Karl Lerbs
Der lachende Roland - 2. Band
Karl Lerbs

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Nochmals von großen und kleinen Bürgern
sowie von Onkeln und Tanten

Mundartliches Kurzdrama

»Aline is'n Himphamp«, sagte Tante Doris. »Wo die wohl ümmer rumscheest? Gestern wollt ich'r mal hin. Ich pingel. Ich pingel nochmal – is da gar kein Pingel. Ich mach auf – is zu.« 12

 

Befremdliche Mundartprobe

Klug und nützlich ist es, zumal in entscheidungsvoller Zeit, dem Gespräch kundiger und erfahrener Männer zu lauschen. Infolgedessen hörte ich mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterhaltung der drei Herren zu, die spät abends den Rauchwagen der letzten nach Horn fahrenden Straßenbahn bestiegen, und deren Charakterköpfe in der ganzen bremischen Kaufmannschaft bekannt waren.

Der Erste schien unzufrieden. »Warum hat er nich die Zähne gespült?« fragte er.

»Das konnt' er dscha nich«, sagte der Zweite. »Er hatte dscha keine.«

»Nee«, sagte der Dritte. »Die hatte ich dscha, und ich wollte se mir dscha natürlich nich rausziehn lassen.«

»Zo«, sagte der Erste. »No, denn war er dscha auf dscheden Fall kaputt.«

Bevor mich das Befremden über die rätselhaften Vorgänge überwältigte, löste der Zweite die unerträgliche Spannung. »Ich spül in so'n Fall ümmer'n Solo«, sagte er.

Aufatmend stellte ich fest, daß der abwesende Vierte nicht das Opfer eines Körperschadens, sondern das des Skatspiels und der bremischen Mundart geworden war: das Schicksal hatte es ihm nicht vergönnt, die Zehn zu spielen – – 13

 

Als weitere Mundartprobe:

Gespräch über eine Dritte

(Schauplatz: die Straßenbahn)

»– – Sie is dscha en altes übles Postür. Ich kann ihr nich aufs Fell kucken. In die ihre Wohnung is gar kein Grund mehr reinzukriegen. Obenauf alles Samt un Seide, aber unnerkucken darf'n nich. Mein Mann, der sagt: ›Oben fix un unnen nix.‹ Ich sag: ›Wo weißt du denn von, wie sie unnerzu aussieht?‹ ›Das will ich auch gar nich wissen‹, sagt er. ›Ich weiß all Bescheid, wenn ich die Ohrbommeln mit die dicken falschen Brülldschanten seh.‹ Abers sonsten hab ich nix gegen ihr. Ihren Mann, den hat sie dscha rührend zu Tode gepflegt.« 14

 

Gütige Vorsehung

Frau Emmeline Schiewelbein, eine starke und lebhafte Anwohnerin der Pagentornerstraße, sagte:

»Für meine Kinner is es am Enne ganz gut, daß ich gar keine habe. Ich komme dscha immer gleich so in Rasche – die kriegten den ganzen Tag fixweg welche hintenvor.« 15

 

Konsul David

Als Lamartine – Alphonse Marie Louis Prat de Lamartine, Dichter, Lebenskünstler, Kapitalist, Volksbeglücker und Politiker, mit einem Wort: Franzose – im Jahre 1848 für kurze Zeit französischer Außenminister war, erhielt er eines Tages zu seinem Staunen die Mitteilung, daß auf seine Empfehlung hin ein Herr David zum Konsul Frankreichs in Bremen ernannt worden sei. Aber Herr David hatte seine Bestallung nicht abgeholt; er war überhaupt nicht zu finden; die Kanzlei des Ministeriums war verzweifelt und bat um Anweisungen. Lamartine grübelte. Er kannte viele Herren mit orientalischen Namen, aber ein David war nicht darunter. Niemand kannte ihn. Nach langem Suchen und Forschen fand sich endlich ein Aktenbogen, auf dem, zweifelsfrei von Lamartines Hand, der Name »David« stand. Nun klärte sich die Sache. Während der Minister Lamartine, bedrängt von Amtsgeschäften, bestürmt von Postenjägern, die Namen der Bewerber um die neuen Staatspfründen vormerkte, war dem Dichter Lamartine eine plötzliche Erleuchtung gekommen, die ihm den alttestamentarischen Judenkönig David als geeigneten Stoff empfahl; und er hatte sich zur Stärkung seines Gedächtnisses das Stichwort »David« aufgeschrieben. Das Blatt 16 geriet unter die Aktenbogen, auf denen die Namen seiner Kandidaten standen – und damit in das demokratische Schnellverfahren, das ihnen allen die angestrebten Posten in Bausch und Bogen bewilligte. Alle kamen zum Erntefest. David, dem bei der Restverteilung das Konsulat in Bremen zugefallen war, konnte nicht kommen.

Aber er war nun einmal vorhanden, er war amtlich existent geworden, und er war Konsul in Bremen. Es blieb nichts anderes übrig, als sein aktenmäßig geschaffenes Dasein in gehöriger Form wieder zu beenden.

Das geschah. In der nächsten Ausgabe des »Moniteur« stand zu lesen, daß »M. David, Consul Français à Brême«, verstorben sei. 17

 

Fremdenführung

Als Konsul Petri seinem Geschäftsfreund von auswärts Bremen zeigen wollte, lotste er ihn zunächst ohne jede Mühe in den Ratskeller. Nach mehrstündigem gründlichen Studium lotste er ihn nicht ganz ohne Mühe wieder heraus, nahm mit ihm am Roland Aufstellung, machte die Position aus und erläuterte seinem Gast die Besonderheiten des Stadtbildes.

»Tschä, kuck«, sagte er, »da steht denn dscha nu das Rathaus, wo wir eben unter waren, un da drüben da steht denn dscha der Dom. Wenn das Rathaus nich da stände, wo es steht, denn stände da wohl der Dom, un wo dschetz der Dom steht, da stände denn wohl das Rathaus. Aber das is dscha wohl egal.« 18

 

Begegnung zweier Bremer

Johann E. Petri und Konrad Soltmeyer begegneten einander unversehens in Schanghai auf der King Edward Road. Petri befand sich auf einer ostasiatischen Geschäftsreise; Soltmeyer vertrat seit zwölf Jahren die väterliche Firma in Schanghai als Leiter ihres Zweighauses. Die beiden Herren, einstige Schulkameraden, hatten einander seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Sie zeigten bei der Begegnung – beide hatten es eilig – keine Überraschung. Man reist geschäftlich durch die Welt; man sitzt auf Ceylon oder in Pernambuco; aber man bleibt in Bremen ansässig und wird da eines Tages im Ratskeller wieder am gleichen Tisch sitzen. Zwischendurch kann man sich natürlich mal irgendwo treffen.

Als sie einander erkannten, hoben beide zu einer kurzen grüßenden Winkbewegung die Hand.

»Petri.«

»Soltmeyer.«

»' geht's?«

»Muscha.« (Kurzform für »es muß ja«. Bedeutet die tapfere Erkenntnis, daß man sich mit dem von Fall zu Fall gegebenen Befinden bestens abzufinden hat.)

»Mach's gut.«

»Mein's auch so.«

Hierauf hoben beide zu einer kurzen grüßenden Winkbewegung die Hand und entfernten sich in der jeweils vorher beabsichtigten Richtung. 19

 

Ein großer Mann – ganz privat

H. H. Meier, der große H. H. Meier, der Begründer des Norddeutschen Lloyd, hatte, während er von seinem Kontor aus nach weltweiten Zielen griff und aus dem engen Bezirk seiner Vaterstadt mit kühner und kühl rechnender Planung das Netz der Schiffahrtslinien über die Erdteile warf, sein patrizisches Hauswesen ganz der umsichtig und nachdrücklich wirkenden Tatkraft seiner Frau unterstellt. Behaglich, heiter, fürsorglich und verständnisvoll ordnete er sich ein und, wenn es der Harmonie dienlich schien, unter.

Da er nun die etwas sorglose Gewohnheit hatte, am Frühstückstisch zuweilen bei der Zerlegung und Vertilgung jener knusprigen runden Backware, die der Bremer »Zwiebäcke« nennt, zu »krümeln«, und da seine Frau die Spuren dieser Unachtsamkeit nicht auf dem guten Teppich haben wollte, war es Brauch geworden, unter seinen Stuhl jeden Morgen eine Matte zu legen, von der sich das etwaige Ärgernis leicht entfernen ließ.

Als er nun eines Morgens aus irgendeinem Grunde früher als sonst und daher allein gefrühstückt hatte, entdeckte er beim Fortgehen, daß die Matte fehlte. Besorgt schüttelte er den Kopf. Die Folgen dieser Regelwidrigkeit mußten abgewendet werden. Er rief den altersgrauen dienstbaren Hausgeist herbei.

»Minchen«, sagte er, »leg doch schnell noch eine Matte hin, bevor meine Frau runterkommt. Und streu 'er auch'n paar Krümeln auf, sonst glaubt sie es nich.« 20

 

Der Seitensprung

»Antjen«, sagte Tante Betty zu meiner Großmutter und ließ sich fassungslos in das grüne Samtsofa sinken, »Antjen, ich glaub, die Welt, die geht dscha wohl unter. Nu bün ich bald vierzig Dschahre mit meinem Gerd verheiratet, und nie hab ich'r Last mit gehabt, kein ein Mal. Und nu komm ich'r hinter, daß er – och, Antjen, daß er mich betrügt.«

»Betty«, sagte meine Großmutter, die eine gelassene und sachlich denkende Frau war, »das trau ich Gerd nich zu. Nich, daß er nich mal auf so was käme; die Männer sollen dscha wohl so sein. Aber so viel Kurasche hat der nich.«

»Doch, Antjen«, beharrte Tante Betty kopfschüttelnd. »Er is'n Heimlicher. Ich bin'r hintergekommen, daß er sich inner Langenstraße en Zimmer gemietet hat. Da schweift er in aus. Da trifft er sich mit so'ne – mit solche – no, eben mit Mädschen, die so was tun.«

»Kuck an«, sagte meine Großmutter und lächelte unverhohlen, »was doch manchmal in so'n Menschen insteckt. No, denn mußt du mal sehen, daß du 'er mal auf zukömmst, wenn er grade bei so'n Flagranti is. Und denn kann er mir dscha leid tun.«

21 Drei Tage später kam Tante Betty abermals – erschüttert, tief beschämt, tränenden Auges. »Antjen«, sagte sie, »mein Zeit, was hab ich meinem armen guten Gerd unrecht getan! Ich will'r nu aber auch besser gegen sein. Heute Morgen bün ich denn dscha hinter ihm her, und das war garnich so einfach, weil er sich ümmerzu umkuckte. No, er geht denn dscha in so 'n Geschäftshaus inner Langenstraße rein, und ich schleich mich hinterher, und nach 'ner Zeit reiß ich die Tür von dem Zimmer auf, wo er in sein mußte. Och, Antjen, und da seh ich – –«

»No, nu komm'r doch endlich mit über«, sagte meine Großmutter in begreiflicher Spannung.

»– – und da seh ich, daß in dem Zimmer weiter nix in is als 'n Tisch und 'n Stuhl. Auf dem Tisch war weiter nix auf, und auf dem Stuhl saß mein Gerd und rauchte 'ne Zigarre. ›Vadder –!‹ sag ich. ›Tschä, Mudder‹, sagt er, ›nu weißt du es dscha‹, und nu sag'r zu, was du sagen mußt. Auf'r Straße schmeckt es mir nich, und in Lokale sitz ich nich gern, weil ich das garnich mehr gewohnt bün, und sagen mocht ich nix. Da hab' ich mir'n Zimmer genommen, wo ich in Ruhe meine Zigarre rauchen kann. Zu Hause darf ich es dscha nich.‹« 22

 

Die hohle Stufe

Der weißbärtige alte Senator E., ein kluger und verdienstvoller Mann, dessen Hang zu puritanisch strenger Wirtschaftlichkeit in seinem nichtamtlichen Daheim zuweilen zum Geiz ausartete, ließ sich den Maurermeister Behnken kommen, um mit ihm Rat zu pflegen.

»Meister«, sagte er, »kucken Sie sich mal die Sandsteinstufe vor meiner Haustür an: die is all ganz hohl.«

»Das kömmt, weil daß da so viele Menschen auf treten«, sagte Meister Behnken nach sachverständiger Prüfung.

»Das hab ich mir auch all gedacht«, versetzte Senator E. nicht ganz ohne Ironie. »Nu mein ich: Wenn Sie da nu 'ne neue hinlegten – was könnte das wohl netto kosten?«

Meister Behnken zog einen Zollstock hervor, maß die Stufe aus, schob seinen Priem von Backbord nach Steuerbord, malte mit dem gipsbedeckten dicken Zeigefinger ein paar Zahlen in die Luft, seufzte und sprach: »Tschä, Herr Senoter, das käme denn wohl auf sechs Talers zu stehn.«

»Nee«, sagte Senator E. entschieden. »Nee. Denn will ich Ihnen was sagen: denn graben Sie die alte Stufe einfach aus und drehen se um.«

»Das geht nich, Herr Senoter«, antwortete Meister Behnken. »Das geht pattuh nich. Un warum geht das nich? Weil daß Ihr Vadder auch all so schlau gewesen is.« 23

 

Großvater an der Börse

Der Zylinder

Das Tragen jenes hohen Seidenhutes, den man Zylinder nennt, und der heutzutage im Leben eigentlich nur noch bei Hochzeiten und Beerdigungen und beim Film und auf dem Theater in den Komödienabenteuern einer ziemlich ausgestorbenen Lebewelt zu sehen ist, war in patriarchalischen Zeiten an der bremischen Börse nur den selbständigen Großkaufleuten gestattet. Den Maklern war es durch ein ungeschriebenes Gesetz selbst dann untersagt, wenn sie auf eigene Rechnung sogenannte »Propregeschäfte« machten. Mein Großvater, lange Jahre hindurch der Senior der Großhandelsbörse, hielt mit Strenge auf die Wahrung dieser überlieferten Ordnung.

Als nun ein angesehener Makler, durch geschäftliches Wohlergehen größenwahnsinnig geworden, sich eines Tages durch mehrfaches erfolgreiches Eindringen in den Großhandel berechtigt glaubte, zur Börsenstunde mit dem Zylinder zu erscheinen, trat mein Großvater vor ihn hin, musterte ihn mißbilligend von unten nach oben und sagte dann sehr vernehmlich:

»Finden Sie nich, daß Sie Ihre Propregeschäfte etwas überschätzen?«

Der also Gezüchtigte kehrte mit hängenden Ohren unter den ihm zustehenden Schlapphut zurück. 24

*

Vergleichsverfahren

Ein Lebensmittelgroßhändler, der im bremischen Handel als nicht übermäßig »solide« angesehen und mit Mißtrauen betrachtet wurde, rechtfertigte diese Beurteilung dadurch, daß er seinen Gläubigern eines Tages einen ziemlich faulen Vergleich anbot. Sie erhielten nach blutigen Kämpfen schließlich vierzig Prozent ihrer Forderungen. Daraufhin wurde der Mann auf ein Jahr vom Besuch der Börse ausgeschlossen.

Als er nach Ablauf dieser Frist, als Inhaber einer neugegründeten Firma sozusagen auferstanden, an der Börse erschien, brach mein Großvater seine eben geführte Verhandlung ab, bewegte sich auf ihn zu, nahm vor ihm Aufstellung und musterte ihn mit stummer langanhaltender Gründlichkeit. Es war nicht gerade behaglich, von den blauen Augen des weißbärtigen alten Herrn, dessen Ansprüche an den Kleidungsschnitt einen betagten Schneidermeister gelegentlich in die Lehrlingsjahre zurückversetzten, auf diese Art betrachtet zu werden.

»Warum sehen Sie mich so an?« fragte der Beaugenscheinigte schließlich nervös.

Mein Großvater lächelte. »Och, ich freu mich man bloß«, sagte er. »Sie sehen tatsächlich sechzig Prozent besser aus.« 25

 

Geschichten vom alten Sengstake

Not lehrt mischen

Mal hatten sie denn ja den alten Sengstake zu einer richtigen Lustfahrt auf der Segeljacht »Gesche Gottfried« eingeladen, und zuerst war es denn ja auch wunderschön. »Wetter wie Speck«, erzählte der alte Sengstake, »und überhaupt. Wie wir nu aber von Helgoland wieder auf'e Weser zu wollten, da kam en gräsiger Sturm, wie ich so einen gar nich für möglich gehalten hätte. Zueers war mir dscha fuchbar elend, abers das merkte ich bald gar nich mehr. Damens waren'er Gottlob nich mit bei; es sollte dscha 'ne Vergnügungsfahrt sein. So ging das nu zwei Tage, und mit dem alten Schiff war aber auch rein gar nix mehr in Ordnung. Ich versteh da nix von; aber steuern konnten sie nich mehr, und segeln konnten sie nich mehr, und wenn 'n aufstand, bumste man mit 'n Kopf gegen was gegen, und wo 'n hintrat, war es naß, und wo wir einklich waren, wußten sie auch nich. Fümf Tage trieben wir so rum, und der dschunge Hollwede, der sagte, wenn wir nu wieder zu Menschen kämen, denn wäre er doch dscha reineweg gespannt, ob es woll Negers oder Eskimos wären. Zu essen hatten wir dscha schließlich einklich kaum noch was, abers für 26 Getränke, da war bannig gut für gesorgt, und da hielten wir uns an. Dschungedi, was haben wir da für Mischungen ersunnen! Die schönste, die stammte aber denn dscha von mir. Da bin ich heute noch stolz auf. Die is so, is die, wenn Sie die'm toten Stint eingeben, denn schlägt er mit'm Schwanz und fängt an zu singen.«

»Und wo bestand die aus?« fragten sämtliche Zuhörer einstimmig.

»Aus dreividdel Rum und dreividdel Madeira«, antwortete der alte Sengstake.

 
Morgengespräche

Mal hatte sich der alte Sengstake denn ja auf einem abendlichen Spaziergang gründlich verspätet, und als er heimkam, sang er das (unverkürzte) Hanseatenlied, und es dämmerte schon, und es war halb fünf, und seine Frau saß im Bett und hatte rein verbiesterte Augen und jammerte:

»Heinerich, wo kömmst du denn her?! Wo büst du denn man bloß gewesen? Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan!«

Da sah der alte Sengstake sie schief an und knurrte: »Ich auch nich.«

*

27 Mal aber, als es ihm wieder so gegangen war, lag seine Frau friedlich in den Kissen und schlief. Der alte Sengstake indessen lief kein Risiko, wenn er es vermeiden konnte – weder geschäftlich noch privat. Er faßte seine Frau am Arm, schüttelte sie und sagte:

»Komm, Meta, wach auf und sprich dich rein aus, aber fix. Ich bin müde und will nach'n Bett hin.«

 
Himmel und Hölle

Mal aber kriegten sie es richtig mit dem Streiten, der alte Sengstake und seine Frau. Das war ein Jahr vor ihrer goldenen Hochzeit. Neunundvierzig Jahre lang war es immer gegangen – manchmal wunderschön, manchmal so eben hin, manchmal unter heftigen Witterungsschwankungen; aber gegangen war es immer. Als indessen jetzt der alte Sengstake sich nachdrücklich und stur gegen die von seiner Frau leidenschaftlich verlangte Anschaffung eines Staubsaugers wehrte, gab es einen Krach wie nie zuvor. Aus den örtlichen Kampfhandlungen um den Staubsauger entwickelte sich eine regelrechte Schlacht, bei der alle Meinungsverschiedenheiten aus fünf Jahrzehnten wieder hervorgeholt und als Angriffswaffen schweren Kalibers benutzt wurden. Wer die Beiden so hörte, der konnte wahrhaftig meinen, es nähme kein gutes Ende. Als sie nicht mehr zetern und er nicht mehr bullern konnte, fing Meta aus 28 angeborenem Instinkt zu weinen an, und der alte Sengstake stieß seine Brasil in den Aschbecher, daß sie sich zur Trompetenform erweiterte.

»Och, Heinerich«, schnuckte Meta, »nu willste mich hier weiter so'n in'n Dreck kleen lassen, un wenn'n dich nu so hört – damalen, als du'er so jieperig auf warst, daß du dich mit mir verloben wolltest, da hast du gesagt, du wolltest lieber mit mir inner Hölle als ohne mich im Himmel sein.«

»No dscha, siehste«, knurrte der alte Sengstake, »so is es denn dscha auch gekommen.« 29

 

Bescheidener Einwand

Der alte Meinefeld, der als stiller – sehr stiller – Teilhaber der Rohtabakfirma H. C. F. Soltmeyers Witwe u. Sohn seine Tage in einem riesigen Hause an der Kohlhökerstraße mit dem Genuß von Rotwein und Brasilzigarren verbrachte, hatte auf seinem Landsitz in Lesum zwei Witwen untergebracht, eine ältere und eine jüngere. Sie waren ihm von zweien seiner Gärtner als Vermächtnis sozusagen zu getreuen Händen hinterlassen; er ernährte, behauste und kleidete sie; jede von ihnen erhielt das gleiche »Taschengeld«; er behandelte sie, wenn er ihnen – selten – begegnete, streng unparteiisch mit herzhafter Barschheit. Zu Weihnachten und zu seinem Geburtstag zeigten sie sich ihm mit selbstgestrickten Strümpfen erkenntlich.

Als nun eines Tages eine von ihnen gestorben war, benutzte der für die üblichen Amtshandlungen zuständige Seelsorger die gute Gelegenheit, um dem alten Meinefeld seine Anerkennung für die betätigte selbstlose Wohltätigkeit auszusprechen.

»Och, das lassense man gut sein, Herr Pastohr«, sagte der alte Meinefeld kühl, »ich hab da nix mit im Sinn als reine Nächstenliebe und will mir da gar keine Hypotheken im Himmel mit anlegen. Aber weil Sie da nu grade mal von sprechen – gerecht is es nich.« 30

»Was ist nicht gerecht, Herr Meinefeld?« fragte der Seelsorger verwundert.

»Die Reihenfolge«, sagte der alte Herr verdrießlich. »Sie kosteten mich dscha beide dasselbe, und sie waren dscha ümmer ganz nett; und ich hab mir ümmer gesagt: Laß sie man ruhig leben, solange sie da auf ihre Weise Spaß an haben. Was sie brauchen, will ich da wohl gern für opfern. Aber wenn nu schon mal eine davon sterben mußte – ich meine: es sind schließlich dscha ümmerhin laufende Unkosten – und nu stirbt die Ältere zuerst!« 31

 

Die Erbschaft

Der alte Ordemann und der alte Wischhusen, erprobte Kaufleute und lebenslängliche Freunde, verkrachten sich eines Tages wegen einer sogenannten Differenz im Betrage von siebenundsechzig Mark und zwölf Pfennigen. Es kam nicht zum Prozeß, aber es kam zu einem Austausch bitterböser Geschäftsbriefe, zum Abbruch der gesellschaftlichen Beziehungen und zur Verfeindung der beiden Familien in allen Generationen. Der alte Wischhusen, vom alten Ordemann letzthin nur noch als »der alte Gaunert« bezeichnet, starb, ohne die Summe zu begleichen; mithin starb der alte Ordemann, ohne sie zu erhalten. Aber sie wurde nicht vergessen. Sie gebar mit bremischer Zähigkeit fortzeugend Böses.

Eine erhebliche Anzahl von Jahren danach wurde der Sohn des alten Wischhusen, immer noch, obzwar nicht mehr ganz mit Recht, der »junge Wischhusen« geheißen, auf das amerikanische Konsulat in Bremen gebeten. Man überreichte ihm ein aus Neuyork eingegangenes versiegeltes Schreiben, das, seiner Aufschrift zufolge, eine Mitteilung in einer Erbschaftssache enthielt. Wenn er, so wurde ihm bedeutet, es haben wolle, so müsse er dafür dem Neuyorker Anwaltsbüro für Auslagen und Vorschüsse die Summe von sechsundzwanzig Dollar erstatten.

32 Der junge Wischhusen, der ein leises Kribbeln in den Fingerspitzen spürte, erlegte den Betrag, erhielt den Brief, nahm ihn mit in sein Kontor, öffnete ihn mit gebührender Fassung und entnahm ihm ein notariell beglaubigtes Papier, auf dem zu lesen stand:

»Ich bestätige, als Vertreter der Erben meines Vaters, des verstorbenen Kaufmanns Eduard Ordemann, von Herrn Cornelius Wischhusen i. Fa. E. F. Wischhusen u. Sohn, Bremen, den Betrag von sechsundzwanzig Dollar, umgerechnet M 109,20, zum Ausgleich meiner Forderung im Betrage von M 67,12 zuzüglich Zinsen und Unkosten erhalten zu haben.

Neuyork, den 28. 2. 1904.

Eduard Ordemann.«

Die Geschichte hat keine erzählbare Fortsetzung. 33

 

Maßstäbe

Ein bremischer Maler, ein begabter, fleißiger, geschmackvoller Mann, dem das Schicksal zu seinen sonstigen schätzbaren Gaben noch die einer fruchtbaren Selbstkritik geschenkt hatte, bekam einmal den Auftrag, für eine Kirche seiner Vaterstadt ein neues großes Altargemälde zu schaffen. Als er die fertigen Tafeln aufgestellt hatte und sie mit kritisch zusammengekniffenen Augen, die kalte Pfeife zwischen den Zähnen, einer letzten und endgültigen Prüfung unterzog, erschien der Primarius der Kirche und betrachtete ebenfalls das beendete Werk: mild, weißbärtig, gütig lächelnd und mit der sanft betonten Nachsicht des in eine höhere Erkenntnissphäre gerückten Patriarchen.

»Eine vortreffliche Arbeit, mein lieber Freund«, sagte der Primarius sanft und strich sich mit der schönen gepflegten Hand den schönen weißen Bart. »Ein Werk voll Frömmigkeit und schlichter Demut. Und dennoch – ja, dennoch: Im letzten Jahre war es mir vergönnt, nach Spanien zu reisen und die Schöpfungen ihrer Großen zu sehen: Murillo, Velazquez – ah, das, mein Freund, sind Gestalten, das ist feurige Inbrunst, das ist begnadetes Genie. Was, so frage ich Sie, kann daneben bestehen?« 34

»Tja, Herr Pastohr«, versetzte der Maler und rieb sich, immer noch in angestrengte Betrachtung versenkt, mit dem Pfeifenstiel die Nase, »das geht dja wohl auf mich, und das is dja wohl so, aber das kommt immer auf den Maßstab an, und da soll man denn dja wohl die Kirche im Dorf lassen. Wenn man Sie zum Beispiel mal mit Luther vergleicht – was, so frage ich Sie, bleibt denn wohl von Ihnen übrig?«

Noch bevor er die Pfeife wieder zwischen die Zähne geklemmt hatte, war er allein. 35

 

Dankbarer Zuschauer

Ein alter bremischer Anwalt, der als überragender Fachmann für knifflige Erbschaftsstreitigkeiten galt, hatte in seiner Kanzlei einen Referendar, um ihn, dem ihm befreundeten Vater des jungen Herrn zuliebe, liebevoll und umsichtig auf die künftige Anwaltspraxis vorzubereiten. Der Referendar betätigte sich freilich einstweilen vorwiegend als dankbarer und sozusagen genießerischer Zuschauer.

Eines Tages übergab der alte Herr seinem Famulus eine dicke Akte, die einen besonders schwierigen Erbschaftsprozeß umschloß, und sagte: »Arbeiten Sie das mal durch und schreiben Sie mir auf ein besonderes Blatt Ihre Ansicht über den Fall.«

Am anderen Morgen fand der alte Anwalt die Akte säuberlich gebündelt wieder auf seinem Schreibtisch. Das gewünschte Blatt lag obenauf und enthielt, in der romantisch verschnörkelten Handschrift des Referendars, die zusammenfassende Anmerkung:

»Soll mich mal verlangen, was daraus wird.« 36

 

Geschichte vom Professorenschirm

Ursprünglich waren Professor Ahrens und Professor Behrens, der Altsprachler und der Naturwissenschaftler, eng befreundet gewesen; Generationen von Schülern der beiden nebeneinanderliegenden Lehranstalten, an denen die Herren wirkten, hatten sie allmorgens und allmittäglich in trauter Gemeinschaft ernsten Antlitzes und rundlichen Leibes heran und vondannen wandeln sehen. In brüderlicher Eintracht genossen sie die geistigen Freuden des jugendbildnerischen Gespräches und die leiblichen der Speisung und Tränkung. Eines Tages aber verkrachten sie sich, und ihre Freundschaft wandelte sich jäh zu bitterer Feindschaft und schwärendem Haß.

Als nun Professor Behrens eines Nachts, heimkehrend von einer überaus genußreichen Sitzung im Ratskeller und glühend von der beschwingenden Wirkung des Weines, an der Wohnung seines nunmehrigen Feindes vorüberkam, begab sich in ihm eine jähe Wallung. Er blieb stehen, und seine Brillengläser schossen im Mondlicht zornige Blitze. Alles, was sich in ihm an Wut und Empörung angesammelt hatte, ballte sich zu einem Knäuel und drängte gebieterisch nach Entladung. Das Zusammenwirken von Wein und Wut zeitigte in ihm den Drang, seiner Verachtung für Professor Ahrens einen zwar anonymen, aber nachdrücklichen und greifbaren Ausdruck zu geben. Es fügte sich, daß dieser Entschluß mit der Möglichkeit zu seiner Ausführung zusammentraf. Also begab sich Professor 37 Behrens in den Vorgarten, erwählte die Mitte des Rasenplatzes zum Ziel, verankerte sich dort und entäußerte sich eines – sagen wir: Gegenstandes, den er unter gewöhnlichen Umständen aller Dringlichkeit zum Trotz sicherlich in seine Wohnung mitgenommen haben würde. Hierauf begab er sich, seelisch wie körperlich gleichermaßen entspannt und von einem unklaren, aber wilden Triumphgefühl durchbraust, heim und zu Bett.

Als er am anderen Morgen etwas benommen und voll bohrenden Unbehagens am Kaffeetisch saß, erschien das Dienstmädchen seines Feindes, pflanzte sich vor ihm auf, grinste und sprach:

»En schönen Gruß von Herrn Professor Ahrens, un hier wär' Herrn Professor Behrens sein Schirm. Der hätte bei uns innen Rasen gesteckt. Der Name steht'r dscha in. Das Annere, das möchte Herr Professor sich doch bitte selbens wiederholen, wir könnten 'er nix mit machen.« 38

 

Haltung

»Das hättest du mir gar nich zu sagen brauchen, das weiß ich dja«, bemerkte der alte Konsul Wellerbrock, als sein Hausarzt ihm mit schonenden Worten andeutete, daß eine etwaige Wiederholung des Herzkrampfes unter Umständen wohl als nicht ganz unbedenklich angesehen werden müsse.

Am anderen Morgen fuhr Konsul Wellerbrocks schwarzer Zweispänner auf lautlosen Gummirädern, mit blitzenden Radspeichen und leise klingelndem Silbergeschirr, über die Schwachhauser Chaussee (damals hieß sie noch so) und bog in die Anfahrt zum Riensberger Friedhof ein. Der Kutscher Diedrich Busekist ließ die Pferde feierlich im Schritt gehen und hielt vor dem Friedhofsportal an. Konsul Wellerbrock, im schwarzen Rock, den spiegelnden Seidenhut auf dem Kopfe, lehnte sich leicht in die Polster zurück und sah sich mit gelassen wandernden Blicken alles an.

In diesem Augenblick trat einer seiner Geschäftsfreunde aus dem Tor und sagte aufmunternd:

»Na, Wellerbrock? Kleine Spazierfahrt?«

»Nein«, versetzte der Konsul und gab dem Kutscher das Zeichen zur Weiterfahrt. »Generalprobe.« 39

 

Der Zeuge

Als der Küper Hinrich Appel und der Gelbgießer Carsten Castens vor der Wirtschaft von Kohlmeyer eine Meinungsabweichung mit Fäusten und Gerätschaften klargemacht und einander dabei etlichen Sachschaden zugefügt hatten, nahm der Richter es mit der Klärung der Schuldfrage sehr genau. Es ergab sich, daß der Zimmermann Jan Rüskamp der einzige zuverlässige Zeuge war, und der Richter quetschte ihn aus, bis von Jan kaum noch etwas übrig war.

»Wie weit«, fragte der Richter schließlich, »standen Sie von den beiden entfernt, als sie sich prügelten?«

»Vier Meter un siebenzwanzigenhalben Zanktimeter«, war die prompte Antwort.

»Wie können Sie denn das so genau wissen?« staunte der Richter.

»Das hab' ich mit'n Zollstock ausgemessen«, versetzte Jan Rüskamp. »Ich hab' mich dscha gleich gedacht, daß mir da noch mal so'n alten Quakbüdel nach fragen täte.« 40

 

Der Diplomat

Als nach der Frühstückspause im Packhaus der Rohtabakfirma E. M. Lahmeyer & Co. die Ortsveränderung eines Kentuckyfasses vorgenommen werden sollte, erlitt der Küper Jan Entelmann auf nicht völlig aufgeklärte Weise Havarie in Gestalt eines Beinbruchs. Seine Überführung ins Krankenhaus begleitete er mit einem üppigen Aufwand an Redewendungen, die sogar seinen Kameraden einen Schauder nach dem anderen über die abgehärtete Haut jagten. Als sich die Tür des Krankenwagens hinter seinen Äußerungen geschlossen hatte, erbot sich der Küper Hinrich Tormählen, Entelmanns Frau von dem Vorfall zu benachrichtigen. »Ihr seid zu butt«, sagte er. »Das Diplomatorische, das habt ihr nich. Ich hab das.«

»Rosine«, sagte er eine halbe Stunde später zu Entelmanns Frau, »mit das menschliche Leben, da is das wie mit die Kantüffeln, die du da schälst. Einer hat 'ne dicke Schale, und der merkt'r nich viel von, un der annere, der hat 'ne dünne Schale, da geht das gleich durch. Was Jan is, der hat 'ne dicke Schale, un er hat'r nich viel von gemerkt. Abers er is dscha nu tot.«

41 »Rosine«, sagte er fünf Minuten später nach reichlicher Anwendung von Kartoffelwasser aus dem »Kump«, »nu komm man wieder bei. Es is dscha gar nich so schlimm, daß du da um in Ahmdahm fallen mußt. Jan hat dscha bloß 'n Bein gebrochen. Ich hab das dscha man bloß gesagt, weil daß ich meinte: Wenn sie hört, daß er'er so vongekommen is, was sie sich denn wohl freut!« 42

 

Carpe diem

Der Bremer ist arbeitsam. Seine Geschichte beweist es.

Immerhin will man wissen, daß unter jenen faustfesten, rauhen und biederen Männern, die im Staatsdienst umwälzende und langandauernde Buddeleien in den Straßen veranstalten, und deren ungefüge Beinbekleidungen zu Vergleichen für die Relativität des Irdischen benutzt werden (»egal as 'n Stratenmakerboren; de kann 'n vun vorn un vun achtern antrecken«) – daß unter diesen Männern – –

Aber erzählen wir lieber:

Man beobachtete drei von ihnen an einer in der ersten Entwicklung begriffenen Buddelstelle. Sie hatten die Fäuste in den wohnlichen Taschen vergraben, standen in monumentaler Reglosigkeit vor der Holzschranke, die den angefahrenen Sandhaufen vor Entwendung schützte, schwiegen aus Gewohnheit und Überzeugung und spuckten dann und wann zischend in den schönen weißen Wesersand.

Als dies zweieinhalb Stunden gewährt hatte, kam ein Vierter des Weges, nahm die Situation in sich auf und fragte überflüssigerweise:

»Abbeit't ihr nich?«

43 Zwei schwiegen; der dritte versetzte:

»Nee.«

»Was macht ihr denn?«

»Wir warten.«

»Wo wartet ihr denn auf?«

»Auf halb fümf.«

»Was is denn um halb fümf?«

»Feierabend.« 44

 

Güteversuch

Eine Frau Liesegang hatte sich über eine Frau Dröge geäußert und dabei die Grenzen überschritten, die das Gesetz für eine abfällige Stellungnahme zieht. Der Richter, dem die Aufgabe zufiel, einen Beleidigungsprozeß durch »Güteversuch« aufzufangen, gewann nur mit Mühe ein Bild über die Form der geschehenen Kränkungen.

Immerhin stand nach einiger Zeit fest, daß Frau Liesegang die Beleidigte ein »vogeliges Postür«, eine »Fludderttine« und ein »Lauflieschen« genannt und ihre mittägliche Haushaltsarbeit wie folgt gewürdigt hatte: »Eers kleet se für ihren Mann so 'n büschen was zugange, un denn bummelt se sich 'n Lappen über'n Steert, un denn bluchtert se los.«

Der Richter legte, ohne einer sprachkundlichen und gerichtlichen Würdigung dieser Redewendungen vorgreifen zu wollen, Frau Liesegang nahe, ihre Äußerungen zurückzunehmen.

»Zurücknehmen??« sagte Frau Liesegang empört. »Wie können Se mich so was woll ansinnen? Ich kenn ihr dscha fast kaum!« 45

 

Seekamp gegen Schnakenberg

Der Richter, der im Beleidigungsprozeß Seekamp gegen Schnakenberg den Vorsitz führte, hatte den Tatbestand rasch geklärt. Schnakenberg hatte Seekamp vor aufmerksam lauschenden Zuhörern einen »dusseligen Hund« genannt und die Befürchtung ausgesprochen, ihn würden, wenn er durchs Dorf ginge, unter dem Eindruck seiner Dummheit die Schweine beißen; nun wollte Seekamps Anwalt Blut sehen. Der Richter sah Schnakenberg an, der mannhaft das Ende erwartete; er sah Seekamp an, der den Blick ohne den Versuch geistiger Anstrengung erwiderte; und er spürte das Verlangen, Schnakenberg durch die Ermöglichung mildernder Umstände vor der ganzen Schwere gesetzlicher Ahndung zu bewahren.

»Herr Seekamp«, sagte er, »meinen Sie nicht, daß der Angeklagte seine – ähem – beleidigenden Äußerungen unüberlegt – ich meine: in einer zornigen Aufwallung – ich will sagen: in augenblicklicher Erregung getan hat?«

»Nee, Herr Richter«, sagte Seekamp. »Das hat er nich. Er sah mir eers ziemlich lange an, un denn sagte er's.« 46

 

Kabeljau

Meine gute Großmutter – man sieht, es ist lange her – begab sich eines Tages auf den Markt, nahm vor einer der dort ansässigen Fischfrauen Aufstellung, sah sie streng an und sprach:

»Lehmkuhlsche, der Kabeljau, den Sie mir gestern verkauft haben, war aber gar nich frisch!«

»Tschä, Mudamm«, versetzte die Getadelte entrüstet, »da sünd Sie dscha nu selbs an schuld. Ich hatt'n Ihnen dscha vorige Woche schon mal angeboten, abers da wollten Sie 'n dscha nich haben.« 47

 

Kleine Idylle

Als an einem schönen Sommermorgen die behagliche Kleinbahn, die mit zeitloser Gemütlichkeit Bremen mit Tarmstedt verbindet und von alten Bremern noch heute nach ihrem einstigen Besitzer »Jan Reiners« genannt wird, sich mit einem röchelnden Seufzer anschickte, den Bahnhof Borgfeld in Richtung auf Bremen zu verlassen, schien sich ein Hindernis einzustellen. Der Lokomotivführer ließ Dampf ab, und alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß die Abfahrt auf unbestimmte Zeit verschoben sei. Die bremischen Kaufleute, die da draußen ihre Sommersitze haben und sich in ihre Kontore zu begeben gedachten, wurden ungeduldig, denn sie glaubten sich vollzählig versammelt.

Schließlich steckte einer der Herren den Kopf zum Fenster hinaus und rief dem Schaffner zu: »Dörgeloh, weshalb fahren wir denn nich ab?«

48 »Das können wir noch nich«, war die Antwort. »Herr Schilling is noch nich da, un er is auch noch gar nich zu sehen.«

»Aber, Menschenskind, der hat doch gestern seinen Kegelabend gehabt!«

»Och zo, dscha«, sagte Dörgeloh, »ischa wahr, heute ischa Freitag. Ab–faahrn!« 49

 

Jandokter

»Jandokter«, der weißbärtige, unheimlich magere, sagenhaft sparsame, mit hellem Witz begabte alte Arzt, der zur mythischen Figur in der bremischen Anekdote geworden ist, hatte es einmal bitter schwer mit einer Patientin. Sie legte sich nämlich, jung und drall wie sie war, ins Bett und entdeckte an sich nacheinander alle Merkmale aller ihr bekannten tödlichen Krankheiten. Es waren nicht wenige, denn sie besaß das Buch »Die Frau als Hausärztin«.

»Herr Doktor«, sagte sie eines Tages, »nu bringen se mich aber doch bald nach'm Kirchhof hin. Nu hab ich dscha Typhus.«

Jandokter überlegte einen Augenblick, nahm seinen Überzieher über der Brust zusammen (er war ihm schon seit langem zu weit geworden, so daß bequem noch ein zweiter Jandokter darin Platz gehabt hätte) und kletterte gestiefelt, wenn auch nicht gespornt zu der Kranken ins Bett.

»Zo, mein Deern«, sagte er, als er sich nach einer halben Minute wieder hinausbegab, »meinst du dummes Mensch nu wohl, daß ich das getan hätte, wenn du wirklich Typhus hättest?«

Die Kranke genas. 50

*

»Jandokter« war durchaus nicht immer damit einverstanden, wenn man ihn dem andächtigen Alleinsein mit seiner Geige entriß und ihn aus seinem hohen schmalen Haus an der Domsheide zu Patienten holte.

»Herr Dokter«, sagte eine dralle junge Frau eines Abends, als sie bis in Jandokters Musentempel vorgedrungen war, »Sie müssen mal nach meinen Mann sehn, der is krank.«

Jandokter ließ den Fiedelbogen sinken. »All wieder?!« fragte er ärgerlich.

»Woso all wieder?!« versetzte die junge Frau entrüstet. »Da kann ich doch dscha wohl nix für, nich?«

»Zo!« gab Jandokter nicht minder entrüstet zurück. »Da kannst du nix für? Und warum hast du den Klungel genommen?«

*

»Schon gehört?« wurde Jandokter von einem eiligen Bekannten gefragt. »Konsul Schellmüller is zur Kur nach Marienbad gefahren.«

»Marienbad –!« schnob Jandokter verächtlich. »Der soll sich man nich auf 'n Schlips petten! Den hab ich all gekannt, als er noch Natron genommen hat!«

*

Als der alte Soltmeyer seine unbegrenzte Kennerschaft männlicher Lebensfreuden mit einer sehr eingeschränkten Möglichkeit ihres Genusses gebüßt hatte und nach schwerer Bresthaftigkeit einigermaßen wieder hinter die Puste gekommen war, sagte er zu Jandokter: 51

»Ob es nu nich am Enne ganz richtig wär, wenn ich mein Bünnel schnüren täte un mal wo hinginge, wo es ümmer richtig warm is?«

»Is das der Dank?« versetzte Jandokter zornig. »Ich hab mich grade genug mit dir rumgequält, damit daß du da noch nich hinkömmst. Kannst du denn nich wenigstens warten, bis daß der Deubel dich da von selbens hinbringt?« 52

 

Das schwarze Schaf

Hader mit dem Schicksal

Fiedchen Stumpe, vor Zeiten ein schwarzes oder doch zumindest sehr dunkles Schaf in der Herde der Stephanigemeinde und ein der Ansässigkeit in Bremen ganz unwürdiger Außenseiter, wurde eines Tages beim Versuch einer unrechtmäßigen Besitzveränderung erwischt und eine dem Anlaß entsprechende Zahl von Tagen dem Wirken in der Öffentlichkeit entzogen. Dieser Vorgang wiederholte sich im nächsten Jahre – mit angemessener Vermehrung der nichtöffentlichen Sühnetage. Fiedchen Stumpe blieb hart und zäh. Als er aber, wieder ein Jahr später, wieder bei dem gleichen Versuch ertappt wurde, knallte er mit der Faust auf den Tisch und sagte zornig:

»Dascha wohl rein des Deubels! Ich soll dscha wohl nich –!«

 
Fischgeruch

Fiedchen Stumpe wurde beschuldigt, sich – wie es in den Polizeiberichten so schön heißt – »mittels Einbruchs« in ein Fischgeschäft an Geld und Ware bereichert zu haben. Fiedchen leugnete ehern. 53

»Leugnen Sie doch nicht«, sagte der Richter ärgerlich. »Natürlich sind Sie's gewesen. Ihr Rock riecht ja sogar jetzt noch nach Fisch.«

»Herr Richter«, versetzte Fiedchen, »das beweist dscha nu gar nix. Den Rock, den hab ich da dscha gar nich angehabt.« 54

 

Springlebendig

Als der »Armenpfleger« Hinrich Kassebohm zur Witwe Cohrßen im Kakeltimkengang kam, um ihre Verhältnisse zu prüfen, fand er sie von einer lauten Schar munterer Kinder umgeben.

»Nanu?« wunderte sich Kassebohm. »Ich denk, Ihr Mann, der is all seit zwölf Dschahren tot? Was sünd denn das alles für Kinner?«

»Das is dscha nu mal 'ne dummerhaftige Frage«, versetzte die Witwe Cohrßen, »Sie haben dscha selbs gesagt, der tot is, das is mein Mann. Was ich bün, ich leb dscha noch.« 55

 

Entfremdung

Als Tante Mieles Neffe »Dschohann« – er war, um es genauer zu bezeichnen, der Sohn von Tante Mieles Vetter Daniel – nach Amerika ging, sagte Tante Miele: »No, mein Dschung, denn halt dich man hart, un schreib auch mal.« Als er dahingegen nach vier Jahren wiederkam, sagte sie: »No, sünd Sie d'r wieder? Wie geht's Ihnen denn noch so?«

»Aber Tante Miele!« sagte Dschohann verblüfft. »Was is denn nu los?! Früher hast du doch ›du‹ zu mir gesagt, un nu sagst du mit'n mal ›Sie‹?«

»Ochott«, versetzte Tante Miele, »wenn eins drüben gewesen is, denn weiß'n das dscha nich; denn steckt man'r dscha nich mehr so in.« 56

 

Vor Nachdenken wird gewarnt

Friedlich und einträchtig saßen Frau Paddelmann und ihre fünfjährige Tochter Ortrud am Gestade des Stadtgrabens und verzehrten den mitgebrachten Pfingstklaben.

»Mudder«, sagte Ortrud, »wie kömmt das woll, daß die Schwäne, daß die so 'n langen Hals haben?«

»Mein Kind«, versetzte Frau Paddelmann bereitwillig aufklärend, »das is, wenn das Wasser mal sehr tief is, damit daß sie denn nich vertrinken.« 57

 

Ganz einfach

»Beta«, sagte Tante Meta, »was is das bloß für 'ne gräsige Unordnung bei dir! Ich versteh gar nich, daß du da überhaupt noch was zwischen sinnen kannst!«

»Meta«, sagte Beta, »das muß 'n bloß 'n büschen verstehn. Wenn du was sinnen willst, denn kannst du es ümmer sinnen. Du mußt bloß so tun, als ob du es gar nich sinnen wolltest, indem daß du es da suchst, wo es nich sein würde, wenn du es sinnen willst.« 58

 

Schwer zu beantworten

Staunend und ehrfürchtig standen Frau Knake und Frau Hornkohl vor dem Tiergehege der Meierei im Bürgerpark und betrachteten die darin untergebrachte lehrreiche Auswahl fremdländischer Lebewesen. Besonders die Känguruhs regten sie zu ernsten Betrachtungen an.

»So 'n Kängeruh –!« sagte Frau Hornkohl gedankenschwer. »Kannst du dir so 'nen Kängeruh wohl auf'r Sögestraße vorstellen?«

»Auf'r Sögestraße –?« fragte Frau Knake verblüfft. »Mein Zeit, was soll er denn da?«

»Nix soll er da«, versetzte Frau Hornkohl. »Ich mußte man bloß eben denken, wie die Schutzleute, wie die sich da wohl zu stellen würden!« 59

 

Gelegenheit macht stark

Schon als Herr Schnaars aus der Alwinenstraße am Werder in die Fähre stieg, zeigte es sich, daß er äußerst mißgelaunt war, und während der ganzen Fahrt über die Weser quengelte und nöckerte und nöhlte er ohne Atempause. Seine Frau ertrug es mit der Miene gereiften Duldertums; im Busen des Fährmanns Lüder Wäbekind aber sammelte sich dumpfer Groll.

Beim Aussteigen am Osterdeich vertakelte Herr Schnaars sich, immer noch schimpfend, in seine eigenen Beine und fiel in die Weser. Lüder Wäbekind erhob sich, fischte ihn mit dem Bootshaken auf, tunkte ihn noch einmal gründlich unter und legte ihn als formloses Bündel zu den Füßen seiner Frau nieder.

»Zo, Frau Schnaars«, sagte er, »un nu versohlen Sie ihm mal orntlich das Achtergestell. So 'ne Gelegenheit kriegen Sie nich wieder.« 60

 

Verfall des Irdischen

Wenn der Bremer sich vor der verantwortungsvollen Aufgabe sieht, für einen »Hausbesuch« die passenden Vergnügungen zu beschaffen, geht er vor allem mit ihm in den »Bleikeller« – jene unheimliche Kammer unter dem Dom, die den sonst gebräuchlichen Verfall des Irdischen nach dem Tode in ein langsames mumienhaftes und ungemein malerisches Austrocknen verwandelt. Dieser Besuch im Hades ist besonders an Sonntagvormittagen beliebt, als ernster Auftakt zum mittäglichen Braten und den durch Kaffee und Musik gewürzten Belustigungen des Nachmittags.

Es habe, berichtet man, Frau Aline Tietjen nebst Gatten und hausbesuchendem Vetter im Bleikeller gestanden und, in die entsprechenden Gedanken versunken, die Särge betrachtet; worauf sie, durch eine reizvolle Gedankenverbindung vom Unheimlichen über das Tatsächliche auf das Nutzbare gelenkt, sich folgendermaßen geäußert habe:

»Vadder, der Hase, den ich auf 'n Balkon gehangen habe, der is nu woll bald so weit.« 61

 

Bedauerliches dramaturgisches Zwischenspiel

Frau Dunekak aus der Feldstraße muß, so sehr ihre vollsaftige Erscheinung dagegen zu sprechen scheint, zur Gattung der Snobs gerechnet werden. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus ihrem Verhalten im Theater.

Sie griff nämlich in der großen Pause, nach ihren Eindrücken vom Schicksal Maria Stuarts befragt, in die Tüte mit den »sauren Bontchen« und sagte gleichgültig:

»Ich hab all so lange das Abonnemang – ich kuck all gar nich mehr hin.«

 

Überschätzter Klassiker

»Von so 'n Klassiker«, sagte Frau Dünzelmann, als sie den »Wilhelm Tell« gesehen hatte, »da wird auch mehr von gemacht, als'r an is. Wenn Schiller, wenn der würklich so 'n großen Dichter wär, wie es ümmer heißt, dann hätte er in so 'n Stück woll nich so viele Zitate reingeschrieben.« 62

 

Die Perfekte

Als meine gute Mutter ein »Mädchen für alles« suchte, kam Gesche Dubbels und sagte, sie wollte das wohl annehmen.

»Hm«, sagte meine Mutter und betrachtete Gesche sachkundig. »Können Sie kochen?«

»Och«, versetzte Gesche, »das ischa nich weit her.«

»Können Sie mit Kindern umgehen?«

»Och, da weiß ich dscha nich viel von ab.«

»Aber Sie können waschen –?«

»Och, da hab ich dscha noch nich viel Gelegenheit zu gehabt.«

»So«, sagte meine Mutter. »Was können Sie denn eigentlich?«

»Och«, versetzte Gesche, »Sie suchten dscha en Mädschen, das bei sich zu Hause schlafen kann; un das könnt ich denn dscha wohl.« 63

 

Hoffnungsvolle –

Als dringende Gefahr bestand, daß Surmöllers Thusnelda »das Klassenziel nicht erreichte«, mußte ein »Extrafrollein« für sie her, um sie durch Nachhilfestunden emporzuentwickeln. Frau Surmöller sah sich die Dame persönlich an und war begeistert.

»An der hältst du dir«, sagte sie streng zu Thusnelda. »Ich will keine Klagen hören wegen Obstipation un so. Die lernt dir. Die lernt dir weiter. Die lernt dir auf'r höheren Schule rauf!«

 

– und empörte Mutter

Da Trina Ahlers durch Erkrankung verhindert war, den Seekampschen Haushalt auch fernerhin als Stütze aufrechtzuerhalten, suchte Frau Seekamp durch die Zeitung einen perfekten Ersatz.

Am nächsten Tage bekam sie den Besuch einer vor Zorn rasenden Frau Ahlers.

»Was Sie da über mein' Tochter inner Zeitung reinschreiben, das nehmen Sie retuhr!« schrie Trinas Mutter. »Sonsten verklag ich Ihnen da um! Das Mädchen kömmt dscha in keinem anstännigen Hause 64 mehr rein! Die ganze Kardschäre is das Mädschen runjeniert! Unnerdurch is das Mädschen! Bei die Männers hat es nu auch keine Schanze mehr! Un gelogen is es auch noch!«

»Aber ich verstehe gar nich – –« stammelte Frau Seekamp hilflos.

»Nu weiß sie auch noch von nix was ab!« kreischte Trinas Mutter. »Eers das Mädschen verschandieren, un sich denn auch noch bewußtlos stellen! ›Umstänne halber‹ suchen Sie 'n anneres Mädschen schreiben Sie da im Blatt rein! Umstänne halber! Wo das Mädschen es doch bloß mit'n Hals hat!« 65

 

Die Luxuskabine

Als Bostelmanns das Suhrpottsche Haus in der Alwinenstraße zum Zwecke allenfallsiger Erwerbung besichtigten, öffnete Frau Bostelmann schließlich mit der in solchen Fällen üblichen verlegenen Behutsamkeit die schmale Tür zu jenem kleinen Gelaß, dessen Lage, Einrichtung und Zustand für die Hausbewohner in ernsten wie heiteren Stunden von entscheidender Bedeutung ist. Eine gekachelte Luxuskabine gleißte ihr in weißer Pracht entgegen: ein raumgewordener Widerspruch zur Schlichtheit der sonstigen Gegebenheiten.

»Hä –!« sagte Frau Bostelmann. »Dascha doll is dascha.«

»Das is nich wegen Luxus«, erklärte Frau Suhrpott. »Das haben wir wegen unsere Oma machen lassen. Die war dscha inne letzden Dschahre so dick geworden, daß sie da man grade so reinpaßte, und denn ging se dscha ümmer in Schwaaz, un die Wänne da in waren weiß gestrichen, und denn hatten wir denn ümmer an ihr rumzubürsten. Da haben wir uns denn dscha zu die Kacheln entschlossen.« 66

 

Indizienbeweis

Jene zwei würdigen alten Herren, die in der bremischen Anekdote am reinsten die heimische Wesens- und Mundart verkörpern, begaben sich zu dunkler Stunde gemeinsam heimwärts – in eben jener Verfassung, in der die bremische Wesens- und Mundart sich am treuherzigsten offenbart.

»Cornelius«, sagte der erste, »du hast dscha einen weg.«

»Caspar«, erwiderte der zweite, »ich hab' keinen weg. Ich bün nüchtern wie 'n gebackener Stint.«

»Cornelius«, versetzte der erste, »wenn du keinen weghättest, denn hättest du so viel Verstand, daß du merken würdest, daß du einen weghast.« 67

 

Schreck in der Abendstunde

Heiter, stämmig, rotbackig, aus beruflichen Gründen unaufdringlich, aber unverkennbar nach Kaffee duftend, betrat der Makler Cornelius Bietendübel das Kontor meines Großvaters, lächelte, legte seinen Hut auf die Kopierpresse und begann seine blauen Probentüten auszubreiten.

»Gestern abend«, sagte er, »hab ich im Ratskeller aber doch 'n bannigen Schrecken gekricht. Um sechs hatt ich so ganz für mich alleine angefangen, um halb sieben war ich so 'n büschen melanklüterig, un um sieben war ich vor Wähligkeit rein aus 'r Tüte. ›Cornelius‹, sagte ich zu mir, ›du darfst noch 'ne Flasche. Wir haben es dscha, wir können es dscha. Wenn wir's nicht hätten, denn wollt' ich dscha nix sagen; aber wir haben es dscha.‹ Und was meinen Se? Mit'm Mal war ich weg. Ich kuck hierhin, ich kuck dahin, ich kuck überall hin, aber ich war nich mehr da. Dschungedi, da hab ich aber doch das kalte Schwitzen gekricht vor Angst. Schließlich denk ich: ›Sollst doch mal unterm Tisch nachkucken.‹ No, Gott sei Dank, da lag ich denn dscha auch unter.« 68

 

Tragödie auf dem Bahnsteig

Blaß, mit zitternden Knien, lehnte der alte Bokelmann am Geländer der Bahnsteigtreppe. So fand ihn sein Freund Katenkamp.

»Dschohann, was is denn das mit dir?« fragte er bestürzt. »Du beberst dscha man so un büst ganz wittschen ume Nase.«

»Heinrich«, stöhnte der alte Bokelmann, »mich kannste man abschreiben. Ich wollt meine Frau abholen, weil daß sie dscha in Pyrmont war, un nu kam der Zug an, un sie warer gar nich in.«

»Aber Dschohann!« sagte Katenkamp vorwurfsvoll. »Wie kannste dich da wohl so um haben! Denn kömmt se eben mit 'n nächsten.«

»Das is es dscha nich, Heinrich!« sagte der alte Bokelmann. »Ich denk ümmer, wenn ich mich man nich vertan hab und sie all seit gestern da is –? Ich bün dscha seit vorgestern nich zu Hause gewesen!« 69

 

Eilgut

Onkel Theo hatte in Hillmanns Hotel piekfein – wer lang hat, läßt lang hängen – die Hochzeit seiner Nichte Dorchen mitgefeiert und war, als die Frage der Heimkehr dringlich wurde, genötigt, sich nach geeignetem Beistand umzusehen. Er nahm nach längerem Anpeilen Kurs auf einen Mann, der ihm, da er eine Uniform trug, zur Erfüllung seines Wunsches geeignet erschien.

»B–besorg mich mal' ne Dro–hoschke«, sagte Onkel Theo.

»Sie irren sich, alter Herr«, versetzte der Mann wohlgelaunt. »Ich bin kein Portier, ich bin Schiffsoffizier.«

»D–das soll mir egal sein«, sagte Onkel Theo gnatterig. »D–denn besorg mich en D–dampfer. Nach Hause m–muß ich.«

 


 


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