Gotthold Ephraim Lessing
Abhandlungen über die Fabel
Gotthold Ephraim Lessing

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V. Von einem besondern Nutzen der Fabeln in den Schulen

Ich will hier nicht von dem moralischen Nutzen der Fabeln reden; er gehöret in die allgemeine praktische Philosophie: und würde ich mehr davon sagen können, als Wolf gesagt hat? Noch weniger will ich von dem geringem Nutzen itzt sprechen, den die alten Rhetores in ihren Vorübungen von den Fabeln zogen, indem sie ihren Schülern aufgaben, bald eine Fabel durch alle casus obliquos zu verändern, bald sie zu erweitern, bald sie kürzer zusammenzuziehen etc. Diese Übung kann nicht anders als zum Nachteil der Fabel selbst vorgenommen werden; und da jede kleine Geschichte ebenso geschickt dazu ist, so weiß ich nicht, warum man eben die Fabel dazu mißbrauchen muß, die sich als Fabel ganz gewiß nur auf eine einzige Art gut erzählen läßt.

Den Nutzen, den ich itzt mehr berühren als umständlich erörtern will, würde man den heuristischen Nutzen der Fabeln nennen können. – Warum fehlt es in allen Wissenschaften und Künsten so sehr an Erfindern und selbstdenkenden Köpfen? Diese Frage wird am besten durch eine andre Frage beantwortet: Warum werden wir nicht besser erzogen? Gott gibt uns die Seele, aber das Genie müssen wir durch die Erziehung bekommen. Ein Knabe, dessen gesamte Seelenkräfte man, soviel als möglich, beständig in einerlei Verhältnissen ausbildet und erweitert, den man angewöhnet, alles, was er täglich zu seinem kleinen Wissen hinzulernt, mit dem, was er gestern bereits wußte, in der Geschwindigkeit zu vergleichen und achtzuhaben, ob er durch diese Vergleichung nicht von selbst auf Dinge kömmt, die ihm noch nicht gesagt worden, den man beständig aus einer Scienz in die andere hinübersehen läßt, den man lehret, sich ebenso leicht von dem Besondern zu dem Allgemeinen zu erheben, als von dem Allgemeinen zu dem Besondern sich wieder herabzulassen: der Knabe wird ein Genie werden, oder man kann nichts in der Welt werden.

Unter den Übungen nun, die diesem allgemeinen Plane zufolge angestellet werden müßten, glaube ich, würde die Erfindung aesopischer Fabeln eine von denen sein, die dem Alter eines Schülers am aller angemessensten wären: nicht, daß ich damit suchte, alle Schüler zu Dichtern zu machen; sondern weil es unleugbar ist, daß das Mittel, wodurch die Fabeln erfunden worden, gleich dasjenige ist, das allen Erfindern überhaupt das allergeläufigste sein muß. Dieses Mittel ist das Principium der Reduktion, und es ist am besten, den Philosophen selbst davon zu hören: Videmus adeo, quo artificio utantur fabularum inventores, principio nimirum reductionis: quod quemadmodum ad inveniendum in genere utilissimum, ita ad fabulas inveniendas absolute necessarium est. Quoniam in arte inveniendi principium reductionis amplissimum sibi locum vindicat, absque hoc principio autem nulla effingitur fabula; nemo in dubium revocare poterit, fabularum inventores inter inventores locum habere. Neque est quod inventores abjecte de fabularum inventoribus sentiant: quod si enim fabula nomen suum tueri, nec quicquam in eadem desiderari debet, haud exiguae saepe artis est eam invenire, ita ut in aliis veritatibus inveniendis excellentes hic vires suas deficere agnoscant, ubi in rem praesentem veniunt. Fabulae aniles nugae sunt, quae nihil veritatis continent, et earum autores in nugatorum non inventorum veritatis numero sunt. Absit autem ut hisce aequipares inventores fabularum vel fabellarum, cum quibus in praesente nobis negotium est, et quas vel inviti in Philosophiam practicam admittere tenemur, nisi praxi officere velimus.Philosophiae practicae universales pars posterior § 310.

Doch dieses Principium der Reduktion hat seine großen Schwierigkeiten. Es erfordert eine weitläuftige Kenntnis des Besondern und aller individuellen Dingen, auf welche die Reduktion geschehen kann. Wie ist diese von jungen Leuten zu verlangen? Man müßte dem Rate eines neuern Schriftstellers folgen, den ersten Anfang ihres Unterrichts mit der Geschichte der Natur zu machen und diese in der niedrigsten Klasse allen Vorlesungen zum Grunde zu legenBriefe die neueste Litteratur betreffend. 1. Teil, S. 58.. Sie enthält, sagt er, den Samen aller übrigen Wissenschaften, sogar die moralischen nicht ausgenommen. Und es ist kein Zweifel, er wird mit diesem Samen der Moral, den er in der Geschichte der Natur gefunden zu haben glaubet, nicht auf die bloßen Eigenschaften der Tiere, und anderer geringern Geschöpfe, sondern auf die aesopischen Fabeln, welche auf diese Eigenschaften gebauet werden, gesehen haben.

Aber auch alsdenn noch, wenn es dem Schüler an dieser weitläuftigen Kenntnis nicht mehr fehlte, würde man ihn die Fabeln anfangs müssen mehr finden als erfinden lassen; und die allmählichen Stufen von diesem Finden zum Erfinden, die sind es eigentlich, was ich durch verschiedene Versuche meines zweiten Buchs habe zeigen wollen. Ein gewisser Kunstrichter sagt: »Man darf nur im Holz und im Feld, insonderheit aber auf der Jagd, auf alles Betragen der zahmen und der wilden Tiere aufmerksam sein und, sooft etwas Sonderbares und Merkwürdiges zum Vorschein kömmt, sich selber in den Gedanken fragen, ob es nicht eine Ähnlichkeit mit einem gewissen Charakter der menschlichen Sitten habe und in diesem Falle in eine symbolische Fabel ausgebildet werden könne.«Critische Vorrede zu M. v. K. neuen Fabeln. Die Mühe, mit seinem Schüler auf die Jagd zu gehen, kann sich der Lehrer ersparen, wenn er in die alten Fabeln selbst eine Art von Jagd zu legen weiß, indem er die Geschichte derselben bald eher abbricht, bald weiter fortfährt, bald diesen oder jenen Umstand derselben so verändert, daß sich eine andere Moral darin erkennen läßt.

Z. E. die bekannte Fabel von dem Löwen und Esel fängt sich an: Λεων και ονος, κοινωνιαν θεμενοι, εξηλθον επι θηραν – Hier bleibt der Lehrer stehen. Der Esel in Gesellschaft des Löwen? Wie stolz wird der Esel auf diese Gesellschaft gewesen sein! (Man sehe die achte Fabel meines zweiten Buchs.) Der Löwe in Gesellschaft des Esels? Und hatte sich denn der Löwe dieser Gesellschaft nicht zu schämen? (Man sehe die siebente.) Und so sind zwei Fabeln entstanden, indem man mit der Geschichte der alten Fabel einen kleinen Ausweg genommen, der auch zu einem Ziele, aber zu einem andern Ziele führet, als Aesopus sich dabei gesteckt hatte.

Oder man verfolgt die Geschichte einen Schritt weiter: Die Fabel von der Krähe, die sich mit den ausgefallenen Federn andrer Vögel geschmückt hatte, schließt sich: και ο κολοιος ην παλιν κολοιος. Vielleicht war sie nun auch etwas Schlechters, als sie vorher gewesen war. Vielleicht hatte man ihr auch ihre eigene glänzenden Schwingfedern mit ausgerissen, weil man sie gleichfalls für fremde Federn gehalten? So geht es dem Plagiarius. Man ertappt ihn hier, man ertappt ihn da; und endlich glaubt man, daß er auch das, was wirklich sein eigen ist, gestohlen habe. (S. die sechste Fabel meines zweiten Buchs.)

Oder man verändert einzelne Umstände in der Fabel. Wie, wenn das Stücke Fleisch, welches der Fuchs dem Raben aus dem Schnabel schmeichelte, vergiftet gewesen wäre? (S. die funfzehnte) Wie, wenn der Mann die erfrorne Schlange nicht aus Barmherzigkeit, sondern aus Begierde, ihre schöne Haut zu haben, aufgehoben und in den Busen gesteckt hätte? Hätte sich der Mann auch alsdenn noch über den Undank der Schlange beklagen können? (S. die dritte Fabel.)

Oder man nimmt auch den merkwürdigsten Umstand aus der Fabel heraus und bauet auf denselben eine ganz neue Fabel. Dem Wolfe ist ein Bein in dem Schlunde steckengeblieben. In der kurzen Zeit, da er sich daran würgte, hatten die Schafe also vor ihm Friede. Aber durfte sich der Wolf die gezwungene Enthaltung als eine gute Tat anrechnen? (S. die vierte Fabel.) Herkules wird in den Himmel aufgenommen und unterläßt, dem Plutus seine Verehrung zu bezeigen. Sollte er sie wohl auch seiner Todfeindin, der Juno, zu bezeigen unterlassen haben? Oder würde es dem Herkules anständiger gewesen sein, ihr für ihre Verfolgungen zu danken? (S. die zweite Fabel.)

Oder man sucht eine edlere Moral in die Fabel zu legen; denn es gibt unter den griechischen Fabeln verschiedene, die eine sehr nichtswürdige haben. Die Esel bitten den Jupiter, ihr Leben minder elend sein zu lassen. Jupiter antwortet: τοτε αυτους απαλλαγησεσθαι της κακοπαθειας, οταν ουρουντες ποιησωσι ποταμον. Welch eine unanständige Antwort für eine Gottheit! Ich schmeichle mir, daß ich den Jupiter würdiger antworten lassen und überhaupt eine schönere Fabel daraus gemacht habe. (S. die zehnte Fabel.)

– Ich breche ab! Denn ich kann mich unmöglich zwingen, einen Kommentar über meine eigene Versuche zu schreiben.


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