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Episode

1916

Wenn über dem geschändeten Wald von La Varennes der rostbraune Abend hing, sein letztes Sonnenblut versickernd in die schwarzen Pulverschwaden über den Aschenfeldern, da schwiegen für ein paar Stunden die Geschütze und die Soldaten, hüben und drüben, lagerten sich in den Unterständen, trinkend oder rauchend, träumend oder schwatzend: rauchgeschwärzte, kotbespritzte, wildgemachte Tiere, welche seit drei Monaten, zusammengetrieben, in den Erdhöhlen verstumpften; nun aber für ein paar Augenblicke zu gespenstischen Träumen entspannt waren. – Sieben Stunden weit dehnten sich die wohlbefestigten Stellungen der Deutschen, umkreisten die drei von ihnen besetzten Dörfer Doutrepont, Aigles und Turenne, lehnten dann eine Stunde lang an den Rand des kleinen Turenner Wäldchens, darin kein Vogel mehr sang, und durchzogen schließlich her und hin die weite Varennes-Ebene mit einem Riesennetze von Laufgräben, Stollen und Gängen, die, mit Bohlen ausgelegt und mit Zement vermörtelt, oft behaglich ausgebaut waren zu Unterstand und Schlafraum.

An einer Stelle kam eine Sappe den französischen Gräben nahe bis auf 80 Meter, so daß die Mannschaften in der Nacht einander fluchen und singen hörten. Hier hatte man hüben und drüben aus Stacheldraht Zäune geflochten, aber in dem freien Felde zwischen den weitaufklaffenden Erdtrichtern lagen die Toten; denn man warf die Toten über die Drähte, damit sie nicht im Graben den Raum versperren und nicht die Luft verderben könnten. Bei Nacht aber – (das war seit Monden eine stillschweigende Übereinkunft von hüben und drüben) – krochen in der Feuerpause ein paar beherzte Leute aus den Grabenlöchern durch die Drähte und begruben aus dem Zwischenstück – man nannte es »das Totenfeld« – die gefallenen Kameraden: Franzosen neben Deutsche, Feind neben Feind. Über die Erdhügel knatterten dann ehrenvoll die Gewehre, und im grellen Lichte des Scheinwerfers leuchtete noch lange das tannene Holzkreuz mit den Vogelbeeren, rot wie Blut, welches ein treuer Deutscher aufgepflanzt hatte für irgend einen anderen Deutschen, der dort schlief. An diesem Punkte der Stellung lag auch Sepp Stiglmeir, Landsturmmann aus Ingolstadt, der als ein guter Hornbläser am Abend den Zapfenstreich zu blasen pflegte, wonach die Mannschaft, wenn aus der dreiviertel Stunden entfernten ersten Etappe Ersatz gekommen war, sich für ein paar Nachtstunden in den geschützten Unterständen zur Ruhe legen durfte. – Darauf warteten nun alle. Aber an diesem Abend ertönte, obwohl die Ablösung zur Stelle war, immer noch kein Signal. – –

Man lungerte derweil in den Erdkammern, die, vom Flugzeug aus betrachtet, sich ausnehmen wie riesige Wagenspuren oder wie Ackerfurchen, in denen ein schwarzes Geschlecht von Erdflöhen unermüdlich herumspringt. Durch den sterbemilden Abendfrieden kühlte herbei leise der Wind von Osten, heranwehend nächtliche Traumgebilde aus der Heimat, welche still dahinschweben über uns an Tag und Licht Verblindete, als eine Karawane tröstlicher Seelen: ein Kirschblütenast pochend ans Fenster des Vaterhauses, der Jakobsquell beim Lindenbaum vorm Städtchen; die traumversunkenen Häuser am Rhein, das ferne niederdeutsche Großmuttergesicht oder schwach verdämmernd ein paar süße blonde Kinderköpfchen mit blauen Augen, – deutschen Augen.

Einige Gruppen hatten sich bereits wieder zusammengefunden zum unvermeidlichen Dreimännerskat. Einige tauschten Zigaretten, Rauchtabak und Schnupftabak. Manche besserten ihre Schuhsohlen, und zahllose derbe Fäuste bastelten, nieteten, hämmerten an den Brettern der Schießscharten oder montierten und putzten Bajonett und Gewehr. Denn diese Nacht – (das wußten alle) – mußte der große Sturmangriff losgehen, der das französische Grabenstück gegenüber dem »Totenfeld« endlich säubern sollte vom Feind.

Dies also waren die letzten Stunden. Man konnte Briefe schreiben oder sein Testament machen, grübeln oder träumen, trinken oder beten. Jeder kannte seine Pflicht.

Aber wenn auch die großen Todesjungfrauen, die Walküren, über alle die treuen Männer dahinzogen und sicherlich schon manche das geheime Mal ihres Kusses trugen, wie die Bäume, welche vom Förster dazu bestimmt sind, morgen gefällt zu werden, – man war doch auch heute Abend so ausgelassen wie an allen Abenden. Denn immer kam mit der Dämmerung diese wilde Unbekümmertheit, daß man lachte und konnte nicht sagen warum. War es, weil wieder ein stumpfsinniger Lebenstag vorüber und man dem Endziel näher war, so oder so? War es, daß man immer noch lebte und dem Tode auch heute lustig das Schnippchen schlug.

Als die Ersatzmannschaft zur Stelle war, stand man dicht gedrängt beisammen, alberte, neckte, spuckte, priemte und wartete auf das bekannte Signal des Zapfenstreichs. Wie zu jeder Stunde schwirrten die stumpfsinnigen Soldatenworte durch die Luft, jene Redensarten, die durch Wochen und Monate sich einhämmern: Kouplets, billige Operettenmelodien, welche Millionen und Abermillionen Male die Leute vor sich hinsingen, indem sie sich dabei verständnisvoll ansehn und grundlos lachen. Irgendeiner begann schon wieder den »deutschen Stiglmeiermarsch«. Und alsbald summte es den Graben entlang:

»Ja das Leben in den Schützengräben
Is durchaus kein angenehmes Leben,
Morgens gibt es blaue Bohnen eben
Und am Mittag gibt es auch nicht mehr.
Kommt der Abend mit der Abendröte
Setzt sich Stiglmeir an die Tete,
Dieser Mann macht Tätärätätäte
Wie kein zweiter Mann im deutschen Heer.«

– – Plötzlich stockte das flotte Tempo! Einige liefen an die Schießscharten. Drüben auf dem »Totenfelde«, vor dem französischen Grabenmund, schien Ungewöhnliches vorzugehn. Schon funkte hie und da ein Schuß. Aufknatterten die feurigen Bälle, grüßten einander in der Luft, überkreuzten sich als böse Schlangen und schlugen dann irgendwo in die Gräben oder hinter die Gräben.

Was aber war zu sehn? Auf dem »Totenfeld«, diesseits des französischen Stacheldrahts auf fünfzig Meter Entfernung stand ein einzelner Mann, von Kugeln umflogen, mächtig gegen den grauroten Abendhimmel. Langsam stolperte er voran über die maulwurfswelligen Trichter. Einige wollten gesehn haben, wie sein Kopf mit der Sturmhelmspitze vorsichtig aufgetaucht wäre. Andere wußten zu melden, daß seine Hände an dem grauen Grabenrande sich eingekrallt hätten, wie er, auf dem Bauche unter den Stacheldrähten durchkriechend, wunderlicherweise lebendig auf das gräßliche Totenfeld hinausgelangt sei: Ein Überläufer, ein Spitzel. Sicher ein Wahnsinniger.

Indem die Gestalt näher kam, erkannten die Ausspähenden deutlich einen zarten kleinen Menschen ohne Sturmhaube und Helm, ganz ohne Waffe, mit wildem, schwarzem, wehendem Haar und weitaufgerissenen irren Augen, ein Irrsinniger klärlich, der unaufhörlich Zeichen gebend auf eine gewisse Stelle des Totenfeldes loszusteuern schien.

Nun sauste eine Handgranate. Der schlenkernde Arm des irren Menschen fiel schlaff herunter, während man atemlos den Vorgang beobachtete und von einem fernen Ende des Grabens, wo man gleichfalls aufmerksam war, wieder ein paar Schüsse entsandte, sackte der blasse Mensch schon zusammen, so wie ein zuklappendes Taschenmesser, und lag nun platt als ein farbiger Fleck auf dem fahlen Plane, indes man glaubte, noch sein irres Gewimmer zu hören und sein rotes Blut sickern zu sehn ins graue Gestein.

»Den hat's!« sagten die deutschen Soldaten. Denn dies war die übliche Wendung, mit der man befriedigt feststellte, daß wieder einmal ein feindlicher Mann abgeschossen sei. –

Aber sieh! Wie ein wilder Dämon raffte der Gefallene sich doch noch empor mit bewußtester Kraft, schwankte voran, fiel wieder, kroch weiter über den Sturzacker, schrie, gestikulierte, winkte, während über und neben ihm die Kugeln flogen; winkte verzweifelt mit dem blutenden Armstumpf.

Jetzt hatten zwei Deutsche etwas anderes bemerkt.

An der Stelle des Totenfeldes, auf die der Unselige lostrieb, wie das Segel vor dem Winde, lag ein grauer Körper, der, wenn man durchs Fernglas blickte, deutlich sich fortzubewegen schien. Ja! – nun sahen schon mehrere es genau –: auf dem Bauche fortrutschend, strebte auch dieser zweite Mensch zum Graben der Deutschen herüber, in beständiger Gefahr, in dem freien Felde von dieser oder von jener Seite getroffen zu werden. – War es ein Franzose? War es ein Deutscher? Die Leute, welche gute Augen hatten, bemerkten an der Uniform, daß es ein Deutscher sein müsse, und da er mählich näher herankam, bemerkten sie auch schon den grauen bayerischen Waffenrock. Und plötzlich schrieen einige aufs bestimmteste: Es ist Stiglmeir!

Der kleine Leutnant von Lieven, bleich, aufgeregt, tanzte rasend den Graben entlang, riß die Soldaten von den Schießständen und schrie unaufhörlich: Nicht schießen! Nicht schießen! Nicht schießen! Nun ward man auch in dem entfernteren Grabenstück hinter dem Waldrand aufmerksam. Nur hie und da dröhnte aus dem deutschen Gebiet noch ein ferner Schuß, der von den Franzosen nicht erwidert wurde. Schon turnten einige Mann auf den Grabenrand. Aber die Besonnenen schrieen: Vorsicht! Herunter! Sie wollen uns aus dem Graben locken. Sie wollen uns im offenem Felde abfunken! ...

Allmählich würde alles mäuschenstill. Die Leute hingen an den Ausgucklöchern und beobachteten angespannt den kriechenden Deutschen und den rätselhaften Franzosen, wie er sich aufraffte und hinfiel und immer wieder aufraffte, bis er schließlich landete bei der Stelle des Totenfeldes, wo der offenbar schwer verwundete Stiglmeir sich vergeblich abmühte und windete und wand wie ein zerschnittener Regenwurm.

Nun aber sah man auch drüben überm Rand des französischen Grabens auftauchen allerlei verdächtige Gestalten: Käppis, Bärte, Gesichter, ganz Leiber. Schon saß ein Franzose rittlings auf dem grauen Erdwall und winkte und winkte. Nun wurde die Sache denn doch bedenklich. Dies war der Feind, den man in wenigen Stunden aufs Bajonett spießen mußte. Handelte es sich um eine List? eine Falle? Sollte man etwa glauben, daß französische Soldaten in der vordersten Stellung nach drei Monaten Siegs ihren Kampf einstellten, um Sepp Stiglmeir aus Ingolstadt zu retten?

Auf der deutschen Seite holten die Unteroffiziere die Mannschaft zurück. Hier durfte nichts unternommen werden ohne ausdrückliche Billigung der Vorgesetzten.

Da kam Hauptmann Krüger den Graben entlang, ein ruhiger besonnener Mann; auch ein Bayer. Auf der Brust trug er die Tapferkeitsmedaille und im Knopfloch der Litewka, die er, aus dem Unterstand tretend, wohl rasch übergeworfen hatte, baumelte klirrend gegen die blanken Knöpfe das Eiserne Kreuz. Was ist?! fragte er ruhig. Und der Soldat an der nächsten Schießscharte stammelte wie von Entsetzen gelähmt: Der Franzose bringt Stiglmeir!

Der Hauptmann schob den Soldaten unwirsch beiseite, überblickte kurz das Feld und sagte: Bück Dich!, stieg auf den Rücken des Mannes und dann mit einem festen Satze, während zwei andere Mann nachhalfen, schwang er sich kräftig aus dem Graben und stand droben im freien Feld, preisgegeben den französischen Gewehren. Aber die französischen Gewehre schwiegen. – Nun ging der deutsche Hauptmann ohne Zagen voran.

Kaum aber hatten die Leute ihren Hauptmann droben gesehn, als sie nicht länger zu halten waren. Ein Gekletter und Geklimm begann ohne Gleichen. Die ganze Kompagnie stand bald auf dem Totenfeld. Inzwischen war der blutende, übel zugerichtete Franzose angelangt vor dem deutschen Graben; mühsam schleppte er den halbtoten Stiglmeir hinter sich her, wie einen schweren harpunierten Walfisch. Aber schon kamen ein paar deutsche Sanitäter zu Hilfe und übernahmen behutsam den schwer Verwundeten; der Stabsarzt öffnete mit einem festen Schnitt den Uniformrock und verstopfte mit Leinen Stiglmeirs Wunde. Von allen Seiten wimmelten nun auch Franzosen heran und die beiden Mannschaften stunden erstaunt einander gegenüber. Aber schon stand der deutsche Hauptmann fest und ruhig vor dem wagehalsigen Franzosen, der sich bleich und blutend kaum noch aufrecht hielt, aber in guter dienstlicher Haltung den verstümmelten Arm an die Hosennaht legte und dem deutschen Offizier rapportiertem »François Dilloyer aus Rouen; Ouvrier«. Da, – seiner selber nicht mächtig, eine ungeheure Wallung niederringend, doch nicht wissend, wie er das ausdrücken solle, was in ihm und mit ihm vorging, riß sich der deutsche Offizier sein Eisernes Kreuz von der Litewka, riß auch aus dem Knopfloch die Schleife und begann ungeschickt mit bebenden Händen das Kreuz anzuheften an den Waffenrock des französischen Arbeiters, aus dessen Augen ein bescheidener Stolz brach, während ein paar deutsche Sanitäter ihm aus dem Zeuge halfen, um seinen durchschossenen Oberarm zu verbinden.

»Einer aus Rouen!« ..., »ein Arbeiter!« ... flogs nun von Mund zu Munde, und es bedurfte weiter keiner Erklärung; denn jeder ahnte, was geschehen war: wie dieser junge Franzose dort von seinem Grabenstück aus beobachtet hatte, daß unter den abtransportierten Toten ein noch Lebender lag, daß dieser Lebende von beiden Seiten dem Kugelsturm ausgesetzt sei und auf dem gräßlichen Totenfeld vergeblich sich abzappelte, um zurückzukommen zur bayerischen Truppe. Da hatte der junge Dilloyer versucht, die Deutschen aufmerksam zu machen auf ihren Mann, aber als er die Aussichtslosigkeit dieses Versuchs einsah, nutzte er die abendliche Feuerpause, um sein eignes Leben daranzuwagen an den Versuch, den deutschen Mann vielleicht doch noch zurückzuschaffen zu seiner Truppe.

Dieses begriffen alle, und obwohl das Bravourstück ihnen allen so unglaublich erschien als sinnlos, überkam doch einen jeden der Wunsch, diesem Feinde gleich zu sein und etwas Freundliches bezeugen zu können einem der Fremden. Es war das erste Mal, daß die hartgeprägten Männer, die seit drei Monaten in den Grabkammern gegeneinander lagen, einzig darauf bedacht, sich zu überlisten, zu verwunden, abzuschießen, Auge in Auge einander betrachten konnten, aus der Nähe. Beinah überraschte es sie, daß sie alle unter dem Schmutze ihrer Erdkruste das selbe weiße Antlitz trugen, das selbe abgezehrte von Pulver oder Erde verschmutzte, von allen Teufeln des Hasses und der Rache geschändete menschliche Antlitz. Und nach einem kurzen stummen Augenblick großen Erstaunens begannen sie plötzlich alle miteinander zu lachen. Unbändig lachten sie. Maßlos. Tränen lachten sie. Als wenn sie alle plötzlich Einblick bekommen hätten in eine ungeheure Weltkomödie und sich nun durch ein herrliches Lachen befreien könnten von des menschlichen Lasttiers banger Erdenlast, die plötzlich von ihren Herzen fiel. Und da sie die beiderseitigen Sprachen nicht verstanden, begannen sie sich treuherzig die Hand zu geben und ihre Namen zu nennen und bürgerlichen Berufe, wobei es denn wohl geschah, daß an der einen Stelle auf dem Totenfelde sich zwei Schneider begegneten, an einer anderen aber zwei Schlosser oder drei Schuster oder gar etliche Bauernsöhne, und nun aufs lebendigste aufgeregt, sogleich einen Austausch vornahmen ihrer Erfahrungen oder Träume. Wie viele Kühe? wußte der eine auf Deutsch zu fragen, und der andere hub alle zehn Finger, um auf Französisch zu erwidern, daß ihm zehn Kühe stünden daheim im Väterstall. Sie nannten ohne weitere Vorreden auch die Namen ihrer Kinder und ihre Herzallerliebsten und verstanden sogleich, um was es sich handle; sagten auch: »Du« und »Kamrad«, als wären sie Genossen von alters her auf dem selben gefährdeten Elendsschiff. Sie merkten, daß drüben und hüben die selben Gewöhnungen wuchsen. Schon tauschten sie Zigaretten, Schnupftabak und Rauchtabak und lachten, weil der eine zu dick sei und der andere zu hager ...

Indessen versank hinter den zerschossenen grauen Aschenfeldern die Sonne, und herüber von dem Wäldchen La Turenne klagte langgezogen und verwarnend das Signal des Zapfenstreichs, welches die deutschen Männer mahnte, zurückzugehn in die Unterstände. Denn nur noch wenige Stunden Schlafes waren ihnen beschieden; dann mußte der große Sturmangriff über das Totenfeld brausen, auf dem sie jetzt standen in traulichem Geplauder mit den Todfeinden der nahenden Nacht. Da erschraken sie. Denn der Schall brachte sie wieder zurück ins Bewußtsein des Krieges, und daß es Vaterlandsverrat wäre, wagten sie ein Wort zu sagen über das, wovon zu reden ihnen auch untereinander verboten war, und wovon sie doch alle wußten, daß es in dieser Nacht geschehen mußte.

Nur der kleine gedankenarme Leutnant von Lieven plapperte beständig auf Französisch übersprudelnde unsinnige Worte, von einem Todfeind zum andern springend mit tränenüberströmtem Gesicht, denn für ihn war dies die höchste Stunde seines jungen Lebens.

Kein Wort aber kam mehr über die Lippen des Hauptmanns. Der stand da wie ein steinerner Held. Nein! Wie ein armer ertappter Sünder. Sein schlichtes braunes Haar schien plötzlich grau geworden zu sein, und seine Gesichtsfarbe war so aschfahl, wie das gräßliche zerschossene Totenfeld im späten Licht. Und plötzlich sich zusammenraffend gab er mit tonloser Stimme unerbittlich streng den Befehl: »An die Gewehre.«

Die Leute standen einen Augenblick unschlüssig, als hätten sie wohl große Lust zu meutern. Jetzt sahn sie sich wild und verbissen um. Dann aber gaben die deutschen Soldaten den französischen die Hand und sagten treuherzig: »Na, denn mit Gott, machts gut Kameraden und auf Wiedersehn.« Aber plötzlich sich besinnend, was sie da gesagt hätten und sich allesamt ganz unwahrscheinlich und nur wie Masken in einer Komödie fühlend, lachten, grinsten, prusteten sie wieder los. Und dann kam ein kurzer Augenblick, wo herausgehoben aus Menschenwelt und Zeit, alle diese totgeweihten, mißbrauchten und nur dunkel ahnenden Seelen ihre schweren müden Arbeitshände einander auf die Schultern legten und sich in die leeren sternenlosen Augen blickten mit einem ungeheuren Ernst, ja manche sogar einander küßten auf dem aschgrauen samenlosen Totenfeld, darüber die ersten Sterne schon brannten.

Inzwischen aber hatte man Stiglmeier gut bandagirt und auf eine Tragbahre gebettet, um ihn abzuschieben in die hintere Etappe, und auch sein junger Lebensretter, der brave Dilloyer, war verbunden worden, denn die Amputation des verlorenen Arms mußte man den französischen Ärzten überlassen. Der kam nun von seinen Kameraden halb getragen halb gestützt, um sich beim Hauptmann zu verabschieden und zu bedanken für das Eiserne Kreuz. Aber der Hauptmann ruckte nur kurz den Kopf und sprach kein Wort. Nun kletterten alle hüben und drüben brav wieder in die Gräben, um ihre Pflicht zu erfüllen gegen das Vaterland. Schon begannen wieder die Geschütze zu spielen, denn hinten, in den entfernteren Stellungen war man schon mißtrauisch geworden, und der nächste deutsche Major schickte Gefreite mit dem strengen Befehl, die Leute hätten unverzüglich in die Unterstände zurückzugehn und jedes Gespräch mit französischen Soldaten bei Todesstrafe zu vermeiden.

Dieses Grabenstück mußte geopfert werden. Die brave Mannschaft mußte heute Nacht für das Vaterland sterben. Hüben oder drüben? ...

Vorerst legten sie sich zur Ruhe. Deutsche und Franzosen. Durch den sterbemilden Abendfrieden kamen leise die Winde von Ost und West, heranwehend die nächtlichen Traumbilder aus der Heimat, welche still dahinschweben über uns Wunderblinde mitten im Wunder, als eine Karawane tröstlicher Seelen: ein Kirschblütenzweig pochend ans Fenster des Vaterhauses, der Jakobsquell beim Lindenbaum vorm Städtchen, die traumversunkenen Häuser an Loire und Rhein, das ferne niederdeutsche, ferne provencalische Großmuttergesicht oder schwach verdämmernd ein paar süße blonde und schwarze Kinderköpfchen mit blauen Augen ... schwarzen Augen ... deutsche Augen ... französische Augen ... Die Nacht war so bang und schwer. – Funkentelegramme durchliefen die Gräben: Gedanken und Befehle vom allgewaltigen Generalstab. Der letzte Gruß des Kaisers an seine Totgeweihten. Ordonnanzen kamen. Ihre Laternen huschten. Schatten liefen unter der Erde. Über der Ebne schlugen schwarze Flügel. Und von irgendwoher klang durch die Nacht aus der Ferne unheimlich ein Gelächter. In dem Hölzchen von La Turenne, darinnen man seit Monden keinen Vogel mehr gehört, schrie um Mitternacht ein Käuzchen. Über dem Totenfelde schwamm eine bleiche Nebelmilch. Durch das Milchmeer segelte ein silberner Totennachen: der rätselhafte Mond, dieser große Leichnam im Weltenraum, blau zitternd von Gletschereis.

Nur wenige Deutsche sind aus dem Sturmangriff in dieser Nacht zurückgekommen. Hauptmann Krüger, der sie führte, war der erste, welcher fiel. Auch der kleine törichte Leutnant starb in dieser Nacht einen braven Soldatentod. Die wenigen aber, welche das Grabenstück vom Feinde siegreich gesäubert haben, verbreiteten eine kaum glaubliche Kunde. Sie sagen aus, daß kurz bevor der Befehl kam: »Marsch, Marsch! Graben hoch! Bajonett voran!« von ihnen allen wahrgenommen sei die Gestalt eines Mannes im Vollmond; wie er heraustrat aus dem Wäldchen La Turenne. Schleppenden Fußes wie jener Dilloyer, sei er hingeschritten über das Totenfeld, und sie hätten gesehn, wie er lange gestanden habe vor dem Tannenholzkreuz mit den Vogelbeeren, rot wie Blut. Dann sei er in die Ferne geschwunden. Und da hätten sie auch bemerkt, daß auf seinem Haupte lag die Dornenkron.


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