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Den Grundstein zu dem Reichtum eines bedeutenden hanseatischen Handelshauses, das heute noch auf breitem Fundament allem Ansturm der schlimmen Zeit zuverlässig Trotz bietet, hat einstmals, so erzählte mein Großvater, ganz gegen den sonstigen Brauch ein Zufall gelegt: Ein Zufall, als Schreibfehler verkleidet und vom gutgelaunten Schicksal zum Füllhorn des Glückes verzaubert, warf dem Stammvater der Firma in wenigen Tagen verschwenderisch hin, was sich die alten Geschlechter der alten Stadt sonst in langen Jahrhunderten des Wägens, Wagens und Winnens erarbeiten mußten.
Dieser Stammvater kam an einem plustrigkalten Herbsttage des Jahres, das dem Glücke des Korsen im russischen Eise ein grausames Ende bereitete, in die Hansestadt: ein zehnjähriger Bauernjunge, verwaist und einem harten Vormund zu dessen geringem Bedauern nächtlicherweise entlaufen, ziellos wandernd, in zerlumpten Kleidern und zerrissenenen Schuhen, ein paar klimpernde Silbergroschen in der Tasche, mit denen er nichts anzufangen wußte. Jeder, der sich einigermaßen mit solchen Geschichten auskennt, wird mit Befriedigung hören, was er erwarten durfte: nämlich daß das Schicksal des armen kleinen Strolches nunmehr eine romantische Wendung nahm. Er setzte sich, nachdem er einen ganzen Tag angstbenommen zwischen hochgiebeligen Häuserfronten durch das verwirrende Getriebe von Handelsgeschäftigkeit und bedrohlich aussehendem fremden Kriegsvolk geirrt war, spät abends auf die steinerne Vortreppe eines Hauses, kaute an einer alten Brotrinde und heulte sich in den Schlaf –: um dort nachts von dem Besitzer des Hauses, der mit seiner Gattin von einer Festlichkeit heimkehrte, gefunden und, da sein scheues Gestammel eine mitleiderregende Geschichte vermuten ließ, mitgenommen zu werden. Der Finder, ein – wer hätte daran gezweifelt? – wohlhabender Kaufmann, besah sich am anderen Morgen den Findling mit gründlicher Sachlichkeit; und da der Junge unverkennbar eine mehr als gewöhnliche Aufgewecktheit besaß, da ferner jener unchristliche Vormund die Rücknahme seines Mündels ebenso unhöflich wie entschieden verweigerte; da schließlich der Junge in der Gattin des Kaufmanns eine Fürsprecherin fand, so beschloß man, ihn probeweise zum Lehrburschen zu ernennen. Er zeigte sich löblicherweise fleißig, pünktlich, willig und bescheiden gegen jedermann; und so fand er sich, da er den Grundbedingungen genügte, nach einigen Jahren als Lehrling im »Comptoir« seines Schutzherrn wieder. Der Anfang war gemacht, und der also Ausgezeichnete wußte ihn recht zu nutzen; nicht nur bei seiner Arbeit, in der er früh schon Begabung und Mutterwitz bewies, sondern auch im patriarchalischen häuslichen Leben, in dem er sich die aufrichtige Zuneigung der selbst kinderlos gebliebenen Hausherrin erwarb: so daß der Kaufmann, dessen kühle Augen jetzt oft und öfter nachdenklich auf dem Jungen ruhten, und der ihn mit wohlbedachter Sorgfalt ausbilden ließ, schließlich die menschenfreundliche Tat jenes Herbstabends endgültig auf der Habenseite verbuchte.
Über alledem kam ein Tag, da der Kaufmann, der allmählich die leisen Mahnzeichen kommenden Alters verspürte, sich veranlaßt sah, eine vorläufige Bilanz seines Lebens aufzustellen und sich darüber schlüssig zu werden, in wessen Hände einmal das sorgsam gehütete Heiligtum, Firma genannt, mit allen sonstigen Aktiven und geringen Passiven zu legen sei. Nach langen Tagen reiflichen Bedenkens und stummer Beobachtung entschloß er sich, den prächtig herangewachsenen und verheißungsvollen jungen Mann ins Ausland zu schicken, damit er sich die nötige Weltläufigkeit erwerbe und dann auf Grund seiner erweiterten Kenntnisse erweise, ob er den unerhört großen Schritt vom kleinen Angestellten zum patrizischen Erben zu tun würdig sei.
Der junge Mann, der sich über die Bedeutung der Sache klar war und sie seinen Wünschen durchaus entsprechend fand, bestieg ein nach Liverpool abgehendes Schiff, ertrug mit Gleichmut die Beschwerlichkeiten einer stürmischen Überfahrt und machte sich, angelangt, sogleich daran, die mit seiner Firma in Verbindung stehenden Baumwollhäuser zu besuchen und seine Empfehlungsbriefe abzugeben. Er hatte ein halb unbewußtes, halb auch bewußt angewandtes Geschick, die leise Ungelenkheit seines Benehmens und die Nöte seiner mangelnden Sprachkenntnis hinter einer selbstbewußten, wortkargen Kühle des Auftretens zu verbergen, die den Engländern durchaus angenehm war; und das hohe Ansehen seines Hauses sicherte ihm überall die beste Aufnahme. Bald ordnete er seine Beobachtungen und Informationen über die Marktlage zu einem erstaunlich aufgesetzten Bericht und sandte ihn in die Heimat.
Die Folge davon war, daß ihm das nächste Schiff einen Brief brachte, dem er staunend den Auftrag entnahm, 50 000 Ballen Baumwolle zu kaufen. Er besah das Schreiben verblüfft von allen Seiten, aber die ungeheure Zahl wich nicht vom Fleck, und auch die stakige Unterschrift des Chefs hielt jeder Betrachtung stand. Das sah nun nach einer unerwartet großzügigen Spekulation aus; aber es ließ sich nicht leugnen, daß der Augenblick dafür günstig gewählt schien. So begann er vorsichtig zu erforschen, ob die Kredite seines Hauses für eine so gewaltige Transaktion ausreichten. Da die Auskünfte sehr ermutigend lauteten, faßte er einen kurzen Entschluß und handelte. Einen ganzen Vormittag fuhr er in der Stadt umher, zog sachkundig Proben, setzte hartgesottene Makler durch sein fachmännisches Gehaben in mühsam verhehltes Erstaunen und tätigte mit überlegener Geste Abschlüsse –: so daß er mittags tatsächlich die geforderte Menge, säuberlich auf dem Papier untereinandergereiht, in der Tasche hatte. Hierauf schickte er eine Aufstellung an seine Firma ab und begab sich zur Börse.
Es entging ihm nicht, daß der Lärm lauter, die Stimmung erregter, das Gerenne der Makler hastiger waren als sonst; auch bemerkte er, daß bei hitzig diskutierenden Gruppen das Hin- und Hergeschwirr der Zahlen oft einer plötzlichen Stille wich, wenn er in die Nähe kam, und daß sich hinter seinem Rücken neue, eifrig tuschelnde Gruppen bildeten, aus denen spähende Blicke ihm folgten. Er stand in diesem Kreuzfeuer mit höchstem Mißbehagen, aber er war nun schon Hanseat genug, um gerade deshalb um so sicherer aufzutreten und sich hinter vielsagender Einsilbigkeit zu verschanzen. Zuletzt allerdings flüchtete er mit einem starken Druckgefühl an den Schläfen aus der Schlacht und wartete abseits auf den Ausgang dieser beklemmenden Angelegenheit. Dann, als er die Notierung der Schlußkurse sah, trieb ihm die Überraschung mit heftigem Stoß das Blut zu Kopf: Der Marktpreis für Baumwolle war um eine erhebliche Anzahl von Punkten in die Höhe geschnellt. Als er die Differenz auf seinen Einkauf in nüchterne Zahlen umrechnen wollte, wurde ihm ein wenig schwindelig. Die ausgekochten Makler zuckten, befragt, die Achseln. »Gerüchte über Verschlechterung der Ernteaussichten,« sagte der eine; »Käufe einer Spekulationsfirma,« sagte der andere und blinzelte den Frager verständnisinnig an. Der dritte gab, unter Hinweis auf seine unfehlbare Witterung, der Meinung Ausdruck, daß nun die Spekulation sich des Marktes bemächtigen würde. Der junge Mann riß sich zusammen, drehte sich auf dem Absatz herum, ballte krampfhaft beide Fäuste in den Rocktaschen und wandelte gelassenen Schrittes hinaus.
Wenn wir nunmehr sagen, daß der Stein im Rollen war, so müssen wir hinzufügen, daß er zur baumwollenen Lawine wurde. Der für die damaligen Verhältnisse ungeheuerlich große Einkauf löste eine Anzahl von »Haussemomenten« aus, die den Kurs in fünf Tagen um fast 80 v. H. hinauftrieben. Der junge Mann, der noch immer ohne Nachricht aus der Heimat war, zeigte in dieser Lage die rechten Eigenschaften eines hanseatischen Kaufmanns: Er kostete den Rausch des Erfolges aus wie ein erlesenes Glück, aber er handelte mit eiskalt nüchterner Berechnung. »Da ich,« schrieb er an seine Firma, »noch immer ohne Ihre gefl. weiteren Ordres bin, habe ich mich entschlossen, vorsichtig mit Verkäufen zu beginnen, und habe ich daher, noch ehe sich die Abwärtsbewegung des Marktes zunächst ausgelaufen hat und die Rückläufe des Fachhandels aufgehört haben, in einzelnen Partien etwa 30 000 Ballen unseres Einkaufs eminent günstig abgestoßen, ohne daß dadurch der Kurs ungünstig beeinflußt worden wäre.«
Der umsichtige Zufall nutzte nun sogar die Postverhältnisse jener Zeit und legte dem Chef des siegreichen Spekulanten an einem und demselben Tage fünf Briefe aus Liverpool auf den Tisch, die er als ordnungsliebender Mann in der Reihenfolge der Poststempeldaten öffnete. Die wahrheitsgetreue Schilderung der Wirkung dieser Briefe auf den alten Herrn würde mehr Platz beanspruchen, als uns zur Verfügung steht. Der erste Brief, der nur die Tatsache des Abschlusses meldete, brachte über dem Haupte des unseligen Korrespondenten, der aus den beabsichtigten 5000 Ballen 50 000 gemacht hatte, ein Donnerwetter zur Entladung, wie es in der alten Stadt seit ihrer Erbauung kein sterblicher Mensch je erlebt hatte; und der alte Herr, der sich wohl darüber klar war, daß er sich durch Unterschreiben des Briefes mitschuldig gemacht hatte, hörte den Pleitegeier mit schwerem Flügelschlag durchs Kontor rauschen. Beim Lesen der weiteren Briefe freilich, in denen von Kurssteigerungen und Kurssprüngen die Rede war, verstummte und erstarrte er; und wie der letzte, der von der Verkaufsaktion berichtete, auf ihn wirkte, möge die phantastische Tatsache beweisen, daß er eine Brasilzigarre am verkehrten Ende anzuzünden sich bemühte. Mit der Herrschaft über seine Sinne erlangte er dann allerdings auch die Herrschaft über seine rechnerischen Fähigkeiten zurück; und als er unter eine rasch hingeworfene Zahlenreihe mit leicht zitternder Hand das Ergebnis schrieb, wußte er, daß er von einem wohlhabenden zu einem reichen Manne geworden war und durch die schwimmenden Partien zu einem sehr reichen Manne werden würde.
Es sei dem Erzähler verstattet, zum guten Schluß in aller Kürze zu sagen, daß der Spekulant wider Willen es bei seiner Rückkehr in der begehrenswerten Kunst der weltläufigen Diplomatie schon bis zur Vollendung gebracht hatte. Er bewies das durch die beim abendlichen Rotwein beiläufig hingeworfene Bemerkung, daß er den Schreibfehler durchaus erkannt habe, daß es ihm aber infolge seiner vorzüglichen Informationen und seines genauen Studiums der Marktlage nützlich erschienen sei – usw. Doch würde er, so fügte er lächelnd hinzu – und der alte Herr verstummte nachdenklich vor dem neuen, gesammelten Ausdruck dieses in wenigen Monaten so hart und fest geprägten Gesichtes – künftig beim Unterzeichnen der Post besondere Vorsicht walten lassen. Wir sind überzeugt, daß er mit diesem Grundsatz später, als er seinen unbekannten bäuerischen Namen längst abgestreift und in den patrizischen Namen seines ehemaligen Chefs hineingewachsen war, mit dieser Vorsicht die allerbesten Erfahrungen gemacht hat: denn nicht immer – diese philosophische Schlußbemerkung sei dem Leser als Grundlage für nützliche Betrachtungen dargereicht – läßt sich das Schicksal seine Glücksgaben mit einer so kameradschaftlichen Freigebigkeit abnehmen.
Vor Jahren, als ich noch ein unmündiges Kind war, sah ich einmal in einem Menschenantlitz einen Ausdruck, der mir durch alle die Zeit nachging: einen Ausdruck des Staunens, wie er tiefer und sozusagen vollständiger nicht gedacht werden kann. Es war gewissermaßen das Staunen an sich.
In dem mächtigen alten Giebelhause, das die Lebensmittelgroßhandlung meines Großvaters barg, ging es an jenem Tage hoch her. Der älteste Lehrling hatte Geburtstag und ließ sich feiern; das ganze »Personal« feierte, und ich feierte mit. Um dem Feste einen würdigen Rahmen zu geben und die zur Frühstücksstunde auf Lager versammelten erwartungsvollen Gäste angemessen zu bewirten, entsandte der älteste den jüngsten Lehrling, auf daß er Kuchen herbeischaffe. Da nun ging dieser sorglose Knabe, entgegen strengem Verbot, zu einem benachbarten Bäcker, der Kuchen von riesigen Ausmaßen, aber geringem Wohlgeschmack buk, und kehrte mit einem Stück Pflaumenkuchen zurück, das einen Groschen kostete, und mit dem man ein jähriges Kind völlig hätte bedecken können. Der älteste Lehrling ergriff mit einer häßlichen Redewendung den Boten wie den Kuchen und warf beide hinaus.
Der Ausgestoßene gelangte, auf Rache sinnend, in das erste Stockwerk und trat zufällig an den Windenschacht, der, zur Warenbeförderung durch Handwinde dienend, das ganze Haus vom Keller bis zum Dachfirst durchzog. Nun ergab sich folgendes Bild: Unten stand, unberührt vom brausenden Lärm des Festes, der Lagermeister einer im Hause zur Miete wohnenden Firma; im ersten Stock stand der Knabe mit dem Kuchen; und im dritten Stock harrten die Angestellten der erwähnten Firma eines Stapels Teekisten, der eben, von des Lagermeisters starker Hand befördert, im Schacht nach oben schwebte. Auf diesen Stapel, als er baumelnd den ersten Stock passierte, legte der jüngste Lehrling den strittigen Kuchen, in dem unklaren Drang, die Entscheidung über sein ferneres Schicksal einer höheren Macht anheimzustellen.
Er wußte nicht, daß bei der Gruppe über ihm der Chef der zweiten Firma weilte. Als dieser, ein humorloser und rascher Mann, auf einer der glücklich gelandeten Kisten den Kuchen erblickte, ergriff er ihn und schleuderte ihn fluchend in die Windenluke zurück, daraus er emporgestiegen war. Das Wurfgeschoß durchschnitt die Luft und fiel unten klatschend auf das Gesicht des Lagermeisters nieder, der eben den spähenden Blick aufwärtssandte, um sich der heilen Ankunft der kostbaren Ladung zu versichern, und der nun sein Augenlicht jählings durch ein überlebensgroßes Stück Pflaumenkuchen, dessen Fruchtschicht natürlich die Unterseite bildete, ausgelöscht fand.
Als wir, einen ungewöhnlichen Vorgang witternd, herbeieilten, sahen wir diesen Mann, der eben noch ahnungs- und schuldlos, treuer und ernster Pflichterfüllung sich bewußt und keines Zwischenfalles gewärtig, fest und sicher dagestanden hatte – sahen diesen Mann mit wankenden Knien an die Wand gelehnt. Er zog von seinem Gesicht, etwa so wie ein Kind ein Abziehbild vom Papier, die Kuchenschicht hinweg, nahm sich die Pflaumen aus den Augen und sandte, sein entstelltes Antlitz aufwärtskehrend, einen unbeschreiblichen Blick in den Windenschacht empor; wobei alles, was von seinen Zügen sichtbar war, jenen eingangs erwähnten Ausdruck des Staunens trug, der mir seither durch alle die Zeit nachging.
Im Kontor meines Großvaters stellte einmal, kurz vor dem Beginn der allseits geheiligten Frühstückspause, also sozusagen auf nüchternen Magen, ein sonst unbescholtener Kaffeemakler die Behauptung auf, man könne ein rohes Ei gegen eine Fensterscheibe werfen, ohne daß die Scheibe dabei in Trümmer ginge; für das Ei wäre natürlich nichts zu hoffen. Nach dieser Behauptung nahm der Mann seine blauen Probentüten zusammen und ging; und mein Großvater, der solche Dinge verächtlich und gut bremisch » Narrentöge« zu nennen pflegte, zeigte keine Neigung, physikalische Versuche mit zweifelhaftem Ausgang wichtiger zu nehmen als sein Kassabuch. In der Seele des ältesten Lehrlings aber schlug die Eiermär unheilvoll Wurzel.
So geschah es, daß kurz darauf auf dem obersten Lagerboden zwischen dem ältesten Lehrling und dem Lagermeister eine namhafte Wette abgeschlossen wurde, wobei der älteste Lehrling seine jugendlich-romantische Gläubigkeit für, der Lagermeister seine aus gereifter Erfahrung quellende Zweifelsucht gegen die Eiersage einsetzte. Unter starker Anteilnahme etlicher Neugieriger, die durch dunkle Gerüchte angelockt worden waren, brachte der jüngste Lehrling ein auf der Nachbarschaft gekauftes Ei herbei, das von den Unparteiischen geprüft und ungekocht befunden wurde. Man erwählte einen Schiedsrichter und ersah eine der kleinen bleigefaßten Scheiben zum Ziel. Dann tat der älteste Lehrling den Schicksalswurf.
Nun muß leider gesagt werden, daß der Erfolg jedem Zweifel freien Spielraum ließ und weder für noch gegen die Lehre des Maklers, sondern höchstens für die ungebrochene Muskelkraft des Werfenden und für das ehrwürdige Alter der meinem Großvater gehörenden Baulichkeit zeugte. Die vordrängende Studienkommission fand an Stelle von Scheibe, Einfassung und Ei ein völlig ausrasiertes Mauerloch; und meinem Großvater, der drunten gerade mit einem Geschäftsfreund über den Hof ging, fiel ein unappetitliches und zunächst unbestimmbares Gemengsel klirrend teils vor, teils auf die Stiefelspitzen. Er trat einen Schritt zurück und nahm Anlaß, an den Geschäftsfreund die Frage zu richten:
»Was ist denn das?«
Der Geschäftsfreund, in seiner Erkenntnisfähigkeit durch eine goldgefaßte Brille wirksam unterstützt, beugte sich nieder, nahm die Trümmer in Augenschein, richtete sich wieder auf und sagte knapp und sachlich:
»Scheibe mit Ei.«
Als ich, ein in romantische Träume versponnener Knabe, durch die riesigen kühlen Räume der großväterlich-väterlichen Lebensmittelgroßhandlung abenteuerte, geschah es einmal, daß sich ein Sack Santoskaffee aus einer Ladung löste, die im Schacht der alten Hauswinde in die oberen Stockwerke schwebte. Er schoß aus der Windenluke und traf den gebückt druntenstehenden Lagermeister ins Kreuz. Auf den dadurch hervorgerufenen Krach folgte ein Augenblick beklemmender Stille. Ich war so entsetzt, daß ich nicht einmal schreien konnte.
Dann wälzte der Mann, der wider alle Wahrscheinlichkeit noch lebte, den Sack zur Seite, erhob sich, streckte sich ächzend und mit leise knackenden Geräuschen zu seiner vollen Länge von 189½ Zentimetern und sagte:
»So'n verdammter Dschude!«
»????« fragte ich stumm.
»No dscha,« sagte der Lagermeister entrüstet. »Kauf ich mir da gestern bei Max Baron en Hosenträger für fümunneunzig Fennig. Ein Dschahr Garantie. Und was meinste? Der is ab!«
Ein Aussichtsturm, der inmitten eines schönen Waldparkes steht und über das Dächergewirr einer alten Hansestadt weiten Ausblick gewährt, wird in den kaufmännischen Kreisen der guten Stadt oftmals mit dem seltsamen Namen »Der Sühneturm« benannt; wobei dann ein wissendes Lächeln der Eingeweihten die Erinnerung an die nicht gewöhnliche Geschichte erstehen läßt, aus der dieser Turm gleichsam erwuchs. Da sicherlich nicht allzuviele von denen, die durch Besteigen des Turmes ihren Gesichtskreis zeitweilig zu erweitern bestrebt sind, diese Geschichte kennen, so glaubt der Erzähler, einen hinlänglichen Vorwand für ihre Enthüllung zu haben.
Vor einigen Jahrzehnten saßen (so berichtet man) im Ratsweinkeller der wohlbekannten, aber in dieser Geschichte namenlosen Stadt zwei Großkaufleute beisammen, um nach der ernsten Anspannung des mittäglichen Börsenbesuches bei einer Flasche Rüdesheimer Berg eine Weile der nicht minder ernsten, aber durchweg doch minder geschäftlichen Erörterung allgemeiner Fragen obzuliegen. Dabei ergab es sich, daß der eine von ihnen, ein bedeutender Petroleumimporteur, aus einer knappen Betrachtung der Welt- und Marktlage den unanfechtbaren Beweis ableitete, daß die nützliche Flüssigkeit, die man mit dem unschönen Namen Petroleum (in der Volkssprache jener Stadt »Paterlarum«) belegt hat, in der nächsten Zeit eine nicht unerhebliche Preissteigerung zu gewärtigen habe. Der andere, wesentlich jüngere Herr, Inhaber eines aussichtsvoll aufstrebenden Baumwollgeschäfts, der diese Mitteilung sichtlich interessiert entgegennahm, saß einige Minuten nachdenklich vorgeneigt, stumm, mit gepflegter Hand seinen gepflegten Spitzbart streichend und in die eingehende Betrachtung des grüngolden im Glase leuchtenden Weines versunken. Seine Erwägung führte zu dem Schluß, daß gegen eine Kapitalkräftigung seines Baumwollgeschäftes vermittels Ausnutzung der Petroleumkonjunktur ein stichhaltiger kaufmännischer Einwand nicht erhoben werden könne. Da bei hanseatischen Handelsherren die Erörterung auch der bedeutsamsten geschäftlichen Entschlüsse auf ein Mindestmaß beschränkt ist, so endete das Gespräch alsbald damit, daß Herr B., der Baumwollimporteur, von Herrn P., dem Petroleumimporteur, eine sehr erhebliche Menge Petroleum kaufte, lieferbar nach sechs Monaten. Man trennte sich mit der Übereinkunft, die erforderlichen Schlußzettel über dies Geschäft noch am gleichen Tage auszufertigen, und in dem beiderseitigen erhebenden Bewußtsein, den An- und Aufregungen einer Terminspekulation entgegenzuleben.
In den nun folgenden Monaten nahm Herr B. oftmals Veranlassung, seine Aufmerksamkeit von der fachlichen Baumwolle ab- und der Bewegung jener nützlichen Flüssigkeit zuzuwenden, die tatsächlich, getreu der Vorhersage des Herrn P., eine »stetig steigende Tendenz« aufwies. Aber alle Flüssigkeiten, auf denen sich Kämpfe abspielen, sind treulos, wie man schon vom Meere weiß; aus dem Steigen wurde ein Fallen, und es trat Ebbe ein. So verwandelte sich Herrn B.s freundliche Aufmerksamkeit in zunehmendem Maße in Nachdenklichkeit; und als er nach sechs Monaten von der Firma P. ein Schreiben erhielt, in dem das Petroleum »angedient« (das will sagen zur Annahme freigestellt) und berechnet wurde, war in der Bewegung der gepflegten Hand, die den gepflegten Spitzbart strich, eine leichte Nervosität unverkennbar. Hierauf trommelte er ein Weilchen mit den spitzen Fingern der linken Hand auf der Schreibtischplatte, prüfte sein Bankbuch und spitzte einen Bleistift. Als er durch diese sinnbildliche Handlung seinen Intellekt geschärft hatte, pfiff er durch, die Zähne, lächelte, nahm Hut und Stock und begab sich zu einem befreundeten Spediteur, mit dem, wie er wußte, die Firma P. zu arbeiten pflegte. Sein Lächeln hatte sich, als er nach einer Unterredung mit diesem Herrn das Haus verließ, so verstärkt, daß ein scharfer Beobachter wohl von einem Grinsen hätte reden dürfen; als er indessen das P.sche Geschäftshaus erreicht hatte, würde auch der schärfste Beobachter vergeblich seine Züge nach einem ausgeprägten Stimmungsmerkmal durchforscht haben.
Herr P. empfing den Besucher mit taktvoll gedämpftem Wohlwollen, machte, ihn aufmerksam im Auge behaltend, eine fachmännische Bemerkung über die Marktlage und sprach dann, ins Thema einlenkend, sein höfliches Bedauern aus, daß dieser erste Versuch auf branchefremdem Gebiet für Herrn B. so wenig zufriedenstellend verlaufen sei; doch werde sein verehrter Geschäftsfreund hoffentlich im weiteren Verlauf des angenehm empfundenen Zusammenarbeitens diese – zugegeben: ärgerliche – Scharte auswetzen können. Herr B. verwies mit einer lässigen Handbewegung die Sache ins Reich der Bagatelle, zog sein Scheckbuch hervor und gab die Absicht kund, die erforderliche Summe sogleich anzuweisen; er bitte daher um Ausstellung des Lieferscheins und um die Mitteilung, bei welchem Spediteur er sein Petroleum in Empfang nehmen könne.
Herrn P.s überlegenes Wohlwollen ging ersichtlich in Erstaunen über, und seine linke Hand begann das Herrn B. wohlbekannte Trommelspiel auf der Tischplatte: Ob denn, so erkundigte er sich, Herr P. die Ware tatsächlich einzulagern gedenke? – ein Verfahren, das angesichts des hohen Lagergeldes, der Versicherungsspesen und des durch »Leckage« entstehenden Gewichtsverlustes als höchst unrentabel anzusehen sei, ganz abgesehen von der zu erwartenden weiteren Preissenkung? Er, P., würde vorschlagen, das Geschäft (wie er persönlich es stets angesehen habe) als Termingeschäft zu behandeln und nach der Üblichkeit unter Verzicht auf Lieferung die durch die Preissenkung entstandene Differenz an ihn, P., zu begleichen. Damit sei dann für Herrn B. jedes weitere Risiko in dem ihm doch – um es nochmals zu betonen – branchefremden Artikel vermieden. Herr B. bedauerte, diesem freundlichen Vorschläge nicht folgen zu können; der Usus des Termingeschäftes sei ihm zwar nicht fremd, aber als Spekulation unsympathisch, und kurz und gut, er bitte um sein Petroleum.
Es entstand eine nicht lange, aber schwüle Pause, die Herr B. mit der Betrachtung seines linken Manschettenknopfes ungezwungen ausfüllte; worauf Herr P. mit vollkommener, aber nicht ganz mühelos gewonnener Fassung sich zur Lieferung augenblicklich außerstande erklärte, da der mit dem Petroleum schwimmende Dampfer seit Tagen überfällig sei. Herr B. gab die Möglichkeit eines solchen Zwischenfalles bereitwillig zu, wies indessen darauf hin, daß in diesem Falle sich die Begleitfrachtbriefe der Sendung (»Konnossemente« genannt) ja bereits in Herrn P.s Händen befinden müßten, und daß er zur Beruhigung seines kaufmännischen Gewissens diese Dokumente einzusehen wünsche –: nach Erfüllung dieser, für ihn allerdings unerläßlichen Bedingung sei er bereit, seinen Standpunkt in der Lieferfrage einer erneuten Erwägung zu unterziehen. Die hierauf eintretende Pause war schon länger und noch schwüler; und da Herr P., unter verstärktem Trommeln, beharrlich schwieg, erhob sich Herr B., stellte in eisigem Tone eine Lieferfrist von fünf Tagen, erbat und erhielt eine Bestätigung dieser Abmachung und empfahl sich mit untadeliger Verbeugung.
Wie Herr P. die Frist ausfüllte, vermag der Erzähler nicht anzugeben: Tatsache ist jedenfalls, daß Herr B. sich pünktlich nach fünf Tagen mit undurchdringlichem Gesicht wieder einstellte und sein Petroleum verlangte. Herr P. zuckte die Achseln. Nunmehr stellte Herr B. sehr ruhig und ohne die Stimme zu erheben fest, er glaube annehmen zu dürfen, daß die ihm verkaufte Ware überhaupt nicht vorhanden sei; eine Feststellung, deren Richtigkeit Herr P. mit dem Hinzufügen anerkannte, daß sie auch trotz allen Bemühungen in absehbarer Zeit nicht beschafft werden könne, und daß unter diesen Umständen wohl nur eine Regelung der Sache im Sinne seiner ursprünglichen Auffassung übrigbleibe. Aber die Einigung zwischen Petroleum und Baumwolle scheiterte. Herr B. erkundigte sich, ob seinem Geschäftsfreund bekannt sei, daß die Firma B. ihre Ansprüche auf die Ware nicht nur im Klagewege geltend machen könne, sondern daß angesichts einer solchen Verletzung von Treu und Glauben auch beim Strafrichter ein Interesse für den Fall vorausgesetzt werden dürfe. Worauf Herr P. abermals die Achseln zuckte und ganz gegen seine Gewohnheit eine Brasilzigarre nicht nur schief abschnitt, sondern auch noch ihres halben Deckblattes beraubte.
Hier schien Herrn B. der Augenblick gekommen, zu einem sorgsam vorbereiteten Schlage auszuholen. Es könne, so sagte er, wohl nicht zweifelhaft sein, daß durch einen solchen Vorfall das Ansehen des ehrlichen und gerechten Handels, das hochzuhalten er, B., unablässig bemüht sei, schweren Schaden nehmen und das Eindringen eines jobbernden Spekulantentums übelster Citysorte gefördert werden müsse. Deshalb, und nur deshalb, sei er bereits nach nunmehr erfolgter Klarlegung des Tatbestandes (er sagte wirklich: Tatbestandes) seinerseits einem Vorschlag zur Beilegung der Sache zu machen. Hier stellte Herr P. seine vergeblichen Bemühungen, die Zigarre am verkehrten Ende anzuzünden, ein; während Herr B., gelassen die Beinstellung wechselnd, fortfuhr: Zunächst müsse Herr P. auf die Zahlung der von ihm geforderten Margensumme verzichten und ihm, B., die Möglichkeit geben, von dem ganzen Petroleumgeschäft zurückzutreten; die Summe selbst aber müsse Herr P., der das Antlitz des Handels durch sein Vorgehen schlimm entstellt habe, dazu verwenden, das Antlitz seiner Vaterstadt zu verschönern. In dem großen Stadtpark sei eine Stelle, die nach der Errichtung eines Aussichtsturmes geradezu rufe; nein: schreie. Diesen Turm zu Nutz und Frommen einer ehrsamen hanseatischen Bürgerschaft unverzüglich auf seine Kosten zu erbauen, müsse Herr P. sich verpflichten; um gegen diese Verpflichtung ein Schweigeversprechen seines Partners einzutauschen. Herr P. legte die Zigarre weg, ging zum Fenster, kehrte um und leitete ohne weitere Erörterungen die erforderlichen Formalitäten ein. Hierauf schieden die Herren mit einem Händedruck, der weniger der Kundmachung persönlicher Sympathie als vielmehr der Bekräftigung einer getroffenen Vereinbarung galt.
Es bleibt noch zu erwähnen, daß Herr B., der die Fortschritte des Turmbaues zu – ach so, nein; also des Turmbaues aufmerksam verfolgte, zur feierlichen Einweihung des Gebäudes erschien und den Huldigungen, die man dem hochherzigen Spender darbrachte, unparteiisch aber verständnisvoll anwohnte; und daß er, der das fertige Gebäude als einer der ersten Besucher erstieg, oben mit sichtlichem Wohlgefallen verweilte und, mit gepflegter Hand seinen gepflegten Spitzbart streichelnd, über das Dächergewirr der guten Stadt einen lächelnden Rundblick tat.
Man erzählte mir von einem jungen Manne, dem zu einer Jahrzehnte zurückliegenden Zeit, da in meiner hanseatischen Vaterstadt noch kein unterirdisches Vorzeichen die festgefügten Fundamente der patrizischen Gesellschaftsordnung gelockert hatte, das scheinbar Unmögliche gelang. Er durchbrach, selbst einer kleinbürgerlichen Familie in einer bescheidenen Landstadt des benachbarten Großherzogtums entstammend, in wohlvorbereitetem Anlauf die starren Schranken, mit denen die patrizische Kaste sich sorgsam und unnahbar umhegte, und wußte sich durch zähes Fußfassen und unbeirrbares Wurzelschlagen in seiner neuen Umgebung so zu befestigen, daß nichts mehr ihn erschüttern konnte.
Dieser junge Mann, dem heimischen Kreise durch sein zielstrebiges Weiterwollen und mit durchdachter Bewußtheit gepaartes, weitgreifendes Planmachen früh entfremdet, trat in ein großes Handelshaus ein und wußte durch umsichtigen Fleiß und von den ihm Gleichgestellten klug unterschiedenes äußeres Gebaren nach kurzer Zeit die Aufmerksamkeit des Chefs auf sich zu lenken. So kam es, daß er, der sich in einigen ihm von der überlegenen Berechnung des Handelsherrn gestellten selbständigen Aufgaben bewährte, allmählich aus den Niederungen seiner Arbeit aufstieg und nach einigen Jahren versuchsweise nach China gesandt wurde, wo die Firma ein Zweigunternehmen hatte. Hier bot sich ihm nicht nur Gelegenheit, durch rasches Erfassen und sachgerechtes Handeln die ihm zugedachte Aufgabe in einer für die Firma sehr nützlichen Weise zu lösen – er konnte auch seinem an dem eifrigen Studium patrizischer Gepflogenheiten geschulten Benehmen jenen so leicht erkennbaren und so schwer erwerbbaren weltmännischen Schliff des weitgereisten Mannes geben. Dies alles führte dazu, daß er nach seiner Heimkehr zum Prokuristen aufrückte, und daß ihm von seinem Chef bis zu den Grenzen der durch diese Stellung bedingten Möglichkeit der Zutritt zur Gesellschaft eröffnet wurde.
Während nun freilich damit für jeden mit den Dingen vertrauten Beurteiler der Endpunkt wenigstens des gesellschaftlichen Aufstieges erreicht schien, fühlte sich der Ehrgeizige mit geheimem Ingrimm immer noch in der Stellung des Untergebenen, Angestellten, Geduldeten, der bei jedem Versuch zum weiteren Vorstoß gegen eine unsichtbare, aber unerschütterliche Mauer prallte; und wenn sich mittags zur Börsenstunde die gemessenen Handelsherren nach dem Austausch geschäftlicher Mitteilungen von ihm absonderten und sich wieder in ihre eigene Lebenssphäre zurückzogen, so loderte in ihm unter der Maske der Gleichgültigkeit ein wilder Zorn, und eine fressende Unzufriedenheit erfüllte ihn mit glühender Unrast. Zu dieser Zeit lernte er auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung die Tochter eines reichen Baumwollimporteurs kennen, die er sich mit jähem Entschluß zum Opfer ausersah. Es gelang ihm, der alle dem Zwecke dienlichen Mittel skrupellos und nach überlegenem Plan anwandte, bei dem kühlen Mädchen ein tieferes Interesse zu erwecken; und als er sich seiner Sache sicher wußte, bereitete er unter beherrschtem Zuwarten den Hauptschlag vor, der ihn zu einem Ziele bringen sollte, dessen Erreichung trotz allen schon errungenen Erfolgen unerhört und phantastisch schien.
Er suchte an einem Vormittag den Vater der Dame im Privatkontor auf und wagte nach einem kurzen Hin und Her geschäftlicher Worte plötzlich den entscheidenden Angriff. Von dem kühlen Leder des Klubsessels in ungezwungener Haltung Besitz ergreifend, und ohne unter dem Blick der schonungslos prüfenden stahlblauen Augen seines Gegenübers auch nur einen Augenblick die mit ungeheurer Willenskraft behauptete Fassung zu verlieren, stellte er die als vertraulich bezeichnete Frage: ob der Herr Konsul geneigt sei, ihm unter der Voraussetzung, daß er aus seiner gegenwärtigen Stellung zum Teilhaber seines Chefs aufrücke, die Tochter, deren Neigung er sich versichert habe, zur Frau zu geben. Er stamme aus der und der Umgebung, habe die und die Erfolge aufzuweisen und die und die geschäftlichen Pläne ausgearbeitet. Die so angebahnte Vereinigung der beiden Häuser – und so weiter. Die entscheidungsvollen Minuten, da der andere in einem Auf und Ab im Kontor zu einem Entschlusse kam, verbrachte er äußerlich unbewegt und in einer Zeitschrift blätternd – um sich dann, als er unter gedachtem Vorbehalt die bejahende Antwort erhalten hatte, ohne weitere Erörterungen zu empfehlen.
Unverweilt begab er sich zu seinem Chef und führte den zweiten Schlag: er teilte sachlich mit, daß er auf seine Werbung bei Herrn Soundso einen zustimmenden Bescheid erhalten habe; ob er im Hinblick auf seine dadurch so glücklich veränderten Lebensverhältnisse und den für die Firma sich ergebenden praktischen Nutzen mit der Gewährung der Teilhaberschaft rechnen könne: wobei er im Falle des bejahenden Bescheides seine Mitgift in dem Handelshause, dem er so viel verdanke, anzulegen gedenke.
Es gab eine fast gleiche Wiederholung der äußeren Umstände jener ersten Unterredung: und nach dieser abermaligen nervenanspannenden Entscheidungspause erlebte er, der alles gewagt hatte, den Triumph, alles zu erringen. Über die nun folgende Zeitspanne, da er das Errungene festigen, die Hemmungen der neuen Sphäre überwinden mußte, setzte er sich mit selbstverständlicher Gelassenheit und unfehlbarem Takt hinweg: bis er, anerkannt und schließlich gleichgeachtet, sich von den Herren, die mittags mit dem spiegelnden Seidenhut über schmalen Rassegesichtern an der Börse den angestammten Platz einnahmen, in nichts mehr unterschied.
Durch eine der Hansestädte geht ein Wollmakler, groß, schwer, grobknochig, mit hartem Gesicht, gesträubtem weißen Schnurrbart und aufstarrendem weißen Haar –: immer noch, obzwar gealtert, draufgängerisch und zu gewaltigen Taten bereit. Er war, bevor er sich durch den letzten großen Schlag ein beträchtliches Vermögen erwarb und es mit klugem Entschluß festhielt, an der Wollbörse seiner Vaterstadt der meistgefürchtete Mann, da er oft genug mit brutaler Faust in das vielrädrige Getriebe des Marktes eingriff und der besonnenen Großzügigkeit der patrizischen Handelsherren durch ruckweise Spekulationen von unerhörter Waghalsigkeit die erstaunlichsten Scherereien bereitete. So brachte er, unveränderlich grobschlächtiger Plebejer und biedermännischer Jobber, seine Tage in einem fortwährenden Hin und Her zwischen Reichtum und Verschuldung zu und riß viele kaufmännische »Existenzen« erbarmungslos mit sich in dieses halsbrecherische Auf und Ab. Von diesem Makler, M. mit Namen, erzählt man sich sub rosa, daß er einstmals, um die Mitte seiner Laufbahn, aus einem furchtbaren Waffengang mit einer der größten Antwerpener Spekulationsfirmen als Sieger hervorging.
M. besaß einen Sohn, der ein lustiges Vöglein war und sich glänzend darauf verstand, beträchtliche Summen auf die anmutigste Art sich verflüchtigen zu lassen, – ohne daß er diese (vom Vater ererbte) Fähigkeit einstweilen durch einen erkennbaren Anlauf zu geschäftlicher Tüchtigkeit ergänzte. Es ist nicht verwunderlich, daß dem Alten dieses heitere Spiel auf die Nerven fiel; so packte er den Sprößling eines guten Tages, einem wohlgemeinten Freundesrat folgend, auf die Bahn, auf daß er als Volontär bei eben jener Antwerpener Firma seine Talente vervollkommne.
Dies Verfahren, obzwar zunächst erfolglos (denn man kann auch in Antwerpen Geld loswerden, und Brüssel liegt nicht weit), trug dennoch gute Früchte. Als M. eines Tages über dem unerfreulichen Anblick eines Antwerpener Telegrammes, das die Aufforderung zur Einzahlung von Margen enthielt, wütend eine schwarze Brasilzigarre verqualmte, ging ein eingeschriebener Brief des Sohnes ein, dem M., gleichgültig erst, dann mit runden Augen und heftig schnaufend, schließlich wutbebend folgendes entnahm: Er, der Vater, werde sich gewiß entsinnen, daß er seit Jahren infolge andauernden Schiefliegens an der Terminbörse bei den Antwerpenern häufig in die Kreide geraten sei. Als nun der Chef sich gestern mittag auf einen telephonischen Anruf hin in solcher Hast entfernt habe, daß er die Geheimbücher wegzuschließen vergaß, habe er, der Sohn, beim Herumschnüffeln ein Geheimreskontro entdeckt. Hierin sei er auf ein Konto des Vaters gestoßen, und daraus gehe klar hervor, daß die Firma in unerlaubter Weise »doppelte Buchführung« betreibe. Man habe in diesem wie in anderen Fällen Jahre hindurch in den offenen Abrechnungen andere Kurse in Ansatz gebracht, als die tatsächlich für Rechnung des Vaters gehandelten – mit dem Erfolge, daß der Vater im offenen Konto bei der Firma mit zehntausend Franken belastet sei, während sein Geheimkonto ein Guthaben von nahezu hunderttausend Franken aufweise. Ein Nachweis dieses Schwindels sei natürlich kaum möglich, da man vorsichtigerweise immer solche Kurse in Anrechnung gebracht habe, die im Verlaufe der betreffenden Tagesbörse tatsächlich vorgekommen seien. Die Tagesschwankungen habe man eben eingestrichen. Herzliche Grüße, und was man dabei tun solle.
M. tat dreierlei. Er stieß unter dem Eindruck des ihm aufgehenden riesigen Seifensieders die Brasilzigarre in den Aschenbecher, daß sie wie eine Trompete aussah. Er rannte fünfmal durch das Kontor, daß die Scheiben klirrten. Er prüfte Geldschrank und Bankbuch und fand beide Stätten leer. Hierauf dachte er tief nach. Ergebnis: Er hieb den Hut verkehrt auf den Schädel und brach, den Brief in der Hand, wie ein grimmiger Bär in die Schafhürde ins Kontor eines Freundes ein, dessen taktische Talente er schätzte. Mit diesem hatte er eine lange und geheime Besprechung, nach deren Beendigung er hinterhältig grinsend ein Telegramm folgenden Wortlauts an seinen Sprößling in Antwerpen richtete:
»Drahte wo Buch tagsüber liegt und wie es aussieht.«
Die Antwort, prompt eintreffend, lautete:
»Im Privatkonto auf Kopiertisch stop großer Tintenfleck auf grauem Deckel.«
Hierauf hatten die beiden Herren eine abermalige, aber kürzere Erörterung und fuhren nach ihrer Beendigung mit dem nächsten Zug auf Kosten des Freundes nach Antwerpen: M. stiernackig, geduckt, mit tückisch funkelnden Augen und zu jeder Gewalttat entschlossen; der Freund schmal, diplomatisch und verschlagen lächelnd.
In Antwerpen begab sich das Paar unverzüglich auf das Schlachtfeld, will sagen in das Geschäftshaus der fraglichen Firma und in das Privatkontor des Chefs. M. fand mit geübtem Blick sofort Tisch und Reskontro, klemmte den verbindlich parlierenden und in unbehaglicher Spannung aalglatt sich windenden kleinen Belgier rettungslos in einer Ecke fest und gab ihm über Reise, Befinden und Wetterlage bereitwillig Aufschluß; indessen der Freund sich bescheidentlich zurückhielt und sein Tun hinter dem breiten Rücken des Gefährten erfolgreich verdeckte. Nach Ablauf von fünf Minuten empfahl sich der Freund unter einem freundlich gesäuselten Vorwand, während M. die elektrisch geladene Atmosphäre des Zimmers noch eine Weile mit allerlei Redensarten füllte – um dann, plötzlich, die riesige Faust schwer auf die Schreibtischplatte gestützt, seinem langsam erstarrenden Gegenüber folgende mehr als halblauten Eröffnungen zu machen: Er, M., sei leidenschaftlicher Sammler von Geheimbüchern aller Art, und wisse sich in dieser Liebhaberei mit seinen Geschäftsfreunden von der heimischen Börse einig. Da er nun erfahren habe, daß sich hier im Kontor ein besonders interessantes Buch dieser Art befinde, so sei er mit dem Entschluß gekommen, koste es was es wolle, es seiner Sammlung einzuverleiben. Freilich kenne er aus geschäftlicher Erfahrung die Unentbehrlichkeit solcher Bücher und wolle sich daher in diesem Falle mit einer Abschrift eines ihn besonders fesselnden Kontos genügen – einer Abschrift, die sein Freund jetzt eben bei einem Notar herstellen zu lassen sich gestatte. Ganz ohne Zweifel würde der Besitzer von allen Fachleuten um dieses seltene Stück beneidet werden. Zu weiteren Besprechungen über die Verwendung von Buch und Abschrift sei er, M., im Hotel bereit. Hierauf pustete er den aufspringenden Gegner verächtlich um, schlug ihm die Tür vor der käseweißen Nase zu und trat durch eine Gruppe auseinanderstiebenden Kontorpersonals dröhnenden Schrittes den Rückmarsch an.
Der Belgier brauchte geraume Zeit, bevor er sich soweit erholt hatte, daß er an M. einen seiner Leute als Boten senden konnte: M. solle sofort das Buch herausgeben. Der Bote kehrte zurück und bat seinen Chef inständig, von einer weiteren Verwendung seiner Person in dieser Angelegenheit absehen zu wollen. M. würde in einer Stunde nach Hause zurückkehren, Fahrkarten, ließe er sagen, hätte er schon.
Der Belgier mußte demnach den schweren Entschluß fassen, die Verhandlungen persönlich in die Hand zu nehmen. Er faßte ihn und tat es. Als er nach Ablauf einer Stunde mit dem Buch unter dem Arm in der sich aus der Lage natürlich ergebenden Stimmung in sein Kontor zurückkehrte, stellte er folgende Bilanz auf: 1. Er war einen Scheck über hundertfünfzigtausend Franken losgeworden, gegen Quittung. 2. Er hatte die Reisekosten bezahlen müssen, für drei Personen, denn M. junior war natürlich ebenfalls heimgekehrt. 3. Er kannte nunmehr den Sammelwert eines Geheimreskontros, denn er hatte das seinige auslösen müssen. 4. Er hatte eine Bestätigung unterschreiben müssen, die ihm im Geschäftsverkehr mit M. künftig große Vorsicht aufnötigte. 5. Er hatte den Notar bezahlen müssen.
Zur selben Stunde fuhren M., sein Sohn und der Freund heimwärts. M. entwarf behaglich grunzend einen Plan für eine neue Riesenspekulation, mit der er von seinem neugewonnenen Stützpunkt aus die Welt aus den Angeln zu heben gedachte. Der Freund las den Handelsteil der »Nieuwe Rotterdamsche Courant« und lächelte. M. junior war in tiefes und förderliches Nachdenken über den Wert geschäftlicher Tüchtigkeit versunken.
Der Erzähler besitzt die Beweise dafür, daß alle vier Beteiligten aus den Erfahrungen dieses Tages Nutzen gezogen haben.