Karl Lerbs
Der lachende Roland - 2. Band
Karl Lerbs

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– und noch einmal, etwas ausführlicher

Die Glücksnacht

Eine Geschichte vom Großvater

Als mein Großvater, damals ein schlanker, braunbärtiger Mann mit fest und wachsam blickenden blauen Augen und von rüstiger Körperkraft, in einem geräumigen alten Giebelhause der handelsgeschäftigen bremischen Altstadt eine Lebensmittelgroßhandlung begründet hatte, war er in den ersten Jahren genötigt, mit wohlbedachter Sparsamkeit zu wirtschaften und mancherlei Dinge selbst zu verrichten, für die er sich später seine »Leute« hielt. Unter anderem lag es ihm damals ob, in eigener Person jene Kundschaftsbesuche auf dem flachen Lande zu machen, die er später durch einige Herren mit dem Titel »Reisende« erledigen ließ. So war es kein Ausnahmefall, als er eines Tages in einem Dorfe bei Bremen einen Krämer besuchte, der dort zugleich eine Ausspannwirtschaft und ein umfängliches Wesewerk besaß; und als mein Großvater nach einem guten Mundvoll Schnack seine neuen Aufträge säuberlich in sein Buch geschrieben hatte und einen ansehnlichen Haufen blanker Taler Gold, den Betrag einer kassierten Rechnung, in einer prallen ledernen Geldumhängetasche verwahrte, ahnte er nicht, daß der heiter und friedvoll dämmernde Abend für ihn das harmlose Vorspiel zu einer Nacht voll Abenteuer war.

Der Wirt, ein freundlicher Mann und meinem Großvater seit langem bekannt, meinte, seinen Gast vor der nächtlichen Heimwanderung auf der einsamen 110 Landstraße warnen zu müssen. Die Gegend sei unsicher, und man habe in letzter Zeit oft räuberische und leider erfolgreiche Überfälle auf einspännige Wanderer erlebt. Und einen Wagen könne er leider nicht zur Verfügung stellen, sagte der Wirt; denn die Pferde seien alle durch die Erntearbeit übermüdet. Mein Großvater indessen begegnete der Warnung lachend mit dem Hinweis auf seine verläßlichen Fäuste und meinte, es sei ihm gar nicht unlieb, einen solchen Raubritter einmal aus nächster Nähe zu sehen, um auch diese Gattung Mensch kennenzulernen. Hierauf erstand er noch für seinen Jüngsten, der damals gerade krank lag, etwas Spielzeug, verstaute es in der Rocktasche, brannte sich eine Brasilzigarre an, schüttelte dem Wirt die Hand und nahm in bester Stimmung die Landstraße unter die Füße; wobei das leise silberne Geklingel der Taler in der Geldtasche zu seinem kräftigen Schritt eine liebliche Begleitmusik spielte.

Nun begann, nachdem am weitgespannten Himmelsraum das letzte Licht verdämmert war, die Kette der Abenteuer damit, daß sich plötzlich aus einem Gebüsch am Wege ein umfänglicher Schatten erhob und, vor meinem Großvater sich aufpflanzend, alsbald die Gestalt eines schlechtgekleideten Mannes annahm, der ohne Ein- und Überleitung die rauhe Einladung ergehen ließ: Der Herr möge ihm sämtliche zur Stelle befindlichen Wertsachen im Wege der Schenkung übereignen. Durch einige beredte Schwingungen eines schrecklichen Eichenknüppels erhielt die Einladung das Gepräge einer Nötigung. Mein Großvater griff in die Tasche, die das 111 gekaufte Spielzeug barg, zog eine blecherne Kindertrompete hervor und richtete ihre schöngeschweifte Mündung mit drohend zielender Gebärde auf den Buschklepper. Diesem mußte bei dem ungewissen Licht der zarten Mondsichel das Instrument als eine Schießvorrichtung von artilleristischer Kampfkraft erscheinen: er ließ den Eichenknüppel fallen, machte eine tadellose Kehrtwendung, setzte mit vorbildlichem Sprung über den Landstraßengraben und wetzte in brausendem Galopp über den Kartoffelacker, um sich vor dem drohenden Taschengeschütz im rettenden Dunkel eines Wäldchens zu bergen. Mein Großvater lächelte, steckte die Trompete wieder in die Tasche, pfiff den Torgauer und setzte seinen Weg fort.

Da die nächsten Stunden ohne weitere Zwischenfälle vergingen, glaubte er im Vorgenuß nahender Ruhe aufatmen zu können, als er in der ersten grauen Dämmerung die Weser erreichte, die dunkel und ruhevoll unter silbrigen Frühnebelschleiern dahinfloß, und als sein scharfer Blick über dem Häusergewirr der Altstadt das ragende Spitzdach seines Hauses begrüßte. Da aber, mitten auf der Brücke, warf ihm das Geschick das nächste Abenteuer in den Weg. Es hockte dort nämlich auf einem Stein ein zweiter schlechtgekleideter Mann, hielt in der rechten Hand ein Ding, das sogleich als eine zwar nicht ganz neue, aber anscheinend gebrauchsfähige Pistole erkennbar war, und richtete, ohne sich zu erheben oder sonstwie dringlich zu werden, an meinen Großvater die diesem und uns bereits bekannte Einladung. Mein Großvater blieb vor dem 112 Manne stehen, hob den Tragriemen seiner schweren Geldtasche von der Schulter und ließ die Last zu Füßen des sonderbaren Räubers niederfallen. Dann, als dieser sich eilig danach bückte, um sie an sich zu reißen (die Pistole hielt er freilich auch jetzt noch fest), fuhr ihm ein wundervoll gezielter Fausthieb schmetternd ins Genick, so daß er lautlos von dem Stein herabrutschte und seine dürren Gliedmaßen in bester Ordnung von sich streckte. Nachdem mein Großvater sich davon überzeugt hatte, daß der Mann mindestens eine Stunde lang der absoluten Ruhe bedürfen würde, lehnte er ihn sorgsam gegen den Stein, nahm die Pistole auf, untersuchte sie, fand sie hoffnungslos verrostet, warf sie über das Brückengeländer und sah ihr nach, wie sie mit einem Plumps versackte; hängte hierauf seine Geldtasche wieder um, pfiff den Hohenfriedberger und setzte seinen Weg fort.

Er war schon bei den letzten Takten angelangt und sah bereits, um die Straßenecke biegend, die Tür seines Hauses einladend vor sich – als sich plötzlich über ihm klirrend ein Fenster öffnete und ein altes Weib, eines Buch- und Steindruckers dicke Wittfrau, ohne weitere Vorsichtsmaßregeln ein Gefäß mit üblem Spülicht auf die Straße entleerte, so daß meines Großvaters Hut und Rock erheblich besudelt wurden. Nun war er seit jeher ein peinlich sauberer, auf tadellose Gepflegtheit haltender Mann und hätte es niemals über sich vermocht, seiner Frau in einem so beschmutzten Zustande vor die Augen zu kommen; also wandte er sich, da zu dieser frühen Stunde ihm kein anderer Rat 113 einfiel, kehrte zur Weser zurück, stieg zum Wasser hinab und beugte sich darüber, um sich zu reinigen. Da nun schoß ihm die schwere Geldtasche mit einem so jähen Ruck über den Kopf, daß er sie nicht mehr erwischen konnte, und verschwand im Wasser mit einem Plumps, der den vorhin vernommenen beträchtlich übertraf.

Da gab es nun freilich nichts zu pfeifen, obwohl mein Großvater als ehemaliger braunschweigischer Artillerist sicherlich noch mancherlei Märsche gewußt hätte; sondern er setzte sich, von plötzlicher Müdigkeit überwältigt, auf einen Uferstein und blickte traurig und vorwurfsvoll auf den Fluß, der ihm bisher immer als ein vertrauter und gutgesinnter Freund erschienen war und sich nun als ein so tückischer und habgieriger Geselle erwiesen hatte. Diese Mutlosigkeit dauerte freilich nur wenige Minuten; dann erhob sich mein Großvater, bezeichnete die Verluststelle mit einem Stock im Ufersande und hielt Umschau. Da lag in der Nähe, vertäut und durch einen Steg mit dem Ufer verbunden, einer jener Schleppkähne, die man Bockschiffe nennt, und auf denen der Schiffer mit seinen Leuten und zuweilen auch mit seiner Familie während der ganzen Reise zu hausen pflegt. Mein Großvater ging an Bord, klopfte den verschlafenen Schiffer heraus und bot ihm eine Belohnung von fünf Talern, wenn es ihm gelingen würde, mit seiner langen Ruderstange die Geldtasche herauszufischen. Der Mann fuhr verdrießlich knurrend in die Hosen, nahm aber doch seine Stange und senkte sie an der bezeichneten Stelle suchend ins Wasser; fühlte sie sofort durch einen Widerstand schwer werden und zog 114 sie heraus: Da hing an ihrem Widerhaken, säuberlich am Lederriemen aufgehängt, die Geldtasche. Mein Großvater blieb stumm und nachdenklich, als er sie in Empfang nahm und dem Schiffer die vereinbarte Belohnung zahlte; er suchte seine Sachen zusammen, warf noch einen langen, halb mißtrauischen, halb achtungsvollen Blick auf den gelassen dahinziehenden Strom und wandte sich zum Gehen.

Noch war trotz dieser seltsamen Fügung, die sich das Schicksal mit fünf Talern eigentlich nicht zu hoch honorieren ließ, seine Mißstimmung nicht von ihm gewichen; und als er an dem Hause vorüberkam, wo ihn der verhängnisvolle Guß getroffen hatte, schwenkte er in einer Zornesaufwallung ein, öffnete mit energischem Griff die Haustür und kletterte die ächzende Stiege hinan. Dann aber, als er vor der dicken Wittib stand und ihre zungenfertige Kampfbereitschaft mit einer scharfen Strafpredigt schon im ersten Gang des Gefechts glatt abführte – da erschien es ihm plötzlich unsagbar komisch, daß all der aufgestaute und bisher bekämpfte Ärger über diese nächtlichen Abenteuer sich nun auf den unfrisierten Kopf dieses alten Weibes entladen sollte, das in seiner schmuddeligen Nachtjacke und seinen ausgetretenen Filzpantoffeln zerknirscht auf einem Stuhle hockte. Er verließ, von unwiderstehlicher Lachlust angewandelt, rasch das Haus, und die Erlebniskette dieser Nacht war seinem Fuß ein leichtes Gewicht, so daß er den Hohenfriedberger dort wieder begann, wo er vor dem letzten Erlebnis gestockt hatte. Es war doch eine Glücksnacht, dachte er, und ihre Abenteuer ergaben, 115 wenn er's recht bedachte, in ihrer sinnvollen Drängung ein Bild seines Schicksals, das ihn oft mit Fährlichkeiten anfiel, aber seinem kräftigen Griff niemals standhielt, und das ihm manchen harten Schlag versetzte, um ihm dann, wenn er sogleich wieder auf den Füßen stand, großmütig eine Entschädigung in die Hand zu stecken. So betrat er, müde zwar, aber dennoch voll innerlicher Heiterkeit, sein Haus und blieb auf der Treppe einen Augenblick behaglich atmend stehen, als ihm der würzige Duft frischaufgegossenen Kaffees tröstlich und belebend entgegenwehte. 116

 

Der Engel des Friedens

An einem hanseatischen Landgericht wirkte vor Jahren ein sehr alter, etwas kratzbürstiger, aber von ganzem Herzen gutgearteter Richter, der seit langer Zeit die Ehescheidungskammer betreute und hinter scharfen runden Brillengläsern hervor voll Ingrimm auf die zunehmende Verderbnis der Sitten und die allgemeine zügellose Verwilderung bei der Durchsetzung persönlicher Wünsche blickte. Der Zorn über diese entartete Welt und das Gebot seines prächtigen Herzens trieben ihn alljährlich einige Tage vor Weihnachten zu einer ungewöhnlichen Veranstaltung. Dann rief er nämlich seinen Gerichtsdiener herbei, den er mit Rücksicht auf seine gerichtsnotorische Empfindlichkeit mit besonderer Höflichkeit behandelte, langte einen Taler hervor und sagte: »Herr Thieß, besorgen Sie einen Tannenbaum und bringen Sie ihn hierher.« Herr Thieß erhielt auf Grund besonderer Beziehungen, vielleicht auch auf Grund der obenerwähnten Eigenschaft für den Taler einen Baum, der für jede aufgewandte Mark je einen Meter lang war, trug ihn ins Sitzungszimmer und ließ sich gegen besondere Vergütung herbei, ihn aus eigenem Vorrat mit dem landesüblichen Schmuckwerk zu behängen; während der alte Richter es sich nicht nehmen ließ, mit Ernst und Ingrimm selbst die Kerzen daran zu befestigen – was gewissermaßen eine sinnbildliche Handlung war. Sämtlichen Parteien aber, die bei der Kammer Ehescheidungsprozesse laufen hatten, 117 war inzwischen durch die Gerichtsschreiberei eine Vorladung zum Sühnetermin auf den 23. Dezember, vormittags zehn Uhr, zugestellt worden.

Wenn nun zur angegebenen Zeit vor der Tür des Sitzungszimmers die Streitparteien eingetroffen waren und, streng nach Geschlechtern getrennt, feindselige Blicke tauschten, wobei die geschäftigen Anwälte wie Hechte im Karpfenteich dazwischen herumschossen, erschien Herr Thieß an der Tür und begann, die lange Liste der Geladenen mit markiger Stimme herunterzulesen: »Endruscheit gegen Endruscheit; Häberle gegen Häberle; Katenkamp gegen Katenkamp; Meyer gegen Meyer; Müller gegen Müller; Stelljes gegen Stelljes«; und so weiter. Dann beförderte er die zögernden Paare mit Energie in das Sitzungszimmer und wachte unnachsichtlich darüber, daß die Geschlechtertrennung aufgehoben und die zerfallenen Ehehälften auf den Bänken zwangsweise zusammengefügt wurden. Der Tannenbaum bestrahlte die betroffenen Gesichter mit verklärendem Lichterglanz; der alte Richter aber saß bereits an seinem Platze, rückte sein Barett zurecht und sagte mit gebieterischer Handbewegung: »Meine Herren Anwälte, setzen Sie sich da drüben hin und halten Sie den Mund! Heute rede ich.«

Und er redete mit Menschen- und mit Engelszungen. Er hielt eine Festpredigt, wie sie in keinem Buche steht. Er schmiedete aus dem Sinn des Festes der Liebe, aus dem Gedanken der Ehegemeinschaft und dem Geiste des Rechts ein Ganzes, das kein Rechtsgelehrter, ob christlichen oder mosaischen Ursprungs beziehungsweise 118 Glaubens, wieder auseinanderbeweisen konnte. Er beschwor die Segnungen eines einträchtigen irdischen Wandels, die Freuden des Paradieses und die Unannehmlichkeiten der Hölle. Er pries die Harmonie der Seelen und verwarf die vergängliche Lust des Fleisches. Er wies darauf hin, wie häßlich es sei, wenn der Mensch scheiden müsse, was Gott zusammengefügt habe. Er sprach vom Jüngsten Tag, von schwarzen und weißen Schafen, von hochschlagenden Elternherzen und glänzenden Kinderaugen. Er vermaß sich, dahin zu wirken, daß die Eltern der Anwesenden vor Kummer dahinsiechen oder sich im Grabe umdrehen würden, und ließ die Tränen der am Heiligen Abend vereinsamten Kinder durch seine Rede rinnen. Er knetete die Herzen und hämmerte auf die Gemüter, er streichelte die Willigen und geißelte die Verstockten. Dabei entging es ihm keineswegs, wem von den Hörern eine männliche Träne ins Auge trat oder eine weibliche über die Wange kollerte, und welche Paare durch schüchtern zusammengefügte Hände einen erfolgreichen Ausgang des Sühneversuchs ankündigten.

Wenn dann die durch diese Predigt Bekehrten hervortraten und ihren Willen zur Zurückziehung der Klage und zur Wiederherstellung der Ehegemeinschaft bekundeten, traf den Anwalt, der etwa mit gezückter Aktenmappe und juristischen Gründen nahte und sich einmischen wollte, aus den funkelnden Brillengläsern des alten Richters ein so grimmiger Blick, daß er sich entsetzt zurückzog und abseits seine Kostenrechnung bedachte. Die Verstockten und Unversöhnlichen aber 119 drückten sich, streng nach Geschlechtern getrennt, still hinaus und kamen sich bodenlos verworfen vor.

Nach einer solchen Sitzung machte sich einmal ein junger Referendar, der dem Vorgang zum ersten Male und mit Verwunderung beigewohnt hatte, an den alten Richter heran und fragte ehrerbietig, welchen Erfolg das bemerkenswerte Verfahren durchschnittlich zeitige. Der alte Herr war eben dabei, die Kerzen des Baumes sozusagen eigenmündig auszublasen, was gewissermaßen eine sinnbildliche Handlung war; er kletterte mit Unterstützung des Referendars auf einen Stuhl, um auch das Spitzenlicht erreichen zu können, kam etwas kurzatmig wieder herab und sagte: »33⅓ Prozent«. Als nun der Referendar mit einigen begeisterten Worten seine Bewunderung für diese wahrhaft menschenfreundliche Methode äußerte, strich sich der alte Herr bedachtsam den in Ehren ergrauten Bart, wobei die Gläser seiner Brille wie von heimlichem Lächeln funkelten, und sprach:

»Lieber junger Freund, Sie sind Idealist, und ich bin es auch. Außerdem tut man, was man kann. Aber man soll keinen Idealismus ohne praktische Grundlage treiben. Lassen Sie sich von Herrn Thieß die Akten der letzten drei Jahre geben und stellen Sie selbst Ihre Berechnungen an. Vergessen Sie aber nicht, dabei zu berücksichtigen, daß nach meinen Erfahrungen von den ⅓ Prozent, die sich versöhnen, 66⅔ Prozent im nächsten Jahre wiederkommen. – Und sagen Sie, bitte, auch gleich Herrn Thieß, daß er sich den Baum abholen kann; er verwendet ihn für sich.« 120

 

Die tückischen Tuben

Eine Anekdote von der Kunstbetrachtung

Diese Geschichte handelt von einem prächtigen Schulmanne, der im Dienste eines großen norddeutschen Stadtblattes viele Jahrzehnte lang zwar nebenamtlich, aber nachdrücklich und mit tiefem Ernst das Richteramt über das städtische Schauspiel ausübte: lang, hager, gutherzig, beseelt von einer Liebhaberei für freiheitlichen Fortschritt, die vor Jahren als revolutionärer Zug viel Beachtung fand, dann aber von der sogenannten Zeitströmung eingeholt wurde und so sich zu führender Autorität festigen konnte. Hier blieb sie nun freilich stehen und entwickelte sich zu einer bürgerlich konservativen Grundlage, wohl geeignet, eine tüchtige und mit anscheinend zuverlässigen Gewichten ausgestattete Waage daraus zu erbauen, auf der man die Erscheinungen der Kunst gerecht, unbestechlich und mit der Gründlichkeit des erfahrenen Schulmannes dem Publikum vorwiegen konnte. Als daher eines Winters jener prächtige Pädagoge aus irgendeinem technischen Grunde veranlaßt wurde, hier und da auch die Oper der städtischen Bühne amtlich wertend zu besuchen, trug er kein Bedenken, sich auch dieses ihm neuen Gebietes mit Ernst und richterlichem Eifer anzunehmen.

Es begab sich also der prächtige Gelehrte zu einer 121 Aufführung der Oper »Tannhäuser« ins Theater, lauschte mit Aufmerksamkeit und verfaßte hernach in seinem Studierzimmer eine Kritik, die den Niederschlag eines ansehnlichen musikgeschichtlichen Wissens enthielt und die Leistungen des Abends in einwandfreiem und geschickt mit Fachausdrücken aufgeputztem Kritikerdeutsch teils besonnen lobte, teils maßvoll bemängelte. Man wird es begreiflich finden, daß er sich für diese unanfechtbare Bewältigung seiner Aufgabe selbst ein treffliches Zeugnis ausstellte, und wir können dieses Zeugnis bedenkenlos unterschreiben, da in der Tat niemand dem musikgeschichtlichen Wissen sein geringes Alter und den Fachausdrücken die kompilatorische Herkunft aus guten Nachschlagewerken anmerkte. Dagegen muß es uns bedenklich stimmen, daß am Tage nach dem Erscheinen der Besprechung unser Kritiker durch den Kapellmeister auf gewisse Mängel in der instrumentalen Ausstattung des Orchesters hingewiesen wurde; denn damit zog man ihn auf das dreifach geglättete Glatteis der Theaterpolitik. Es sei zu bedauern, sagte der Kapellmeister, daß trotz aller Mühe von der regierungsseitigen Verwaltungsbehörde des Stadttheaters noch immer nicht die Mittel für die so dringend nötige Verstärkung des Orchesters durch Tuben und die Einstellung von Tubabläsern zu erwirken gewesen seien; und der Herr Professor würde sich durch einen öffentlichen Hinweis auf diesen Mangel, der besonders bei der Herausarbeitung des Pilgerchores sich fühlbar gemacht habe, ein großes Verdienst um die künstlerische Entwicklung des Theaters erwerben.

122 Der prächtige Schulmann ergriff mit Freuden die Gelegenheit, seine Feder vorwärtsbewegend in die Speichen des Thespiskarrens zu stemmen. Er ließ sich nicht die Mühe verdrießen, bald darauf der nächsten »Tannhäuser«-Aufführung anzuwohnen und ihre Vorzüge noch einmal zusammenfassend in der Zeitung hervorzuheben; doch richtete er an die Theaterdeputation der Regierung die ernste Mahnung, das Orchester nun endlich reicher und kunstwürdiger auszustatten und zum Nutzen der Klangwirkung die oft angeforderten und schmerzlich vermißten Tuben nebst dazugehörigen Bläsern anzuschaffen.

Am Tage nach dieser Veröffentlichung begegnete ihm der Intendant auf der Straße, bedankte sich in herzlichen Worten für die gute Absicht, sah sich aber zu der Mitteilung gezwungen, daß in der Zeit zwischen den beiden Aufführungen zwei Tuben angeschafft und vorgestern abend erstmals verwandt worden seien.

In dem prächtigen Schulmanne keimte nun doch das Empfinden, daß er in dieser Angelegenheit irgendwie in feindliche Fühlung mit einem für Bühnenfragen zuständigen Abgesandten der Hölle geraten war. Doch gehörte er zu jenen vom Glauben an die eigene Autorität erfüllten Leuten, die nach berühmtem Vorbilde den Inhalt ihres Tintenfasses für ein ausreichendes Mittel zur Bekämpfung eines solchen Teufels halten; mithin war er entschlossen, mannhaft zu siegen, und wenn das ganze Theater voll Teufel wär'. Also wartete er bis zur dritten »Tannhäuser«-Aufführung und verfaßte hernach in seinem Studierzimmer eine Notiz: Zu seiner 123 Freude habe man sich seiner Forderung nach besserer Ausstattung des Orchesters nicht verschlossen und inzwischen zwei Tuben nebst dazugehörigen Bläsern angeschafft; er habe Gelegenheit genommen, sich vom künstlerischen Wert dieser Neuerwerbung zu überzeugen und sei besonders ergriffen von der so erzielten feierlichen Klangschönheit des Pilgerchores.

Am Tage nach dieser Veröffentlichung begegnete ihm der Intendant im Wandelgange des Theaters, bedankte sich in feingewählten Worten für diesen erneuten Beweis pfleglicher Kunstförderung, sah sich aber zu der Mitteilung gezwungen, daß die beiden nagelneuen Tubabläser mit einer bei Theaterangestellten sonst leider recht seltenen Einmütigkeit von der Grippe befallen seien, so daß die beiden Instrumente bei der letzten Aufführung hätten ausfallen müssen. Er begleitete diese Mitteilung mit einem nachdenklichen Diplomatenlächeln, das von gereifter Erfahrung im Umgang mit dem für Bühnenfragen zuständigen Abgesandten der Hölle zeugte, und empfahl sich. Der prächtige Schulmann aber blieb zurück mit dem fatalen und ihm in dieser Art seit dem Staatsexamen gänzlich unbekannten Gefühl, daß der schöne rote Plüschbelag des Bodens sich in eine Gleitbahn verwandelt habe, die ihm mit großer Geschwindigkeit unter den Füßen wegrutschte; und er richtete einen Blick voll stummer Bitterkeit auf den biederen und sichtlich durch keinen Teufelsschabernack beunruhigten Theaterdiener, der eben die Vorankündigung der vierten »Tannhäuser«-Aufführung im Aushangrahmen befestigte. 124

 

Geräuschloses Drama in der Straßenbahn

Die alte Dame erklimmt am Bremer Hauptbahnhof den Straßenbahnwagen und läßt sich, kräftig und irgendwie martialisch den Atem ausblasend, auf das Polster sinken – das ihr von der Natur vorsorglich verliehene Polster; denn der Sitz hat keines. Sie bringt ihre überall gleichmäßig und sicherlich in liebevoller Pflege gerundete Körperlichkeit in eine bequeme und für eine längere Fahrt geeignete Sitzlage, mustert mit sehr blauen und scharfen, etwas vorquellenden Augen kurz und streng ihre Umgebung, findet nichts Wesentliches zu bemängeln und blickt majestätisch ins Leere. Als ihr der Schaffner dienstlich naht, eröffnet sie ihm mit tiefer, starker, auf ihrem ganzen Entstehungswege sorgsam eingefetteter Stimme, sie wolle zum Sankt Josefstift, um einen Krankenbesuch zu machen; da sie in Bremen fremd sei, so wünsche sie – hier schwingt in ihrem Stimmklang eine unmißverständliche Drohung mit – rechtzeitig zum Aussteigen veranlaßt zu werden. Über den Fahrpreis belehrt, entnimmt sie ihrer geräuschvoll aufgeknipsten Handtasche eine Dose Veilchenpastillen, fünf alte Fahrscheine der Magdeburger Straßenbahn, einen vorjährigen Taschenkalender, einen Gepäckschein, einen Groschen, vier einzelne Pfennige 125 und drei Fünfpfennigstücke; breitet alles auf ihrem Schoß aus; befördert die nicht benötigten Gegenstände wieder in die Tasche; überläßt es dem Schaffner, die Münzensammlung um den Tarifbetrag zu vermindern; birgt Überschuß und Fahrschein in der sodann geräuschvoll zugeknipsten Handtasche, über der sie ihre fleischig-faltigen, mit vielen Ringen geschmückten Hände faltet. Sie hat damit ihren Anteil an der Beförderung zum Fahrtziel erledigt. Ihr Gesicht erstarrt zur machtvoll ausdruckslosen Imperatorenmaske. Ihr Blick geht streng und unnahbar ins Leere.

Der überaus hagere Herr, neben dem die alte Dame Platz – oder man muß wohl sagen: Plätze genommen hat, ist bei ihrem Niedersinken plötzlich in die Welt zurückgekehrt. Er weilte in einem Nirvana des Trübsinns. Seine hoffnungsbar absackenden Mundfalten, seine dunklen Augen – zwei unergründliche Weiher aus ungeweinten Tränen –, seine schlaff auf der Sitzbank hängenden Gliedmaßen beweisen es. Er wendet der alten Dame aus keinem anderen Grunde seine Aufmerksamkeit zu, als weil er in ihrem von ihm vorgeahnten Ergehen eine neue Bestätigung für seine bittere Erfahrung wittert, daß alles menschliche Beginnen von der Tragik der Erfolglosigkeit überschattet sei. Leicht könnte er jetzt einen beträchtlichen Teil seiner Fahrt durch sanfte und hier ganz unauffällige Anlehnung an die schwellende Polsterung seiner Nachbarin angenehmer gestalten. Aber das tut er nicht; er rückt sogar eckig und spartanisch von ihr weg. Er meidet alles, was seiner einsamen Trauer die Härte nehmen 126 könnte. Er leidet namenlos unter seiner Schicksalserkenntnis; aber er will leiden. Gierig saugt er alles in sich ein, was seiner bloßgelegten Seele Schmerz bereitet. Sein dunkler Blick streift die alte Dame. Armer Mitmensch, sagt der Blick: In selig-unseliger Ahnungslosigkeit fährst du durch eine fremde Stadt deinem Geschick entgegen. Wie grausam wird dein Erwachen sein, wenn du erkennst, daß dein Vertrauen in die Zuverlässigkeit Anderer und die amtlich behütete Zielsicherheit deines Weges – oder deiner Fahrt – grausam enttäuscht worden ist. Wo wirst du enden?

Die alte Dame ahnt nichts von der neben ihr erlittenen wollüstigen Folter. Ihr ist überhaupt der ganze Beförderungsvorgang völlig nebensächlich. Sie ist davon überzeugt, daß die Macht ihrer Persönlichkeit durchaus genügt, um eine reibungslose Abwicklung solcher Belanglosigkeiten zu gewährleisten. Der Schaffner, müde vom langen Dienst, lehnt an der Tür; er hat, da seit einiger Zeit weder Ab- noch Zugang zu verzeichnen war, nun schon zweimal die Ausrufung der Haltestellen versäumt. In dem hageren Herrn aber wächst mit der Annäherung an das Josefstift die qualvolle Spannung – und mit ihr die genießerische Vorstellung von der Größe des bevorstehenden Unheils. Es wäre ihm ein Leichtes, die Katastrophe durch ein aufklärendes Wort abzuwenden; aber er spricht dieses Wort nicht – er denkt nicht einmal daran, es zu sprechen. Er hat es sich längst abgewöhnt, den Mächten der Finsternis mit seinen schwachen Menschenhänden in den Arm fallen zu wollen. Die alte Dame wird zu weit 127 fahren; sie wird – ihr Aussehen verheißt es – sich erregen und durch Scheltreden, mit denen sie den Schaffner überschüttet, mit Beschimpfungen und Beschwerden eine disziplinarische Lawine ins Rollen bringen. Der Mensch, den sie im Krankenhause besuchen will, wird inzwischen vielleicht, den brechenden Blick auf die immer noch leere Türfüllung gerichtet, einsam sterben. Vielleicht wird sogar die alte Dame selbst im Zorn den Gefahren ihrer Statur vorzeitig und schlagflüssig erliegen. Auf das Haupt des Schaffners wird die Verantwortung fallen. Aber dann wird er, der hagere Herr, vor die Schranken des Gerichtes treten und bekennerisch dafür zeugen, daß der wackere Mann nur das schuldlose Werkzeug des Fatums war – daß hier wieder einmal die grausame Moira ein kleines Menschenglück – oder vielmehr deren zwei – mit blindem Schlag zertrümmert hat. So macht sie es ja immer.

Hier nun indessen geschieht etwas. Der Mann, der auf der vorderen Plattform die bewegende Kurbel dreht, muß vor einem plötzlich auftauchenden Hindernis bremsen. Ein grober Stoß erschüttert den Wagen. Der Schaffner stolpert vornüber, besinnt sich auf seine Obliegenheiten und erinnert sich der alten Dame. »Josefstift«, sagt er. »Nu müssen Sie raus.« Und er greift zum Klingelriemen.

Die alte Dame nimmt die Mitteilung zur Kenntnis. Nicht mit Überraschung, nicht mit Dankbarkeit – nein, mit der herben Gelassenheit, mit der man Selbstverständliches beiläufig verzeichnet. Mit starken 128 Wellenbewegungen, nicht mühelos, aber unbändig energisch windet sie sich vom Sitz empor und kehrt sich dem Ausgang zu. Der hagere Herr aber ist einen Augenblick fassungslos. Eine unbegreifliche Schicksalslaune hat mit diesem groben Stoß sein Weltbild erschüttert und ihn um eine schon gesicherte Tragödie, einen ihm von Rechts wegen zustehenden Schmerz betrogen. Empörung züngelt in ihm auf. Aber sie wandelt sich rasch in verzeihende und verzichtende Güte. Seine Augen glänzen feuchter denn je – sie verschwimmen in jäher Rührung. Seine lange knochige Hand streckt sich aus und legt sich für Sekundendauer ganz leicht, ganz zart, beschützerisch, abschiednehmend und mit sozusagen sinnbildlich wegschiebendem Druck auf die stark gewölbte rückwärtige Leibesmitte der alten Dame. (Sie bemerkt es – wir müssen sagen: glücklicherweise – nicht.) Zieh hin, so sagt die Bewegung – zieh hin, Mitmensch, in selig-unseliger Ahnungslosigkeit. Es ist gut für dich, daß du nicht weißt, wie nah du am Abgrund standest. Eine unfaßliche Schicksalslaune hat dich noch einmal begnadigt. Bald – wie bald wird sie dich um so erbarmungsloser treffen. Mein brüderliches Gefühl geleitet dich.

Die alte Dame ist fort. Der Schaffner klingelt ab. Der hagere Herr, erlebnisgesättigt, versinkt wieder im Nirvana des Trübsinns. Drei Schicksalswege, die sich trafen und für eine kurze Spanne bedrohlich verflochten, trennen sich für immer. Die Fahrt geht weiter.

 


 


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