen Erwartens. Man wartete auf das Wunderbare, welches kommen und die völlig unhaltbare unsinnige Lage erlösend durchbrechen müsse. Nun kam Liebrecht. Und was nun geschah, war wieder so einfältig und so unlogisch, daß kein menschlicher Scharfsinn es sinnvoll zu begründen vermöchte.

 

Liebrecht schritt ohne weiteres, als verstünde sich das von selbst, traumwandlerisch sicher auf die Rednerbühne, und sogleich verstummten die Verhandlungen. Man blickte auf ihn hin, gespannt und neugierig. Man erwartete eine Erklärung oder wichtige Ankündigung. Statt dessen kamen mit völlig veränderter Stimme, klar und einfach, die folgenden Worte:

Hinaus das Fremde aus dem Land! Hinaus das Fremde aus dem Land! Hinaus das Fremde aus dem Land! Das Fremde, sage ich. Feinde gibt es nicht! Und nicht durch Kanonengewalt und nicht durch verruchtes Sichermorden. Und nicht aus Patriotengier. Und nicht aus Machtwünschen des Völkergeschäftes. Nein! Um der Dämonen der Scholle willen, der wir geschwistert sind. Um der Bäume willen, die wir pflanzen. Um der Tiere willen, die wir lieben. Um der Wolken, der Wasser, der Winde, der Steine willen, die in unserer Heimat Sprache sich erlösen. Oder um Alles in Einem zu sagen: um der Toten willen. Denn was sind Bäume, Blumen, Tiere unserer Erde anderes als die Augen der geliebten Toten? Was Landschaft, der wir dienen, Anderes als Herz und Blut all unserer Vorgeschlechter? Jede Krume Erde, die durch unsere Finger gleitet, ist schon ein Mal Leib in uns gewesen ...

Dieser Tag hat uns eine Lehre gegeben. Wir Händler um das Geschäft der Nation sind im eingeschlossenen Raume, unter dem Druck der ehernen Notwendigkeit zu Brüdern geworden, wie auf sinkenden Schiffen im Todeskampfe alle die einander Fremden. Da verlischt der Schwindel unserer Eitelkeiten!

Dies war ein Spuk. Morgen ist alles verweht. Es wird Schatten und Traum.

Wenn die europäische Gesellschaft, befreit vom Eingekeiltsein zwischen Kanonen und Proletariat, wohlausgeschlafen, wieder zu Hause in den Betten sich vorfindet, dann wird sie sofort sich besinnen auf »Interessen« und »Werte«. Und alles Erlebte wird Dialektik und Makulatur.

Und doch war dieses Erleben Symbol.

Ein paar Hunderttausend ahnungsloser Menschen genügte, um uns alle geneigt zu machen zur Weltrevolution. Denn wir hatten die Wahl: eine neue Aera der Geschichte anzukünden oder aufzufliegen mit dem Pulverfaß. Aber so viele neue »Epochen« die Geschichte schon begann unter Knuten der Notwendigkeit: zuletzt blieb alles beim Alten.

Krank wurde die Menschheit, fieberkrank. Wie hilft sich der Kranke? Er kehrt sich ruhelos von rechts nach links, von links nach rechts. Jedes Mal verspürt er eine Erleichterung und glaubt die richtige Lage gefunden zu haben. Nach ein paar Stunden wird auch die neue Lage unerträglich und er wechselt wieder auf die entgegengesetzte Seite. Das nennt man Entwicklung.

Wir Menschen lieben einander nicht; lieben uns selber nicht! Wie wir in diesem Saale, so wird morgen, übermorgen das ganze Europa, nein! die ganze Kulturlüge der Erde, das ganze Menschengeschlecht und seine lächerlichen Spiegel am Rande des Abgrunds plötzlich umlagert sein von Millionen Rasender, Verknechteter, Betrogener, Verbitterter, Fordernder! Und gar nicht anders wird die »Weltrevolution« aussehn, als wie sie heut Abend aussah. Ebenso zufällig, ebenso burlesk, ebenso sinnlos ...

Ich weiß wohl, hier stehe ich vor lauter Bedeutenden und Wichtigen. Jeder von Ihnen ein Mittelpunkt! Jeder glaubt, künden und bessern zu müssen. Ich bin ein armer Sünder unter Höhen- und Edelmenschen. Ein Nichtheld unter Helden. Ein Gewöhnlicher unter Genies. Im Herzen wünsche ich, daß unser unglückliches Land auf lange hinaus Ruhe haben möge vor Helden, Genies, Profeten, Edelmenschen, Erlauchten und Erleuchteten. Sie haben uns zu viel Blut und Schweiß gekostet, die vielen, vielen schneidigen Kerle. Unsere vielen großen Tiere. Wie viele Länder sind zusammenerobert, um morgen wieder verloren zu gehen. Wie viele Wesen müssen auf den Markt des Lebens geworfen werden, damit immer der eine den andern verspeisen kann. Wie viele Leben werden geopfert, damit heute die grünen Grenzpfähle rot und morgen die roten wieder grün gestrichen werden. Wie viel Papier wird täglich verschrieben, damit Euer Käse eingewickelt werde in den Rest menschlicher Seele. –

Ich trete zurück in das Dunkel der Namenlosen, Verschollenen. Ich ersehne, daß mir erlassen sei der Totenschrein der »Weltgeschichte«. Aber was mich beflügelt, das Leitbild, fasse ich zuvor in eine Warnung: Sie Marschall Boche und Meister Faussecocheur, leiten Sie Ihre Söldner zurück in Heimat und Arbeit. Entfesseln Sie nicht die immer lauernden Dämonen der Scholle, welche versöhnt, gebändigt, gewonnen werden nur durch die leidensschwere Acker- und Saatenmüh tausend treuer Geschlechter, welche alle schlafen gehen müssen in die selbe Erde, daraus ihren Nachfahren Brot erblüht und Schönheit. Unrettbar, unvermeidlich, wenn nicht heut, dann in lumpigen hundert Jahren reißen die Erddämonen jeden in den Abgrund, der die Erde statt erlieben und ersegnen, ermächtigen und erschachern will. Sie aber, Reichspräsident, Tünnes, Reißer, Blender, Mannheimer und wie Ihr, die in unserm Lande Mächtigen, all heißen möget, prahlt nimmermehr mit Euern und Eurer Söhne Heldentoden, aus jenen Stunden, wo auch der Tod entweiht ward zum Staatengeschäft. Am wenigstens baut auf Arbeit, Werk, Leistung! – Arbeit und Wert ist der Erde Notausgang! Güter und Werte der Menschheit sind nicht Erfüllung, Ausdruck, Spur eines Lebendigen. Sie vertöten, verdingen, verzwecken alles Leben. Werft ruhig alle Werte der Menschheit dahin, wenn sie nicht Seele sind. Lieber wollen wir Geist und Gott, Wort und Werk zerstören, als Gottes Sklaven sein.« ...

 

Die Wirkung dieser Rede (man hörte ruhig zu, weil man in dem gegenwärtigen Augenblicke gar nicht die Wahl hatte, etwa auch nicht hören zu brauchen) war eisiges Schweigen, gemischt aus Wut und Verachtung, aus Rührung und Hohn, aus Befremdung und Staunen, aus Unbehagen und achselzuckendem Nichtverstehenkönnen. Vielleicht hatte der Faselhans gehofft, durch eine große Selbstaufopferung auch die andern zum Opfer zu zwingen. Vielleicht hatte er gewähnt, durch eine Tat der Demut und des Stolzes zu überzeugen.

Wie dem auch sei: Jetzt hatte er verspielt. Jeder konnte klar sehen, daß dieser Mensch unbrauchbar war. Jede Partei mußte ihn abschütteln. An keiner Stelle konnte er verwendet werden.

Eines nur blieb gewiß: Dieser Mensch hatte die nationale Politik verraten zu gunsten der kommunistischen Partei. Jetzt verriet er wieder die Ideale der Revolution zu gunsten des nationalen Ziels.

Natürlich! Es war ja so, wie er sagte: Morgen werden alle Errungenschaften von heute wieder zum Spuk. Dann aber hat doch immerhin der und jener sich ein Pöstchen gesichert. Und dieser (das war allzu durchsichtig), dieser war ein Kleber, eine Klette! Keine Regierung konnte gegen so viel Grundsatzlosigkeit ankommen. Solch ein Gesinnungsloser kann alles. Er macht morgen Politik mit den Nationalen wie heute mit den Kommunisten. Und was er will? Immer den eigenen Vorteil. So'n Streber! ...

 

Die Abgesandten der Kommunisten waren ehrlich empört.

Ihr Führer entpuppte sich als Egotist. Wahrscheinlich ein Anhänger von Stirner, Nietzsche, Bakunin. Gerade hatte man erreicht, was man ersehnte. Man saß auch in den Ledersesseln. Man konnte auch gute Zigarren rauchen. Man hatte einen Parteiweinkeller. Man konnte mitreden, mittaten, mittuten. Grade hatten sich alle Plätze umgegaunert. Grade war die Weltordnung neu gegaunert. Grade erblühte wieder eine neue Kleptokratie. Und nun kam Jens Liebrecht mit einer sentimental christlich-buddhistischen Sonntagspredigt und zerstörte die gerade geschaffene Machtrelation! ...

Verrat! Verrat! schrie es von allen Bänken.

Was man erwidern konnte, erwidern mußte, das lag freilich klar auf der Hand. In irgendeiner Weise mußte man über das Gehörte hinweg- und zur gesunden Tagesordnung übergehen. Wer aber sollte reden?

Verlegenheit bangte auf allen Gesichtern.

»Wir, auf dem festen Boden der Tatsächlichkeit ... Die unerläßliche Forderung des Augenblicks ... Die eherne Notwendigkeit der Geschichte ... Der geschichtliche Sinn ... Das politische Organ ... Wir Männer der Wirklichkeit, der Praxis, des Lebens, der Anschauung ... Die kraftvolle Faust, der gesunde Wille! ... Des Lebens goldener Baum! die blasse Theorie! Utopie! Gefühlsduselei! Blut und Eisen! ... Und so weiter, und so weiter. Die Antwort konnte keine Mühe machen.

Aber wunderbar! – keiner wagte, sie zu geben.

 

Da geschah endlich das Erlösende.

Das Wunder!

Oben auf der Tribüne der Intellektuellen stieg empor überall sichtbar eine runde lichtausstrahlende Sonnenkugel. Und aus der Sonnenkugel hervor begann ein Bandwurm zu kriechen, ein dialektisch-philosophischer Bandwurm, völlig endlos, mit einem kleinen Kopf aber einer ganz langen, spitzen, vorne doppeltgespaltenen Zunge.

Das war Schauerl, Phänomenologe aus Berlin, der bekannte Ethiker der Nation.

Und Schauerl, unsere akademische Sonne, begann zu tönen. Sie tönte (wie unser Goethe sagt) »nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang«. Und die bipolar gespaltene Zunge begann zu klappern.

Folgende Worte klapperten hervor:

»Meine Damen und Herren! Wer, wie Redner dieses, aufmerksam den bisherigen Verhandlungen dieses abwechslungsreichen Tages gefolgt ist, wer die vielen bedauerlichen Unterbrechungen in den letzten Stunden miterlebte, der hat zweifellos den Eindruck gewonnen, daß wir heute einem unausdenkbar sinnlosem, völlig widerfinnigem Verhängnis beiwohnten.

Und wir fragen uns nun: Was bedeutet dieses alles?

Gestatten Sie einem Vertreter der phänomenologischen Bedeutungsanalyse durch adäquate Schauung immediater Gegebenheiten die Natur des Erlebten ins helle Licht der Logik zu rücken.

Deutschlands ältere Psychologie kennt eine als »zirkuläres Irresein« bezeichnete Seelenstörung, deren Kennzeichen es ist, daß man wie bei der Drehkrankheit oder wie im Trinkerdelirium gleich einem Affen in einer Drille in einem fort im Kreise herumgetrieben wird, pendelnd zwischen Übertreibung und Schwäche, Aufgeblasenheit und Unsicherheit, Dünkel und Sentimentalität, Aufgeregtheit und Erschöpfung. – Haltlos manischer Sucht, die ehrenhaftesten Zeitgenossen neidisch boshaft zu insultieren (ich erinnere nur an das Wort »Schweinehunde«) folgte völlig unmotiviert der Übergang in ein weichlich literarisches, vor Soldaten und Staatsmännern doppelt unziemliches kosmisches Gewimmer.

Die Diagnose steht fest. Wir bedauern gewiß alle, über einen in seiner Art wohlmeinenden Zeitgenossen das wissenschaftlich objektive Urteil fällen zu müssen. Die Notwendigkeit aber erfordert rasches Handeln. Selbst für den Fall, daß die neue Ära der Weltgeschichte perfekt bleibt, in dieser Erkenntnis sind ja alle Parteien, nationale und kommunistische, einig: die Objektivität der reinen Erkenntnis, die Sachlichkeit der staatlichen Etik wie des etischen Staates muß den Normen der objektiven Vernunft unterstellt sein. Sie darf nicht ausgeliefert werden an die privaten Seelenergüsse der immer willkürlichen, zufälligen, einmaligen Persönlichkeit. Darum stelle ich den Antrag ...

Schauerl konnte, Schauerl brauchte nicht weiter zu sprechen.

Schon hatten alle begriffen. Alle hatten die drohende Gefahr erkannt. Allen war mit einem Schlage klar geworden, daß der ganze Irrsinn des heutiges Tages sowohl erklärt wie auch überwunden werden könne, wenn die deutsche Wissenschaft, wenn die normative Vernunft, wenn die absolute Logik, wenn der objektive Geist, kurz wenn Schauerl das letzte Wort behielt:

Liebrecht war nur subjektiv, Liebrecht war pathologisch ...

 

Im Nu hatten kräftige Fäuste den bedauernswerten Zeitgenossen gepackt und einen am Weitersprechen hindernden Knebel ihm zwischen die Zähne gestoßen.

Nun bedurfte es nur weniger Augenblicke der Verständigung.

Kuno Reißer, Blender, Tünnes, der gute Reichspräsident, die Führer und Vertrauensmänner der Kommunisten, alle waren sich einig.

Man öffnete die Fenster. Man riß die Flügeltüren weit auf. Man trat hinaus auf Altane und Balkons in das dämmernde Abendgrau. Schon mischte mit den letzten Strahlen der blutig sinkenden Sonne der Mond sein totes Licht.

Die Volksmasse fror auf dem weiten Plane. Da hatten sie den ganzen Tag über herumgelümmelt, sich schrecklich aufgeregt und Schnupfen und Husten geholt. Besteht denn der Mensch aus Geist allein? Nein, man sehnte sich allgemein zu Bette. Keiner hält Weltrevolution länger aus als zwölf Stunden.

Da stieg empor der rätselhafte Mond. Da stand im Mondschein der gute dicke Präsident. Ein wieder aufgepumpter Gummiball. Unser Guschen, an den wir uns doch nachgerade schon gewöhnt haben. Und dahinter, derb und recht, der große Alte. Und Blender und Kuno Reißer und Schwarbel, Thiessen, Pupp, Habebald, Mannheimer, alle die bekannten lieben Größen unserer nationalen Geschichte.

Und da sah das Volk auch seinen blonden Liebling, Baldur Tünnes, den Turm, darauf sie schauten.

Und sieh! o all bewegender Anblick! an seinem Busen ruhte wie Freund an Freundesherzen der Arbeiterführer Jens Liebrecht.

Tünnes aber, der den Brustton der Überzeugung besitzt, welchen das Ohr des Volles versteht und ersehnt, begann zu reden:

»Brüder! Volksgenossen! Landeskinder! Freunde! Die Verhandlungen sind beendigt. Hier seht Euren Führer: Jens Liebrecht. Er möchte reden, aber er kann nicht. Er ist der Sprache beraubt. Er ist vollkommen heiser. Bis zur Selbstvernichtung hat er für Euch geschafft. Jetzt kann er nur noch mit den Armen winken. Aber unser Außenminister, Emil Blender, wird Euch den Endbeschluß der Versammlung vorlesen, welcher nunmehr den allverehrten Führern der kommunistischen Partei zur Bestätigung übergeben wird. Gleichzeitig werden hundert Fässer Rheinwein und hundert Fässer Moselwein aufgefahren und abgezapft. Wir alle feiern gleich an Ort und Stelle den Beginn der neuen Geschichtsepoche, genannt: » Wiederaufbau Europas«. –

 

Nunmehr trat Emil Blender vor und verlas den folgenden Staatsvertrag:

»Die im Volkshause zu Dollarcamp vereinigten Vertreter der republikanischen Regierungen haben sich auf folgende Abmachungen geeinigt und verpflichtet:

§ 1. Die Okkupationsarmee verläßt das Landschaftsgebiet der Ruhr, sobald die ihr dort obliegenden Geschäfte nach Maßgabe der Bestimmungen zu beiderseitiger Zufriedenheit gelöst sind.

§ 2. Sie liefert aus: 27 große Kanonen, 123 Mitrallieusen, 88 Maschinengewehre, 40 000 Gewehre: Muster: Schnapphahn; Patentschutz: »Unerreicht«; 10 000 Bomben. 80 000 Stinkgranaten und bestellt dafür neue bei der Avikage. (Allgemeine vaterländisch-internationale Kanonen-Aktien-Gesellschaft).

§ 3. Die Hälfte des Reingewinns der Waffenlieferung fließt in die Propagandakasse der Aaaaakavau (Allgemeine atheistisch-anarchistisch-antinationale-apolitisch-kommunistische Arbeiter-Union).

§ 4. Um der Lieferungspflicht in kürzester Frist genügen zu können, muß in den nächsten acht Monaten mit Doppelschicht zu je zwölf Stunden gearbeitet werden.

§ 5. Wir veranstalten nächsten Sonntag eine große vaterländisch-kommunistische, politisch-religiöse, anarchistisch-sozialistische, partikularistisch-monistische Protestkundgebung unter Mitwirkung der berühmtesten Führer sämtlicher Parteien und bewährter Mitglieder der Oper.

§ 6. Die Kulturvertreter beider Länder werden, im Austausch, die Bevölkerung über alle »modernen Kulturprobleme« geistig aufklären. Für nächste Woche sind vorgesehen: Herr Anatole France aus Paris über das Thema: »Die Legende vom Storch oder Wie sagen wir es den jungen Mädchen?« – Herr Maximilian Harden aus Berlin über das Thema: »Wie werde ich erfolgreich?« – Herr Henri Barbusse aus Tarascon über das Thema: »Weltfrieden und Maschinengewehr.« – Endlich kommt aus Köln Pater Amandus Polygamios Scheler und spricht über das Thema: »Wie werde ich heilig?«

§ 7. Wir veranstalten: »Zwischenvölkische Liebesabende für Jedermann mit praktischen Übungen.« Für den ersten Abend sind zur Aussprache gewonnen: M. Raymond Poincaré. Thema: »Bis zum Weißbluten.« Professor Maurenbrecher. Thema: »Schlappschwänze!« Kapitänleutnant Ehrhardt. Thema: »Druff!« Mr. Lloyd George. Thema: »Amerikas Schuld.« Mr. Woodrow Wilson, Expräsident. Thema: »England hat angefangen.« Das Schlußwort spricht der Vorsitzende des internationalen Friedensbundes »Amicitia«, Herr Hellmuth v. Gerlach. Thema: »Das Liebesleben in der Kultur.«

§ 8. Nicht blutiger Massenmord wird künftig die Geschicke der vereinigten Staaten von Europa entscheiden, sondern das System der gegenseitigen passiven Renitenz.

§ 9. Die Kampfmittel der neuen Weltepoche sind: die Philosophie, die Presse, die allgemeine Vernunft, die deutsche Wissenschaft, das Kino, der Roman, das Theater, die Musik und allgemeine Bildung und Kultur.

§ 10. Die Menschheit tritt somit aus dem ehernen Zeitalter in das papierene hinein. Der Wahlspruch der Neuen Menschheit lautet auf amerikanisch: Nothing better than printing ink. Zu deutsch: Unsere Zukunft liegt auf dem Papier. Man macht Papier aus Lumpen. Alles auf Erden wird daher zu Papier. Man gebraucht Papier a) um es mit Zahlen zu bedrucken. Dann heißt es Geld und beginnt zu gelten. b) um es mit Geist zu bedrucken. Dann heißt es Kultur oder Reich der Werte. c) zu Zwecken der Verdauung. Dann wandelt es sich in Leben.

§ 11. Unser Staat wird dadurch gerettet, daß wir ihn mitsamt seinen führenden Persönlichkeiten dem feindlichen Ausland zum Geschenk machen. – Das sei unsre ganze Rache.

 

Blender hatte geendet. Die Fässer waren entspundet. Ein ungeheurer dionysischer Jubel durchzuckte die Ebene von Dollarcamp.

Alle Fenster des Volkshauses, alle Balkons und Altane, sogar der Turm und die Kuppel des Saales waren von frohen und befreiten Menschen besetzt.

Der Schrecken war gewichen. Man war erlöst. In glückseliger all-liebender Stimmung umarmten sich Freund und Feind. Aus den Fenstern winkten die Damen mit ihren parfümierten Tüchlein.

Becher und Geschirre waren bald herbeigeschafft. Man trank, man liebte, man sang. Durch den schönen, milden Frühsommerabend, hinauf zu den rätselhaften Sternen klang der Sang der hoffnungsvollen Menschen: »Ja, wir lieben ... wir lieben ... wir lieben!«

Und die ganze Landschaft schien mitzufeiern. Die Vögel, die Winde, die Wolken sangen. Die Seele der Welt erwachte, erlöst vom Geist.

Das Volk formierte sich zu einem großen Umzuge. Schnell hatten sich die Handwerke, Gewerkschaften und Betriebe zusammengefunden. Jede trug ihre Standarte und ihr Wahrzeichen. Und da waren auch die Kinder, Knaben und Mädchen. Sie trugen Fähnlein voran, und Musikkapellen spielten die alten schönen Vaterlandsweisen. Der Zug aber wand sich in endlosen Reihen vorüber dem Volkshause, aus dessen Fenster die Tüchlein winkten und auf dessen Altane weinend der gute dicke Präsident stand, umgeben von alle den Großen und Mächtigen der beiden Vaterländer. Die Knaben trugen Fahnen und Täfelchen mit Inschriften wie diese:

Es tagt der große Völkerfrieden,
Wo alle Brüder sind hinieden.

*

Der Mensch sei edel, hilfreich, gut
Und dürste nicht nach Feindesblut.

*

Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
Bei deutschem Moselwein und deutschen Liedern.

*

Wir glauben an ein neues Leben,
Es wird sich ganz von selbst ergeben.

*

Organische Entwicklung
Macht Junges alt und Altes jung.

*

Die Bruderflosse reich Genosse
Mit Herz und Hand dem Vaterland.

 

Indessen die aus Dollarcamp versammelten Proletarier ihre Umzüge veranstalteten und sich endlich zum Abzuge bereiteten, hatte Marschall Boche und sein Stab die beste Gelegenheit, Europas militärische Sicherheit wiederherzustellen.

Schleunigst wurde das Telephon in Ordnung gebracht. Die Kanonen konnten wieder Befehle entgegennehmen. Auch konnte man Adjutanten aussenden, die durch die frohbewegte Volksmasse ihren Weg fanden.

Es erwies sich nunmehr dieses:

Nur ein ganz kleiner Teil der Truppe hatte die Anweisung des Hauptquartiers, die kommunistischen Putsche im Volke nach Möglichkeit zu befördern, allzu wörtlich genommen. Dieser Teil der Truppe war, mit blonden Feindinnen am Arm, in die Bars, Tanzdielen und Kinos der Nachbarstädte desertiert. Auch war eine kleine Kruppkanone, Muster: »Mein Geheimnis«, Patent: »Mauerdick« von der Artillerie an das Volk gegen zwei Faß Schnaps ausgetauscht worden. Im allgemeinen aber erwies sich zum Glück, daß Faussecocheur recht gesehen hatte, als er auf den bewährten Patriotismus der Marokkaner vertraute. Diese, an ein gutes Leben bei der Armee gewöhnt und anspruchsvoll im Essen und Trinken, hatten allen Anreizen zum Kommunismus widerstanden. Dank ihres wahrhaft vaterländischen Geistes war die Disziplin der Armee bewahrt worden. So konnte denn nunmehr endlich (freilich auf einem Umwege von zwei Stunden) ein neues Detachement zum Schutze des Volkshauses abgeordnet werden. Zugleich kam durch das Telephon die erfreuliche Botschaft, daß von Westen her frische Truppentransporte zu erwarten seien. Und so war denn die Gefahr, daß die im Volkshaus von Dollarcamp eingekeilt sitzenden Geistes- und Staatenlenker Europas vom Pöbel zu Muß gemalmt würden, glücklich überwunden. Der die Massen umspannende Kanonenkordon wurde gemäß der glänzenden strategischen Fürsorge Marschall Boches nach vier Seiten hin geöffnet, so daß das zufriedengestellte und in bester Stimmung befindliche Volk ungefährlich abströmen konnte. Noch lange hörte man durch die friedlich sinkende Nacht den Gesang der abmarschierenden Völkerscharen: »Ja wir lieben ..., wir lieben ..., wir lieben ... unser Hi-Ha-Heimatland!«

 

Man beschloß nun, noch in der selben Nacht zu Potte zu kommen.

Zunächst stürzte alles ins Freie.

(Indem ich das andeute, bin ich mir bewußt, dem Leser den eigentlichen Schlüssel zur Psychologie der Weltgeschichte leise in die Hand zu drücken. –)

 

Nur Einer unter allen trauerte ehrlich. Das war Faussecocheur.

Zum ersten Male in seinem Leben wich er von der Gewohnheit ab, nichts Irdisches sentimental zu nehmen. Die Schwinge des Weltschmerzes überschattete ihn. Eine große Traurigkeit nagte an seinem Herzen.

»Marschall«, seufzte er, »es ist doch jammerschade. Ein so wertvoller junger Mann! Aber sehn Sie, das ist Naturgesetz, daß die schönsten Talente immer an Idioten kommen, die nichts damit anzufangen wissen. Hätte ich die Begabung dieses bedauernswerten jungen Mannes, was wollte ich damit leisten!

Ich glaube an die ewigen Gesetze der Harmonie. Vermindern Sie die Zahl der Bankiers, so vermehrt sich die Zahl der Taschendiebe. Vermehren sich die Oberlehrer, so werden die Irrenhäuser leerer. Mindern Sie die Zahl der Lyriker, so mehren Sie die Zahl der Hochstapler. Die Welt steht unter dem Gesetze des gerechten Ausgleichs.

Nehmen Sie an, der junge Liebrecht hätte nur so viel Politik besessen, um sich auszugarnieren in der Art des Doktor Steiner. Oder wie ähnliche zeitgenössische Inszenatoren für Tiefsinn, Seelenheil, Mystik und Entwicklung des Menschengeschlechts. Die Leute hätten ihn zum Dalailama gemacht. Und die armen Menschen bedürfen der Dalailamas. Wo sollen sie denn auch hin mit ihrem Bedürfnis nach Glauben und Ehrfurcht? Die Skepsis dieses Zeitalters läßt nichts Heiliges mehr über. Nichts ist zeitgemäßer als ein Messias. Ich warte täglich darauf. Nehmen Sie, Marschall, den Fall Christus. Ich bitte Sie, was wäre aus dem Sohn des lieben Gottes geworden, wenn Paulus ihn nicht gegründet hätte. Ich bin klerikal. Warum bin ich klerikal? Ich weiß, daß auch der liebe Gott unter Menschen nicht das mindeste machen kann ohne Schwindel. Die Kirche ist nötig. Gott bedarf der Schamanen. Sonst verliert er sein Prestige. Auch Wahrheit lebt nur von Lügen. Machen Sie mich zum Papst. Das wäre möglich. Aber ein Papst, der nichts als heilig wäre, – unmöglich! Der arme junge Mensch hat sich ganz in seine Sache hineingelegt. Natürlich hat er sich dadurch hineingelegt. Hätte er sich doch an mich gewandt! Aber die schönen Gaben des Menschengeschlechts verpulvern ins Blaue hinein. Es fehlt das Organ für Politik. Was soll man denn auch mit einem solchen jungen Mann anfangen? Man muß ihn totschlagen und hinterher für die Heiligenkarriere verwenden« ...

 

Während die 8000 Koryphäen Europas und ihre Damen in der Umgebung des Volkshauses sich restaurierend erleichtern, haben wir Gelegenheit, uns nach dem Verbleib von Jens Liebrecht umzusehn.

Was war mit ihm geschehn? Wo hatte man ihn untergebracht?

Er war nunmehr ernstlich erkrankt! Sechs Ärzte beklopften, behorchten, betupften ihn, schüttelten bedenklich den Kopf und bestätigten Schauerls adäquate, immediate und intuitive Lebensschau.

Ein molliges weißes Federbett hatte man in der Bibliothek des Volkshauses aufgeschlagen.

Da lag Jens aufgebahrt.

Gewärmte Topfdeckel auf dem Bauch.

Da lag er, inmitten der hinterbliebenen Makulaturen glücklich abgeschiedener Unsterblicher aller Sorten und Zeiten. Es ermangelte auch nicht an Humanität. Man fand allgemein ihn sympathisch. Er hatte ja der Welt ein kurzweiliges Schauspiel gegeben, das Schauspiel des Ahnungslosen, der sich selber in die Luft sprengt. Schon lange schickt man Spötter, bittere oder frohe, nicht mehr auf Scheiterhaufen. Sie schaden niemandem außer sich selber. Die Gräfin Perponcher schickte Weingelee, die Geheimrätin Prinzheimer Kognakpralinees. Zwei reizende wasserstoffoxyperversblonde Schwestern vom vaterländischen Frauenverein »Zum schmerzhaften Mutterherzen« teilten sich in die Krankenpflege. Sie lasen ihm abwechselnd Etwas vor, um ihn zum Einschlafen zu bringen. Sie lasen vor: Karl Marx »Das Kapital«. Sowie den großen deutschen Bildungs- und Erziehungsroman von Männe-Wimmerlotte »Die Butterlöks oder der Untergang einer angesehenen Familie«. –

 

Der große Alte selber zeigte sich väterlich besorgt. Er begab sich eigenfüßig auf die Tribüne zu Schauerl, dem Phänomenologen von Berlin und sagte: »Mein lieber Herr Professor, ich beglückwünsche Sie zu der ausgezeichneten Rede. Wir müssen für den bedauernswerten jungen Mann doch etwas tun. Wie meinen Sie, daß ein solcher Fall wohl verläuft

Schauerl legte den Finger an die Nase und sagte: »Tja! Er kann so verlaufen, er kann auch anders verlaufen. Im allgemeinen ist der exitus letalis immer das Ende. Jedenfalls aber ist das Individuum erblich belastet. Möglicherweise infolge angeborener Paralyse auf seiten des Vaters, möglicherweise infolge erworbener Degeneration von seiten der Mutter.«

Der große Alte dankte für die kurze, aber lichtvolle Aufklärung und empfahl sich.

 

Um dieselbe Zeitspanne begab sich Emil Blender, der Außenminister, zu Faussecocheur und ersuchte um eine kurze persönliche Unterredung.

Er sagte:

»Herr Kollege, ich komme mit einer diskreten Anfrage. Ich bezeuge Ihnen gerne den Dank unsrer Regierung dafür, daß wir durch Ihr kraftvolles Eingreifen vor den unvorhersehbaren Folgen einer Revolution bewahrt sind. Ich bedaure, daß die Zickzackpolitik eines geistig Erkrankten den Fortgang unsrer Staatsgeschäfte tragisch behinderte. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob nicht auch jetzt noch Zwischenfälle von dieser Seite her zu befürchten sind. Wir können auf die Dauer, die Verbindung zwischen Herrn Liebrecht und seinen Wählern nicht verhindern. Stellen wir uns einmal folgendes Problem: Unser unglücklicher Kranker – die Ärzte sagen, er sei erblich belastet – hat, wie Sie selber miterlebt haben, mit der Idee des Selbstmordes gespielt. Nehmen wir einmal an, die Bombe, die er mit sich herumtrug, hätte ihn in Stücke gerissen. Oder nehmen wir mal an, er wäre zufällig in die Bajonette Ihrer tapferen Garde hineingelaufen. Wäre das nicht in Hinsicht auf das Verhältnis unsrer beiden Regierungen und in Hinsicht auf den gedeihlichen Fortgang der Konsolidierung Europas freudig zu begrüßen?«

Faussecocheur sah dem Minister verständnisvoll in die treuen blauen Augen.

»Mein lieber Kollege«, sagte er, »ich begreife, daß Sie als Patriot so denken müssen. Aber lassen Sie auch mich mit gewohnter Offenheit als Patriot erwidern. Im Sinne des Patriotismus meines Landes muß ich wünschen, daß der Patriotismus Ihres Landes noch recht lange und recht oft gesegnet sein möge mit Patrioten gleich Herrn Liebrecht. Patrioten erleichtern uns das Völkergeschäft. Ich fühle mich als Patriot dem Patrioten dankbar verpflichtet. Und davon abgesehn: wenn ich Ihnen einen politischen Rat geben darf: Machen Sie niemals Märtyrer. Von sämtlichen Handelsartikeln dieser Erde ist keiner auch nur annähernd so begehrt wie der Märtyrerkranz zu herabgesetztem Preise. Jeder will ihn tragen, keiner will ihn zahlen. Man muß ihn daher den Leuten so teuer wie immer möglich anhängen. Lassen Sie ohne Gewaltsamkeit die Weltgeschichte sich organisch entwickeln, überlassen Sie alles weitere den Ärzten und der Presse.«

 

Der Saal füllte sich wieder.

Diener besprengten den Estrich mit köstlichem Kölnisch Wasser.

Alle kamen erfrischt und erleichtert zu ihren Plätzen. Regeneriert, restituiert, rekreiert!

Die Damen ließen ihre Fächer spielen. Die Herren rauchten zarte Zigaretten. Der blaue Duft der Zigaretten zog in feinen Wölkchen unter die Kuppel des machtvollen Saales. Und auf den blauen Wölkchen ritten wie lachende Kobolde: Zahlen und Paragraphen des Völkergeschäfts.

Satan war vertrieben! Die Teufelsaustreibung vollendet!

Daß der manische Anfall eines Neuropathen unsre ganze Kultur bedroht hatte, allen erschien es jetzt als ein kaum glaublicher Traumspuk. Man war in der angenehmsten Stimmung. Die Nerven so gemütlich geschaukelt. Der Leib so wohlig erleichtert. Überall hörte man schon wieder die Stimme der Vernunft:

»75 Prozent. Keine Dividende. Bochum-Luxemburger Konzern. Amerikanische Öle. Argentinischer Beef-Trust. Ehrlich-Hata-Aktien zu 308. Grönländische Untergrund-Company-Limeted von Österreich gestützt. Nordamerikanischer Sonnenstrahlen-Verwertungskonzern; fabelhafte Hausse.

Mannheimer saß schon wieder am Telephon und spuckte Zahlen über die Erde ...

 

Marschall Boche de Trocadero, der eherne Sieger von Fatinitza, eröffnete aufs neue die Sitzung. Da stand er in schöner Männlichkeit. Er sprach kraftvoll und soldatisch:

»Ich betrachte es als eine Fügung des Herrn der Heerscharen, daß wir an diesem für die Geschichte Europas bedeutungsvollen Tage in der Lage gewesen sind, sogleich klar zeigen zu können, was wir wollen und wozu wir da sind. Der Friede der Welt, die Harmonie der Menschheit, meine Herrn, Wir haben sie geschaffen. Wir haben Europa vor der Weltrevolution bewahrt. Wir haben die Gesellschaft, die Kultur gerettet. Ein erblich Belasteter, durch Zufall zur Macht über die erleuchteten Führer Europas emporgetragen, drohte, alle hier Anwesenden und damit die Kultur der Erde in die Luft zu sprengen. Wir wollen keinen Dank. Wir begnügen uns mit dem Bewußtsein, dieses schöne Land vor der Pöbelherrschaft verteidigt zu haben. Wir werden für die nächsten dreißig Jahre getreulich hier bleiben und wachen. Ja, wir schwören es! Wir wollen dieses schöne Land weiterhin vor Pöbel und Pöbelherrschaft beschützen ...«

 

Von allen Seiten dröhnte Beifall. Der Marschall setzte sich stolz an den Verhandlungstisch.

Aller Seelen waren bereits wieder im normalen Gedankenkreis der Geschäfte.

Nur eine einzige Seele im Saale lag in dunklem Zwiespalt. Das war die wachgewordene Seele des jungen Baldur Tünnes.

Merkwürdig! Immer noch fühlte er auf sich gerichtet jene schwarzen schwermütigen Augen.

Welch rätselhafter Mensch war das gewesen.

Kaum ein Mensch.

Irgend etwas Außermenschliches. Ein Dämon, ein Elementarwesen, fremd und doch vertraut.

Gewiß, was er tat, war ganz unpolitisch. Unsinnig. Aber hat man nicht ähnliche Stunden? Stunden, wo man denkt: Wirklich! das Beste wär's, den ganzen Schwindel in die Luft zu sprengen? Stunden, wo man fühlt, das ganze menschliche Theater ist ja Lüge, Traum, Illusion?!

Und nehmen wir einmal an, die Gaben und Anlagen dieses Verbogenen, Überspannten, Erkrankten wären in ein normales Bett gekommen. Nehmen wir an, er hätte ohne Entbehrung und Verdrängung voll sich entfalten können. Wäre nicht aus ihm vielleicht auch ein Baldur Tünnes geworden? ...

Baldur Tünnes ließ noch einmal die Bilder dieses wunderlichen Tages an sich vorüberziehn. Die Szene auf der Treppe des Volkshauses. Da sprang der bleiche Mensch hervor, küßte ihn und sagte: »Bruder!« Die Szene in der Vorhalle, da kam er vertrauend, Deutscher zum Deutschen. Diese schwarzen schwermütigen Augen. Welche Augen! Augen Michelangelos. Augen eines wilden schwarzen Jaguars. Wo hatte er diese Augen schon gesehn?

Ha! Jetzt war es klar. Das waren ja Vaters Augen.

 

Und Baldur begab sich zum großen Alten.

»Papa«, sagte er schüchtern, »ich bitte Dich, erlaube mir eine Frage. Du hast heute so edel gesorgt für den unglücklichen jungen Menschen. Man sagt, er sei erblich belastet.

Du erwähntest, daß Du seinen Vater kanntest. Du nanntest ihn wörtlich: »Meinen treuen Mitarbeiter in einer meiner Gruben.« Kanntest Du vielleicht auch seine Mutter?« –

Der große alte Tünnes, der Vater unsrer Gegend, schlug die Augen nieder. Dann sagte er bedächtig:

»Mein Jotte doch, Baldur, es is schon lange her.«

Baldur Tünnes aber – (das weiß bei uns in Deutschland jedes Kind) – besitzt eine schöne große Seele.

Er mußte für den Unglücklichen etwas tun.

Mit einer klaren und reinen Wallung bestieg er die Rednerbühne und mit dem treuen blonden Tone deutschen »Gemüts«, das ihn zum blauäugigen Liebling unsres Volks macht, sprach er zum Schlusse noch einmal dieses Folgende:

 

Hochansehnliche Versammlung. Bevor wir endlich zum Meritorischen kommen und der geschäftliche Teil unsrer Verhandlung endgültig beginnt, lassen Sie mich noch einmal die Aufmerksamkeit zurücklenken auf das heute traumhaft Erlebte, auf die ganze Tragikomik dieses denkwürdigen Tages.

Wir haben hier mit Grauen den kurzen Aufstieg und den schnellen Zusammenbruch eines unsrer vielen Mitbrüder erlebt.

Die Ärzte sagen: Das ist erblich.

Aber ferne sei uns jener Pharisäerhochmut, welcher spricht: Gott sei Dank, daß ich klüger bin. Meine Herrn, wir alle sind Patrioten von Jugend an und entbehren des Ruhms, den wir besitzen sollten.

Lassen Sie uns nicht rechten.

Im Namen meiner Partei, der Deutschnationalen Volkspartei, habe ich eine Erklärung abzugeben. Wir übernehmen die Kur- und Verpflegungskosten für den Arbeiterführer und Kommunisten Jens Liebrecht. Und im Falle eines vorzeitigen Ablebens auch die Bestattungskosten.« –

 

Da sprang aus der letzten Ecke des Saales, wo sie wie eine boshafte alte Äffin hinter dem Fernsprecher hockte, noch einmal die Muse der Weltgeschichte empor, der kleine Mannheimer, dessen wahre Gedanken noch nie jemand enträtselte, und seine Stimme schnarrte wie ein kratzendes Rasiermesser über alle Köpfe hin:

»Zahlen Sie lieber die Kurkosten oder die Bestattungskosten für Ihre werte Partei. Dann tun Se auch mal 'was fors Vaterland.«


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