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Richer ist ein andrer französischer Fabulist, der ein wenig besser erzählet als de La Motte, in Ansehung der Erfindung aber weit unter ihm stehet. Auch dieser hat uns seine Gedanken über diese Dichtungsart nicht vorenthalten wollen und erklärt die Fabel durch ein kleines Gedicht, das irgendeine unter einem allegorischen Bilde versteckte Regel enthalteLa Fable est un petit Poeme qui contient un precepte caché sous une image allegorique. Fables nouvelles, Preface, p. 9..
Richer hat die Erklärung des de La Motte offenbar vor Augen gehabt. Und vielleicht hat er sie gar verbessern wollen. Aber das ist ihm sehr schlecht gelungen.
Ein kleines Gedicht (Poeme)? – Wenn Richer das Wesen eines Gedichts in die bloße Fiktion setzet: so bin ich es zufrieden, daß er die Fabel ein Gedicht nennet. Wenn er aber auch die poetische Sprache und ein gewisses Silbenmaß als notwendige Eigenschaften eines Gedichtes betrachtet: so kann ich seiner Meinung nicht sein. – Ich werde mich weiter unten hierüber ausführlicher erklären.
Eine Regel (Precepte)? – Dieses Wort ist nichts bestimmter als das Wort Lehre des de La Motte. Alle Künste, alle Wissenschaften haben Regeln, haben Vorschriften. Die Fabel aber stehet einzig und allein der Moral zu. Von einer andern Seite hingegen betrachtet, ist Regel oder Vorschrift hier sogar noch schlechter als Lehre; weil man unter Regel und Vorschrift eigentlich nur solche Sätze verstehet, die unmittelbar auf die Bestimmung unsers Tuns und Lassens gehen. Von dieser Art aber sind nicht alle moralische Lehrsätze der Fabel. Ein großer Teil derselben sind Erfahrungssätze, die uns nicht sowohl von dem, was geschehen sollte, als vielmehr von dem, was wirklich geschiehet, unterrichten. Ist die Sentenz:
In principatu commutando civium Nil praeter domini nomen mutant pauperes |
eine Regel, eine Vorschrift? Und gleichwohl ist sie das Resultat einer von den schönsten Fabeln des PhaedrusLibri I. Fab. 15.. Es ist zwar wahr, aus jedem solchen Erfahrungssatze können leicht eigentliche Vorschriften und Regeln gezogen werden. Aber was in dem fruchtbaren Satze liegt, das liegt nicht darum auch in der Fabel. Und was müßte das für eine Fabel sein, in welcher ich den Satz mit allen seinen Folgerungen auf einmal anschauend erkennen sollte?
Unter einem allegorischen Bilde? – Über das Allegorische habe ich mich bereits erkläret. Aber Bild (Image)! Unmöglich kann Richer dieses Wort mit Bedacht gewählt haben. Hat er es vielleicht nur ergriffen, um von de La Motte lieber auf Geratewohl abzugehen, als nach ihm recht zu haben? – Ein Bild heißt überhaupt jede sinnliche Vorstellung eines Dinges nach einer einzigen ihm zukommenden Veränderung. Es zeigt mir nicht mehrere oder gar alle mögliche Veränderungen, deren das Ding fähig ist, sondern allein die, in der es sich in einem und ebendemselben Augenblicke befindet. In einem Bilde kann ich zwar also wohl eine moralische Wahrheit erkennen, aber es ist darum noch keine Fabel. Der mitten im Wasser dürstende Tantalus ist ein Bild, und ein Bild, das mir die Möglichkeit zeiget, man könne auch bei dem größten Überflusse darben. Aber ist dieses Bild deswegen eine Fabel? So auch folgendes kleine Gedicht:
Cursu veloci pendens in novacula, Calvus, comosa fronte, nudo corpore, Quem si occuparis, teneas; elapsum semel Non ipse possit Jupiter reprehendere; Occasionem rerum significat brevem. Effectus impediret ne segnis mora, Finxere antiqui talem effigiem temporis. |
Wer wird diese Zeilen für eine Fabel erkennen, ob sie schon Phaedrus als eine solche unter seinen Fabeln mit unterlaufen läßtLib. V. Fab. 8.? Ein jedes Gleichnis, ein jedes Emblema würde eine Fabel sein, wenn sie nicht eine Mannigfaltigkeit von Bildern, und zwar zu einem Zwecke übereinstimmenden Bildern, wenn sie, mit einem Worte, nicht das notwendig erforderte, was wir durch das Wort Handlung ausdrücken.
Eine Handlung nenne ich eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein Ganzes ausmachen.
Diese Einheit des Ganzen beruhet auf der Übereinstimmung aller Teile zu einem Endzwecke.
Der Endzweck der Fabel, das, wofür die Fabel erfunden wird, ist der moralische Lehrsatz.
Folglich hat die Fabel eine Handlung, wenn das, was sie erzählt, eine Folge von Veränderungen ist und jede dieser Veränderungen etwas dazu beiträgt, die einzeln Begriffe, aus welchen der moralische Lehrsatz bestehet, anschauend erkennen zu lassen.
Was die Fabel erzählt, muß eine Folge von Veränderungen sein. Eine Veränderung oder auch mehrere Veränderungen, die nur nebeneinander bestehen und nicht aufeinander folgen, wollen zur Fabel nicht zureichen. Und ich kann es für eine untriegliche Probe ausgeben, daß eine Fabel schlecht ist, daß sie den Namen der Fabel gar nicht verdienet, wenn ihre vermeinte Handlung sich ganz malen läßt. Sie enthält alsdenn ein bloßes Bild, und der Maler hat keine Fabel, sondern ein Emblema gemalt. – »Ein Fischer, indem er sein Netz aus dem Meere zog, blieb der größern Fische, die sich darin gefangen hatten, zwar habhaft, die kleinsten aber schlupften durch das Netz durch und gelangten glücklich wieder ins Wasser.« – Diese Erzählung befindet sich unter den aesopischen FabelnFab. Aesop. 154, aber sie ist keine Fabel, wenigstens eine sehr mittelmäßige. Sie hat keine Handlung, sie enthält ein bloßes einzelnes Faktum, das sich ganz malen läßt; und wenn ich dieses einzelne Faktum, dieses Zurückbleiben der größern und dieses Durchschlupfen der kleinen Fische, auch mit noch so viel andern Umständen erweiterte, so würde doch in ihm allein, und nicht in den andern Umständen zugleich mit, der moralische Lehrsatz liegen.
Doch nicht genug, daß das, was die Fabel erzählt, eine Folge von Veränderungen ist, alle diese Veränderungen müssen zusammen nur einen einzigen anschauenden Begriff in mir erwecken. Erwecken sie deren mehrere, liegt mehr als ein moralischer Lehrsatz in der vermeinten Fabel, so fehlt der Handlung ihre Einheit, so fehlt ihr das, was sie eigentlich zur Handlung macht, und kann, richtig zu sprechen, keine Handlung, sondern muß eine Begebenheit heißen. – Ein Exempel:
Lucernam fur accendit ex ara Jovis, Ipsumque compilavit ad lumen suum; Onustus qui sacrilegio cum discederet, Repente vocem sancta misit Religio: Malorum quamvis ista fuerint munera, Mihique invisa, ut non offendar subripi; Tamen, sceleste, spiritu culpam lues, Olim cum adscriptus venerit poenae dies. Sed ne ignis noster facinori praeluceat, Per quem verendos excolit pietas Deos, Veto esse tale luminis commercium. Ita hodie, nec lucernam de flamma Deûm Nec de lucerna fas est accendi sacrum. |
Was hat man hier gelesen? Ein Histörchen, aber keine Fabel. Ein Histörchen trägt sich zu, eine Fabel wird erdichtet. Von der Fabel also muß sich ein Grund angeben lassen, warum sie erdichtet worden, da ich den Grund, warum sich jenes zugetragen, weder zu wissen noch anzugeben gehalten bin. Was wäre nun der Grund, warum diese Fabel erdichtet worden, wenn es anders eine Fabel wäre? Recht billig zu urteilen, könnte es kein andrer als dieser sein: der Dichter habe einen wahrscheinlichen Anlaß zu dem doppelten Verbote, weder von dem heiligen Feuer ein gemeines Licht noch von einem gemeinen Lichte das heilige Feuer anzuzünden, erzählen wollen. Aber wäre das eine moralische Absicht, dergleichen der Fabulist doch notwendig haben soll? Zur Not könnte zwar dieses einzelne Verbot zu einem Bilde des allgemeinen Verbots dienen, daß das Heilige mit dem Unheiligen, das Gute mit dem Bösen in keiner Gemeinschaft stehen soll. Aber was tragen alsdenn die übrigen Teile der Erzählung zu diesem Bilde bei? Zu diesem gar nichts, sondern ein jeder ist vielmehr das Bild, der einzelne Fall einer ganz andern allgemeinen Wahrheit. Der Dichter hat es selbst empfunden und hat sich aus der Verlegenheit, welche Lehre er allein daraus ziehen solle, nicht besser zu reißen gewußt, als wenn er deren so viele daraus zöge als sich nur immer ziehen ließen. Denn er schließt:
Quot res contineat hoc argumentum utiles, Non explicabit alius, quam qui repperit. Significat primo, saepe, quos ipse alueris, Tibi inveniri maxime contrarios. Secundo ostendit, scelera non ira Deûm, Fatorum dicto sed puniri tempore. Novissime interdicit, ne cum malefico Usum bonus consociet ullius rei. |
Eine elende Fabel, wenn niemand anders als ihr Erfinder es erklären kann, wieviel nützliche Dinge sie enthalte! Wir hätten an einem genug! – Kaum sollte man es glauben, daß einer von den Alten, einer von diesen großen Meistern in der Einfalt ihrer Plane, uns dieses Histörchen für eine FabelPhaedrus libr. IV. Fab. 10 verkaufen können.